Dunkle Herzen - Nora Roberts - E-Book

Dunkle Herzen E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Immer wieder wird die New Yorker Bildhauerin Clare Kimball von einem Alptraum aus ihrer Kindheit aufgesucht. Von dunklen Ahnungen getrieben, kehrt sie in ihre Heimatstadt zurück ... Ein atemberaubender Psychothriller um satanische Rituale in einer amerikanischen Kleinstadt.

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Seitenzahl: 903

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Das Buch

Ein Alptraum läßt die erfolgreiche, junge Bildhauerin Clare Kimball nicht los: Männer in Kutten und Tiermasken zelebrieren des Nachts auf einer einsamen Waldlichtung in der Nähe ihres Geburtsortes Emmitsboro eine »Messe noire«, bei der ein Tieropfer dargebracht und eine Frau orgiastisch mißbraucht wird. Clare weiß nicht, was sie von dem immer wiederkehrenden Traum halten soll. Hat sie die schrecklichen Vorgänge als kleines Mädchen real erlebt, oder steckt dahinter ein Ödipuskomplex, wie ihr Psychotherapeut vermutet? Clare will endlich Gewißheit haben und entschließt sich, in ihre Heimatstadt in Maryland zurückzuziehen. Sie erhofft sich davon auch neue Aufschlüsse über den grauenvollen und nie ganz geklärten Tod ihres Vaters. Clares Rückkehr in ihr Elternhaus beschwört in Emmitsboro dunkle Machenschaften herauf, die das düstere Geheimnis dieser Stadt vertuschen sollen. Der attraktive Cameron Rafferty, der neue Sheriff der Stadt, steht auf Clares Seite. Doch auch er kann sie nicht vor gräßlichen Erlebnissen schützen, die offenkundig das Werk von Satanisten sind. Und er kann nicht ahnen, daß Clares Leben ernsthaft gefährdet ist.

Die Autorin

Nora Roberts zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen Amerikas. Seit 1981 hat sie über 200 Romane veröffentlicht, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden. Für ihre internationalen Bestseller erhielt sie nicht nur zahlreiche Auszeichnungen, sondern auch die Ehre, als erste Frau in die Ruhmeshalle der Romance Writers of America aufgenommen zu werden. Nora Roberts lebt in Maryland.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungERSTER TEIL
Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes Kapitel
ZWEITER TEIL
Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes Kapitel
DRITTER TEIL
Erstes KapitelZweites KapitelDrittes Kapitel
Copyright

Für meine Söhne

ERSTER TEIL

Dann wären Menschen Engel, und Engel wären Götter

– Alexander Pope –

Vergangenes ist nur Prolog

– Shakespeare –

Erstes Kapitel

Das Ritual begann eine Stunde nach Sonnenuntergang. Lange zuvor war der Kreis – exakt neun Fuß im Durchmesser  – vorbereitet worden, man hatte Büsche und Schößlinge gerodet und geweihte Erde über den Boden verstreut.

Dunkle Wolken tanzten geheimnisvoll über die fahle Scheibe des Mondes.

Innerhalb des schützenden Kreises standen dreizehn in schwarze, kuttenähnliche Kapuzenmäntel gehüllte Gestalten. Draußen im Wald stimmte eine einsame Eule ihr Klagelied an. Als der Gong ertönte, verstummte auch sie. Einen Augenblick lang war nur das Flüstern des Windes in den jungen Frühlingsblättern zu hören.

In einer kleinen Grube zur linken Seite des Kreises flakkerte bereits das Feuer. Bald würden die Flammen hoch aufzüngeln, angefacht vom Abendwind – oder von anderen Kräften.

Man schrieb den Vorabend des ersten Mai, die Walpurgisnacht, jene Nacht, in der man den Göttern opferte, sie pries und um eine reichhaltige Ernte und den Fortbestand der Familie bat.

Zwei in rote Gewänder gekleidete Frauen traten in den Kreis. In ihren unverhüllten, leichenblassen Gesichtern leuchteten nur die Lippen scharlachrot. Sie wirkten wie Vampire, die sich gerade am Blut ihrer Opfer gelabt hatten.

Eine von ihnen ließ gemäß den genauen Anweisungen, die man ihr erteilt hatte, ihr Gewand fallen und stand einen Augenblick lang nackt im Licht des Dutzends schwarzer Kerzen, ehe sie sich auf dem hohen, polierten Holzklotz in Positur legte.

Heute nacht würde sie ihnen als lebender Altar dienen, die Jungfrau darstellen, die sie anbeteten. Einige von ihnen störten sich allerdings an der Tatsache, daß es sich bei der Frau um eine Prostituierte handelte, für die Keuschheit ein Fremdwort war. Andere genossen einfach den Anblick ihrer üppigen Rundungen und weit gespreizten Schenkel.

Der Hohepriester, der seine Maske Baphomet, dem Bock von Mendes, gewidmet hatte, stimmte einen monotonen Gesang in verfälschtem Latein an. Als er geendet hatte, hob er die Arme zu dem umgekehrten Pentagramm über dem Altar empor. Dann wurde, um die Luft zu reinigen, eine Glocke geläutet.

Von ihrem Versteck im Gebüsch aus beobachtete ein kleines Mädchen mit großen, neugierigen Augen die Szene. Von der Feuerstelle, wo die Flammen prasselten und Funken in die Luft stoben, zog ein unangenehmer Geruch herüber, und in die Bäume, die den magischen Kreis umgaben, waren seltsame alte Zeichen eingeritzt.

Das Mädchen fragte sich, wo sein Vater wohl war. Es hatte sich, vor Freude über den gelungenen Streich in sich hineinkichernd, auf dem Rücksitz seines Wagens versteckt. Und als es ihm durch den Wald gefolgt war, hatte es gar keine Angst gehabt. Nicht ein bißchen. Es hatte sich im Gebüsch verborgen und wartete auf einen geeigneten Moment, um sich in seine Arme zu werfen.

Doch er hatte, wie alle anderen, einen langen, dunklen Mantel übergestreift, und nun wußte es nicht mehr genau, wer aus der Gruppe nun eigentlich sein Daddy war. Die nackte Frau machte es verlegen und faszinierte es zugleich, doch das, was die Erwachsenen da taten, kam ihm nicht länger wie ein Spiel vor.

Das Herz pochte ihm bis zum Hals, als der Mann mit der Maske wieder zu singen begann.

»Wir rufen dich, Amon, Gott des Lebens und der Fortpflanzung. Und dich, Pan, Gott der Fleischeslust.«

Jeder Name wurde von den anderen wiederholt. Die Liste war lang.

Die Gruppe begann, sich rhythmisch hin- und herzuwiegen und zu summen, als der Hohepriester einen silbernen Kelch ergriff, trank und den Kelch zwischen die Brüste des Altars setzte.

Dann nahm er ein Schwert auf und wies damit gen Süden, Osten, Norden und Westen, wobei er die vier Höllenfürsten beschwor:

Satan, Herr des Feuers, Luzifer, der Lichtbringer, Belial, der keinen Gebieter kennt, Leviathan, Schlange der Tiefe –

Das kleine Mädchen im Gebüsch erschauerte vor Angst.

»Ave, Satan!«

»Ich rufe dich, Meister, Fürst der Finsternis, Herrscher der Nacht! Öffne die Pforten der Hölle und höre uns an!« Die weithin hallenden Worte des Hohenpriesters ähnelten weniger einer Bitte als vielmehr einem Befehl. Während er seine Stimme erhob, hielt er ein Stück Pergament empor, das im Licht der gierigen Flammen blutrot aufleuchtete. »Auf daß unsere Felder reiche Frucht tragen und unser Vieh sich vermehre. Vernichte unsere Feinde und schlage die, die uns übelwollen, mit Unheil. Schenke uns, deinen getreuen Anhängern, Reichtum und Macht.« Er legte eine Hand auf die Brust des Altars. »In deinem Namen, Herr der Fliegen, nehmen wir, was wir begehren. In deinem Namen sprechen wir: Tod dem Schwachen, Sieg dem Starken. Laß unser Blut heiß durch die Adern fließen und unsere Ruten sich heben! Laß unsere Frauen für uns entbrennen und uns lustvoll empfangen!« Seine Hand glitt den Körper des Altars hinunter bis zu der Stelle zwischen den Schenkeln. Die gut geschulte Prostituierte begann zu stöhnen und sich unter seiner Hand zu winden.

Mit schallender Stimme fuhr der Hohepriester fort, seine Forderungen zu stellen, stach dann mit der Spitze des Schwertes durch das Pergament und hielt es über die Flamme einer schwarzen Kerze, bis nichts davon übrigblieb außer einem leichten Brandgeruch.

Auf ein Zeichen hin zerrten zwei der maskierten Gestalten einen jungen Ziegenbock, der vor Furcht mit den Augen rollte, in den Kreis. Der Gesang steigerte sich zu einem schrillen Crescendo. Athamas, das zeremonielle Messer, dessen frisch geschliffene Klinge im Mondlicht glitzerte, wurde gezückt.

Als die Klinge die Kehle des weißen Ziegenbocks durchtrennte, versuchte das Mädchen zu schreien, aber kein Laut kam über seine Lippen. Es wollte davonlaufen, doch seine Beine schienen bleischwer und fesselten es an den Boden. So barg es schluchzend das Gesicht in den Händen und wünschte, es könnte nach seinem Vater rufen.

Als es endlich wieder hinzuschauen wagte, war der Boden blutgetränkt. Blut tropfte auch über den Rand einer flachen Silberschale. Die Stimmen der Männer verschwammen in seinem Kopf zu einem dröhnenden Summton, als es sah, wie der enthauptete Kadaver des Ziegenbocks ins Feuer geworfen wurde.

Nun hing der übelkeiterregende Geruch verbrannten Fleisches in der Luft.

Aufheulend riß sich der Mann mit der Bocksmaske seine Kutte vom Leib. Darunter war er nackt, und trotz der kühlen Nachtluft schimmerten feine Schweißperlen auf seiner schneeweißen Haut. Auf seiner Brust glitzerte ein silbernes Amulett mit fremdartigen eingravierten Symbolen.

Er setzte sich rittlings auf den Altar und zwängte sich grob zwischen ihre Schenkel. Mit einem keuchenden Schrei warf sich ein zweiter Mann auf die andere Frau und riß sie zu Boden, während die übrigen ihre Kutten abwarfen, um nackt um die Feuerstelle zu tanzen.

Das Mädchen sah, wie sein Vater, sein eigener Vater, die Hände in das Opferblut tauchte. Es tropfte von seinen Fingern, als er sich den Tanzenden anschloß …

Clare erwachte von ihrem eigenen Schrei.

Schweratmend und schweißüberströmt kuschelte sie sich enger unter die Bettdecke und tastete mit zitternden Fingern nach dem Schalter der Nachttischlampe. Da ihr das schwache Licht, das diese verbreitete, noch nicht ausreichte, stand sie auf und knipste weitere Lampen an, bis der kleine Raum hell erleuchtet war. Ihre Hände bebten noch immer, als sie eine Zigarette aus der Packung zupfte und ein Streichholz daranhielt.

Eine Weile blieb sie rauchend auf der Bettkante sitzen.

Warum war der Traum gerade jetzt wiedergekommen?

Ihr Therapeut würde behaupten, es handle sich um eine unbewußte Reaktion auf die erneute Heirat ihrer Mutter – Unterbewußtsein wertete das als Verrat an ihrem Vater.

Unsinn!

Ärgerlich stieß Clare den Rauch aus. Ihre Mutter war seit über zwölf Jahren Witwe. Jede geistig gesunde, liebevolle Tochter würde sich wünschen, daß die Mutter glücklich ist. Und sie war eine liebevolle Tochter. Nur was die geistige Gesundheit anging, da war sie nicht so sicher.

Sie erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als sie diesen Traum gehabt hatte. Sechs Jahre war sie alt gewesen und schreiend in ihrem Bett erwacht, genau wie heute. Doch dann kamen ihre Eltern ins Zimmer gestürzt, um sie zu beruhigen und zu trösten. Sogar ihr Bruder Blair kam mit weit aufgerissenen Augen und leise wimmernd hinterhergetapst. Die Mutter hatte ihn dann hinausgebracht, während der Vater bei ihr blieb, ihr mit seiner ruhigen, tiefen Stimme vorsang und ihr wieder und wieder versicherte, alles sei nur ein böser Traum gewesen, den sie bald vergessen würde.

Was auch der Fall gewesen war, eine lange Zeit jedenfalls. Doch dann kehrte der Traum wie ein im Dunkel lauerndes Monster dann und wann zurück, gewöhnlich immer dann, wenn sie angespannt, erschöpft oder besonders verletzlich war.

Clare drückte die Zigarette aus und preßte die Finger gegen die Augen. Im Moment stand sie allerdings unter Spannung. In weniger als einer Woche wurde ihre Ausstellung eröffnet, und obwohl sie höchstpersönlich jede einzelne Skulptur, die gezeigt werden sollte, ausgewählt hatte, wurde sie von Zweifeln geplagt.

Vielleicht lag es daran, daß die Kritiker ihre erste Ausstellung vor zwei Jahren so begeistert aufgenommen hatten. Jetzt sonnte sie sich im Ruhm und hatte demzufolge viel mehr zu verlieren. Und sie wußte, daß die Werke, die ausgestellt wurden, ihre Glanzstücke waren. Wenn diese für mittelmäßig befunden wurden, dann war sie selbst als Künstlerin mittelmäßig.

Konnte es ein vernichtenderes Urteil geben?

Besser, sie machte sich um greifbarere Dinge Sorgen. Sie stand auf und öffnete die Vorhänge. Die Sonne ging gerade auf und überzog die Straßen von Manhattan mit einem rosigen Glanz. Als Clare das Fenster aufstieß, fröstelte sie in der Kühle des Frühlingsmorgens.

Draußen war noch alles ruhig. Von fern drang das Rumpeln eines Müllwagens auf seiner morgendlichen Tour herüber, und an der Ecke Canal und Green sah sie eine Stadtstreicherin, die einen Einkaufswagen mit all ihren weltlichen Besitztümern vor sich herschob. Das Quietschen der Räder hallte hohl von den Hauswänden wider.

In der Bäckerei gegenüber brannte Licht. Clare hörte leise Klänge aus Rigoletto und schnupperte den köstlichen Duft frischgebackenen Brotes. Ein Taxi ratterte mit klappernden Ventilen vorbei, dann herrschte wieder Stille. Sie hätte mutterseelenallein in der Stadt sein können.

War es das, was sie wollte, fragte sie sich. Allein leben, sich ein ruhiges Plätzchen suchen und in der Einsamkeit vergraben? Manchmal kam es ihr so vor, als schwebe sie haltlos im leeren Raum, unfähig, echte Bindungen einzugehen.

Lag hier der Grund für das Scheitern ihrer Ehe? Sie hatte Rob geliebt, ja, sich jedoch nie an ihn gebunden gefühlt. Und als alles vorüber war, empfand sie zwar Bedauern, aber keine Reue.

Vielleicht hatte Dr. Janowski doch recht, und sie verdrängte die Reue nur, so, wie sie seit dem Tod ihres Vaters jeglichen Kummer in sich hineinfraß. Emotionen konnte sie lediglich durch ihre Kunst ausdrücken.

Und was war daran so schlimm? Clare wollte gerade die Hände in die Taschen ihres Bademantels schieben, als ihr aufging, daß sie ihn gar nicht anhatte. Eine Frau, die in Soho nur mit einem dünnen T-Shirt bekleidet am offenen Fenster stand, mußte verrückt sein. Ach, was soll’s, dachte sie und lehnte sich noch weiter hinaus. Vielleicht war sie ja verrückt.

So stand sie da, das hellrote Haar noch vom Schlaf zerzaust, das Gesicht blaß und abgespannt, sah zu, wie der Tag anbrach, und lauschte dem Lärm, mit dem die Stadt erwachte.

Dann wandte sie sich ab, bereit, mit ihrer Arbeit zu beginnen.

Es war schon nach zwei Uhr, als Clare den Summer hörte. Das surrende Geräusch ging im Zischen des Schweißbrenners und der aus der Stereoanlage dröhnenden Mozartklänge beinahe unter. Flüchtig erwog sie, es zu ignorieren, aber da die Arbeit an ihrer neuen Skulptur nicht so recht voranging, bot die Unterbrechung eine willkommene Entschuldigung, vorläufig aufzuhören. Sie stellte den Schweißbrenner ab, zog die Schutzhandschuhe aus und durchquerte ihr Studio. Als sie die Gegensprechanlage betätigte, trug sie immer noch Schutzbrille, Helm und Arbeitsschürze.

»Ja bitte?«

»Clare? Angie hier.«

»Komm hoch.« Clare tippte den Sicherheitscode ein, um den Fahrstuhl freizugeben. Nachdem sie Helm und Brille abgenommen hatte, ging sie nachdenklich um die halbfertige Skulptur herum.

Sie stand auf dem Schweißtisch im hinteren Teil des Lofts, umgeben von Clares Werkzeugen – Zangen, Hämmer, Meißel, Schweißbrenneraufsätze und dem robusten Stahlwagen, der ihre Acetylen- und Sauerstoffflaschen enthielt. Ein darunter ausgelegtes riesiges quadratisches Blech schützte den Fußboden vor Funkenflug und herabtropfendem heißen Metall.

Clares Arbeit beherrschte das ganze Loft. Überall lagen Granitbrocken, Kirschholzblöcke, Asche, Stahlrohre und Metallklötze herum, Stemmeisen, Schmirgelpapier, Schweißutensilien und Lötkolben waren im ganzen Raum verstreut. Seit jeher lebte Clare gern mit ihrer Arbeit auf Tuchfühlung.

Mit zusammengekniffenen Augen und vorgeschobener Unterlippe musterte sie ihr jüngstes Projekt. Ihr hatte etwas anderes vorgeschwebt. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, machte sie sich nicht die Mühe, sich umzudrehen.

»Hab ich’s mir doch gedacht.« Angie LeBeau warf ihre schwarze Lockenmähne zurück und tappte mit einem Fuß, der in einem scharlachroten italienischen Pump steckte, ungeduldig auf den Boden. »Seit über einer Stunde versuche ich, dich zu erreichen.«

»Ich hab’ das Telefon abgestellt, aber der Anrufbeantworter läuft. Was hältst du hiervon, Angie?«

Angie holte tief Atem und betrachtete die Skulptur auf dem Arbeitstisch. »Ziemlich chaotisch.«

»Genau.« Mit einem zustimmenden Nicken beugte sich Clare tiefer über ihre Arbeit. »Ja, du hast recht. Ich hab’ die Sache falsch angefangen.«

»Wage es ja nicht, diesen Schweißbrenner zur Hand zu nehmen!« Des Schreiens müde, stapfte Angie durch den Raum und schaltete die Stereoanlage aus. »Verdammt, Clare, wir waren um halb eins im Russian Tea Room zum Essen verabredet.«

Clare richtete sich auf und sah ihre Freundin zum ersten Mal voll an. Wie immer bot Angie ein Bild der Eleganz. Das marineblaue Kostüm von Adolfo und die überdimensionale Perlenkette betonten ihre milchkaffeefarbene Haut und die exotischen Gesichtszüge.

Die scharlachrote Lederhandtasche paßte genau zu ihren Pumps. Angie legte Wert darauf, Kleidung und Accessoires farblich aufeinander abzustimmen, und hielt ihre Sachen mustergültig in Ordnung. Ihre Schuhe bewahrte sie in durchsichtigen Plastikbehältern auf, die Blusen hingen nach Farbe und Material geordnet im Schrank, und ihre Handtaschen – die Sammlung war schon fast legendär zu nennen – ruhten in den Fächern eines eigens zu diesem Zweck angefertigten Regals.

Was Clare betraf, so konnte sie froh sein, wenn sie in dem schwarzen Loch ihres Schrankes zwei zusammengehörige Schuhe herauskramen konnte. Ihre Handtaschensammlung bestand aus einer guten schwarzen Abendtasche und einem großen Leinensack. Nicht zum ersten Mal wunderte sich Clare, wie sie und Angie sich jemals hatten anfreunden – und Freundinnen bleiben können.

Im Moment allerdings stand die Freundschaft etwas auf der Kippe, stellte sie fest. Angies dunkle Augen sprühten Feuer, und sie trommelte mit den langen, scharlachrot lakkierten Fingernägeln wütend auf ihrer Tasche herum.

»Bleib so stehen, genau so.« Clare schoß durch den Raum, um den unordentlichen Haufen auf ihrem Sofa nach einem Skizzenblock zu durchwühlen. Achtlos warf sie ein Sweatshirt, eine Seidenbluse, ungeöffnete Briefe, einen leeren Fritos-Karton, einige Taschenbücher sowie eine Wasserpistole beiseite.

»Herrgott noch mal, Clare …«

»Nicht bewegen!« Den Block in der einen Hand, schob sie mit der anderen ein Kissen zur Seite und fand ein Stück Zeichenkohle. »Wenn du sauer bist, siehst du besonders gut aus«, grinste sie.

»Hexe«, knurrte Angie, verbiß sich aber dabei ein Lachen.

»Das ist es! Wunderbar!« Clares Stift flog über das Papier. »Himmel, diese Wangenknochen! Wer hätte gedacht, daß die Mischung von afrikanischen, französischen und Cherokee-Erbanlagen so umwerfende Gesichtszüge ergibt. Fletsch doch bitte mal kurz die Zähne, ja?«

»Leg endlich den dämlichen Block weg! Schmeicheln hilft dir auch nichts mehr. Ich habe eine geschlagene Stunde im Russian Tea Room gesessen, Perrier getrunken und vor Langeweile am Tischtuch geknabbert.«

»Tut mir leid, ich hab’s total vergessen.«

»Was gibt’s sonst Neues?«

Clare legte die Skizze fort, wohl wissend, daß sich Angie daraufstürzen würde, sobald sie ihr den Rücken zukehrte. »Möchtest du was essen?«

»Ich hab’ mir im Taxi einen Hot Dog einverleibt.«

»Gut, ich hol’ mir eben was, und du erzählst mir, worüber wir uns eigentlich unterhalten wollten.«

»Über die Show, du Trotteltier.« Angie begutachtete die Skizze und unterdrückte ein Lächeln. Clare hatte sie mit aus den Ohren lodernden Flammen dargestellt. Ohne ihre Belustigung zu zeigen, sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um und ließ sich schließlich auf der Sofalehne nieder. Wer wußte schon, was sich sonst noch alles unter diesen Kissen verbarg. »Hast du vor, in absehbarer Zeit jemanden zu engagieren, der hier mal gründlich ausmistet?«

»Nein. Mir gefällt es, wie es ist.« Clare ging in die winzige Küche, kaum größer als ein Alkoven, in der Ecke des Studios. »Das beflügelt meine schöpferische Fantasie.«

»Den Quatsch von wegen künstlerischem Temperament kannst du deiner Großmutter erzählen, Clare. Ich weiß zufällig, daß du bloß ein Riesenfaulpelz bist.«

»Wo du recht hast, hast du recht.« Clare kehrte mit einer Riesenschüssel Schokoladeneis und einem Teelöffel bewaffnet aus der Küche zurück. »Möchtest du was abhaben?«

»Nein, danke.« Für Angie war es eine Quelle ständigen Ärgernisses, daß Clare sich mit Junkfood vollstopfen konnte, wann immer sie wollte – und das kam häufig vor –, ohne daß ihrer gertenschlanken Figur etwas anzumerken war.

Heutzutage war Clare zwar nicht mehr so klapperdürr wie in ihrer Kinderzeit, aber immer noch so schmal, daß sie nicht – wie Angie – jeden Morgen einen besorgten Blick auf die Waage werfen mußte. Angie sah zu, wie Clare in ihrer Latzhose und der Lederschürze darüber dastand und Kalorien in sich hineinschaufelte. Wahrscheinlich trug sie unter der Hose mal wieder nichts als nackte Haut.

Clare hatte keinerlei Make-up aufgelegt. Ihre Haut war mit zartgoldenen Sommersprossen übersät, die dunkelgolden schimmernden Augen wirkten riesig in dem dreieckigen Gesichtchen mit dem weichen, großzügigen Mund und der kleinen, geraden Nase. Trotz des zerzausten, feurigen Haarschopfes, der gerade lang genug war, um zu einem stoppeligen Pferdeschwanz zusammengefaßt zu werden, und ihrer ungewöhnlichen Größe umgab Clare eine Aura von Zerbrechlichkeit, die in Angie, die mit ihren zweiunddreißig Jahren nur zwei Jahre älter als sie war, Muttergefühle weckte.

»Mädchen, wann lernst du endlich, dich hinzusetzen und in Ruhe zu essen? Und zwar eine ordentliche Mahlzeit.«

Grinsend tauchte Clare den Löffel in das Eis. »Da du dir wieder Sorgen um mich machst, nehme ich an, daß du mir verziehen hast.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte einen stiefelbekleideten Fuß auf den unteren Holm. »Das mit der Verabredung tut mir wirklich leid.«

»Das tut es dir hinterher immer. Schon mal daran gedacht, dir Notizen zu machen?«

»Ich schreib’s mir ja meistens auf. Bloß dann vergesse ich, wo ich die Zettel hingetan habe.«

Mit dem tropfenden Löffel deutete sie auf die Unordnung in dem riesigen Raum. Das Sofa, auf dem Angie saß, gehörte zu den wenigen Möbelstücken darin. Dazu besaß sie noch einen Tisch, der unter Bergen von Zeitungen und leeren Limonadenflaschen beinahe verschwand, und einen weiteren Stuhl, der achtlos in eine Ecke geschoben worden war, wo er als Sockel für eine schwarze Marmorbüste diente. Die Wände waren mit Bildern übersät, und Skulpturen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung vereinnahmten jedes freie Fleckchen. Eine schmiedeeiserne Treppe führte zu dem ehemaligen Speicher, den Clare zum Schlafzimmer umgewandelt hatte. Doch der Rest der ungeheuren Wohnfläche des Lofts, in dem sie seit fünf Jahren lebte, gehörte ihrer Kunst.

Während ihrer ersten achtzehn Lebensjahre hatte sich Clare stets bemüht, den hohen Ansprüchen ihrer Mutter hinsichtlich Ordnung und Sauberkeit gerecht zu werden. Doch nachdem sie nur drei Wochen auf eigenen Füßen gestanden hatte, war sie bereits zu der Erkenntnis gelangt, daß das Chaos ihre natürliche Lebensform war.

Sie grinste Angie verschmitzt an. »Wie soll ich denn in diesem Durcheinander etwas wiederfinden?«

»Manchmal wundere ich mich, daß du überhaupt daran denkst, morgens aufzustehen.«

»Du machst dir ja nur Sorgen wegen der Ausstellung.« Clare stellte die halb geleerte Schüssel auf dem Boden ab, wo, wie Angie vermutete, das Eis still vor sich hinschmelzen würde. Clare griff nach ihrer Zigarettenpackung und fand wie durch ein Wunder auch noch Streichhölzer. »Sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Entweder kommen meine Arbeiten gut an oder fallen durch.«

»Wie wahr. Und warum siehst du dann so aus, als hättest du höchstens vier Stunden Schlaf abgekriegt?«

»Fünf«, berichtigte Clare, doch sie mochte nicht auf den Traum zu sprechen kommen. »Ich bin zugegebenermaßen ein bißchen unruhig, aber nicht besorgt. Du und dein Göttergatte, ihr sorgt euch schon für mich mit.«

»Jean-Paul ist nur noch ein Wrack«, gab Angie zu. Seit zwei Jahren war sie nun schon mit dem Galeriebesitzer verheiratet und von seinem Verstand, seiner Leidenschaft für Kunst und seinem herrlichen Körper noch immer so bezaubert wie am ersten Tag. »Schließlich ist es die erste große Ausstellung in der neuen Galerie. Es geht nicht nur um deinen Kopf.«

»Ich weiß.« Clare schloß kurz die Augen, als sie daran dachte, wieviel Geld, Zeit und Hoffnungen die LeBeaus in ihre neue, vergrößerte Galerie investiert hatten. »Ich lasse euch nicht hängen.«

Angie bemerkte, daß Clare trotz gegenteiliger Beteuerungen genauso nervös war wie sie alle. »Das wissen wir«, sagte sie, wobei sie absichtlich einen leichten Tonfall anschlug. »Wir rechnen damit, nach deiner Ausstellung als die führende Galerie der West Side zu gelten. In der Zwischenzeit möchte ich dich daran erinnern, daß du morgen früh um zehn ein Interview für das New York Magazine und mittags eins für die Times geben mußt.«

»Ach, Angie.«

»Diesmal gibt es kein Entrinnen.« Angie schlug ihre wohlgeformten Beine übereinander. »Du triffst den Journalisten vom New York Magazine in unserem Penthouse. Mir graut bei der Vorstellung, daß du Pressevertreter hier empfängst.«

»Du willst doch bloß ein Auge auf mich haben.«

»So ist es. Mittagessen um punkt eins im Le Cirque.«

»Ich wollte mir eigentlich mal kurz die Galerie ansehen.«

»Dafür bleibt noch genug Zeit. Ich bin um neun Uhr hier und überzeuge mich persönlich, daß du aufgestanden und angezogen bist.«

»Ich hasse Interviews«, brummte Clare.

»Sei tapfer.« Angie faßte sie bei der Schulter und küßte sie auf beide Wangen. »Und nun ruh dich ein bißchen aus. Du siehst wirklich mitgenommen aus.«

Clare stützte die Ellbogen auf die Knie. »Willst du mir nicht auch noch die Sachen rauslegen, die ich morgen anziehen soll?« fragte sie, als Angie zum Fahrstuhl ging.

»Ich denk’ drüber nach.«

Wieder sich selbst überlassen, blieb Clare ein paar Minuten grübelnd sitzen. Sie verabscheute Interviews; all diese hochtrabenden und allzu persönlichen Fragen. Man wurde gemustert, abgeschätzt und dann in seine Einzelteile zerlegt. Ihr graute jetzt schon davor, also tat sie, was sie immer machte, wenn sich unangenehme Dinge nicht vermeiden ließen: sich zwingen, nicht mehr daran zu denken.

Sie fühlte sich ausgelaugt und viel zu müde, um sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Außerdem war ihr nichts, was sie in den letzten Wochen in Angriff genommen hatte, so richtig gelungen. Aber sie war innerlich viel zu aufgewühlt, um ein Schläfchen zu halten oder sich der Länge nach auf dem Boden auszustrecken und das Tagesprogramm im Fernsehen zu verfolgen.

Kurzentschlossen erhob sie sich und ging zu einem mächtigen Schrankkoffer, der ihr als Sitzgelegenheit, Tisch und Behältnis für allen möglichen Krimskrams diente, hinüber. Sie klappte den Deckel hoch und wühlte sich durch ein altes Ballkleid, die Kappe, die sie zum Schulabschluß erhalten hatte, ihren Brautschleier, der ihr drei Reaktionen zugleich entlockte – Überraschung, Belustigung und Bedauern – und ein Paar Tennisschuhe, die sie schon abgeschrieben hatte, bis sie endlich auf ein Fotoalbum stieß.

Doch, sie war einsam, gestand Clare sich ein, als sie das Album zum Sessel am Fenster mitnahm. Sie vermißte ihre Familie. Und wenn sie alle schon so weit von ihr entfernt waren, dann konnte sie sich wenigstens mit Fotos trösten.

Der erste Schnappschuß entlockte ihr ein Lächeln. Ein verblaßtes Schwarzweißfoto von ihr und ihrem Zwillingsbruder Blair als Kleinkinder. Blair und Clare, dachte sie seufzend. Wie oft hatten sie und ihr Zwilling über die Entscheidung ihrer Eltern, ihnen beiden sich reimende Namen zu geben, geschimpft. Das Foto war ziemlich verschwommen, ein Werk ihres Vaters, der in seinem ganzen Leben kein gestochen scharfes Foto zustande gebracht hatte.

»Ich habe zwei linke Hände«, pflegte er zu sagen. »Technische Geräte nehmen in meinen Händen ein böswilliges Eigenleben an. Aber gebt mir eine Handvoll Samen und etwas Erde, und ich ziehe euch die schönsten Blumen im ganzen Land.«

Was nicht übertrieben war, dachte Clare. Ihre Mutter war handwerklich ausgesprochen begabt, konnte Toaster reparieren und verstopfte Abflußrohre reinigen, während Jack Kimball mit Hacke, Spaten und Heckenschere ihren Garten an der Ecke Oak Leaf und Mountain View in Emmitsboro, Maryland, in ein Schmuckstück verwandelte.

Den Beweis dafür hielt sie gerade in den Händen; ein Foto, das ihre Mutter aufgenommen hatte, exakt belichtet und mit perfekter Bildaufteilung. Die kleinen Kimball-Zwillinge tummelten sich auf einer auf dem sorgfältig getrimmten Rasen ausgebreiteten Decke. Dahinter blühten üppige Frühlingsblumen: Akelei, Flammende Herzen, Maiglöckchen und Springkraut, alle sauber angepflanzt, ohne jedoch in Beete gezwängt zu werden.

Da war auch ein Foto von ihrer Mutter. Clare zuckte zusammen, als ihr aufging, daß sie auf eine Frau blickte, die jünger war als sie selbst. Rosemary Kimballs Haar schimmerte wie dunkelgoldener Honig und war im Stil der frühen sechziger Jahre frisiert, und sie lachte strahlend in die Kamera, ein Baby auf jeder Hüfte.

Bildhübsch war die Mutter damals gewesen, dachte Clare, trotz der schrecklichen Frisur und dem übertriebenen Make-up der damaligen Zeit. Auch heute noch galt Rosemary Kimball mit ihrem blonden Haar, den blauen Augen, der ausgezeichneten Figur und den feinen, ebenmäßigen Gesichtszügen als eine ausgesprochen gutaussehende Frau.

Ein Foto von Clares Vater in Shorts, mit Gartenerde an den knochigen Knien, der sich auf seine Hacke lehnte und selbstsicher in die Kamera grinste. Sein rotes Haar war zu einem Bürstenschnitt gestutzt, und seine blasse Haut zeigte erste Anzeichen eines Sonnenbrandes. Jack Kimball schien nur aus Beinen und Ellenbogen zu bestehen, eine linkische menschliche Vogelscheuche, die Blumen über alles geliebt hatte.

Tränen traten Clare in die Augen, als sie weiterblätterte. Weihnachtsfotos, sie und Blair vor einem schiefen Weihnachtsbaum. Beide saßen auf glänzenden roten Dreirädern. Obwohl sie Zwillinge waren, bestand keine große Ähnlichkeit. Blair ähnelte äußerlich eher der Mutter, Clare dem Vater, so, als ob sich die Babys bereits im Mutterleib jeder für eine Seite entschieden hätten. Blair sah vom Kopf bis zu den Spitzen seiner roten Kniestrümpfe wie ein kleiner Engel aus. Clares Haarband hatte sich gelöst, und die weißen Strumpfhosen unter ihrem gestärkten Organdykleid schlugen Falten. Sie war nun mal das häßliche Entlein der Familie, das es nie ganz geschafft hatte, sich zu einem schönen Schwan zu mausern.

Die folgenden Fotos dokumentierten das Leben einer Familie mit heranwachsenden Kindern. Geburtstage, Picknicks, Urlaub, Freizeit. Ab und an tauchten Bilder von Freunden oder Verwandten auf. Blair, der bei der Memorial-Day-Parade in seiner schmucken Uniform die Main Street entlangmarschierte. Clare, den Arm um Pudge, den fetten Beagle, gelegt, der mehr als zehn Jahre lang ihr Haustier gewesen war. Die Zwillinge zusammen in einem Zelt, das die Mutter hinten im Hof aufgestellt hatte. Die Eltern im Sonntagsausgehstaat vor der Kirche, an einem Ostersonntag. Damals war der Vater reumütig in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt.

Auch eine Sammlung von Zeitungsausschnitten über Jack Kimball war dabei. Einmal hatte ihm der Bürgermeister von Emmitsboro in Anerkennung seiner Verdienste um die Gemeinde eine Ehrenmedaille verliehen. Ein anderer Bericht handelte von ihrem Vater und Kimball Realty; die Ein-Mann-Firma, die zu einem florierenden Großunternehmen mit vier Niederlassungen angewachsen war, wurde als Musterbeispiel für die Verwirklichung des amerikanischen Traums beschrieben.

Jack Kimballs größter Coup war der Verkauf einer hundertfünfzig Morgen großen Farm an eine Baugesellschaft, die sich auf die Planung und Konstruktion von Einkaufszentren spezialisiert hatte, gewesen. Einige Einwohner beklagten damals zwar, daß die ruhige Abgeschiedenheit von Emmitsboro einem Achtzig-Betten-Motel, Fastfoodläden und Warenhäusern zum Opfer fallen sollte, aber die Mehrheit war der Ansicht, Fortschritt tue dringend not. Das Einkaufszentrum würde Arbeitsplätze schaffen und den Lebensstandard verbessern.

Clares Vater gehörte zu denjenigen Vertretern der städtischen Prominenz, die beim ersten Spatenstich anwesend waren.

Danach hatte er zu trinken begonnen.

Anfangs noch in Maßen, so daß kaum jemand etwas bemerkte. Zwar schien er stets von einer Whiskeydunstwolke umgeben, doch ging er weiterhin seiner Arbeit nach und kümmerte sich um den Garten.

Je mehr sich das Einkaufszentrum der Fertigstellung näherte, desto mehr trank er.

Zwei Tage nach der prunkvollen Eröffnungsfeier an einem schwülheißen Augustabend leerte er eine ganze Flasche und stürzte oder sprang danach aus dem Fenster im dritten Stock.

Niemand hielt sich zu der Zeit im Haus auf. Ihre Mutter war bei dem monatlich stattfindenden Treffen mit ihren Freundinnen, wo gegessen, gelacht und geklatscht wurde, Blair zeltete mit Freunden im Wald östlich der Stadt. Und Clare selbst sprudelte vor Freude und Erregung über ihr erstes Rendezvous geradezu über.

Mit geschlossenen Augen, das Album fest an sich gepreßt, schlüpfte Clare wieder in die Hülle des fünfzehnjährigen, für sein Alter hoch aufgeschossenen Mädchens, dessen riesige Augen vor Aufregung funkelten. Sie hatte den Abend auf der ländlichen Kirmes verbracht.

Im Arm hielt sie den kleinen Stoffelefanten, der Bobby Meese sieben Dollar fünfzig gekostet hatte, bis er ihn endlich an der Schießbude gewann. Im Riesenrad hatte Bobby sie dann geküßt und ihre Hand gehalten.

Die Ereignisse standen ihr wieder so klar und deutlich vor Augen, daß sie den Verkehrslärm von Manhattan nicht mehr zur Kenntnis nahm und statt dessen die leisen Geräusche eines Sommers auf dem Land zu hören glaubte.

Sie war sicher gewesen, daß ihr Vater auf sie warten würde. Als sie Arm in Arm mit Bobby fortgegangen war, hatte sich ein Schleier über seine Augen gelegt. Clare hoffte, daß sie später wieder mit ihrem Vater auf dem alten Gartentor beisammensitzen und sich unterhalten konnte, wie sie es oft taten, während Nachtfalter gegen die gelben Lampen prallten und die Grillen im Gras zirpten. Schließlich wollte sie ihm von ihrem Abenteuer berichten.

Ihre Turnschuhe verursachten nicht das geringste Geräusch auf dem schimmernden Holz, als sie die Treppe hinaufstieg. Sogar heute noch, Jahre später, erinnerte sie sich an die kribbelnde Erregung, die sie verspürt hatte. Die Schlafzimmertür stand offen, und sie spähte hinein und rief seinen Namen.

»Daddy?«

Im Schein des Mondlichts konnte sie erkennen, daß das Bett ihrer Eltern noch unberührt war, also drehte sie sich um und ging in den dritten Stock. Oft arbeitete der Vater noch spät abends in seinem Büro. Oder er trank spät abends in seinem Büro. Rasch verdrängte Clare diesen Gedanken. Wenn er getrunken hatte, würde sie ihn überreden, mit hinunterzukommen, ihm einen Kaffee machen und ihm gut zureden, bis der gehetzte Ausdruck, der seit einiger Zeit ständig in seinen Augen stand, verschwand. Bald würde er wieder lachen und den Arm um ihre Schulter legen.

Unter seiner Bürotür schimmerte noch Licht. Zuerst klopfte sie an, eine festverwurzelte Gewohnheit, denn obwohl sich die Familienmitglieder so nahestanden, respektierten sie dennoch die Privatsphäre des einzelnen.

»Daddy? Ich bin wieder da!«

Daß die erwartete Antwort ausblieb, irritierte sie. Zögernd blieb sie stehen, und aus irgendeinem unerklärlichen Grund spürte sie das dringende Bedürfnis, sich umzudrehen und wegzulaufen. Sie hatte einen kupferartigen Geschmack im Mund; ein Zeichen von Angst, das sie jedoch nicht zu deuten wußte. Sie trat sogar einen Schritt zurück, ehe sie das Unbehagen abschüttelte und nach der Türklinke griff.

»Dad?« Sie konnte nur beten, daß sie ihn nicht betrunken schnarchend hinter seinem Schreibtisch zusammengesunken vorfinden würde. Die Vorstellung ließ sie die Klinke fester packen; Ärger stieg in ihr hoch, da sie fürchtete, er würde ihr den schönsten Abend ihres Lebens durch seinen Whiskeykonsum verderben. Er war ihr Vater, und als solcher hatte er für sie da zu sein und sie nicht zu enttäuschen. Entschlossen stieß sie die Tür auf.

Zuerst war sie ein bißchen verwirrt. Obwohl das Licht in dem umgebauten Dachgeschoß brannte und der große tragbare Ventilator die heiße Luft durcheinanderwirbelte, war der Raum leer. Als sie den strengen, säuerlichen Whiskeygeruch wahrnahm, rümpfte sie angewidert die Nase. Glassplitter knirschten unter den Sohlen ihrer Turnschuhe. Vorsichtig stieg sie über die Überreste einer Flasche Irish Mist hinweg.

War er weggegangen? Hatte er die Flasche geleert, sie beiseite geworfen und war dann aus dem Haus getorkelt?

Ihre erste Reaktion war ein heftiges Schamgefühl; von der Art, wie es nur Teenager empfinden können. Wenn ihn nun jemand in diesem Zustand sah, einer von ihren Freunden oder dessen Eltern! In einer Kleinstadt wie Emmitsboro kannte jeder jeden. Nicht auszudenken, wenn jemand mitbekam, wie ihr Vater betrunken die Straße entlangschwankte!

Den kostbaren Elefanten – ihr erstes Geschenk von einem Verehrer – fest an sich gepreßt, stand sie mitten im Raum unter der Dachschräge und fragte sich verzweifelt, was sie nun tun sollte.

Wenn doch nur die Mutter zu Hause gewesen wäre, dachte sie mit aufkeimendem Zorn. Wäre die Mutter zu Hause gewesen, dann wäre der Vater nicht allein fortgegangen. Sie hätte ihn beruhigt, zur Vernunft gebracht und dann ins Bett gesteckt. Und Blair war mit seinen albernen Freunden zum Zelten gegangen, hockte jetzt vermutlich am Lagerfeuer, trank Budweiser und las Playboyhefte.

Auch sie selbst war ausgegangen und hatte ihn allein gelassen, dachte sie, ob ihrer Unschlüssigkeit den Tränen nah. Sollte sie hierbleiben und warten, oder sollte sie ihn suchen gehen?

Ihn suchen gehen. Ihr Entschluß stand fest. Sie ging zum Schreibtisch hinüber, um die Lampe auszuschalten, dabei knirschte wieder Glas unter ihren Füßen. Komisch, überlegte sie. Wenn er die Flasche in Türnähe zerbrochen hatte, wie kam dann soviel Glas hinter den Schreibtisch? Und unter das Fenster?

Langsam hob sie den Blick von den langen, gezackten Scherben zu dem schmalen, hohen Fenster hinter dem Schreibtisch ihres Vaters. Das Fenster war nicht offen, sondern kaputt. Tückische spitze Glasscherben hingen immer noch am Rahmen. Mit weichen Knien schlich sie vorsichtig vorwärts, immer näher. Und blickte hinunter auf die geflieste Terrasse, wo ihr Vater rücklings auf den Steinplatten lag, von einem der Pfähle, die er am selben Nachmittag noch eingeschlagen hatte, buchstäblich aufgespießt.

Clare erinnerte sich, daß sie kopflos losgerannt war, auf den Stufen stolperte, sich wieder fing, durch die langezogene Halle rannte, dann der Schwingtür zur Küche einen Tritt versetzte und die hintere Glastür, die ins Freie führte, aufriß.

Er lag da wie eine zerbrochene Puppe, blutend, den Mund weit geöffnet, so, als wolle er etwas sagen. Oder schreien. Die scharfe, blutverkrustete Spitze des Pfahls ragte aus seiner Brust.

Aus weit aufgerissenen, blicklosen Augen starrte er sie an. Clare schüttelte ihn, schrie ihn an, versuchte, den leblosen Körper hochzuzerren, dann verlegte sie sich auf Betteln und Flehen, doch er regte sich nicht mehr. Der Geruch von Blut, seinem Blut, stieg ihr in die Nase und vermischte sich mit dem schweren Duft der Sommerrosen, die er so geliebt hatte.

Da begann sie zu schreien. Sie schrie und schrie, bis die Nachbarn sie beide fanden.

Zweites Kapitel

Cameron Rafferty haßte Friedhöfe. Nicht etwa, weil er abergläubisch war – er gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die schwarzen Katzen aus dem Weg ging oder vorsorglich auf Holz klopfte –, sondern weil er die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit scheute. Er wußte, daß er nicht ewig leben würde, und er war sich bewußt, daß gerade er als Cop sich häufiger als andere Menschen in Lebensgefahr begab. Doch das war sein Job, so wie das ganze Leben ein Job war und der Tod den endgültigen Ruhestand bedeutete.

Aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich gerne von marmornen Gedenksteinen und verwelkten Blumenarrangements daran erinnern ließ.

Wie dem auch sei, er war gekommen, um einen Blick auf ein Grab zu werfen, und Gräber traten für gewöhnlich in Rudeln auf und vereinigten sich zu Friedhöfen. Dieser hier gehörte zu der katholischen Marienkirche und lag auf einem verwilderten Stück Land im Schatten des alten Glokkenturms. Die kleine, stabile Steinkirche hatte Wetter und Sünde seit einhundertdreiundzwanzig Jahren erfolgreich getrotzt, und die letzte Ruhestätte für die in die Ewigkeit eingegangenen Katholiken war mit Stacheldraht eingezäunt. Die meisten der rostigen Dornen fehlten, doch niemand störte sich groß daran.

Heutzutage bekannten sich die meisten Einwohner von Emmitsboro entweder zu der methodistischen Kirche an der Main Street oder der lutherischen Kirche Ecke Poplar. Auch die Baptisten im Süden der Stadt und die Katholiken hatten ihre kleine Gemeinde – wobei die Baptisten einen leichten Vorteil verzeichnen konnten.

Seit den siebziger Jahren hatte die Anzahl der Kirchenaustritte immer mehr zugenommen, so daß in der Marienkirche nur noch die Sonntagsmesse abgehalten wurde. Die Priester der Sankt-Anna-Kirche in Hagerstown wechselten sich dabei untereinander mit dem Religionsunterricht und der darauf folgenden Neun-Uhr-Messe ab. Ansonsten wurde die Marienkirche nicht mehr viel genutzt, außer um die Oster- und Weihnachtszeit. Und natürlich zu Hochzeiten und Beerdigungen. Egal, wohin sich die Schäfchen auch verirrt haben mochten, am Ende kehrten sie zur Marienkirche zurück, um dort zur letzten Ruhe gebettet zu werden.

Diese Vorstellung war nicht dazu angetan, Cam, der dort am Taufbecken, direkt vor der großen, strengblickenden Marienstatue getauft worden war, zu beruhigen.

Es war eine wundervolle Nacht, etwas kühl und windig zwar, aber dafür leuchtete der Himmel sternenklar. Viel lieber hätte er jetzt mit einer kalten Flasche Rolling Rock auf seiner Veranda gesessen und durch sein Teleskop die Sterne betrachtet. Tatsächlich hätte er es sogar vorgezogen, einen ausgerasteten Junkie durch dunkle Straßen zu jagen. Dem möglichen Tod mit der Waffe in der Hand gegenüberzutreten ließ den Adrenalinspiegel hochschnellen und hielt einen davon ab, allzusehr über die unausweichlichen Tatsachen des Lebens nachzugrübeln. Aber auf diesem Knochenacker über modernde Gebeine hinwegzustapfen, das führte einem die Vergänglichkeit des Seins viel zu deutlich vor Augen.

Der hohle Schrei einer Eule ließ Deputy Bud Hewitt, der neben Cam ging, zusammenzucken. Der Deputy grinste einfältig und räusperte sich.

»Gruseliges Fleckchen, was, Sheriff?«

Cam gab ein unverbindliches Grunzen von sich. Mit seinen dreißig Jahren war er nur drei Jahre älter als Bud und in derselben Ecke der Dog Run Road aufgewachsen. Während seines letzten Jahres an der Emmitsboro High School war er drei wilde Monate lang mit dessen Schwester Sarah ausgegangen und hatte persönlich Buds erste Erfahrungen mit Alkohol überwacht. Doch er wußte, daß Bud es als seine Pflicht betrachtete, ihn mit ›Sheriff‹ zu titulieren.

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