Ein Autor, ein Buchbinder & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Autor, ein Buchbinder & ein Geist E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Vom Ex abserviert und aus der gemeinsamen Wohnung geworfen – Horatio weiß gerade nicht, wie es weitergehen soll. Doch in seiner Not kann er sich auf den sechsten Sinn von Anita verlassen. Seine großmütterliche Freundin lädt ihn in ihr großes Haus nach Klaxdonnersbüll ein, bis er wieder Fuß gefasst hat. Mit seinem Kater und einem vollbepackten Mietwagen bricht Horatio zum malerischen Kuhdorf auf. Doch dann geht alles schief. Er landet mitten in einem norddeutschen Schneesturm. Glück im Unglück findet er in Gestalt des angenehm gelassenen Buchbinders Thor, dank dem er überhaupt sein Ziel erreicht. Doch dort fehlt von Anita jede Spur. Für Thor steht auf den ersten Blick fest, dass Horatio dringend Unterstützung benötigt. Er selbst schwankt zwischen Fangirlen für den Autor und einem ersten Anflug von Verliebtheit. Schnell merkt er, dass die Fantasie eines Autors mitunter auch mit diesem durchgehen kann, denn Horatio verkündet schon bald, dass irgendetwas ganz und gar faul ist in Klaxdonnersbüll!

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Ein Autor, ein Buchbinder & ein Geist

 

Tanja Rast

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

 

Inhaltsverzeichnis
1. Der sechste Sinn
2. Das Haus am Moorweg
3. So viel Schnee
4. Nachtgedanken
5. Schlechte Nachrichten
6. Vorräte und Geschichten
7. Irische Totenwache
8. Anitas Letzter Wille
9. Nudeln mit Sauce
10. Buchstabenkekse
11. Frühstücksbeichte
12. Schnee und Kekse
13. Nachrichten
14. Klärende Gespräche
15. Spurensuche
16. Autofahrt im Schnee
17. Strategen bei der Arbeit
18. Hammer
19. Offenbarung
20. Spukt es hier?
21. Feline Verstärkung
22. Liebe Grüße
23. Horatios Plan
24. Geistlicher Beistand
25. Übung macht die Meisterin
26. Die Weite des Moors
27. Erste Hilfe
28. Rotkäppchen
29. Eine Falle
30. Vorbereitungen
31. Kirchgang
32. Ruhe vor dem Sturm
33. Ein Plan in Auflösung
34. Anita
35. Spuk in der Kirche
36. Frieden
Epilog Moorhof

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danke
Bücher, die mitgespielt haben
Impressum

1.Der sechste Sinn

Horatio

Nachdem er sich lange und ausgiebig mit dem Kater im Arm auf dem Sofa ausgeheult hatte, wankte Horatio ins Bad. Der Plan lautete, sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen, den Kopf zu klären und sich danach mit der Problemlösung zu beschäftigen. Aber als er in den Spiegel blickte und verquollene Augen, dicke Nase und rote Wangen sah, musste er gleich wieder weinen.

Es war nicht nur Boris, sondern auch die Wohnung, eine gewisse Sicherheit und Behaglichkeit und natürlich Karrikan.

Schließlich putzte Horatio sich doch die Nase und versuchte es mit kaltem Wasser.

Eine Woche hatte sein … nun, sein Ex ihm gegeben, um aus der Wohnung zu verschwinden. Und leider saß Boris am längeren Hebel, weil das seine von seinem Herrn Vater bezahlte Eigentumswohnung war. Sie hatten vor anderthalb Jahren, als Horatio so verliebt zu ihm gezogen war, natürlich keine Art von Vertrag abgeschlossen, der Horatio nun ein wenig mehr Zeit verschaffen würde. Boris hatte wohl genau gewusst, warum es so ein Papier nicht gab.

Der Mistkerl – oh, es tat gut, ihn in Gedanken so zu nennen, obwohl Horatio natürlich auch gleich ein schlechtes Gewissen bekam – war jetzt bei seinem neuen Freund und plante, genau dortzubleiben, bis Horatio und Karrikan ausgezogen waren. Keine Chance auf einen leidenschaftlichen Appell an Boris’ Verständnis oder gar Herz.

Das einzig Gute: Horatio besaß nicht viel in dieser Wohnung mit den schicken Designer-Möbeln und der sündhaft teuren Einbauküche. Schreibtisch, den wirklich guten Stuhl dazu, seinen Laptop, Karrikans Ausstattung und … Bücher. Ungemein viele Bücher. Plus Notizbücher und gefühlte drei Tonnen Stifte, Textmarker, Washi-Tape und Ähnliches. Was ein Autor eben benötigte, um all seine Ideen festzuhalten, den Schreibprozess zu begleiten und den Überblick zu behalten.

Theoretisch betrachtet brauchten er und sein Kater nur eine Ein-Zimmer-Wohnung. Praktisch gesehen: Woher nehmen und nicht stehlen? Vor allem binnen einer Woche?

Hotel oder so zur Überbrückung schieden aus wegen Karrikan. Tierheim als Übergangslösung für den Kater kam ja überhaupt nicht infrage.

Okay, aber immerhin war er wieder in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Eine exorbitante Verbesserung.

Karrikan folgte ihm nun ins Badezimmer, sprang mit elegantem Satz auf den Klodeckel – das war auch so eine Schwerstarbeit gewesen, Boris dazu zu bringen, den Deckel runterzuklappen – und musterte Horatio aus seinen sternenklaren Augen, ehe er lautstark maunzte. Karrikan war riesig, schneeweiß, hatte die wunderschönsten blauen Augen der Welt und war genetisch bedingt stocktaub. Wenn er miaute, klirrten die Fensterscheiben.

»Wir sind am Arsch, mein Süßer«, erklärte Horatio. Obwohl Karrikan ihn nicht hören konnte, genoss der Kater einfach die Aufmerksamkeit. Und Horatio fühlte sich ein wenig besser. Statt zu heulen, sprach er aus, wie es aussah. Nicht gut. Ganz und gar nicht.

Seine Eltern waren vor Jahren nach Schweden ausgewandert, wo sie immer noch unter dem Schock laborierten, einen schwulen Sohn zu haben. Schwedische Idylle kurierte einen solchen Schicksalsschlag offenkundig nicht im Handumdrehen. Geschwister hatte er nicht. Irgendwo bestimmt einen entfernten Cousin oder so. Seine beste Freundin wohnte südlich von München. Hier in Norderstedt hatte Horatio ein paar lockere Bekanntschaften und den einen oder anderen Ex. Und Boris.

»Mir fällt bestimmt etwas ein.«

Karrikan maunzte, was wie eine Anfeuerung klang.

»Heute Abend kann ich ohnehin nichts Ernsthaftes mehr machen. Ich hänge mich nachher an den Rechner und suche Wohnungsangebote.« Viel Hoffnung hatte er wirklich nicht. Aber, womit er auf jeden Fall sofort anfangen musste, war die Trennung der Haushaltsgegenstände. Das ist meins. Das gehört Boris. Und das kann er auch behalten.

Er brauchte Umzugskartons. Müllsäcke für den Transport der Klamotten, weil es schnell gehen musste. Eine Woche! Boris, du bist wirklich ein Mistkerl!

Aber Wut war gerade besser als das Jammertal. Weinen mochte befreiend wirken, aber es brachte ihn nicht weiter.

»Machen wir uns an die Arbeit?«, fragte er.

Karrikan stampfte auf dem Klositz und starrte ihn wie bewundernd an. Kaum zu glauben, dass aus dem winzigen Kätzchen mit Silberblick und Zahnstocherschwänzchen solch ein Koloss hatte werden können.

Noch einmal klatschte Horatio sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete sich dann ab und verließ entschlossen das Badezimmer. Bücher, Schreibtisch, die beiden stabilen Regale da, sein Stuhl, der Laptop und Karrikans monströser Kratzbaum. Außerdem Klamotten und sein Fahrrad. Das war übersichtlich. Tatsächlich, befand er, sollte seine Habe in einen kleinen Sprinter passen. Den konnte er mieten. Das Haus verfügte über einen Fahrstuhl, und in der Abseite neben dem Schlafzimmer verwahrte Boris einen kleinen Handwagen, der den Umzug von der Wohnung in den Sprinter einfach gestalten sollte. Die einzige Frage war: wohin?

Keine Ahnung.

Horatio konnte aber einen Vorteil verbuchen: Er war Autor und nicht darauf angewiesen, eine optimale Verkehrsanbindung an irgendeinen Bürokomplex zu haben. Internet war unabkömmlich für Recherche und Upload und Kontakt zu Carmen im fernen Bayern, die für ihn Korrektorat las und zauberhafte Cover für seine Romane schuf. Sonst benötigte er nicht viel, würde aber gerne in der näheren Umgebung bleiben, damit er nicht stundenlang mit einem pöbelnden Kater auf dem Beifahrersitz über Autobahnen robben musste. Etwas weiter weg vom Ballungsraum Hamburg war bestimmt nicht die schlechteste Idee, damit die Miete bezahlbar ausfiel.

Da musste sich doch etwas finden lassen.

Aber bestimmt nicht binnen einer Woche, so er nicht gerade in ein von Kakerlaken erobertes Kellerloch ziehen wollte.

Scheiße! Und wieder drohte Selbstmitleid damit, ihn zu übermannen. Er schnappte sich den Kater und ließ sich aufs Sofa plumpsen. Ging gleich wieder. Er schaffte das irgendwie.

Karrikan schnurrte wie ein Staubsauger auf Steroiden und krallte sich liebevoll in Horatios Pullover. Großer Tröster, der er war. Taub mochte er sein, aber er besaß ganz feine Antennen für seinen obersten Diener.

Jetzt musste Horatio grinsen. Denn Karrikan hatte mehr als einmal dezent in Boris’ Schuhe gepieselt. Der Kater war ganz offensichtlich weiser als er selbst.

Obwohl … die Zeit mit Boris war schön gewesen, und mit einem derart abrupten Ende hätte Horatio im Leben nicht gerechnet.

Er schniefte leise in weißes Fell, als das Handy klingelte.

»Geh doch mit deinem Schnuckel ins Bett, statt mich zu belästigen, du Blödmann. Nein, ich nehme dich in hundert Jahren nicht zurück«, grollte Horatio das Gerät an, bis er begriff, dass da nicht Boris’ Konterfei auf dem Display stand, sondern ein Foto von einem Rapsfeld.

Anita!

Er drückte Karrikan an sich, beugte sich vor und fischte das Handy vom Couchtisch. Hastig nahm er das Gespräch an. Anita war alt! Himmel, wenn ihr etwas passiert war. Treppe runtergefallen oder so, das genügte ja schon.

»Hallo, meine Liebe!«, begrüßte er sie und hoffte, dass er keine Ärztin am Ohr hatte, die ihm gleich mit Grabesstimme schlechte Nachrichten überbringen musste. Aber er war ja mit Anita nicht verwandt, durfte man ihm dann etwas sagen? Verdammt! »Alles okay?«, fragte er rasch als Zusatz.

»Das wollte ich dich gerade fragen, mien Jung«, antwortete sie. Die tiefe, unglaublich rauchige Stimme wie immer.

»Ja, natürlich!« Nein, nichts ist in Ordnung. Aber ich will dir nicht ins Ohr heulen. Tat er bestimmt gleich trotzdem. Seine Augen brannten und wollten unbedingt die Schleusentore öffnen.

»Ich hatte das dringende Gefühl, dich anrufen zu müssen«, fuhr Anita unbeirrbar fort. »Geht es dem kleinen Flausch gut?«

Horatio sah den kleinen Flausch an, der den Blick gelassen erwiderte. Los, sag es ihr!, stand in den blauen Augen. Ganz eindeutig.

Er gab sich einen Ruck. »Boris … er hat einen neuen Freund.«

»Der weiß gar nicht, was er Gutes an dir hatte«, erwiderte sie schroff. »Gebrochene Herzen heilen, mien Jung, auch wenn sich das jetzt gerade gar nicht so anfühlt.«

Ja, das wusste sie wohl besser als irgendjemand anders. Anita wäre fast seine Oma geworden. Ihr Mann und sie waren jahrelang mit Horatios Großeltern befreundet gewesen. Gemeinsam nach Juist, Amrum oder Römö gefahren, zusammen über den Plöner See im Tretboot, Museumsbesuche und so viel mehr. Bis Anitas Mann gestorben war. Und einige Monate später Horatios Oma. Da waren Opa und Anita dichter zusammengerückt. Und daraus war mehr geworden. Bis Opa gestorben war.

Die Ungerechtigkeit dieser Geschichte überrollte ihn und warf dazu noch einmal Boris und die eine Woche Galgenfrist in die Waagschale, und nun brach Horatio doch wieder in Tränen aus und stammelte ziemlich konfus in das Telefon, was jetzt eigentlich alles los war. Vielleicht könnte Anita Karrikan bei sich aufnehmen, bis Horatio eine eigene Wohnung gefunden hatte? Daran klammerte er sich gerade fest. Bei ihr hätte der Kater es gut. Kein Tierheim. Und Horatio wollte seinen kleinen Kumpel auf jeden Fall wiederhaben!

Anita brummte leise und sehr tröstend Zustimmung und Mitgefühl, während Horatio sie mit seinem Leid überschwemmte und Karrikans Fell nassweinte.

»Ich wünsche ihm einen Plattfuß, einen platten Reservereifen, keinen Handyempfang auf einer einsamen Landstraße nachts um halb drei. Bei Hagel, barfuß und nur in Unterhose«, sagte sie schließlich. »Wie sollst du binnen einer Woche eine Wohnung finden?«

»Ich weiß«, greinte Horatio. Er wischte sich über eine Wange und verteilte gleichzeitig Karrikans feine Haare in seinem halben Gesicht.

»Schaffst du es, deine ganzen Sachen in einen Umzugswagen zu stopfen?«

»Hab nicht viel.« Er hatte keine Hand frei, weil Karrikan die eine umklammerte und die andere das Handy hielt. Sonst hätte er jetzt ein Taschentuch gesucht. Da war bestimmt eines von der ersten Weinerei noch in der Hosentasche.

»Mein Haus hat eine gemütliche Einliegerwohnung. Die habe ich mal einrichten lassen, weil ich dachte, dass ich irgendwann eine Haushaltshilfe oder Pflegekraft brauche. Aber die Wohnung steht leer. Sie hat eine eigene Terrassentür zum Garten, eine eigene Haustür und ist einfach, aber komplett eingerichtet. Ich habe sogar Internet, und in der Wohnung ist eine Steckdose für den Computer. Pack deine Sachen, pack den kleinen Flausch und komm hierher.«

»Das … das kann ich nicht annehmen …«

»Unfug. Du kommst hierher, kommst zur Ruhe und hast dann Zeit, um dir weitere Schritte zu überlegen. Ich will dich ja nicht auf ewig in diesem Kuhdorf annageln, mien Jung.«

»Wie soll ich das wieder gutmachen?«

»Du kannst Schnee schippen! Schöne Leibesertüchtigung und ein Ausgleich zum Hocken am Computer. Wir schlagen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Ich sehe dich und den kleinen Flausch mal wieder, du hast ein Dach über dem Kopf, und dein Kater bekommt Vögel und Kaninchen zu sehen. Manchmal kommen sogar Rehe auf die Auffahrt. Das wird ihm gefallen.«

Die Idee klang wirklich nach einer Lösung. Und er konnte sich einreden, dass er ihr gar nicht lange zur Last fallen musste. Obendrein konnte er sich wirklich ein wenig nützlich machen. »Moment, ich brauche ein Taschentuch.«

Wieder dieser sanft brummende Ton der Zustimmung.

Horatio legte das Handy neben sich, schob Karrikan ein Stück beiseite und grub in der Jeans nach einem feuchten Papiertuch, um sich die Nase zu putzen. Besser.

Er schnappte sich wieder das Telefon. »Ich muss mich um einen Sprinter oder so kümmern.«

»Nimm einen, den du hier oben wieder abgeben kannst. Flensburg oder so, damit du keine zweite Weltreise machen musst.«

Weltreise war niedlich. Es mussten knapp über hundertfünfzig Kilometer sein. Einmal quer durch Schleswig-Holstein. Anita wohnte in einem Kuhkaff mit albernem Namen nahe der dänischen Grenze. Horatio war nie da gewesen, obwohl sie zu Weihnachten und an Geburtstagen Geschenke austauschten. Karrikan bekam immer winzige, von Hand gestrickte Socken, die Anita mit Heu oder Kräutern füllte. Horatio erhielt Notizbücher, die ebenfalls Handarbeit und einfach wundervoll waren. Autoren brauchten immer Notizbücher, auch wenn diese eigentlich zu schön waren, um sie zu benutzen. Dank Opa wusste er, dass Anita für ihr Leben gerne puzzelte, und so suchte er immer besonders schöne Motive für sie aus und bekam einige Tage oder Wochen später Fotos vom vollendeten Werk. Ihr Verhältnis war freundschaftlich, ohne allzu eng zu sein. Aber im Gegensatz zu seinen nach Schweden geflüchteten Eltern hatte Anita nicht die geringsten Probleme damit, dass Horatio schwul war. Genau wie Opa sich nicht darum geschert hatte. Die beiden wären wirklich ein süßes Paar gewesen.

»Gut, mien Jung. Ich sauge noch einmal durch die Wohnung, lüfte und beziehe das Bett frisch und kaufe dir ein wenig Lebensmittel ein. Ehe ich Unfug besorge: Bist du Veganer oder Vegetarier? Bist du gegen irgendetwas allergisch?«

»Vegetarier, keine Allergien.«

»Milchprodukte und Eier? Eier nur von Freilaufhennen, keine Sorge.«

»Ja zu beidem. Danke, Anita.«

»Dann machst du dir jetzt eine heiße Milch mit Honig, schnappst dir den Flauschigen und gehst ins Bett. Du kommst hier an, wenn du ankommst. Ich bin meistens zu Hause, aber für den Fall, dass ich wirklich unterwegs sein sollte, gebe ich dir jetzt meine Handynummer durch. Modernes Firlefanzding, aber dann hat es wenigstens einen Zweck. Falls ich nicht auf Klingeln an der Tür reagiere, rufst du an. Dann bin ich in ein paar Minuten da.«

Er notierte die Nummer gleich in seinem Smartphone. Dass Anita ein Mobiltelefon besaß, hatte er bis eben gerade gar nicht gewusst. »Ich glaube, ich muss wieder weinen.«

»Dann mach das. Ich verstehe das. Und wenn du dich müde geweint hast, gehst du schlafen. Kopf hoch, Horatio, wir kriegen das hin. Und wenn du hier bist, lästern wir gemeinsam über Boris. Das wird dir guttun!«

Da konnte er sogar schon wieder ein bisschen lachen. »Das machen wir. Danke für alles, Anita. Ich hab echt nicht gewusst, wo Karrikan und ich abbleiben sollen.«

»Wie denn auch binnen einer Woche! Dieser fiese Kerl! Das Landleben wird dir guttun. Frische Luft und Inspiration tanken! Und auch in Klaxdonnersbüll gibt es schöne Männer, wirst schon sehen. Vielleicht spielt dein nächster Krimi ja mal auf dem platten Land in einem kleinen Kuhdorf. Hier laufen ein paar schräge Gestalten herum, die dich vielleicht inspirieren. Den Amrum-Krimi habe ich übrigens vorgestern ausgelesen und konnte die halbe Nacht nicht schlafen.«

»Du liest meine Romane?«, fragte er verblüfft, weil das noch nie ein Gesprächsthema zwischen ihnen gewesen war.

»Alle«, verkündete sie vergnügt. »So, jetzt aber ab ins Bett mit dir. Ich bereite hier alles vor, und du kommst, sobald du kannst. Ich freu mich auf dich, mien Jung.«

»Danke. Ich beschaffe morgen einen Sprinter. Ich komme so rasch wie möglich.«

Er wollte aus dieser Wohnung – jetzt, da er wusste, wo Karrikan und er unterkommen würden, konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen. Weg von Boris’ teurer, leicht unbequemer Ledercouch, fort von allem, was nach ihm roch, an ihn erinnerte und ihm gehörte.

Er fütterte Karrikan, machte sich wie befohlen eine warme Milch mit Honig und verkroch sich zusammen mit dem Kater ins Bett. Roch nach Boris, aber das war gerade egal. Mit ein wenig Glück war dies die letzte Nacht, die er in diesem Bett und dieser Wohnung verbringen würde.

 

Er bekam einen Sprinter, den er – wollte er Geld sparen – am gleichen Abend noch in Flensburg wieder abgeben konnte.

Horatio sperrte Karrikan mit Leckerchen und Kistchen ins Badezimmer und begann, sein Hab und Gut aus der Wohnung zu schaffen. Beim Supermarkt hatte er allerlei nicht zusammenpassende Kartons abgestaubt. Boris’ kleines Wägelchen schleppte alles brav in den Fahrstuhl und dann zum wartenden Fahrzeug. Ohne diese Hilfe wäre er an den Bücherkartons zerbröselt, das stand einmal fest! Es war doch mehr, als Horatio gedacht hatte. Sein Fahrrad hätte er beinahe vergessen, und Karrikans Kratzbaum passte auch nur knapp hinein. Vielleicht hätte er den auseinandernehmen sollen.

Schließlich blieb ihm nur, Karrikan in den Transportkorb zu verfrachten, allerletzten Kleinkram nach unten zu bringen und den Kater auf dem Beifahrersitz anzuschnallen. Den Airbag konnte er dort glücklicherweise ausschalten.

Während Karrikan im Auto herummaunzte, drehte Horatio eine letzte Runde durch die Wohnung. Er nahm den Chilikäse aus dem Kühlschrank mit. Den mochte Boris ohnehin nicht. Einmal noch ging er von Raum zu Raum, aber er hatte alles verstaut, das ihm gehörte.

Ein wenig theatralisch fühlte er sich schon, als er den Wohnungsschlüssel von seinem Bund löste und auf die Kommode im Flur legte. Doch immerhin verkniff er sich dabei große Worte. Horatio zögerte. Ach, egal! »Kein Wunder, dass Karrikan in deine Schuhe gepisst hat. Hätte ich mal besser auf meinen Kater gehört.«

Nicht gerade große Worte, aber sie kamen von Herzen.

Horatio verließ die Wohnung, zog die Tür ins Schloss und atmete tief durch. Auf ins Unbekannte! Und er stand ja nicht ganz alleine da. Karrikan war auf seiner Seite, und Anita hielt ihnen den Rücken frei.

Der Rest kam auch wieder in Ordnung.

2.Das Haus am Moorweg

Horatio

Leider besaß Horatio kein Ladegerät fürs Auto. Und die Powerbank war in irgendeinem Pappkarton im Laderaum. So ging seinem als Navi fungierenden Smartphone kurz vor Klaxdonnersbüll der Saft aus. Hätte er es doch nur während des Verladens seiner Sachen noch einmal an eine Steckdose gehängt! So konnte er nicht einmal Anita anrufen und sie um Dienste als Pfadfinderin bitten. Verflixt!

Außerdem war das Wetter wirklich mies geworden. Dunkel zugezogen, immer wieder kleine Schneeflocken und hin und wieder auch welche, die wie winzige Schafe aussahen, sodass Horatio fast meinte, ihr Mäh zu hören, wenn sie die Windschutzscheibe zu erobern suchten. Pustig war es auch, und dieser Sprinter war ein riesiges Segel und nahm Böen sehr persönlich.

Bevor sein Handy sich abschaltete, hatte es ihn noch durch Prillsande gelotst, wo er eifrige Menschen beim Schneeschippen und ein warm erleuchtetes Bistro entdeckt hatte.

Okay, früher – also in der Steinzeit, vor der Erfindung des Handys – hatten Menschen sich an Karten orientiert. Welchen aus Papier. Woher sollte er so etwas bekommen? Er fuhr jetzt nach Klaxdonnersbüll. Der Ort sollte als Nächstes kommen. Vielleicht stand da eine Gemeindekarte herum. Oder er fragte jemand mit Schneeschippe.

Karrikan miaute kläglich und rumorte im Transportkorb. Er langweilte sich garantiert zu Tode. Oder er musste mal. Bitte nicht!

»Halt noch ein bisschen durch. Es kann wirklich nicht mehr weit sein.« Na, hoffentlich!

Da kam das Ortsschild in Sicht. Samt einer Tankstelle auf der rechten Seite. Prima, notfalls konnte er da nachfragen oder vielleicht sogar eine Karte kaufen.

Im lockerflockigen Schneetreiben hielt er Ausschau nach Straßenschildern. Aber auf keinem stand Moorweg, wie ungefällig!

Rechts tauchte nach einer Weile ein Kirchturm auf. Und fast gegenüber ein Supermarkt. Oder zumindest ein Laden. Mit Parkplatz. Ehe er durch alle Dorfstraßen schlich, bog Horatio entschlossen dorthin ab. Er würde jetzt nach dem Weg fragen, auch wenn er das hasste. Seine alberne Scheu Fremden gegenüber musste jetzt halt mal die Klappe halten. Er konnte schlecht halb Norddeutschland abgrasen!

Wenig los hier, aber ein paar Autos standen auf dem Parkplatz. Außerdem waren Fahrräder nahe dem Abstellplatz für die Einkaufswagen an ein Metallgeländer gelehnt. Obwohl das Dorf sonst insgesamt einen verflixt menschenleeren Eindruck gemacht hatte, würde er hier jemand finden, der oder die ihm den Weg beschreiben konnte. Wahrscheinlich war es gleich die nächste Einfahrt links oder so.

Er parkte das Auto, sah sich kurz um und hüpfte nach draußen, ehe er es sich anders überlegen konnte. Kalt! Arschkalt, nass und windig. Horatio wickelte den Mantel fester um sich und entdeckte einen Mann, der gerade aus einem niedlich-handlichen Flitzer kletterte.

Zielsicher hielt Horatio auf diesen wandelnden Wegweiser zu. Huch, wie grüßte man auf dem Dorf, ohne sich gleich als Auswärtiger und mit den örtlichen Gepflogenheiten nicht vertraute Person zu outen? Dörfler waren eigen. Vermutete Horatio. Zumindest waren sie das immer in seinen Romanen. Wortkarg und Städtern gegenüber nicht immer aufgeschlossen. Seine Sozialscheu kreischte Alarm, weil er da einen Wildfremden ansprechen wollte und …

Und der Mann zog sich als Windschutz den Mantelkragen hoch, entdeckte Horatio und nickte ihm freundlich zu. »Moin! Was für ein Wetter!«

»Absolut scheußlich«, stimmte Horatio zu, dessen Fähigkeiten im Small Talk auch nicht eben ausgereift waren. Aber Wetter – das war auf dem Land wichtig, nicht wahr? Wegen Treckern und Ernte und so. Glaubte er. Er riss sich zusammen. »Mein Navi hat soeben den Geist aufgegeben.« Aus den Augenwinkeln sah er einen zweiten Mann aus dem Wagen steigen. Hochgewachsen und in eine robuste Allwetterjacke gehüllt. »Ich suche den Moorweg«, fügte er tapfer hinzu. »Können Sie mir bitte den Weg beschreiben?«

»Den kenne ich nicht. Ich wohne noch nicht so lange hier«, antwortete der vermeintliche Retter, ehe er sich an den zweiten Mann wandte: »Kevin? Moorweg? Wo ist der?«

Der so Angesprochene nickte. »Von wo kommen Sie jetzt? Flensburg oder Niebüll?«

»Flensburg«, antwortete Horatio.

»Okay. Ist Ihnen zwischen Prillsande und Klaxdonnersbüll die Abbiegung nach Rothenbüll aufgefallen?«

Horatio nickte.

»Von hier aus gesehen kommt etwa zweihundert Meter, ehe es links nach Rothenbüll geht, eine kleine Einfahrt auf der rechten Seite. Sie sieht aus wie ein Feldweg und hat ein Hinweisschild auf einen Wanderweg und einen Parkplatz. Das ist der Moorweg.«

»Oh, Himmel!«, entfuhr es Horatio. Die Zuwegung hatte er vorhin ganz bestimmt nicht gesehen. »Ich möchte zu dem Haus von Frau Behrens.«

»Es ist das einzige Haus im Moorweg.« Kevin grinste und kuschelte sich tiefer in seine Jacke.

Großartig, irgendwie in der Mitte zwischen drei kleinen Dörfern und dann abseits in absoluter Alleinlage. Und Anita war deutlich über achtzig!

»Aber es sollte geräumt sein«, fügte Kevin freundlich hinzu.

»Danke.« Der Hinweis auf eine geräumte Straße stimmte ihn zuversichtlich. Und schockierte ihn zugleich, weil das offenbar keine Selbstverständlichkeit war.

Als er zurück in den Wagen kletterte, empfing Karrikan ihn mit vorwurfsvollem Maunzen. Der Kater hatte eindeutig die Nase voll, in seinem Kennel zu sitzen.

»Halt noch ein bisschen durch. Ich schwöre, dass ich dich und dein Klo als Allererstes auslade.«

Karrikan stimmte eine Ode an alle Katzengottheiten an, während Horatio das Fahrzeug wendete und wieder auf die Dorfstraße fuhr. Zumindest dachte er sich, dass die wohl so hieß. Er fuhr aus dem Ort und hielt Ausschau nach dem Parkplatzschild. Immerhin, sollte er die Straße nach … nach Rothenbüll erreichen, würde er wissen, dass er am Moorweg vorbeigefahren war. Aber er entdeckte das Schild, als ihn gerade die Hoffnung verlassen wollte, und bog nach rechts ab.

Ein Hohlweg zwischen verschneiten Hecken und Bäumen. Hoch war der Schnee an einer Seite aufgeworfen und hatte so exakt eine Wagenbreite Straße frei gemacht. Sehr viel breiter war dieser Weg wohl auch im Sommer nicht. Hoffentlich kam Horatio hier niemand entgegen. Spaziergänger oder gar Anita selbst, die noch schnell einkaufen wollte. Es gab keinerlei Ausweichmöglichkeit, und Horatio traute sich kaum zu, die Strecke im Rückwärtsgang bis zur Landstraße zurückzusetzen. Als geübten Autofahrer würde er sich nie zu bezeichnen wagen, obendrein war der Sprinter wirklich unhandlich.

Der Weg kurvte gemütlich durch die Landschaft, und hinter jeder Biegung erwartete Horatio Gegenverkehr oder endlich Anitas Haus.

Dann tauchte es vor ihm auf, und er schnappte nach Luft. Kleine, alte, kinderlose Witwe. Riesiges Haus. Roter Backstein mit weißen Stuckverzierungen – vielleicht war es auch nur Schnee. Obendrauf wie eine Nachtmütze eine große Haube aus Schnee, unter dem sich vielleicht Reet verbarg. In der Mitte der Front war eine riesige Glastür mit Sprossen eingefügt worden, wo früher ein großes Scheunentor aus Holz gewesen sein mochte. Dahinter glomm sacht Licht. Rechts des lang gestreckten Baus befand sich ein Carport mit drei Stellplätzen, von denen nur der dem Haus am nächsten befindliche mit einem alten Benz gefüllt war. Der Sprinter würde von der Höhe her nicht hineinpassen. Also fuhr Horatio entschlossen auf die ebenfalls geräumte Auffahrt, in deren Mitte ein runder Schneehaufen lag. Vielleicht befand sich da im Sommer ein Beet. Jetzt war es ein kleiner Berg Weiß.

Er parkte so, dass ein Entladen des Wagens mühelos und auf kürzestem Weg möglich sein sollte. Ein Blick auf die Uhr: Ja, er hatte noch genug Zeit und musste sich nicht hetzen, da er den Sprinter ja heute noch nach Flensburg zum Verleih bringen wollte, um Geld zu sparen. Dann stieg Horatio aus und eilte am Wagen vorbei zu der großen Glastür. Die gefiel ihm. Modern, aber die Vergangenheit des Hauses als Motiv aufnehmend. Sehr schön.

Das einzig nicht so Schöne: An der Tür klebte ein Briefumschlag mit seinem Namen darauf. Anita war also tatsächlich unterwegs. Und sein Handy war vollkommen entleert. Er meinte, sich an den genauen Karton zu erinnern, in dem die Powerbank sich befand. Die müsste wirklich voll sein, da war er sich beinahe sicher.

Ehe er den Briefumschlag an sich nahm, kletterte Horatio also in den Sprinter, manövrierte sich an Fahrrad und Kratzbaum vorbei, hörte Karrikan in der Fahrerkabine ungehalten miauen und suchte den richtigen Karton. Dann grub er in diesem, bis er die Powerbank fand. Das Kabel steckte sogar in ihr. Heute war offenbar allen Hindernissen zum Trotz sein Glückstag.

Er verband die beiden Geräte, stieg wieder nach draußen, fröstelte und wickelte den Mantel fester um sich, um dann mit kalten Fingern den Klebestreifen zu lösen, mittels dessen Anita den Umschlag an das Glas der Tür geklebt hatte. Irgendwie sehr niedlich und typisch sie, obwohl sie ihm gestern noch ihre Mobilnummer durchgegeben hatte. Dabei erhaschte er einen Blick in eine gigantische Diele. Der sanfte Lichtschimmer kam von einem mit LEDs beleuchteten Strauch in einer großen Bodenvase. Den Boden bedeckten im Fischgrätmuster rote Ziegel. Das sah edel und gemütlich aus. Er war gespannt auf den Rest des Hauses.

Er brauchte eine Weile, um den Briefumschlag zu öffnen. Ein Zettel mit Katzenmotiven befand sich darin. Horatio grinste bei diesem Anblick, aber das verging ihm schlagartig, als er die Worte entzifferte:

Lieber Horatio,

Anita hatte offenbar einen Schwächeanfall am Steuer ihres Wagens. Ihr ist sonst nichts passiert. Unser Gemeindegärtner hat sie gefunden. Sie liegt jetzt im Krankenhaus in Niebüll. Sie war bei Bewusstsein, als Nico sie fand, und ihre größte Sorge waren Sie. Sie hat mich beauftragt, Ihnen die Schlüssel zu bringen. Bitte rufen Sie mich an, ich komme dann sofort.

Liebe Grüße

Edith Voigt

Eine Visitenkarte mit Festnetz- und Mobilnummer lag dabei. Frau Voigt betrieb offenbar eine mobile Katzenpflege.

Hastig wählte Horatio die Handynummer. Was war da passiert? Und wie ging es Anita jetzt? Oh, verdammt, hatte sie nicht warten können, bis er da war? Wahrscheinlich hatte sie den Einkauf für ihn erledigen wollen. Mist, verdammter! Und er hatte auf der Autobahn herumgetrödelt, während sie ihn gebraucht hatte! Diesem Gemeindegärtner würde er noch seinen heißen Dank für die Hilfe aussprechen. Wie gut, dass er den Wagen entdeckt hatte. Bei diesen Temperaturen!

Nach dem zweiten Rufzeichen meldete Frau Voigt sich auch schon.

Horatio atmete auf und stellte sich vor: »Horatio Dabelstein hier. Frau Voigt, ich bin eben am Haus angekommen und habe Ihre Nachricht entdeckt. Wissen Sie schon etwas Neues, wie es Anita geht?«

»Leider nicht. Und da ich nicht mit ihr verwandt bin, sind die Leute im Krankenhaus auch nicht wirklich kooperativ. Geben Sie mir zehn Minuten, maximal fünfzehn, dann bin ich bei Ihnen! Oh, und haben Sie einen Ausweis dabei? Ich kann ja nicht jeden ins Haus lassen, der meine Nachricht findet.«

»Selbstverständlich. Danke. Ich warte im Auto auf Sie.« Oh, er war froh, dass sie an eine Legitimationsprüfung gedacht hatte. Denn er selbst war gerade so durch den Wind, dass er wohl nicht von alleine darauf gekommen wäre. Aber das war wichtig!

Zitternd kletterte er wieder in die Restwärme der Fahrerkabine, wo Karrikan ihn mit eisigem Schweigen begrüßte. Eindeutig, der Kater mochte nicht mehr. Horatio steckte einen Finger durch das Gitter und wackelte damit, um Karrikan anzulocken. Nach einer kleinen Weile stieß der Kater mit seiner Nase gegen den Finger und schnurrte, ehe er Horatios Fingerkuppe mit seiner rauen Zunge ableckte.

»Nur eine kleine Verzögerung. Anita ist im Krankenhaus. Ich hoffe, dass es nichts Ernstes ist. Ihre Bekannte schrieb etwas von einem Schwächeanfall«, erklärte Horatio und machte sich schreckliche Sorgen. Und Vorwürfe. Hätte sie ihn nicht eingeladen, wäre sie wohl nicht zum Einkaufen gefahren. Okay, vielleicht hätte sie den Schwächeanfall dann im Haus erlitten. Wann wäre sie dann wohl gefunden worden? Vielleicht zu spät, denn er wäre dann nicht ins Haus gekommen, hätte nur ihre Handynummer angerufen und keine Antwort bekommen. Ein eisiger Schauder rieselte über seinen Rücken. Vielleicht war es gut so, wie es geschehen war. Und jetzt wurde sie im Krankenhaus ja optimal versorgt!

Er starrte auf das, was er vom Moorweg sehen konnte, während frische Flocken vom Himmel fielen.

Da, endlich ein Lichtschimmer von Scheinwerfern auf dem seitlich aufgetürmten Weiß!

»Gleich wieder da! Und mein Wort gilt: Du und dein Klo kommen als Erstes ins Haus.« Er stieg aus, als gerade ein silberner Kombi – neu und unverkennbar teuer, Berliner Kennzeichen – aus dem Hohlweg kam und auf die Auffahrt fuhr. Trotz des Kennzeichens war das wohl Edith Voigt und kein schneeliebender Wanderer. Oder wollten die hier ihr Auto abstellen, weil der Parkplatz zum Wanderweg nicht geräumt war? Wo befand der sich überhaupt? Ah, da war das Schild. Eine tatsächlich nicht geräumte Fortsetzung des Hohlwegs schien zu ihm zu führen, zumindest stand dort das blaue Schild.

Dem Wagen entstiegen eine ältere Dame in langem Mantel, mit Strickmütze und buntem Schal und ein hochgewachsener Mann mit gepflegtem, kurzem Bart und einem edlen Kaschmirmantel. Dieser passte zum Auto.

»Es tut mir so leid, die Überbringerin schlechter Nachrichten zu sein«, sagte Frau Voigt zur Begrüßung und kam zu ihm.

Horatio grub eilig sein Portemonnaie aus der Hosentasche und entnahm diesem seinen Personalausweis.

»Danke«, sagte sie und strahlte ihn gleich darauf an. »Darf ich vorstellen? Raphael Winterhagen – Horatio Dabelstein.«

Er konnte verstehen, dass sie sich alleine unwohl gefühlt haben musste, einen Fremden zu kontrollieren und ins Haus zu lassen. Anitas Heim lag so weit ab vom Schuss, dass das nicht ganz risikofrei schien. Oder sie hatte kein eigenes Auto? Das war ja auch möglich. Oder traute sich die Fahrt bei diesem Schietwetter nicht zu.

»Hier sind die Haustürschlüssel und das hier ist der für das Auto. Nico und Hagen haben es hierhergebracht, nachdem Anita im Krankenwagen war. Sie sagte, Sie brauchen es vielleicht, und sie ist sehr einverstanden, dass Sie den Wagen benutzen. Und auch alles im Haus. Ihr Kühlschrank ist gut gefüllt, sagte sie. Wünschen sie eine kleine Führung?«

»Wenn es keine Umstände macht«, sagte Horatio sofort und nahm den Schlüsselbund entgegen. Das fühlte sich … unheimlich an. Anitas Schlüssel, ihr Haus, ihr alter Benz.

»Wann und wo müssen Sie den Leihwagen zurückgeben?«, mischte sich Raphael freundlich ein, während sie zur Haustür stapften.

»Bis neunzehn Uhr in Flensburg.«

»Ich würde hinter Ihnen herfahren und Sie wieder hier abliefern. Außerdem kann ich gleich beim Abladen mit anfassen.«

Die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der dieses Angebot gemacht wurde, tat Horatio gut. Aber die Vorstellung, mit einem Fremden auf so langer Strecke im Auto zu sitzen und Konversation betreiben zu müssen, schreckte ihn ein wenig ab. Nun, vielleicht lernten sie sich beim Entladen des Sprinters ja näher kennen. Dann konnte er immer noch entscheiden. »Beim Auspacken nehme ich gerne Hilfe an. Es sind vor allem Bücherkisten und der Kratzbaum meines Katers. Ich kann für die Rückfahrt auch den Bus nehmen. Ich habe die Fahrpläne schon abgespeichert.«

»Ganz, wie es Ihnen lieber ist.« Ein charmantes Lächeln blitzte auf.

Horatio schloss auf und trat als Erster in die große Diele. Wunderschön! Der saalartige Raum wirkte annähernd quadratisch und groß genug für eine winzige Buchmesse. Fachwerk mit blendend weißem Putz und schwarz gestrichenen Balken, eine niedrige Decke und dieser Fußboden aus Ziegelsteinen passten so gut zusammen. Sparsam möbliert. Außer dem beleuchteten Strauch befanden sich hier nur noch eine bauchige, offenbar uralte Truhe und ein dazu passender Schrank, der jeden Möbelpacker gewichtstechnisch in die Flucht schlagen musste.

Edith Voigt betätigte einen Lichtschalter neben der Tür, und winzige Lampen leuchteten im Gebälk auf. Auch die Decke sah ein wenig nach Fachwerk aus. Weiße Flächen, die von dunklen Balken unterbrochen wurden.

»Wie alt ist das Gebäude?«, fragte er, während er sich noch staunend umsah.

»Achtzehntes Jahrhundert, glaube ich. Hier rechts geht es zur Einliegerwohnung. Das war wie der linke Flügel auch früher ein Stall, aber Anita hat es so schön ausbauen lassen«, antwortete Frau Voigt. »Wollen Sie sich da erst einmal einrichten oder gleich auch Anitas Wohnung sehen?«

»Damit warte ich lieber, bis sie wieder da ist. Es fühlt sich sonst nicht richtig für mich an.«

»Aber Vorräte aus dem Kühlschrank nehmen! Wir wissen nicht, wie lange Anita im Krankenhaus sein wird. Eine Rückkehr zu saurer Milch und schimmeligem Aufschnitt würde sie auch nicht glücklich machen.«

Und er selbst hatte kaum Lebensmittel mitgebracht, stimmte ja. Also nickte Horatio. Er würde die Küche suchen und finden. Er konnte ja später verbrauchte Lebensmittel ersetzen. Das stimmte ihn tröstlich.

»Als Erstes der Kater, nicht wahr?«, fragte Raphael. »Unserer wäre mittlerweile einem Tobsuchtsanfall nahe, würde ich ihn zu lange im Auto warten lassen.«

Horatio lachte. »Karrikan ist bereits in den stillen Gewässern jenseits des Wutanfalls angekommen, fürchte ich. Vorhin hat er mir noch eine Arie vorgetragen, jetzt schmollt er demonstrativ.«

»Karrikan?« Wieder dieses schöne Lächeln. »Ist er … taub?«

Diese Nachfrage musste Horatio erst einmal verdauen. Gut, dass er gerade in die Einliegerwohnung trat, die hell, freundlich und ein wenig unpersönlich vor ihm lag. Karrikan war nach einer Romanfigur benannt, die tatsächlich ebenso taub war wie der Kater. Ein Elfenkrieger, der zu einem Dasein als Gladiator in der Arena gezwungen worden war, bis er genau diese Arena in Schutt und Asche legte und seinen Häschern entkam. Und rein zufällig war das eine Gay Romance. Eine von so vielen, deren Taschenbücher sich in den Kartons stapelten.

»Groß, weiß, blaue Augen und genetisch bedingt taub«, brachte er schließlich hervor.

»Unser Kater heißt Aravil. Kleiner rothaariger vormaliger Streuner«, antwortete Raphael.

»Passt«, gab Horatio zurück. Und dann sah er den schmalen Goldreif an Raphaels Ringfinger, als der Mann zur Seite griff und die Deckenbeleuchtung anschaltete. Okay, Anita hatte nicht übertrieben, als sie sagte, dass es in diesem Dorf auch schöne Männer gab. Aber das sah wie ein Verlobungsring aus. Oder ein Ehering. Hey, er selbst war gerade frisch Boris entronnen und keinesfalls auf der Suche nach einem neuen Freund. Und so konnte er sich gerade wirklich für Raphael freuen. Dieser Ring machte ihm aber auch ein wenig Mut für sich selbst. Das Leben war nicht vorbei, weil Boris ihn rausgeworfen hatte. Ganz wie Anita gesagt hatte: Er würde hier zur Ruhe kommen, durchatmen können und dann sehen, wie es weiterging.

Die Wohnung war auf jeden Fall schön. Helle Holzmöbel, weiße Wände, alles frisch und modern eingerichtet. Und obwohl Anita von einer einfachen Einrichtung gesprochen hatte, sah es erheblich gemütlicher aus als in Boris’ Wohnung. Das Ledersofa wirkte knautschig und bequem. Und da neben der Anrichte war ausreichend Platz für Karrikans monströsen Kratzbaum.

Die Küche war halb offen, der ganze Grundriss sehr geräumig, obwohl die Einliegerwohnung nicht riesig war. Horatio fühlte sich auf jeden Fall gleich wohl. Er hatte ein Dach über dem Kopf!

Durch die Fenster und die Terrassentür auf der der Auffahrt abgewandten Seite erkannte er, dass das Hofgebäude nicht nur ein langer Bau war, sondern dass nach hinten wohl der Wohntrakt hinausging, in dem Anita lebte. Im Moment stellte er sich das Anwesen wie ein großes T vor.

»Dann los?«, fragte Raphael.

»Ich habe Plätzchen als kleinen Willkomm mitgebracht und Tee und so. Ich kümmere mich darum. Es ist so bitterkalt«, verkündete Frau Voigt.

Horatio nickte dankbar und ging an Raphaels Seite wieder nach draußen. »Ich habe Karrikan versprochen, dass er und sein Klo als Erstes im Haus landen.«

»Klingt weise. Ins Badezimmer, damit er nicht entfleuchen kann und seine Ruhe hat, während wir den Rest tragen?«

»Genau!«

 

Zu zweit benötigten sie fast eine Dreiviertelstunde, nachdem Karrikan ins Badezimmer gezogen war. Horatio war mittlerweile rechtschaffen müde, was an allem lag. Boris’ Nachricht via SMS – dieser elende Feigling hatte nicht mal den Hintern in der Hose gehabt für ein persönliches Gespräch oder zumindest einen Anruf –, das viele Weinen, dann Packen und Fahrt. Die Nachricht von Anitas Unfall kam als Hammerschlag obendrauf. Er war schlichtweg erschöpft – körperlich und geistig. Aber der Leihwagen musste auf jeden Fall noch heute zurückgegeben werden. Sonst drohte eine saftige Zusatzzahlung für das Wochenende.

Er bekam Tee, knusperte köstliche Zimtsterne und Spitzbuben und begann, sich ein wenig zu entspannen. Tatsächlich erwog er, Raphaels Angebot für die Rückfahrt anzunehmen, als dessen Handy klingelte.

»Hallo, mein Wundervoller«, begrüßte er seinen Gesprächspartner. Dann hörte er eine kleine Weile zu, und seine Miene verdüsterte sich. »Natürlich. Ich fahre umgehend los und sammel dich ein. Kannst du irgendwo in einem Restaurant oder so Unterschlupf finden, bis ich da bin? Gut. Schick mir die Daten aufs Handy. Ich beeile mich.« Er lächelte mit einem Mal wieder. »Ich liebe dich.« Er wartete eine Antwort ab und legte dann nach kurzem Gruß auf. Ernst sah er Horatio an. »Ich würde die Fahrt nach Flensburg dringend bis Montag verschieben. Mein Verlobter wollte eigentlich bis morgen bei seiner Mutter in Husum bleiben, ist aber wegen des Wetters doch schon in einen Zug gestiegen und sitzt jetzt in Niebüll fest. Der Kreis Nordfriesland hat den Busverkehr eingestellt. Tut mir leid, dass ich mein Angebot, Sie zu fahren, zurückziehen muss, aber Jarl ist in einer Pizzeria gestrandet.«

»Oh, das ist unangenehm. Ja, selbstverständlich geht er vor. Ich sehe gleich auf der Homepage nach, ob ich den Wagen vielleicht morgen abgeben kann. Sonst Montag«, sagte Horatio sofort.

Er verabschiedete seine Gäste, bekam den Rest Kekse geschenkt und ließ Karrikan aus dem Badezimmer. Dann sah er nach, ob von Flensburg aus noch Busse fuhren. Taten sie.

Unschlüssig blickte er auf das Handy. Gab er den Sprinter verspätet zurück, würde er für das ganze Wochenende zahlen müssen. Und falls jemand das Fahrzeug bereits reserviert hatte und es wegen der verspäteten Rückgabe nicht erhalten konnte, würde Horatio auch dafür aufkommen müssen.

Das gab den Ausschlag. So viel Schnee lag doch gar nicht. Und es schneite auch nicht mehr. An der Westküste mochte es übler aussehen, aber Raphael fuhr genau dorthin, um seinen Verlobten abzuholen, und Horatio würde ja in Richtung Osten fahren. Das klappte doch bestimmt! Immerhin waren es mindestens hundert Euro, die er so sparen konnte. Und so fürchterlich weit war es auch nicht, machte Horatio sich Mut.

Er fütterte Karrikan und überließ es seinem Kater dann, die Einliegerwohnung zu erkunden, während er selbst sich auf die wirklich nicht weite Fahrt nach Flensburg machen würde. Zeit hatte er noch genug, alles bestens.

3.So viel Schnee

Thor

Es war ja so typisch. Da war man nach einem nordischen Gott benannt, der unter anderem auch für das Wetter zuständig war, und am Hochzeitstag des großen Bruders spielte Schleswig-Holstein Schneekatastrophe! Garantiert würde Heimdal ihm das noch jahrelang unter die Nase reiben.

Heimdal, den Thor selbstverständlich gerade nicht ans Telefon bekam.

Er sah noch einmal sorgenvoll nach draußen, wo im Schein der Straßenlaternen pingpongballgroße Schneeflocken zu Boden flufften. Auf der Dorfstraße war schon seit ewig niemand mehr unterwegs außer den Treckern von Gut Rothenbüll, die die Straßenmeisterei nach Kräften unterstützten.

Er fällte seinen Entschluss – auch ohne brüderliches Okay. Heimdal gehörte das Bistro, und Thor war heute lediglich eingesprungen, damit sein Bruder den Hochzeitstag ganz alleine seiner Frau widmen konnte. Außer Thor war nur noch Oliver da. Den Koch hatte Thor mangels Kundschaft schon vor einer Stunde heimgeschickt. Falls wirklich noch jemand mit Hunger hier auftauchen sollte, stellte er sich eben selbst in die Küche. Das hatte er jahrelang gemacht und die Aushilfsarbeit im Bistro erst eingestellt, als Heimdal Oliver eingestellt hatte.

»Ruf deinen Freund an und lass dich abholen, Oliver. Die Leute sind allesamt mit Schneeschippen beschäftigt oder zu weise, ihr Haus zu verlassen. Ich mache für heute dicht. Das ist doch sinnlos.«

»Ich wollte es nicht sagen, aber Tizian hat mir schon eine Nachricht geschrieben, ob er mich nicht lieber abholen soll«, antwortete Oliver prompt. »Und das Wetter sah vorhin so gut aus, deswegen dachte ich, es geht mit dem Rad.«

Wieder sah Thor nach draußen und schüttelte den Kopf. »Du kämst nicht weit. Sag ihm Bescheid, bitte. Die Küche haben wir ja schon auf Vordermann gebracht. Fehlt nur noch die Theke.«

Oliver tippte schon in sein Smartphone. »Ich kümmere mich um die Tische, damit für morgen alles startklar ist.« Dann sah er nach draußen. »Falls Heimdal morgen überhaupt aufmacht. So viel Schnee hab ich echt noch nie gesehen.«

Der Schnee war nicht das einzige Problem. Draußen sauste ein sehr energischer Wind durch die Gegend, sammelte Weiß in dicken Verwehungen an und türmte diese gegen Hauswände und in jede verfügbare Ecke. Thor hatte vorhin schon gesehen, dass die Küchenfenster komplett dicht geschneit waren.

Und er musste nach Klaxdonnersbüll. Das klappte sehr wahrscheinlich, weil die Trecker draußen unermüdlich ihre Runden zogen. Und für den Fall, dass er wirklich trotz des Vierradantriebs seines kleinen Autos stecken blieb, hatte er Nicos Handynummer. Der arme Kerl war jetzt garantiert auch da draußen und räumte die Straßen. Er würde Thor auf jeden Fall retten, Schatz, der er war.

Sie arbeiteten rasch und geübt, und Thor freute sich wieder einmal, dass sein Bruder mit Oliver einen so tollen Mitarbeiter gewonnen hatte. Kaum war dieser mit den Tischen fertig, erklang draußen eine Hupe, und Scheinwerferlicht fiel warm ins Bistro.

»Nimm eine Tüte mit Bagels und Donuts mit, bitte!«, rief Thor Oliver zu, als dieser sich seine Jacke schnappte. »Und grüße Tizian von mir. Bitte schick mir kurz eine Nachricht, wenn ihr heil gelandet seid, ja?«

»Mach ich! Und du meldest dich auch, hörst du? Dein Weg ist weiter, und Tizian ist mit dem champagnerfarbenen Monster da. Der Wagen ist doch selbst fast ein Schneepflug.« Oliver lachte, nahm eine der gepackten Tüten, winkte noch einmal und flitzte dann nach draußen.

Das champagnerfarbene Monster war ein gewaltiger Geländewagen, den Tizian von seiner Urgroßmutter geschenkt bekommen hatte, wusste Thor. Und ja, wahrscheinlich konnte Tizian damit sogar einen Trecker aus dem Straßengraben ziehen. Welten besser als Thors eigenes Auto. Aber er würde durchkommen. Langsam fahren, Schneewehen ausweichen. Ach, eigentlich brannte er seit der Anschaffung des Wagens darauf, mal richtig Schnee zu erleben, damit er sah, wie der Kleine damit klarkam. Schon im Herbst während der Erntezeit, wenn Trecker dicke Schlammschichten auf die Straßen packten, hatte der Vierradantrieb sich bezahlt gemacht. Die kleine Klapperkiste spielte gerne im Matsch. Schnee würde ihr bestimmt auch Freude machen.

Er füllte verbliebenen Kaffee in die mitgebrachte Thermoskanne. Es passte leider nicht alles. Thor schraubte die Kanne zu und schaltete die Lichter in der Küche aus, als er auf der anderen Straßenseite Bewegung ausmachte. Der Bus aus Flensburg! Na, das nannte Thor tapfer.

Gleich darauf wurden im Bus die Lichter ausgeschaltet, aber das Fahrzeug fuhr nicht wieder an. Dann erloschen auch die Scheinwerfer. Thor hatte vorhin im Radio mitbekommen, dass der Busverkehr in Nordfriesland schon eingestellt worden war, und es würde ihn nicht wundern, wenn der Kreis Schleswig-Flensburg nachziehen würde. Es gab eine Pension hier im Ort, in der der Fahrer vielleicht unterkommen würde. Oder er versuchte, sich zurück nach Flensburg durchzuschlagen, nachdem er hier seine letzten Passagiere abgeladen hatte. Thor schauderte. Bei diesem Wetter würde er sich höchst ungern in einen Bus setzen. Der Wind musste das Fahrzeug echt gut durchgerüttelt haben. Es war auf jeden Fall komplett weiß.

Ein wenig keimte Sorge in ihm, ob er wirklich nach Hause kommen würde. Er schob den Gedanken beiseite. Er hatte Nicos Nummer, und dieser würde ihn keinesfalls im Straßengraben erfrieren lassen.

Er packte seinen Korb und wollte eben das Licht hinter der Theke löschen, als die Außentür aufschwang und ein Yeti das Bistro betrat.

Ein kleiner, zierlicher Yeti, der in einem wadenlangen, schneebestäubten Mantel bibberte.

»Guten Abend«, sagte der Yeti mit einer angenehmen Stimme, in der das Zittern mitklang. »Sie … Sie haben doch noch geöffnet? Ich sah das Licht, die Tür war auf … und …«

»Ich mache gerade dicht. Aber ich habe noch Kaffee.« Und ein Pfund Mitgefühl für den zitternden Yeti.

Dieser kam nun hoffnungsvoll näher und rieb sich die Hände. »Der Bus fährt nicht weiter. Ich bin neu hier in der Gegend. Wie weit ist es bis Klaxdonnersbüll?«

Thor schenkte Kaffee in einen weißen Becher. »Zucker? Milch? Donut?«

»Dreifach Ja, bitte. Also, ich muss nicht ganz bis Klaxdonnersbüll, aber ich bin heute hier angekommen, und mein Kater ist alleine zu Hause. Der Busfahrer sagte, es gibt hier im Ort eine Pension, aber … ich muss nach Hause. Ist es weit?« Er wischte sich Schnee aus den Haaren, die einen feschen Kurzhaarschnitt und ein dunkles Braun mit einem winzigen Rotstich aufwiesen. Die Hände hatten auch einen Rotstich.

»Zu weit zum Laufen. Vor allem bei dem Wetter.« Thor schielte auf das Schuhwerk des Yetis.

Dieser bemerkte den Blick und sah ebenfalls nach unten. Einfache weiße Turnschuhe mit Regenbogenschnürsenkeln. Und die Sneakers hatten definitiv schon bessere Zeiten gesehen. Außerdem war die schwarze Jeans auch schon bis zur Hälfte des Schienbeins voll Schnee. Und das nur von dem kurzen Stück Bushaltestelle bis Bistro.

»Keine Chance«, sagte Thor entschieden und reichte Kaffee und Donut über die Theke. »Aber ich wohne in Klaxdonnersbüll, habe einen kleinen Geländewagen und wollte mich gleich auf den Weg machen. Ich biete einen Sitzplatz, eine sehr enthusiastische Heizung und eine sehr langsame Fahrt. Aber falls wir stecken bleiben, sind wir zu zweit, um das Auto wieder flott zu kriegen. Klingt gut?«

»Klingt himmlisch!«

»Das freut mich.« Thor stellte noch eine Tüte mit verbliebenen Bagels auf den Tisch. Den Augenblick nutzte sein Handy, um ihm eine eingegangene Nachricht zu signalisieren. Rasch sah er nach. Oliver.

Angekommen. Fahr bloß vorsichtig!

Er schrieb eine Antwort, dass er das ganz bestimmt tun würde. Dann sah er seinen Yeti wieder an. »Ich mach schnell den Rest fertig. Dann können wir aufbrechen. Wohin genau wollen Sie?«

»Moorweg. Das ist fast gegenüber zur Straße nach Rothenbüll.«

Thor hob eine Braue. »Sind sie Anita Behrens’ Enkel?«

Das entlockte diesem zauberhaften Yeti ein leises Lachen. Stand ihm verflixt gut. Schmales Gesicht, hohe Jochbeine, reizend betont durch den gepflegtesten Drei-Tage-Bart der Welt. Grau-blaue Augen, in denen Sterne tanzten, sobald er lächelte. Wow.

»So in etwa. Mein Opa und sie waren lange ein Paar. Ich nenne sie meine großmütterliche Freundin.«

»Der Autor-Enkel, für den sie die Notizbücher kauft?«

Jetzt weiteten sich die Augen, und das Lächeln wurde noch eine Nummer schöner. »Ja! O mein Gott, die sind so schön. Sie hat mir eins mit Drachenschuppen geschenkt zu Weihnachten. Es liegt natürlich unberührt auf dem Schreibtisch, weil es viel zu edel ist, als dass ich es mit Kritzeleien zu besudeln wage.«

»Das hat sie gezielt bei mir bestellt. Punziertes Leder. Ich bin – neben meiner On-Off-Tätigkeit hier im Bistro – Buchbinder. Aber Notizbücher wollen gefüllt werden. Sonst werden sie traurig und fühlen sich nutzlos.« Und Thor fühlte sich gerade hochgradig albern, aber er konnte gar nichts dafür. Je mehr sein Yeti auftaute, desto attraktiver wurde er nämlich.

»Traurig? Oh, das wollte ich nicht. Das muss ich dringend verhindern. Ich schwöre, dass ich es benutzen werde.«

»Danke, das freut mich. Okay, ich wäre so weit.« Er stopfte die letzte Tüte Bagels in seinen Korb. »Trotzen wir den Elementen?«

Der Yeti schnappte sich seine Tüte und stellte Teller und Becher zusammen. »Darf ich das so stehen lassen?«

»Auf jeden Fall.« Thor räumte das Geschirr rasch hinter die Theke und holte seine Jacke aus der Garderobe. Dann fiel ihm noch etwas ein, während er im Geiste ihre Unterhaltung durchging. Er streckte die Hand aus. »Thor.«

»Horatio«, antwortete der kleine Yeti und schlug ein.

Alleine der Vorname weckte Thors Neugierde erneut. Denn er kannte einen Autor namens Horatio. Nun, kennen war zu viel gesagt, sonst wüsste er ja, ob der Horatio vor seiner Nase der betreffende Horatio war. Seine Büchersammlung war groß, und die Bücher, die er für die Onleihe und die Bücherei in Klaxdonnersbüll anschaffte, waren so divers und breit aufgestellt wie möglich. Und natürlich waren auch seine liebsten Schreibenden dabei vertreten.

Egal. Musste es zumindest im Augenblick sein. Erst einmal mussten sie heil im Moorweg ankommen. Und danach musste er es nach Hause schaffen. In den nächsten Tagen konnte er ja mal vorbeisehen. Oder so. Immerhin war er mit Anita befreundet und konnte dann ja vorsichtig mal nach Horatio sehen. Vielleicht konnten sie gemeinsam Schnee schippen und noch ein paar Worte wechseln.

Hammer! Ich bin wirklich gerade dabei, mich Hals über Kopf zu verknallen. Das ist doch wirklich albern!

Er schaltete die Lichter aus, und gemeinsam traten sie nach draußen, um den Elementen zu trotzen.

Es war schlimmer geworden. Der Ostwind schien der Meinung, dass Jacken und Mäntel gegen ihn ohnehin keine Chance hatten. Oder er fror selbst und wollte sie ihnen deswegen klauen. Auf jeden Fall rissen und zerrten die Böen so heftig an Thor, dass er kaum die Tür abschließen konnte.

Horatio kam ihm zur Hilfe und nahm ihm den Korb ab.

»Danke«, brachte Thor über dem Heulen des Windes hervor. Die ganze Welt bestand nur noch aus Schneeflockentanz.

Als sie das Auto erreichten, das um die Ecke in Heimdals Carport stand, waren sie komplett weiß gepudert. Die Flocken hingen sogar in Horatios Wimpern und Bart, erkannte Thor, als sie endlich leicht atemlos im Wagen saßen.

»Die Heizung«, erklärte er, »hat nur zwei Einstellungen, scheint es. Kalt und Bratröhre.«

»Ich bin mit Bratröhre sehr einverstanden«, antwortete Horatio sofort, der sich nach dem Anschnallen fester in seinen Mantel hüllte und versuchte, die Ohren im Kragen verschwinden zu lassen.

Es tat Thor wirklich leid, dass sein neuer Bekannter so fror – aber niedlich sah es trotzdem aus. Der Heizregler stand ja schon auf der Bratröhren-Einstellung, also startete er das Auto und robbte rückwärts aus dem Carport und über einen aufgeworfenen Schneewall auf die Straße. Es kratzte vernehmlich am Bodenblech, aber der kleine Geländewagen meisterte die Hürde so enthusiastisch, wie Thor es erhofft hatte. Heimdal besaß einen sehr ökonomischen Kombi und hatte den Geländewagen oft etwas herablassend betrachtet. Es gab doch Straßen! Selbst in Schleswig-Holstein! Aber für genau so einen Abend wie diesen hatte Thor das Gefährt erstanden, als er Heimdal hinterher nach Klaxdonnersbüll gezogen war. Jetzt schlug die Stunde der kleinen Klapperkiste!

Hoffentlich. Es wäre ihm nämlich unendlich peinlich, falls er Horatio wirklich zum Schieben einspannen müsste, weil sie in einer Schneewehe feststeckten!

Die Dorfstraße war gut geräumt, dafür hatten die Trecker gesorgt. Rechts und links türmten sich Schneewälle auf, und die Bürgersteige sahen wirklich übel aus. Vor der Tierarztpraxis war tapfer geschippt und wohl auch gefegt worden, aber es kam immer noch genug Nachschub aus den Wolken.

Eine Windböe rüttelte am Auto, und im Scheinwerferlicht sah Thor nur treibenden Schnee, der beinahe waagerecht vorbeiflog.

Hübsch langsam! Denn es war alles weiß, und nur die aufgeworfenen Wälle markierten den Straßenverlauf. Bordstein? Fehlanzeige! Und als er aus Prillsande herauskroch, entdeckte er, dass auch die Begrenzungspfähle so gut wie unsichtbar waren. Das bisschen von ihnen, was aus dem Schnee lugte, trug Zipfelmützen aus Firn und half nicht bei der Orientierung.

So einen Wintereinbruch hatte er hier oben echt noch nie erlebt. Aber er wohnte lange genug schon in der Gegend, um hoffen zu können, dass der ganze weiße Spuk schon am nächsten Tag wieder tauen würde. Dunkel erinnerte er sich an Bilder, die ihm seine Oma einmal gezeigt hatte von der Schneekatastrophe, die zum Jahreswechsel 78/79 und danach das nördlichste Bundesland komplett lahmgelegt hatte. Inklusive Bundeswehreinsätzen und Wagenkolonnen, die auf der Autobahn schlichtweg festsaßen, weil nichts mehr ging.

Aber es war gar nicht mehr weit bis zum Moorweg und Anitas Haus, machte er sich Mut, und der Geländewagen marschierte sicher über die weiße Straße.

»Von wo bist du denn jetzt hergezogen?«, fragte er. Aus echtem Interesse, denn es verschlug einen ja eher selten in ein Kuhdorf wie Klaxdonnersbüll. Gut, ein paar Ausnahmen kannte er, und er gehörte ja selbst zu ihnen. Genau wie Tizian und Oliver. Tizian hatte Gut Rothenbüll geerbt. Das war ein gewaltiger Grund, dass es ihn aufs Land verschlagen hatte. Und Oliver war vor seinem gewalttätigen Ex geflüchtet und dabei ausgerechnet in Tizians Auto geklettert, weil er sich anders nicht zu helfen gewusst hatte. Thor wollte bei dem Gedanken mit den Zähnen knirschen, weil Oliver einfach nur ein Schatz war! Der hatte Besseres verdient! Und in Gestalt von Tizian ja auch bekommen. Manchmal war das Schicksal doch gerecht.

»Norderstedt. Mein Freund hat sich ziemlich plötzlich von mir getrennt, und ich war auf Wohnungssuche, als prompt Anita anrief. Sie erzählt gerne, dass sie eine Art sechsten Sinn hat, und ihr Anruf kam genau zur rechten Zeit, als ich heulend und verzweifelt auf dem Sofa hockte. Ich kann erst einmal in ihrer Einliegerwohnung bleiben, bis ich wieder klarkomme.«

»Hammer. Ja, dann so schnell mal etwas Neues finden! Gerade im Hamburger Speckgürtel stelle ich mir das noch einmal so schwierig vor. Vom Gefühlschaos mal ganz abgesehen.« Er lachte leise. »Und Anitas Sechster Sinn – ja, den hat sie, denke ich. Ganz feine Antennen, wenn etwas nicht stimmt.«

Dann erst sickerte in seinen leicht benebelten Verstand, was Horatio da genau gesagt hatte: Freund! Hammer! Mal eben wie nebenbei ein Coming-out! Deswegen die Regenbogenschnürsenkel! Okay, ja, das sollte Thor von Jarl kennen. Raphaels Verlobter, ganz feiner Kerl, monatelang das Aushängeschild der Tankstelle in Klaxdonnersbüll gewesen. Aber der Kerl war riesig und durchtrainiert und rannte mit Regenbogenschlüsselband herum. Während Horatio … Er war ebenso klein wie Oliver und fast noch zarter. Vielleicht beherrschte er eine geheime Kampfsportart, dass er das so lässig erwähnte, ohne sich in eine gefährliche Lage zu manövrieren.

Oder Thor hatte zu eindeutig gestarrt, als ihm der kleine Yeti ins Bistro geschneit war. Wie auch immer, sein eigenes Gaydar hatte wohl auf ganzer Linie versagt, oder? Oder war er deswegen gleich so angesprungen und hatte sich nicht sattsehen können? Oder er hatte einfach einen kleinen Aussetzer gehabt. Wuschig genug war er dafür gerade!

Er hielt sich am Lenkrad fest und versuchte heldenhaft, nicht selig zu grinsen oder etwas Ungeschicktes zu sagen.

Glücklicherweise kam die Kreuzung in Sicht, an der die Straße nach Rothenbüll abging. Die Heizung bollerte fröhlich und sollte selbst einen Schneemann auftauen können.

»Fast da«, teilte er also das Offensichtliche mit. Sehr geistreich war das nicht, das wusste er ja selbst.

»Du kannst mich auch an der Straße rauslassen. Der Moorweg sah vorhin, als ich losfuhr, schon nicht sehr passierbar aus«, schlug Horatio vor.

»Vierradantrieb. Der Wagen kommt da gemütlicher durch als du zu Fuß. Außerdem stören ihn kalte Reifen nicht.« Er wollte so lange wie möglich in Horatios Gegenwart sein! »Und falls es zu übel ist, rufe ich Nico an.«

»Das ist … der Gemeindegärtner, richtig?«

»Genau. Außerdem ein verteufelt feiner Kerl, der uns notfalls aus dem Graben zieht.«

Einen Augenblick knetete Horatio seine Finger, als würden sie von der Kälte schmerzen. Oder der unerwarteten Hitze, die aus den Lüftungsgittern quoll. Dann sagte er leise: »Er hat Anita gefunden. Weißt du, wo das war?«

»Wie? Anita gefunden?« Thor sah erschrocken zu seinem Passagier.

»Sie ist im Krankenhaus.«

»Scheiße! Nein, das wusste ich nicht. Wann ist das passiert?«

»Ich weiß es nicht. Wir haben gestern Abend telefoniert, und ich hab heute damit verbracht, den Mietwagen zu beladen und herzufahren. Als ich ankam – früher Nachmittag – klebte ein Zettel an der Tür. Eine … eine Frau Voigt.«

»Edith Voigt. Chefin der Rentnergang und Orga-Talent der Extraklasse. Frag sie morgen nach Einzelheiten. Das muss ein böser Schock gewesen sein. Ich meine: Mich haut es hier gerade aus den Socken. Aber da Nico sie gefunden hat: Der hat alles richtig und schnell gemacht. Wortkarg bis zum Abwinken, aber ein absoluter Fels in der Brandung.«

Horatio nickte ein wenig kummervoll. »Es fühlt sich nur gerade echt gruselig an. Ich hab eben den Leihwagen zurückgebracht, und während der Busfahrt ist es mir echt klar geworden: Das Haus liegt so am Hintern der Welt, und sie ist nicht da.«

»Verstehe ich total! Hammer, echt. Und ich kenne das Haus und bin Landleben gewohnt. Im Moorweg gibt es nicht mal Straßenlaternen.«

Horatio nickte, offenkundig dankbar für Thors Verständnis.

Der kleine Kerl tat ihm echt leid. Komplett abgeschnitten, weil er ja jetzt auch den Leihwagen zurückgegeben hatte. Ihm fiel der alte Mercedes ein. »Ist ihr Auto da?«

»Ist es. Ich hab nur noch nie eines mit Heckantrieb gefahren. Und schon gar nicht im Winter.«

Thor gab sich einen Ruck und sagte sich stumm, dass er das gerade ganz selbstlos tat und nicht nur, weil er Horatio umwerfend fand. »Ich schreibe dir meine Nummer auf. Falls etwas ist. Und wenn es nur Reden ist, okay?«

»Danke! Danke, das … das ist lieb.«

»Und Nicos Nummer schreibe ich dir auch auf, falls du über Nacht komplett einschneist. Er kommt mit dem Trecker und gräbt dich aus. Vorräte hast du?«

»Katzenfutter, Katzenstreu. Und jetzt die Bagels.« Er setzte hinzu: »Chilikäse.«

»Das ist nicht eben viel. Pass auf, du kriegst meinen Korb noch mit. Da ist Kaffee drin – leider nur schwarz – und noch Donuts und andere Reste. Ich denke, der Schnee taut morgen wieder, aber rein zur Sicherheit brauchst du mehr im Haus als Katzenfutter.«

»Ich habe auch den Schlüssel für Anitas Wohnung, und Frau Voigt meinte, ich kann da auch rein. Soll ich sogar, um den Kühlschrank zu plündern. Das fühlt sich nur so richtig falsch an.«

Thor nickte mitfühlend. Am liebsten hätte er die Hand auf Horatios schlanke Finger gelegt oder den ganzen Mann tröstend in den Arm genommen. Stattdessen benahm er sich und schlich im ersten Gang den Moorweg entlang.

Sollte er eine Übernachtungsmöglichkeit in seiner Wohnung anbieten? Das Sofa konnte gut dafür herhalten. Aber er kannte Horatio erst seit ein paar Minuten, dieser war gerade vom Freund verlassen worden und sorgte sich um Anita … und … nein, das ging ganz und gar nicht. Hilfe anbieten und sich ansonsten ein bisschen zurücknehmen. Falls Horatio anrufen sollte, konnte Thor binnen zehn Minuten bei ihm sein. Okay, bei dem Wetter binnen einer Viertelstunde. Und am Telefon für ihn da sein, falls er das wollte. Er musste sich ja erst einmal einleben, als Single zurechtfinden und überhaupt!

Ein Geistesblitz schlug in seinen Schädel ein. »Hey, falls du dich mit dem Mercedes nicht traust: Ich kann dich morgen auch zum Einkaufen abholen. Macht keine Mühe, wirklich. Mein Auto will mir seit Jahren zeigen, dass es über Schnee erhaben ist. Endlich hat es die Chance dazu. Und du brauchst Vorräte.«

In Horatios Augen funkelten schon wieder Sterne. »Oh! Das wäre wundervoll. Ich sehe nachher auf jeden Fall in ihren Kühlschrank, ob da Verderbliches drin ist.«

»Kleine Orientierungshilfe: Von der Tenne führen zwei Türen in den Wohntrakt. Die Rechte in einen Flur, von dem die Treppe nach oben abgeht und man Wohnzimmer und Küche erreicht. Das ist ein regelrechter Rundweg und führt von der Küche in den Hauswirtschaftsraum. Die linke Tür in der Tenne geht direkt zu diesem. Von dem aus kommst du in die Küche oder raus in ihren Kräutergarten. Im Wirtschaftsraum stehen auch Waschmaschine und Trockner.«

»Danke! Dann gehe ich eindeutig durch den Wirtschaftsraum. Es fühlt sich einfach so merkwürdig an, ohne sie in die Wohnung zu gehen. Aber Frau Voigt sagte auch, dass Anita sich bei ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus bestimmt nicht über verdorbene Milch und schimmelige Sachen generell im Kühlschrank freuen würde.«

»Exakt. Bitte sag mir auch gerne Bescheid, sobald du Neues von ihr hörst, ja?«

»Mach ich.«

Sie hatten den Hof erreicht. Aus der großen Glastür in der Tenne fiel ein wenig Licht auf den Schnee und machte gleich einen heimeligeren Eindruck. Außerdem wurde so deutlich, wie hoch sich die Schneewehen ringsum auftürmten. Huch!

Wagemutig fuhr Thor auf die Auffahrt und direkt bis zur Tür, damit Horatio nur kurz in der Kälte sein musste. Er angelte den Korb von der Rückbank und reichte ihn an seinen nun aufgetauten Yeti. Dann schrieb er seine und Nicos Nummer auf einen alten Kassenbon, der sich vorne in der Ablage eingenistet hatte.

Und Horatio tippte die Nummern umgehend in sein Handy und rief Thor kurz an. Jetzt sprudelte wirklich eine Woge Glückshormone durch ihn. Das hatte er nicht erwartet. Nummer geben, falls Horatio anrufen wollte. Aber dass dieser ihm sogleich die eigene Nummer übermittelte … Wow! Hammer!

»Dann wünsche ich dir eine gute Nacht«, brachte er hervor, ohne von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Hoffentlich.