Dunkle Rosen - Nora Roberts - E-Book
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Nora Roberts

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Beschreibung

Rosalind Harper ist es gewohnt, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Nach dem frühen Tod ihres Mannes widmete sie sich neben der Kindererziehung ganz ihrer Leidenschaft, der Gartenkunst, die zusehends ein Symbol für ihre Unabhängigkeit wird. Doch dann lernt sie den Ahnenforscher Mitchell Carnegie kennen.

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Zum Buch

Die pragmatische Rosalind Harper ist zufrieden mit ihrem Leben. Sie hat eine leidenschaftliche Liebe erlebt und drei wundervolle Söhne zur Welt gebracht. Die Begeisterung, mit der sie sich dem zum Harper Estate gehörigen Garten widmet, hilft ihr, über den allzu frühen Tod ihres geliebten Mannes hinwegzukommen. Doch auf dem Harperschen Anwesen geht ein Geist um. Um dem unheimlichen nächtlichen Treiben ein Ende zu bereiten, engagiert Rosalind den Ahnenforscher Mitchell Carneagie, zu dem sie sich von Anfang an hingezogen fühlt. Ehe die beiden zueinander finden, müssen sie jedoch den übernatürlichen Kräften trotzen und eine harte Prüfung bestehen.

Zum Autor

Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte 1979 ein eisiger Schneesturm sie in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt Nora Roberts zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane. Auch in Deutschland sind ihre Bücher von den Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken.

Viele ihrer Titel liegen im Heyne Verlag vor, unter anderem: »Gefährliche Verstrickung«, »Zeit der Hoffnung«, »Erinnerung des Herzens«, »Zeit der Träume«, »Das Leuchten des Himmels«, »Insel der Sehnsucht«, »Verborgene Gefühle«, die Familiensaga: Tief im Herzen, Gezeiten der Liebe, Hafen der Träume, Ufer der Hoffnung und die Garten-Eden-Trilogie: Blüte der Tage, Dunkle Rosen, Rote Lilien.

Inhaltsverzeichnis

Zum BuchZum AutorWidmungPrologErstes KapitelZweites KapitelCopyright

Für StacieEine Mutter tut gut daran, die Frau zu lieben,die ihr Sohn liebt.Doch es ist ein wundervolles Geschenk,die Frau gern zu haben,die zur eigenen Tochter wird.Danke für dieses Geschenk.

Eine Mutterpflanze wird ausschließlich herangezogen,um Stecklinge zu liefern. Sie kann so gezüchtet werden,wie es für die Produktion von Stecklingen am günstigsten ist,während Zierpflanzen für den Garten unangetastet bleibenkönnen.

AMERICAN HORTICULTURE SOCIETY PFLANZENVERMEHRUNG

Wenn du auf der Suche nach Geheimnissen bist,so halte dort nach ihnen Ausschau,wo Kummer und Freude sind.

GEORGE HERBERT

Prolog

Memphis, TennesseeDezember 1892

Sie kleidete sich sorgfältig an und achtete dabei so genau auf Einzelheiten ihrer Erscheinung, wie sie es seit Monaten nicht mehr getan hatte. Ihre Kammerzofe war schon vor Wochen davongelaufen, und sie konnte und wollte keine neue einstellen. Also verbrachte sie selbst eine Stunde mit der Brennschere – wie in den Jahren, bevor sie von vorn und hinten bedient worden war – und kräuselte und frisierte ihr frisch gewaschenes Haar mit peinlicher Genauigkeit.

Im Laufe des langen, trüben Herbstes hatte es seinen hellen Goldschimmer verloren, doch sie wusste, welche Mittelchen und Wässerchen seinen Glanz zurückbringen würden, in welche Tiegelchen sie greifen musste, um falsches Rot auf ihre Wangen, ihre Lippen zu legen.

Sie kannte alle Tricks. Wie sonst hätte sie einen Mann wie Reginald Harper auf sich aufmerksam machen können? Wie sonst hätte sie ihn dazu bringen können, sie zu seiner Geliebten zu machen?

Sie würde erneut auf alle diese Tricks zurückgreifen, dachte Amelia, um ihn noch einmal zu bezirzen, damit er tat, was getan werden musste.

Er war nicht gekommen – in all dieser Zeit, all diesen Monaten war er nicht zu ihr gekommen. So war sie gezwungen gewesen, ihm an seine Geschäftsadressen Nachrichten zu senden, in denen sie ihn anflehte, sie aufzusuchen. Er hatte sie ignoriert.

Ignoriert, nach allem, was sie getan hatte, nach allem, was sie gewesen war, nach allem, was sie verloren hatte.

Was war ihr anderes übrig geblieben, als ihm weitere Zeilen zu schreiben, und zwar nach Hause? An das große Harper House, in dem seine bleiche Gattin das Regiment führte. In das eine Geliebte niemals einen Fuß setzen konnte.

Hatte sie ihm nicht alles gegeben, was er sich wünschen, was er begehren konnte? Sie hatte ihren Körper feilgeboten für die komfortable Einrichtung dieses Hauses, für die Annehmlichkeit von Hauspersonal, für den Tand wie die Perlenohrgehänge, die sie nun an ihren Ohren befestigte.

Kein hoher Preis für einen Mann von seinem Format und seinem Reichtum, und darauf hatte sich einst ihr Ehrgeiz beschränkt. Sie hatte nur einen Mann gewollt und das, was er ihr geben konnte. Doch er hatte ihr mehr geschenkt, als einer von ihnen beiden erwartet hatte. Der Verlust davon war mehr, als sie ertragen konnte.

Warum war er nicht gekommen, um sie zu trösten? Um mit ihr zu trauern?

Hatte sie sich jemals beklagt? Hatte sie ihn je im Bett abgewiesen? Oder auch nur einmal die anderen Frauen erwähnt, die er sich hielt?

Sie hatte ihm ihre Jugend geopfert und ihre Schönheit. Und, so wie es aussah, ihre Gesundheit.

Und nun würde er sie im Stich lassen? Sich von ihr abwenden  – jetzt?

Sie sagten, das Baby sei bei der Geburt nicht am Leben gewesen. Eine Totgeburt, hatte es geheißen. Ein tot geborenes Mädchen, das in ihr gestorben war.

Aber …

Hatte sie nicht gespürt, wie es sich bewegte? Gespürt, wie es trat und unter ihrem Herzen lebendig wurde? In ihrem Herzen. Dieses Kind, das sie nicht gewollt hatte, das ihr Ein und Alles geworden war. Ihr Leben. Der Sohn, den sie in sich großzog.

Der Sohn, der Sohn, dachte sie nun, während ihre Finger an den Knöpfen ihres Gewandes zupften. Immer wieder formten ihre angemalten Lippen diese Wörter.

Sie hatte ihn schreien gehört. Ja, ja, sie war sich sicher. Manchmal hörte sie ihn immer noch schreien, in der Nacht, er schrie nach ihr, damit sie kam und ihn tröstete.

Doch wenn sie ins Kinderzimmer ging, in das Bettchen schaute, war es leer. So leer wie ihr Mutterschoß.

Sie sagten, sie sei verrückt. Oh, sie hörte, was die Dienstboten, die noch übrig waren, flüsterten; sie sah, wie sie sie anschauten. Doch sie war nicht verrückt.

Nicht verrückt, nicht verrückt, dachte sie, als sie in dem Schlafzimmer auf und ab lief, das sie einst wie einen Palast der Sinnlichkeit behandelt hatte.

Nun wurde die Bettwäsche nur noch selten gewechselt, und die Vorhänge waren stets fest zugezogen, um die Stadt auszusperren. Und es verschwanden Dinge. Ihre Dienstboten waren Diebe. Oh, sie wusste, dass sie Diebe und Halunken waren. Und Spione.

Sie beobachteten sie, und sie flüsterten.

Eines Nachts würden sie sie in ihrem Bett umbringen. Eines Nachts.

Vor lauter Angst davor konnte sie nicht schlafen. Konnte nicht schlafen wegen der Schreie ihres Sohnes in ihrem Kopf. Er rief nach ihr. Rief nach ihr.

Sie war zu der Voodoo-Priesterin gegangen, erinnerte sie sich selbst. War zu ihr gegangen, um Schutz zu erhalten und Wissen. Für beides hatte sie mit dem Rubinarmband bezahlt, das Reginald ihr einmal geschenkt hatte. Mit den Steinen, die sich wie blutige Herzen vor dem eisigen Glitzern von Diamanten abhoben.

Sie hatte für das Schutzamulett bezahlt, das sie unter ihrem Kopfkissen aufbewahrte, und in einem Seidenbeutelchen über ihrem Herzen. Sie hatte bezahlt, teuer bezahlt, für den Wiederauferstehungszauber. Einen Zauber, der versagt hatte.

Weil ihr Kind lebte. Das war das Wissen, das die Voodoo-Priesterin ihr geschenkt hatte, und es war mehr wert als zehntausend Rubine.

Ihr Kleiner lebte, er lebte, und jetzt galt es, ihn zu finden. Es galt, ihn zu ihr zurückzubringen, wo er hingehörte.

Reginald musste ihn finden, musste dafür bezahlen, egal, wie hoch die Summe war.

Sachte, sachte, warnte sie sich selbst, als sie den Schrei in ihrem Hals pochen fühlte. Er würde ihr nur glauben, wenn sie ruhig blieb. Er würde nur auf sie hören, wenn sie schön war.

Schönheit verführte die Männer. Mit Schönheit und Charme konnte eine Frau bekommen, was immer sie wollte.

Sie wandte sich zum Spiegel und sah, was sie darin sehen musste. Schönheit, Charme, Anmut. Sie sah nicht, dass das rote Kleid an den Brüsten schlaff herunterhing, sich an den Hüften ausbeulte und ihre bleiche Haut in einem fahlen Gelb erscheinen ließ. Der Spiegel zeigte die wirr herabfallenden Locken, die allzu strahlenden Augen und das grelle Rouge auf den Wangen, doch ihre Augen, Amelias Augen, sahen nur, was sie einst gewesen war.

Jung und schön, begehrenswert und gerissen.

Also ging sie nach unten, um auf ihren Geliebten zu warten, und sang leise vor sich hin: »Lavendel ist blau, Lalilu. Lavendel ist grün.«

Im Salon brannte ein Feuer, und die Gaslampe war angezündet worden. Die Dienstboten würden also ebenfalls vorsichtig sein, dachte Amelia mit einem verkniffenen Lächeln. Sie wussten, dass der gnädige Herr erwartet wurde, und der gnädige Herr bestimmte über die Finanzen.

Ganz egal, sie würde Reginald sagen, dass sie gehen mussten, allesamt, und dass an ihrer Stelle andere eingestellt werden mussten.

Und sie wollte ein Kindermädchen für ihren Sohn, für James, wenn sie ihn wiederhatte. Eine Irin. Irinnen gingen fröhlich mit Babys um, glaubte sie. Sie wollte, dass ihr James eine fröhliche Kinderstube hatte.

Obwohl sie den Whiskey auf der Anrichte anstarrte, schenkte sie sich ein kleines Glas Wein ein. Sie ließ sich nieder, um zu warten.

Ihre Nerven begannen zu flattern, während die Zeit vorrückte. Sie trank ein zweites Glas Wein, dann ein drittes. Als sie durch das Fenster Reginalds Kutsche halten sah, vergaß sie, vorsichtig und ruhig zu bleiben, und flog zur Tür.

»Reginald, Reginald.« Kummer und Verzweiflung sprangen aus ihrem Mund wie Schlangen, zischend und zappelnd. Sie warf sich an seinen Hals.

»Beherrsch dich, Amelia.« Seine Hände schlossen sich um ihre knochigen Schultern, schoben sie von sich. »Was werden die Nachbarn sagen?«

Er schloss rasch die Tür, und auf seinen scharfen Blick hin hastete eine bereitstehende Bedienstete herbei, um ihm Hut und Gehstock abzunehmen.

»Das ist mir egal! Oh, warum bist du nicht früher gekommen? Ich habe dich so gebraucht. Hast du meine Briefe bekommen? Die Dienstboten, sie lügen. Sie haben sie nicht abgeschickt. Ich bin hier eine Gefangene.«

»Red keinen Unsinn.« Ein flüchtiger Widerwillen huschte über Reginalds Gesicht, als er ihren nächsten Versuch, ihn zu umarmen, abwehrte. »Wir hatten vereinbart, dass du niemals versuchen würdest, mich zu Hause zu erreichen, Amelia.«

»Du bist nicht gekommen. Ich war allein. Ich …«

»Ich hatte zu tun. Aber nun komm. Setz dich. Nimm dich zusammen.«

Doch immer noch hing Amelia an seinem Arm, als er sie in den Salon führte.

»Reginald. Das Baby. Das Baby.«

»Ja, ja.« Er befreite sich von ihr und schob sie auf einen Stuhl. »Eine bedauerliche Sache«, sagte er, während er zur Anrichte hinüberging, um sich einen Whiskey einzuschenken. »Der Arzt hat gesagt, es war nichts zu machen, und du brauchtest Ruhe und Erholung. Ich habe gehört, du hättest dich nicht wohl gefühlt.«

»Lügen. Das ist alles Lüge.«

Er wandte sich ihr zu; sein Blick registrierte ihr Gesicht, das schlecht sitzende Kleid. »Ich kann selbst sehen, dass es dir nicht gut geht, Amelia. Vielleicht ein wenig Seeluft, denke ich, das würde dir gut tun.« Sein Lächeln war kühl, als er sich an den Kaminsims lehnte. »Wie würde dir eine Ozeanüberfahrt gefallen? Ich glaube, das wäre genau das Richtige, um deine Nerven zu beruhigen und deine Gesundheit wieder herzustellen.«

»Ich will mein Kind. Er ist alles, was ich brauche.«

»Das Kind ist tot.«

»Nein, nein, nein!« Amelia sprang erneut auf, um sich an ihn zu klammern. »Sie haben ihn gestohlen. Er lebt, Reginald. Unser Kind lebt. Der Arzt, die Hebamme, sie haben alles geplant. Ich weiß jetzt alles, ich verstehe alles. Du musst zur Polizei gehen, Reginald. Dort werden sie dir zuhören. Du musst bezahlen, ganz gleich, wie viel Lösegeld sie verlangen.«

»Das ist Irrsinn, Amelia.« Gewaltsam löste er ihre Hand von seinem Rockaufschlag, strich dann über die Falten, die ihre Finger in dem Stoff hinterlassen hatten. »Ich werde ganz bestimmt nicht zur Polizei gehen.«

»Dann tue ich es. Morgen gehe ich hin.«

Nun verschwand sogar sein kaltes Lächeln, bis sein Gesicht wie versteinert war. »Nichts dergleichen wirst du tun. Du bekommst eine Überfahrt nach Europa und zehntausend Dollar, mit denen du dir in England ein neues Leben aufbauen kannst. Das werden meine Abschiedsgeschenke für dich sein.«

»Abschied?« Amelia tastete nach einer Armlehne und sank auf einen Stuhl, als ihre Beine unter ihr nachgaben. »Du … du könntest mich jetzt verlassen?«

»Zwischen uns kann es nichts mehr geben. Ich kümmere mich darum, dass du gut untergebracht wirst, und ich glaube, dass die Seereise dich wieder auf die Beine bringen wird. In London musst du einen anderen Beschützer finden.«

»Wie kann ich nach London fahren, wenn mein Sohn …«

»Du fährst«, unterbrach Reginald sie und nippte an seinem Drink. »Oder du bekommst gar nichts von mir. Du hast keinen Sohn. Du hast nichts außer dem, was dir zu geben ich für richtig erachte. Dieses Haus und alles, was darin ist, die Kleider auf deinem Leib, der Schmuck, den du trägst, das alles gehört mir. Es wäre klug von dir, dich daran zu erinnern, wie leicht ich es dir wegnehmen kann.«

»Wegnehmen«, flüsterte Amelia, und irgendetwas in seinem Gesicht, etwas in ihrem zersplitterten Verstand ließ sie die Wahrheit erkennen. »Du willst mich loswerden, weil … du weißt es. Du hast das Baby genommen!«

Reginald musterte sie, während er seinen Whiskey austrank. Dann stellte er das leere Glas auf den Kaminsims. »Glaubst du, ich würde einem Geschöpf wie dir erlauben, meinen Sohn großzuziehen?«

»Meinen Sohn!« Amelia sprang erneut auf, die Hände wie Klauen gekrümmt.

Die Ohrfeige ließ sie innehalten. In den zwei Jahren, in denen Reginald ihr Beschützer gewesen war, hatte er nie die Hand gegen sie erhoben.

»Hör mir jetzt zu, und zwar genau. Es wird nicht herauskommen, dass mein Sohn ein Bastard ist, der Sohn einer Hure – das werde ich nicht zulassen. Er wird in Harper House aufwachsen, als mein rechtmäßiger Erbe.«

»Deine Frau …«

»… tut, wie ihr geheißen. Und das wirst du auch, Amelia.«

»Ich gehe zur Polizei.«

»Um dort was zu erzählen? Der Arzt und die Hebamme, die bei dir waren, werden attestieren, dass du von einem tot geborenen Mädchen entbunden wurdest; andere werden zugleich attestieren, dass meine Frau einen gesunden Jungen zur Welt gebracht hat. Dein Ruf, Amelia, wird gegen meinen nicht ankommen, ebenso wenig wie gegen den von Arzt und Hebamme. Deine eigenen Dienstboten werden es bezeugen, und auch, dass du krank warst und dich merkwürdig verhalten hast.«

»Wie kannst du so etwas tun?«

»Ich brauche einen Sohn. Glaubst du, ich habe dich aus Zuneigung auserwählt? Du bist jung und gesund – oder warst es zumindest. Ich habe dich bezahlt, und zwar gut bezahlt, für deine Dienste. Auch für diesen erhältst du eine Entschädigung.«

»Du wirst ihn mir nicht vorenthalten. Er gehört mir.«

»Nichts gehört dir außer dem, was ich dir gewähre. Du selbst hättest dich doch seiner entledigt, wenn du die Gelegenheit dazu gehabt hättest. Du wirst auf keinen Fall in seine Nähe kommen, weder heute noch irgendwann später. In drei Wochen geht dein Schiff. Ein Guthaben von zehntausend Dollar wird auf dein Konto eingezahlt. Bis dahin gehen deine Rechnungen zur Bezahlung weiterhin an mich. Das ist alles, was du bekommst.«

»Ich bringe dich um!«, schrie Amelia, als Reginald sich anschickte, den Salon zu verlassen.

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft sah Reginald amüsiert aus. »Du bist grotesk. Aber das sind Huren im Allgemeinen. Ich versichere dir eines: Wenn du in meine Nähe oder in die meiner Familie kommst, Amelia, lasse ich dich verhaften und in eine Anstalt für kriminelle Geisteskranke stecken.« Er winkte der Bediensteten, seinen Hut und Stock zu bringen. »Das würde dir nicht gefallen.«

Amelia schrie, riss an ihren Haaren und ihrem Kleid, schrie, bis ihr von den eigenen Nägeln das Blut über die Haut rann.

Und verlor den Verstand.

Als sie in ihrem zerrissenen Kleid die Treppe hinaufging, summte sie ein Schlaflied.

Erstes Kapitel

Harper HouseDezember 2004

Die Morgendämmerung, voll erwachender Versprechen, war ihre liebste Zeit zum Joggen. Das Laufen selbst war einfach etwas, das es zu erledigen galt, dreimal in der Woche, wie jede andere Aufgabe oder Verpflichtung. Rosalind Harper tat, was getan werden musste.

Sie lief ihrer Gesundheit zuliebe. Eine Frau, die gerade ihren fünfundvierzigsten Geburtstag begangen – in diesem Alter konnte sie wohl kaum sagen gefeiert – hatte, musste auf ihre Gesundheit achten. Sie lief, um stark zu bleiben, denn stark wollte und musste sie sein. Und sie lief aus Gründen der Eitelkeit. Ihr Körper würde nie mehr so sein wie mit zwanzig oder wenigstens mit dreißig, aber, bei Gott, es würde der beste Körper sein, den eine Fünfundvierzigjährige haben konnte.

Sie hatte keinen Ehemann, keinen Geliebten, doch sie hatte ein Image zu verteidigen. Sie war eine Harper, und die Harpers hatten ihren Stolz.

Aber, Himmel noch mal, dieses Training war eine Schinderei.

Wegen der kühlen Morgenluft mit einem Sportanzug bekleidet, schlüpfte sie durch die Balkontür aus ihrem Schlafzimmer. Im Haus schlief noch alles. Ihr Haus, das zu leer gewesen war, war nun wieder bewohnt und nur noch selten ganz still.

Da war David, ihr Ersatzsohn, der das Haus in Ordnung hielt, ihr Gesellschaft leistete, wenn sie Unterhaltung brauchte, und sich zurückzog, wenn sie allein sein wollte.

Niemand kannte ihre Stimmungen so gut wie David.

Und da war Stella mit ihren beiden prachtvollen Jungen. Es war ein guter Tag gewesen, dachte Roz, während sie auf dem Balkon ein paar Lockerungsübungen machte, ein guter Tag, an dem sie Stella Rothchild als Geschäftsführerin ihrer Gärtnerei eingestellt hatte.

Natürlich würde Stella in nicht allzu langer Zeit umziehen und die süßen Jungen mitnehmen. Doch auch wenn sie erst mit Logan verheiratet sein würde – und passten die beiden nicht wunderbar zusammen? –, würden sie nur ein paar Kilometer entfernt wohnen.

Hayley würde noch da sein und das Haus mit jugendlicher Energie erfüllen. Es war ein weiterer Glückstreffer gewesen, außerdem eine unbestimmte, entfernte Verbindung zu ihrer Familie, die Hayley, damals im sechsten Monat schwanger, auf ihre Türschwelle geführt hatte. In Hayley hatte Roz die Tochter, nach der sie sich insgeheim gesehnt hatte, und noch dazu eine Enkeltochter ehrenhalber in der reizenden kleinen Lily.

Ihr war nicht bewusst gewesen, wie einsam sie gewesen war, dachte Roz, bis diese Mädchen kamen und die Leere ausfüllten. Nachdem zwei ihrer drei eigenen Söhne ausgezogen waren, war das Haus zu groß, zu still geworden. Und einem Teil von ihr graute vor dem Tag, an dem Harper, ihr Erstgeborener, ihr Fels, das einen Steinwurf vom Haupthaus entfernte Gästehaus verlassen würde.

Aber so war das Leben. Niemand wusste besser als eine Gärtnerin, dass das Leben niemals stillstand. Zyklen waren notwendig, denn ohne sie gab es keine Blüte.

Roz trabte gemächlich die Treppe hinunter und freute sich daran, wie der Frühnebel ihren winterlichen Garten einhüllte. Sieh, wie hübsch ihr Wollziest mit seinen weichen, silbrigen Blättern war, die der Tau bedeckte. Und die Vögel mussten die roten Früchte an ihrer Apfelbeere erst noch für sich entdecken.

Im Gehen – um ihren Muskeln Zeit zu geben, warm zu werden, und um sich an ihrem Garten er erfreuen – umrundete sie das Haus.

Auf dem Weg die Einfahrt hinunter steigerte sie ihr Tempo zum Laufschritt. Sie war eine große, gertenschlanke Frau mit kurz geschnittenem schwarzem Haar. Ihr Blick aus warmen, whiskeybraunen Augen wanderte über das Grundstück – die hochgewachsenen Magnolien, die grazilen Hartriegel, die Anordnung von Ziersträuchern, das Meer von Stiefmütterchen, die sie erst vor ein paar Wochen gepflanzt hatte, und die Beete, die noch ein wenig warten würden, bis sie zu blühen begannen.

Für Roz gab es im ganzen westlichen Tennessee keine Gartenanlage, die der von Harper House das Wasser reichen konnte. Ebenso wie es kein Haus gab, das sich mit der würdevollen Eleganz ihres Anwesens zu messen vermochte.

Aus reiner Gewohnheit wandte sie sich am Ende der Einfahrt um und lief auf der Stelle, um das Haus im weiß schimmernden Nebel eingehend zu betrachten.

Es sah vornehm aus, dachte sie, mit seinem Stilmix aus griechischem Klassizismus und Gotik und dem warmen gelben Stein, der die sauberen weißen Holzbalken sanft abmilderte. Seine Doppeltreppe führte zum Balkon empor, der um den ersten Stock herumlief, und diente dem überdachten Eingangsportal im Erdgeschoss als Krone.

Roz liebte die hohen Fenster, das durchbrochene Holzwerk am Geländer des zweiten Stocks, die schiere Größe des Hauses und das Erbe, für das es stand. Sie hatte es hoch geschätzt, es gepflegt und dafür gearbeitet, seit es nach dem Tod ihrer Eltern in ihre Hände übergegangen war. Hier hatte sie ihre Söhne großgezogen, und nach dem Verlust ihres Mannes hatte sie hier getrauert.

Eines Tages würde sie es an Harper weitergeben, so wie es ihr selbst zugefallen war. Und sie dankte Gott für die Gewissheit, dass ihr Sohn sich ebenso darum kümmern und es lieben würde wie sie.

Was es sie gekostet hatte, war nichts, verglichen mit dem, was es ihr schenkte, selbst in diesem einen Moment, in dem sie am Ende der Einfahrt stand und durch den Morgennebel zurückschaute.

Doch davon, dass sie hier stand, wurden ihre fünf Kilometer nicht gelaufen. Sie wandte sich nach Westen und hielt sich ganz am Rand der Straße, obwohl zu so früher Stunde wenig bis gar kein Verkehr herrschen würde.

Um sich von der Mühsal des Trainings abzulenken, begann sie, die Liste der Dinge durchzugehen, die sie sich für diesen Tag vorgenommen hatte.

Sie hatte einige gute Sämlinge für einjährige Pflanzen herangezogen, die nun so weit sein müssten, dass man ihre Keimblätter entfernen konnte. Sie musste alle Sämlinge auf Anzeichen der Umfallkrankheit untersuchen. Von den älteren Pflanzen würden einige fertig zum Pikieren sein.

Und, erinnerte sie sich, Stella hatte um mehr Amaryllis gebeten, um mehr Pflanztöpfe für vorgetriebene Blumenzwiebeln, mehr Kränze und Weihnachtssterne für den Verkauf in der Weihnachtszeit. Hayley konnte das Winden der Kränze übernehmen; sie war sehr geschickt mit ihren Händen.

Dann musste sich noch jemand um die im Freiland gewachsenen Weihnachtsbäume und Stechpalmen kümmern. Gott sei Dank konnte sie diese Aufgabe Logan überlassen.

Sie musste Harper fragen, ob noch mehr von den Weihnachtskakteen, die er veredelt hatte, verkaufsfertig waren. Sie wollte auch ein paar für sich selbst haben.

All diese Angelegenheiten der Gärtnerei gingen ihr durch den Kopf, gerade als sie an ihrem Betrieb vorbeilief. Es reizte sie – wie immer – von der Straße in die Kiesauffahrt abzubiegen, um einen ausgiebigen Alleingang durch das zu unternehmen, was sie aus dem Nichts aufgebaut hatte.

Stella hatte sich anlässlich der Weihnachtssaison mächtig ins Zeug gelegt, stellte Roz erfreut fest. Vor dem flachen Gebäude, das als Eingang zum Verkaufsbereich diente, hatte sie grüne, rosa, weiße und rote Weihnachtssterne zu einem weihnachtlichen Farbenmeer gruppiert. An die Tür hatte sie noch einen Kranz gehängt und mit kleinen weißen Lichtern dekoriert, und die kleine Weymouthskiefer, die sie aus dem Freiland ausgegraben hatte, stand geschmückt auf der vorderen Veranda.

Weiße Stiefmütterchen, glänzende Stechpalmen, winterharter Salbei machten das Ganze noch interessanter und würden das Weihnachtsgeschäft weiter in Schwung bringen.

Roz widerstand der Versuchung und lief weiter die Straße hinunter.

Sie musste etwas von ihrer Zeit abzwacken, um den Rest ihrer Weihnachtseinkäufe zu erledigen, wenn nicht heute, dann unbedingt später in dieser Woche. Wenigstens ein bisschen. Es galt, Weihnachtsfeiern zu besuchen; außerdem war da noch die Feier, die sie selbst geben wollte. Es war schon eine Weile her, seit sie im großen Stil zu sich nach Hause eingeladen hatte.

Die Scheidung, räumte sie ein, war zumindest teilweise Schuld daran. Ihr war kaum danach gewesen, Partys zu geben, als sie sich dumm und verletzt fühlte und ihre törichte, gnädigerweise kurze Verbindung mit einem Lügner und Betrüger ihr mehr als nur ein wenig peinlich war.

Doch nun war es an der Zeit, dies abzuhaken, hielt sie sich vor Augen, ebenso wie sie den Kerl abgehakt hatte. Bryce Clerk war zurück in Memphis – umso wichtiger war es, dass sie ihr Leben, öffentlich und privat, genau so lebte, wie sie es wollte.

An der Zweieinhalb-Kilometer-Markierung, die für sie ein alter, vom Blitz getroffener Hickorybaum darstellte, machte sie sich auf den Rückweg. Von dem leichten Nebel waren ihr Haar und ihr Sweatshirt feucht, doch ihre Muskeln fühlten sich warm und locker an. Es war eine Sauerei, sinnierte sie, dass alles, was über das Trainieren gesagt wurde, stimmte.

Sie erspähte ein Reh, das gemächlich die Straße überquerte, im dicken Winterfell und mit wachsamen Augen, die aufgrund der Störung durch einen Menschen Alarmbereitschaft signalisierten.

Du bist schön, dachte Roz, die während dieses letzten Kilometers ein wenig keuchte. Aber halt dich bloß fern von meinen Gärten. Im Geiste machte sie sich eine weitere Notiz, dass die Gärten nochmals mit Wildabwehrmittel behandelt werden mussten, bevor das Reh und seine Gefährten beschlossen, auf einen Imbiss vorbeizukommen.

Roz bog gerade wieder in die Einfahrt ein, als sie gedämpfte Schritte vernahm; dann sah sie, wie ihr jemand entgegenkam. Selbst im Nebel hatte sie keine Schwierigkeiten, den anderen Frühaufsteher zu erkennen.

Beide blieben stehen und liefen auf der Stelle, und sie grinste ihren Sohn an. »Heute mit den Hühnern aufgestanden.«

»Ich dachte, ich mache mich mal früh genug auf, um dich zu erwischen.« Harper fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Die ganzen Thanksgivingfeiern, dann dein Geburtstag – ich habe mir überlegt, dass ich die überschüssigen Pfunde besser wieder abtrainiere, bevor Weihnachten zuschlägt.«

»Du nimmst doch nie ein Gramm zu. Es ist zum Verzweifeln.«

»Ich fühle mich schlaff.« Er ließ die Schultern kreisen, rollte dann mit den Augen, die whiskeybraun wie die ihren waren, und lachte. »Außerdem muss ich doch mit meiner Mama mithalten.«

Er sah aus wie sie. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie ihm ihre Gesichtszüge vermacht hatte. Doch wenn er lächelte, sah sie seinen Vater. »Den Tag möchte ich erleben, Junge. Wie weit läufst du?«

»Wie weit warst du?«

»Fünf Kilometer.«

Ein Grinsen huschte über Harpers Gesicht. »Dann mache ich sechs.« Im Weiterlaufen tätschelte er ihr leicht die Wange.

Ich hätte sieben sagen sollen, um ihn zu ärgern, dachte Roz kichernd und ging zum Abkühlen im Schritttempo die Einfahrt hinauf.

Das Haus erhob sich schimmernd aus dem Nebel. Roz dachte: Gott sei Dank, das hätten wir noch einmal geschafft. Damit umrundete sie das Haus, um dort hineinzugehen, wo sie es verlassen hatte.

Im Haus war immer noch alles still – und wundervoll. Und es spukte.

Roz hatte geduscht, ihre Arbeitskleidung angezogen und ging gerade die Haupttreppe in der Mitte der beiden Flügel des Hauses hinunter, als sie hörte, wie sich zum ersten Mal an diesem Tag etwas regte.

Stellas Jungen, die sich für die Schule fertig machten, Lily, die nach ihrem Frühstück verlangte. Angenehme Geräusche, dachte Roz. Geschäftige Familiengeräusche, die sie vermisst hatte.

Natürlich hatte sie erst vor ein paar Wochen das Haus voll gehabt, als alle ihre Söhne zu Thanksgiving und zu ihrem Geburtstag nach Hause gekommen waren. Austin und Mason würden zu Weihnachten wiederkommen. Mehr konnte sich eine Mutter von erwachsenen Söhnen nicht wünschen.

Während sie heranwuchsen, hatte es, weiß Gott, häufig Zeiten gegeben, in denen sie sich nach ein wenig Ruhe gesehnt hatte. Nur eine Stunde völligen Friedens, während der sie nichts Aufregenderes zu tun hatte, als in einem heißen Bad zu versinken.

Danach hatte sie dagegen zu viel Zeit gehabt. Zu viel Ruhe, zu viel leeren Raum. Das hatte schließlich dazu geführt, dass sie einen aalglatten Mistkerl heiratete, der sich an ihrem Geld bediente, damit er die Betthäschen beeindrucken konnte, mit denen er sie betrog.

Geschehen ist geschehen, rief Roz sich ins Gedächtnis. Und es führte zu nichts, länger darüber nachzudenken.

Sie ging in die Küche, wo David bereits irgendetwas in einer Schüssel verquirlte und der verführerische Duft von Kaffee in der Luft lag.

»Morgen, meine Schöne. Wie geht’s?«

»Zu allen Schandtaten bereit.« Roz ging zu einem Schrank, um sich einen Becher zu nehmen. »Wie war die Verabredung gestern Abend?«

»Viel versprechend. Er mag Grey-Goose-Martinis und John-Waters-Filme. Dieses Wochenende versuchen wir eine zweite Runde. Setz dich. Ich mache Arme Ritter.«

»Arme Ritter?« Dafür hatte Roz eine Schwäche. »Verdammt, David, ich bin gerade fünf Kilometer gerannt, damit mir der Arsch nicht bis zu den Kniekehlen hängt, und dann erschlägst du mich mit Armen Rittern.«

»Du hast einen prima Arsch, und er ist weit entfernt von deinen Kniekehlen.«

»Noch«, brummelte Roz, setzte sich aber. »Am Ende der Einfahrt habe ich Harper getroffen. Er wird merken, was auf dem Speiseplan steht, er schnüffelt garantiert an der Hintertür.«

»Ich mache reichlich.«

Roz schlürfte ihren Kaffee, während David die Bratpfanne erhitzte.

Er sah so blendend aus wie ein Filmstar, war nur ein Jahr älter als ihr Harper und eine der großen Freuden in ihrem Leben. Als Junge war er ihr quasi zugelaufen, und jetzt schmiss er den ganzen Haushalt.

»David … heute Morgen habe ich mich zweimal dabei ertappt, wie ich an Bryce gedacht habe. Was meinst du, was das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass du diese Armen Ritter brauchst«, erwiderte David, während er dicke Brotscheiben in seiner Spezialmischung tränkte. »Und wahrscheinlich hat dich eine Art Weihnachtskoller erwischt.«

»Ich habe ihn kurz vor Weihnachten rausgeworfen. Ich schätze, das ist es.«

»Und fröhliche Weihnachten waren das, an denen dieser Mistkerl draußen in der Kälte saß. Ich wünschte, es wäre kalt gewesen«, fügte David hinzu. »Es hätte Eis und Frösche und die Pest regnen müssen.«

»Ich will dich mal was fragen, was ich nie getan habe, während die Sache noch lief. Warum hast du mir nie gesagt, wie schrecklich du ihn fandest?«

»Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, weshalb du mir nicht gesagt hast, wie grauenhaft du den arbeitslosen Schauspieler mit dem falschen britischen Akzent fandest, auf den ich vor ein paar Jahren abgefahren bin. Weil ich dich gern habe.«

»Das ist ein guter Grund.«

Roz drehte sich zum Küchenherd, in dem David Feuer gemacht hatte, schlürfte Kaffee, fühlte sich ausgeglichen und durch nichts zu erschüttern.

»Weißt du, wenn es möglich wäre, dass du auf der Stelle zwanzig Jahre älter und hetero würdest, dann könnten wir zusammen in wilder Ehe leben. Ich glaube, das wäre nicht das Schlechteste.«

»Süße, du bist die Einzige, die mich je in Versuchung führen könnte.« David ließ das Brot in die Pfanne gleiten.

Roz lächelte, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Faust. »Die Sonne kommt durch«, stellte sie fest. »Heute wird ein schöner Tag.«

Ein schöner Tag Anfang Dezember bedeutete einen arbeitsreichen Tag für ein Gartencenter. Roz hatte so viel zu tun, dass sie froh war, das üppige Frühstück, das David ihr zubereitet hatte, nicht abgelehnt zu haben. Ihr Mittagessen fiel aus.

In ihrem Anzuchthaus stand ein Tisch voller Saatkästen. Die Exemplare, die noch zu jung zum Pikieren waren, hatte sie bereits aussortiert. Und nun begann das erste Umpflanzen der Sämlinge, die sie für groß genug hielt.

Sie reihte ihre Behälter auf, die Pflanzschälchen, die einzelnen Töpfe oder Torfwürfel. Es gehörte – mehr noch als das Aussäen – zu ihren Lieblingsaufgaben, dieses Einsetzen eines starken Sämlings in ein Häuschen, das er bis zur Pflanzzeit bewohnen würde.

Bis zur Pflanzzeit gehörten sie alle ihr.

Und in diesem Jahr experimentierte sie mit ihrer eigenen Pflanzerde. Schon seit über zwei Jahren hatte sie verschiedene Rezepturen ausprobiert und glaubte nun, die richtigen Mischungen gefunden zu haben, eine für Zimmerpflanzen und eine, die man draußen im Garten verwenden konnte. Die Gartenerde müsste sich sehr gut für ihre Arbeiten im Gewächshaus eignen.

Aus dem Sack, den sie sorgfältig gemischt hatte, füllte sie ihre Töpfe, prüfte die Feuchtigkeit und war zufrieden. Vorsichtig hob sie die Jungpflanzen aus der Erde, hielt sie an ihren Keimblättern fest. Beim Umpflanzen vergewisserte sie sich, dass die neue Erde am Stiel auf gleicher Höhe wie im Saatkasten war; dann klopfte sie mit geübten Fingern die Erde um die Wurzeln fest.

Sie füllte Topf um Topf, etikettierte im gleichen Arbeitsgang und summte geistesabwesend zur Musik von Enya, die sanft aus dem tragbaren CD-Spieler erklang, der für sie zur Grundausstattung eines Gewächshauses gehörte.

Mit einer schwachen Düngerlösung wässerte sie die Pflänzchen.

Zufrieden mit ihrem Fortschritt ging sie durch den hinteren Durchgang zum Bereich der mehrjährigen Pflanzen. Sie überprüfte deren Zustand – den der Pflanzen, die sie vor kurzem aus Stecklingen herangezogen hatte, und den jener, die sie vor über einem Jahr eingepflanzt hatte und die in ein paar Monaten verkaufsfertig sein würden. Sie goss und pflegte; dann ging sie zum festen Pflanzenbestand der Gärtnerei, um weitere Stecklinge abzuschneiden. Sie hatte gerade mit einem Saatkasten von Anemonen begonnen, als Stella hereinkam.

»Du warst fleißig.« Stella, die ihre roten Locken zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, ließ ihren Blick über die Tische schweifen. »Sehr fleißig.«

»Und optimistisch. Wir hatten eine Bilderbuchsaison, und ich vermute, die kommende wird ähnlich. Wenn die Natur uns keinen Strich durch die Rechnung macht.«

»Ich dachte, du magst vielleicht den neuen Bestand an Kränzen begutachten. Hayley hat den ganzen Vormittag daran gearbeitet. Ich finde, sie hat sich selbst übertroffen.«

»Ich schaue sie mir an, bevor ich gehe.«

»Ich habe sie früher heimgehen lassen; ich hoffe, das ist okay. Sie muss sich immer noch daran gewöhnen, dass Lily bei einem Babysitter ist, auch wenn dieser eine Kundin ist und nur einen knappen Kilometer entfernt wohnt.«

»In Ordnung.« Roz ging weiter zu den Rasselblumen. »Du weißt, dass du nicht jede Kleinigkeit mit mir abklären musst, Stella. Du steuerst dieses Schiff jetzt schon fast ein Jahr.«

»Das war nur ein Vorwand, um zu dir nach hinten zu kommen.«

Roz hielt inne; ihr Messer schwebte in der Luft über den Pflanzenwurzeln, bereit, sie abzuschneiden. »Gibt es ein Problem?«

»Nein. Ich wollte dich nur bitten, und ich weiß, das ist dein Bereich – aber ich habe mich gefragt, ob ich nicht, wenn es nach der Weihnachtszeit wieder etwas ruhiger zugeht, ein wenig in der Anzucht arbeiten könnte. Das fehlt mir.«

»In Ordnung.«

Stellas hellblaue Augen blitzten, wenn sie lachte. »Ich sehe schon, du hast Angst, ich könnte versuchen, deine Gewohnheiten zu verändern und alles nach meinem Geschmack zu organisieren. Ich verspreche dir, das tue ich nicht. Und ich werde dir auch nicht in die Quere kommen.«

»Kannst es ja versuchen – dann schmeiße ich dich hochkant raus.«

»Verstanden.«

»Übrigens wollte ich auch mit dir sprechen. Du musst für mich einen Lieferanten von guten, billigen Säcken für Gartenerde finden. Ein Pfund, fünf Pfund, zehn und fünfundzwanzig; das genügt für den Anfang.«

»Wozu?«, fragte Stella, während sie ein Notizbuch aus der Gesäßtasche zog.

»Ich habe vor, meine eigene Blumenerde herzustellen und zu verkaufen. Ich habe Mischungen für drinnen und draußen, die mir gefallen, und ich möchte sie unter meinem Namen verkaufen.«

»Eine tolle Idee. Das bringt guten Profit. Und den Kunden wird es gefallen, Rosalind Harpers Gartengeheimnisse zu bekommen. Es gibt allerdings noch einiges zu bedenken.«

»Das habe ich schon. Ich werde nicht Hals über Kopf losstürmen. Wir fangen ganz klein an.« Mit Erde an den Händen nahm Roz eine Flasche Wasser von einem Regal, wischte sich geistesabwesend die Hand an ihrer Bluse ab und drehte den Verschluss auf. »Ich möchte, dass das Personal lernt, die Erde in die Säcke zu verpacken, aber die Mischung bleibt mein Geheimnis. Dir und Harper werde ich die Zutaten und Mengenangaben mitteilen, aber das wird nicht an die normalen Angestellten weitergegeben. Vorerst füllen wir die Erde im großen Lagerschuppen ab. Wenn die Sache gut läuft, bauen wir einen eigenen dafür.«

»Die Vorschriften der Behörden …«

»Darüber habe ich mich schon informiert. Wir benutzen keinerlei Pestizide, und der Nährstoffgehalt bleibt unter den Grenzwerten.« Als sie sah, dass Stella eifrig mitschrieb, nahm Roz noch einen großen Schluck. »Ich habe eine Genehmigung für Herstellung und Verkauf beantragt.«

»Davon hast du gar nichts erzählt.«

»Bitte sei nicht gekränkt.« Roz stellte die Flasche beiseite und tauchte einen Steckling in ein Bewurzelungspräparat. »Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich weitermachen möchte; ich wollte nur den Amtsschimmel aus dem Weg haben. Das Ganze ist eine Art Steckenpferd von mir; ich spiele schon seit einer Weile mit dem Gedanken. Aber jetzt habe ich einige Pflanzen in diesen Mischungen herangezogen, und bisher gefällt mir, was ich sehe. Ich starte nun noch weitere Versuche, und wenn ich mit den Ergebnissen immer noch zufrieden bin, legen wir los. Deshalb hätte ich gern eine Vorstellung davon, wie viel uns die Säcke kosten werden und der Druck. Es soll exklusiv aussehen. Ich dachte, du könntest dich vielleicht an ein paar Logos und so was versuchen. Das liegt dir. Der Name des Gartencenters muss hervorstechen.«

»Keine Frage.«

»Und weißt du, was mir wirklich gefallen würde?« Roz hielt einen Augenblick inne und sah im Geiste fertige Säcke vor sich. »Braune Säcke. Irgendetwas, das aussieht wie Sackleinen. Aus der guten alten Zeit, verstehst du? Wir sagen also, das hier ist gute, althergebrachte Erde, Südstaatenboden, und ich glaube, ich möchte Bauerngartenblumen auf den Säcken. Schlichte Blumen.«

»Die besagen, die Verwendung dieser Erde ist einfach, und sie erleichtert Ihnen die Gartenarbeit. Ich beginne zu verstehen.«

»Ich kann mich auf dich verlassen, oder? Du rechnest die Kosten aus, den Profit, planst die Marketingstrategie.«

»Ich stehe zu Diensten.«

»Das weiß ich. Ich mache noch diese Stecklinge fertig, und wenn dann nichts mehr ansteht, gehe ich auch früher nach Hause. Ich möchte noch ein paar Einkäufe erledigen.«

»Roz, es ist schon fast fünf.«

»Fünf? Das kann doch nicht sein.« Roz streckte einen Arm aus, drehte das Handgelenk und schaute stirnrunzelnd auf ihre Armbanduhr. »So ein Mist. Die Zeit ist mir wieder einmal davongelaufen. Ich sage dir was, morgen gehe ich schon mittags. Wenn nicht, läufst du mir nach und scheuchst mich raus.«

»Kein Problem. Jetzt gehe ich besser wieder. Wir sehen uns drüben im Haus.«

Als Roz nach Hause kam, funkelte ihr von den Dachvorsprüngen die Weihnachtsbeleuchtung entgegen; an allen Türen erstrahlten Kränze, und alle Fenster wurden von Kerzenschein erhellt. Den Eingang flankierten zwei Zwergkiefern, die mit winzigen weißen Lichtern übersät waren.

Auch als sie eintrat, war um sie herum alles weihnachtlich geschmückt.

In der Eingangshalle wanden sich rotes Band und Lichterketten das doppelte Treppengeländer hinauf, und unter den Geländerpfosten standen weiße Weihnachtssterne in weihnachtlich roten Töpfen.

In der auf Hochglanz polierten Silberschale ihrer Urgroßmutter glänzten rote Äpfel.

Im Salon beherrschte eine drei Meter hohe Fichte – aus Roz’ eigenem Freiland – die Fenster der Vorderfront. Den Kaminsims zierten die Holznikoläuse, die sie gesammelt hatte, seit sie mit Harper schwanger gewesen war, und von den Enden hing frisches Tannengrün herab.

Stellas beide Söhne hockten im Schneidersitz auf dem Boden unter dem Baum und starrten mit großen Augen zu ihm empor.

»Ist er nicht eine Wucht?« Hayley ließ die dunkelhaarige Lily auf ihrer Hüfte hopsen. »Bleibt einem da nicht die Spucke weg?«

»David muss ja wie ein Pferd geschuftet haben.«

»Wir haben mitgeholfen!« Die Jungen sprangen auf.

»Nach der Schule durften wir bei den Lichterketten helfen«, erzählte Luke, der Jüngere. »Und ganz bald dürfen wir beim Plätzchenbacken helfen und sie verzieren und so.«

»Wir haben sogar oben einen Baum.« Gavin schaute noch einmal die Fichte an. »Er ist nicht so groß wie dieser, weil er für oben ist. Wir haben David geholfen, ihn hochzubringen, und wir dürfen ihn selbst schmücken.«

Wohl wissend, wer die Herrin im Haus war, warf Gavin Roz einen Bestätigung heischenden Blick zu. »Hat David gesagt.«

»Dann muss es ja stimmen.«

»David kocht gerade so etwas wie ein Schmückt-den-Baum-Menü in der Küche.« Stella kam herüber, um den Baum aus Roz’ Blickwinkel zu betrachten. »Sieht so aus, als würden wir ein Fest feiern. Er hat Logan und Harper schon Bescheid gesagt, dass sie um sieben hier sein sollen.«

»Dann sollte ich mich wohl besser entsprechend fein anziehen. Aber gib mir erst mal das Baby.« Sie streckte die Arme aus, nahm Hayley die kleine Lily ab und drückte sie an sich. »So ein großer Baum; beim Schmücken werden wir alle helfen müssen. Wie findest du deinen ersten Weihnachtsbaum, Kleines?«

»Sie hat schon versucht, auf dem Bauch zu ihm hinzurobben, als ich sie auf den Boden gelegt habe. Ich kann kaum erwarten, was sie macht, wenn sie ihn fertig geschmückt sieht.«

»Also, dann komme ich besser mal in die Gänge.« Roz gab Lily einen Kuss und reichte sie wieder ihrer Mutter. »Es ist zwar noch ein bisschen warm, aber ich finde, wir sollten ein Feuer anmachen. Und wenn einer von euch David sagen würde, er soll Champagner auf Eis legen. Ich bin gleich wieder unten.«

Es war zu lange her, dass zu Weihnachten Kinder im Haus gewesen waren, dachte Roz, als sie nach oben eilte. Und der Teufel sollte sie holen, wenn die Anwesenheit der Kleinen sie nicht dazu brachte, sich selbst wieder wie ein Kind zu fühlen.

Zweites Kapitel

In Weihnachtsstimmung ging Roz einkaufen. Die Gärtnerei konnte einen halben Tag ohne sie auskommen. Eigentlich war es vielmehr so, dass der Betrieb, so wie Stella ihn führte, eine ganze Woche ohne sie auskommen konnte. Wenn sie das Bedürfnis hatte, konnte sie ihren ersten richtigen Urlaub nehmen seit – wie lange war es her? Drei Jahre, stellte sie fest.

Doch sie hatte kein Bedürfnis danach.

Zu Hause fühlte sie sich am wohlsten; warum sollte sie sich also die Mühe machen, zu packen und die Strapazen einer Reise auf sich nehmen, nur um irgendwo anders zu landen?

Als die Jungen heranwuchsen, war sie mit ihnen jedes Jahr woanders hingefahren. Disney World, Grand Canyon, Washington D.C., Bar Harbor und so weiter. Kleine Kostproben des Landes, manchmal aus einer Laune heraus ausgesucht, manchmal lange im Voraus geplant.

Dann waren sie für drei Wochen nach Europa gereist. War das nicht eine tolle Zeit gewesen?

Es hatte sie einige Nerven gekostet, drei quirlige Jungen herumzudirigieren; manchmal war sie am Rande der Verzweiflung gewesen, manchmal hysterisch, aber, oh, es war die Mühe wert gewesen.

Sie konnte sich noch erinnern, wie gut Austin die Walbeobachtungstour in Maine gefallen hatte, wie Mason in Paris darauf bestanden hatte, Schnecken zu bestellen, und wie Harper es geschafft hatte, im Adventureland verloren zu gehen.

Diese Erinnerungen würde sie gegen nichts auf der Welt eintauschen.

Anstelle eines Urlaubs konnte sie sich auf andere Dinge konzentrieren. Vielleicht war es an der Zeit, darüber nachzudenken, der Gärtnerei ein kleines Blumengeschäft anzuschließen. Frische Schnittblumen und Sträuße. Lieferungen vor Ort. Das würde natürlich ein weiteres Gebäude erforderlich machen, ein größeres Lager, noch mehr Angestellte. Aber in ein, zwei Jahren war es vorstellbar.

Sie würde ein paar Zahlen durchgehen müssen, um zu sehen, ob das Geschäft das Startkapital aufbringen konnte.

Um die Gärtnerei in Gang zu bringen, hatte Roz einen Großteil ihrer persönlichen Ersparnisse hineingesteckt. Doch sie war bereit gewesen zu pokern. Priorität hatte für sie stets gehabt, dass ihre Kinder gut behütet und versorgt waren. Und dass Harper House gepflegt und beschützt wurde und in der Familie blieb.

Das hatte sie geschafft. Obwohl es Zeiten gegeben hatte, die ihren ganzen Einfallsreichtum erforderten und ihr die eine oder andere schlaflose Nacht beschert hatten. Vielleicht war Geld für sie nicht das Schreckensthema gewesen, das es so oft für allein Erziehende war, aber doch immerhin ein Thema.

Das Gartencenter war nicht nur eine Laune gewesen, wie manch einer geglaubt hatte. Sie war darauf angewiesen gewesen, dass Geld hereinkam, und sie hatte verhandelt, gepokert und getrickst, um es zu bekommen.

Roz war es gleichgültig, ob die Leute sie für reich wie Krösus hielten oder für arm wie eine Kirchenmaus. In Wirklichkeit war sie weder das eine noch das andere, doch mit dem, was ihr zur Verfügung stand, hatte sie sich und ihren Kindern ein angenehmes Leben ermöglicht.

Wenn sie nun also ein wenig verrückt sein und Weihnachtsmann spielen wollte, hatte sie es sich verdient.

Sie wirbelte durch das Einkaufszentrum und geriet in einen solchen Kaufrausch, dass sie zweimal mit Tüten zu ihrem Wagen laufen musste. Da sie jedoch keinen Grund sah, warum sie es gut sein lassen sollte, steuerte sie auf den Wal-Mart zu, um dort die Spielzeugabteilung zu durchforsten.

Wie üblich fielen ihr, kaum dass sie den Laden betreten hatte, ein Dutzend anderer Dinge ein, die sie bestimmt gebrauchen konnte. Ihr Einkaufswagen war schon halb voll, und sie war viermal stehen geblieben, um mit Leuten, die sie kannte, ein paar Worte zu wechseln, bevor sie die Spielzeugabteilung erreichte.

Fünf Minuten später fragte sie sich, ob sie einen zweiten Wagen brauchen würde. Mühsam balancierte sie ein Paar riesiger Kartons auf dem Berg übriger Einkäufe, während sie um eine Ecke bog.

Prompt stieß sie mit einem anderen Einkaufswagen zusammen.

»Entschuldigung. Anscheinend kann ich nicht … oh. Hallo.«

Schon seit Wochen hatte sie Dr. Mitchell Carnagie nicht mehr gesehen, den Ahnenforscher, den sie – mehr oder weniger  – beauftragt hatte. Es hatte ein paar kurze Telefonate gegeben, einige geschäftsmäßige E-Mails, aber begegnet waren sie einander kaum seit jenem Abend, an dem er zum Essen gekommen war. Und an dem sie schließlich den Geist der Harper-Braut gesehen hatten.

Mitch war ein interessanter Mann, fand Roz, und sie rechnete es ihm hoch an, dass er nach dem, was sie alle im vergangenen Frühjahr gemeinsam erlebt hatten, nicht die Flucht ergriffen hatte.

Ihrer Meinung nach verfügte er über die erforderlichen Referenzen sowie das nötige Rückgrat und die nötige Aufgeschlossenheit. Das Beste war jedoch, dass er sie bisher in ihren Diskussionen über die Ahnenfolge und die Maßnahmen, die notwendig waren, um eine Tote zu identifizieren, noch nicht gelangweilt hatte.

Im Augenblick sah er aus, als hätte er sich ein paar Tage nicht rasiert, sodass dunkle Stoppeln seine Gesichtszüge härter wirken ließen. Seine flaschengrünen Augen wirkten zugleich müde und gehetzt. Er hätte dringend zum Friseur gemusst.

Angezogen war er ganz ähnlich wie bei ihrer ersten Begegnung  – er trug alte Jeans und ein verwaschenes Sweatshirt. Im Unterschied zu ihrem war sein Einkaufswagen leer.

»Helfen Sie mir«, sagte er wie jemand, der – gehalten nur von schwitzigen Fingern an einem wackeligen Ast – über dem Rand einer Klippe baumelt.

»Verzeihung?«

»Ein sechsjähriges Mädchen. Weihnachten. Zum Verzweifeln.«

»Oh.« Roz entschied, dass sie seine warme Bourbonstimme mochte, selbst wenn die Panik sie etwas härter klingen ließ, und spitzte die Lippen. »In welcher Beziehung stehen sie zu ihr?«

»Sie ist meine Nichte. Ein später Nachkömmling meiner Schwester. Wenigstens war sie so anständig, vorher zwei Jungen zu bekommen. Mit Jungs komme ich klar.«

»Hm, ist sie ein mädchenhaftes Mädchen?«

Mitch gab einen Ton von sich, als hätte der Ast zu knacken begonnen.

»Schon gut, schon gut.« Roz winkte ab und ließ ihren Wagen stehen, um den Gang hinunterzugehen. »Sie hätten sich einigen Stress ersparen können, wenn sie einfach ihre Mutter gefragt hätten.«

»Meine Schwester ist sauer auf mich, weil ich letzten Monat ihren Geburtstag vergessen habe.«

»Verstehe.«

»Sehen Sie, letzten Monat habe ich einfach alles vergessen, ein paar Mal sogar meinen Namen. Ich habe Ihnen erzählt, dass ich das Buch noch mal überarbeite. Ich war unter Zeitdruck. Um Himmels Willen, sie ist dreiundvierzig. Einundvierzig. Oder vielleicht zweiundvierzig.« Offenbar mit seinem Latein am Ende, fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht. »Hört Ihr Geschlecht nicht mit vierzig auf, Geburtstag zu haben?«

»Wir zählen vielleicht nicht mehr, Dr. Carnagie, aber das heißt nicht, dass wir aus dem Anlass kein angemessenes Geschenk erwarten.«

»Das war deutlich«, erwiderte er und beobachtete Roz, wie sie die Regale durchsah. »Und da Sie mich schon wieder Dr. Carnagie nennen, könnte ich wetten, Sie stehen auf der Seite meiner Schwester. Ich habe Blumen geschickt«, fügte er gekränkt hinzu. Um Roz’ Lippen zuckte es. »Okay, zu spät, doch ich habe sie geschickt. Zwei Dutzend Rosen, aber lenkt sie vielleicht ein?«

Mitch stopfte die Hände in seine Gesäßtaschen und warf Malibu-Barbie einen finsteren Blick zu. »Zu Thanksgiving konnte ich Charlotte auch nicht besuchen. Bin ich deshalb ein teuflischer Dämon?«

»Klingt, als hätte Ihre Schwester Sie sehr gern.«

»Wenn ich heute nicht dieses Geschenk auftreibe und es morgen nicht per Express ankommt, wird sie überlegen, wie sie mich schleunigst um die Ecke bringen kann.«

Roz nahm eine Puppe in die Hand und legte sie wieder hin. »Dann nehme ich an, der Geburtstag Ihrer Nichte ist morgen, und Sie haben bis fünf vor zwölf gewartet, bis Sie losgegangen sind, um etwas für sie zu finden.«

Mitch schwieg einen Moment, dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter, sodass sie sich umwandte und zu ihm aufsah. »Rosalind, wollen Sie, dass ich sterbe?«

»Ich fürchte, ich würde mich nicht dafür verantwortlich fühlen. Aber wir finden schon etwas, dann können Sie es einpacken lassen, und ab die Post.«

»Einpacken. Allmächtiger, muss das sein?«

»Natürlich muss das sein. Und Sie müssen eine schöne Karte kaufen, eine hübsche, die für das Alter der Kleinen passend ist. Ah. Das gefällt mir.« Roz klopfte an einen riesigen Karton.

»Was ist das?«

»Damit kann man ein Haus bauen. Sehen Sie, es sind lauter Bausteine, mit denen man sein eigenes Puppenhaus bauen und wieder umbauen kann, inklusive Möbeln. Dazu gehören auch Puppen und ein kleiner Hund. Das macht Spaß und ist pädagogisch wertvoll. Sie schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Super. Klasse. Fantastisch. Ich verdanke Ihnen mein Leben.«

»Das hier ist doch eigentlich nicht Ihre Gegend, oder?«, fragte Roz, als Mitch den Karton aus dem Regal nahm. »Sie wohnen mitten in der Stadt. Dort gibt es jede Menge Geschäfte.«

»Das ist ja das Problem. Es sind zu viele. Und die Einkaufszentren? Ein Labyrinth von Einzelhandelsgeschäften, die Hölle. Dagegen habe ich eine Phobie. Also dachte ich mir, he, Wal-Mart. Da ist wenigstens alles unter einem Dach. Ich bekomme etwas für die Kleine, und … verflixt, was wollte ich noch kaufen? Waschmittel. Ja, ich brauche Waschmittel und noch etwas anderes, ich hab’s aufgeschrieben …« Er wühlte in seiner Tasche und zog einen Palmtop hervor. »Hier.«

»Na, dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Vergessen Sie nicht das Geschenkpapier, Geschenkband, eine große Schleife und eine hübsche Karte.«

»Moment, Moment.« Mit dem Stift fügte Mitch die übrigen Artikel hinzu. »Schleife. Die kann man fix und fertig kaufen und einfach draufklatschen, oder?«

»Das wird reichen, ja. Viel Glück.«

»Nein, warten Sie, warten Sie.« Mitch stopfte seinen Palmtop wieder in die Tasche und schob den Karton beiseite. Seine grünen Augen sahen nun ruhiger aus und blickten Roz an. »Ich wollte mich ohnehin bei Ihnen melden. Sind Sie hier fertig?«

»Nicht ganz.«

»Gut. Lassen Sie mich zusammenkramen, was ich brauche, dann treffe ich Sie an der Kasse. Ich helfe Ihnen, Ihre Sachen zum Auto rauszubringen, dann lade ich Sie zum Mittagessen ein.«

»Es ist schon fast vier. Ein bisschen spät zum Mittagessen.«

»Oh.« Mitch sah flüchtig auf die Uhr. »Ich glaube, an Orten wie diesem gehen die Uhren anders. Wahrscheinlich könnte man hier bis an sein Lebensende ziellos herumspazieren, ohne es zu merken. Na, egal. Gehen wir eben was trinken. Ich würde wirklich gerne mit Ihnen über das Projekt sprechen.«

»Also gut. Drüben auf der anderen Straßenseite gibt es einen kleinen Laden namens Rosa’s. Wir treffen uns dort in einer halben Stunde.«

Doch Mitch wartete an der Kasse. Geduldig, wie es aussah. Dann bestand er darauf, ihr zu helfen, ihre Tüten im Auto zu verstauen. Mit einem Blick auf die Mengen, die bereits im Kofferraum ihres Durango lagen, sagte er: »Heilige Mutter Gottes.«

»Ich gehe nicht oft einkaufen, aber wenn ich es tue, dann richtig.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Es sind keine drei Wochen mehr bis Weihnachten.«

»Ich muss Sie bitten, das nicht zu erwähnen.« Mitch hievte die letzte Tüte in den Wagen. »Mein Auto steht dort drüben.« Er deutete vage nach links. »Wir treffen uns gleich.«

»Schön. Vielen Dank für die Hilfe.«

Die Art und Weise, wie er davonging, erweckte bei Roz den Eindruck, dass er sich nicht ganz sicher war, wo genau er geparkt hatte. Sie dachte, er hätte den Standort in dieses kleine persönliche Datending eingeben sollen, das er in der Tasche hatte. Bei der Vorstellung musste sie lachen, während sie zu dem kleinen Restaurant hinüberfuhr.

Eine gewisse Zerstreutheit störte sie nicht. Für sie war das lediglich ein Zeichen dafür, dass jemand vermutlich eine Menge im Kopf hatte und es ein wenig länger dauerte, bis ihm einfiel, was er gerade suchte. Immerhin hatte sie Mitchell Carnagie nicht aus heiterem Himmel engagiert. Sie hatte Erkundigungen über ihn eingezogen und ein paar seiner Bücher gelesen oder überflogen. In seinem Fachgebiet war er gut, er stammte aus ihrer Gegend, und auch wenn er einiges kostete, war er nicht vor der Aussicht zurückgeschreckt – jedenfalls nicht allzu sehr –, Nachforschungen über einen Geist anzustellen, den es zu identifizieren galt.

Roz parkte den Wagen und betrat den Gastraum des Restaurants. Zuerst wollte sie sich einen Eistee oder einen Kaffee bestellen, doch dann dachte sie, zum Kuckuck. Nach so einer erfolgreichen Shoppingtour verdiente sie ein schönes Glas Wein.

Während sie auf Mitch wartete, rief sie mit ihrem Handy die Gärtnerei an, um Bescheid zu geben, dass sie noch nicht zurückkommen würde, es sei denn, sie würde gebraucht.

»Hier ist alles klar«, berichtete Hayley. »Du musst ja sämtliche Geschäfte leer kaufen.«

»Hab ich schon. Dann habe ich im Wal-Mart zufällig Dr. Carnagie getroffen …«

»Den scharfen Typ? Wie kommt es nur, dass mir im Wal-Mart nie so tolle Männer über den Weg laufen?«

»Dein Tag wird kommen, ganz bestimmt. Auf jeden Fall werden wir hier noch was trinken und über unser kleines Projekt sprechen.«

»Cool. Du solltest das über das Abendessen verlängern, Roz.«

»Es ist kein Rendezvous.« Dennoch zog Roz ihren Lippenstift heraus und legte ein wenig helles Korallenrot auf. »Es ist ein improvisiertes Treffen. Wenn irgendwas ist, kannst du mich anrufen. Wahrscheinlich bin ich ohnehin in einer Stunde auf dem Heimweg.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Und, hör mal, ihr müsst doch sowieso beide irgendwann etwas essen, warum also nicht …«

»Da kommt er. Ich erzähle euch später alles. Bis dann.« Mitch rutschte in die Nische gegenüber von ihr. »Das traf sich ja gut, oder? Was hätten Sie gerne?«

Roz bestellte ein Glas Wein und er Kaffee, schwarz. Dann schlug er die Speisekarte auf und orderte Antipasti. »Nach so einer Shopping-Safari braucht man eine Stärkung. Wie geht’s Ihnen denn so?«

»Sehr gut, danke. Und Ihnen?«

»Gut, nun da ich das Buch vom Hals habe.«

»Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, worum es darin geht.«

»Um Charles Baudelaire und seine Geschichte.« Mitch hielt inne, da er bemerkte, dass Roz fragend die Augenbrauen hochzog. »Dichter, neunzehntes Jahrhundert. Wilder Querdenker aus Paris – drogenabhängig, sehr umstritten, mit einem äußerst dramatischen Lebenslauf. Er wurde wegen Blasphemie und Obszönität verurteilt, hat sein Erbe verschleudert, Poe übersetzt, düstere, intensive Gedichte geschrieben. Erst lange nach seinem Tod an der Syphilis wurde er von vielen als der Dichter der modernen Zivilisation angesehen – und von anderen als kranker, vulgärer Irrer.«

Roz lächelte. »Und in welchem Lager schlagen Sie Ihr Zelt auf?«

»Er war genial – und ein schräger Vogel. Ich warne Sie, wenn ich erst einmal davon anfange … Lassen Sie mich einfach sagen, es war faszinierend und frustrierend zugleich, über ihn zu schreiben.«

»Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden?«

»O ja. Und noch glücklicher bin ich darüber«, erwiderte Mitch, während ihre Getränke serviert wurden, »dass ich nicht mehr Tag und Nacht mit Baudelaire leben muss.«

»Das ist so, wie mit einem Geist zu leben, oder?«

»Geschickte Überleitung.« Er prostete ihr mit seinem Kaffee zu. »Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich Ihre Geduld zu schätzen weiß. Ich hatte gehofft, dieses Buch schon vor Wochen unter Dach und Fach zu haben, aber dann führte eines zum anderen.«

»Sie haben mich von Anfang an gewarnt, dass sie vorerst nicht zur Verfügung stehen würden.«

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so lange dauern würde. Aber ich habe schon recht viel über Ihre Situation nachgedacht. Das ließ sich kaum vermeiden, nach den Erlebnissen im letzten Frühjahr.«

Die OriginalausgabeBLACK ROSEerschien 2005 bei Penguin Group (USA) Inc., New York

Redaktion: Oliver Neumann

Deutsche Erstausgabe 09/2005

Copyright © 2005 by Nora Roberts

Copyright © dieser Ausgabe 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: © Massimo Listri/CORBIS Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-641-09190-3

http//www.heyne.de

www.randomhouse.de

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