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Als Helene Seedorf als junge Braut auf Gut Rothenbüll einzog, begleitete ihr betagter Kater Dauphin sie dorthin.
Jahrzehnte später, als Helene als Geist nervös auf die Ankunft ihres Erben wartet, sagt es leise Mama hinter ihr, und Dauphin ist wieder da. Gemeinsam lauern sie auf Tizian, auf Helenes Urenkel, dem sie ihr geliebtes Rothenbüll vermachte. Ob aus dem Baby, das sie nie gesehen hat, ein so wundervoller junger Mann geworden ist, wie sie es sich immer erträumt hat?
Helene, ein Geist spielt zeitgleich mit dem Anfang des dritten Romans, der von Tizian und Oliver erzählt, und zeigt einmal die Perspektive eines Geistes.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!
Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:
www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen
Helene starrte auf die stille, in zwei Wolldecken eingemummelte Gestalt auf der Sonnenliege. Nun, genau genommen starrte sie auf sich selbst und begriff, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Sie war nicht religiös, aber das war nicht wirklich das, was sie erwartet hatte. Sie stand hier in ihrem bequemen grünen Hausanzug aus Nickystoff und – sie sah nach unten – auf von Hand gestrickten Socken. Ihre Schuhe standen neben der Sonnenliege. Und auf dieser lag … nun, da gab es nichts schönzureden. Auf der Sonnenliege lag ihr Leichnam.
»Ach, du liebe Zeit«, murmelte Helene. Und jetzt? Musste sie hier warten, bis Gevatter Tod – sie stellte ihn sich vor wie bei Terry Pratchett, nicht wirklich fürchterlich und wie sie selbst mochte er Katzen, das war doch schon mal sympathisch – erschien, um sie abzuholen? Und welcher arme Tropf würde sie finden und sich gar fürchterlich erschrecken? Das war ihr nun wirklich unangenehm.
Sie blickte über die weite Rasenfläche, ob vielleicht jemand vom Gartenteam dort unterwegs wäre. Henriette Beer zum Beispiel. Aber alles lag friedlich da, kein Rasenmäher war zu vernehmen.
Sie wartete. Zwischendurch versuchte sie, ob sie ihre Schuhe anziehen könnte. Ihr war zwar nicht kalt, aber sie fand es nicht angemessen, sockfuß wem auch immer gegenüberzutreten. Die Schuhe widerstanden diesem Versuch allerdings und blieben, wo sie waren.
Nach einer halben Stunde wurde es ihr zu bunt. War es üblich, dass Gevatter Tod sie so lange warten ließ? War sie hier angenagelt und an ihren Leichnam gebunden? Die Terrassentür war nur ein paar Schritte entfernt und auch nur angelehnt.
Entschlossen stapfte Helene dorthin und spürte keinerlei Widerstand, kein unsichtbares Band zu ihrem toten Körper. Das war ja schon einmal prima.
Leider glitt ihre Hand durch den Türgriff. Oh, und auch gleich durch den Türrahmen. Sie biss die Zähne zusammen und trat vorwärts und glatt durch das Glas hindurch in das Gartenzimmer. Da musste sie sich erst einmal setzen, um diesen Schrecken zu verdauen. Leider saß sie auf Luft, denn sie wäre beinahe durch den weißen Rattansessel gesunken.
»Das ist doch wirklich ganz besonders lästig«, teilte sie Gummibäumchen und Orchideen mit. Immerhin schien der Boden gewillt, sie zu tragen.
Sie saß eine Weile ganz still und überlegte fieberhaft. Denn da drängte sich eine Idee, ein Gedanke auf. Das war wahrscheinlich Dummtüch, aber Helene hatte das Gefühl, Zeit zu haben, um auch Unfug gründlich zu überdenken.
Vor sieben Jahren war ihr Sohn Theodor gestorben, und sie hatte ihrem Anwalt den Auftrag gegeben, Theodors Enkel ausfindig zu machen. Tizian, Katharinas Sohn, den diese gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte, da sie an Krebs erkrankt war und ihr Baby weder dessen noch ihrem eigenen Vater anvertrauen wollte.
Sie hätte mir Tizian anvertrauen können. Es tat weh – immer noch –, dass Katharina ihr nicht vertraut hatte.
Herr de Vries hatte Tizian gefunden. Und Helene hatte ihr Testament aufgesetzt und diesen ihr unbekannten Urenkel zu ihrem Alleinerben gemacht. Und jetzt … war sie tot. Sobald jemand ihren Leichnam entdeckte, würde auch Herr de Vries benachrichtigt werden. Und dann … dann kam Tizian hierher. Katharinas Sohn.
Ob er seiner Mama ähnlich sah? Ob er so lachte wie sie? Die gleichen bernsteinfarbenen Augen, den gleichen Humor besaß?
»Da Gevatter Tod nicht in die Puschen kommt … ob ich wohl ein Geist bin? Weil ich seit seiner Geburt immer wieder an Tizian denke? Weil ich ihm mein geliebtes Rothenbüll vermacht habe? Oh, ich würde ihn so gerne kennenlernen!«
Aus den Augenwinkeln sah sie Bewegung auf der überdachten Terrasse und sprang auf. Falls das jetzt nicht Gevatter Tod war, der streng eine Sanduhr anstarrte und sich fragte, wo Helene sich herumtrieb, würde jetzt jemand einen unangenehmen Schrecken erleben, und das tat ihr leid. Ja, sie war deutlich über neunzig Jahre alt geworden, und bestimmt hatten etliche Leute schon früher mit ihrem Ableben gerechnet. Trotzdem bedauerte sie jetzt schon die Person, während sie wieder durch die Terrassentür hastete.
Sie zwinkerte verdutzt, als sie ihren Verwalter am Fuß der Sonnenliege stehen sah. Ungewöhnlich, dass er nicht zur Vordertür des Hauses gekommen war. Auf jeden Fall stand er da und sah sehr blass um die Nase aus. Oh, das war ja ganz fürchterlich! Wie ungefällig von ihr!
»Frau Seedorf?« Er räusperte sich und fragte fester noch einmal: »Frau Seedorf?« Dann beugte er sich über die stille Gestalt und zog die Wolldecke ein wenig zur Seite, um an der Halsseite des Leichnams nach einem Puls zu suchen.
»Es tut mir so leid, Herr Hinrichs. Können Sie mich hören?« Sie winkte versuchsweise. »Nein? Verflixt, das ist sehr ungünstig.«
Er wich von der Sonnenliege zurück und zerrte sein Handy aus der Jackentasche. Bestimmt rief er jetzt Doktor Falke oder den Notruf.
Helene nahm auf der zweiten Sonnenliege Platz – das klappte schon besser als eben auf dem Rattansessel, sie schien sich an ihren Zustand zu gewöhnen – und wollte missmutig zuhören und dann gemeinsam mit Herrn Hinrichs auf das Eintreffen eines Arztes warten. Doch da durchrieselte sie plötzlich kühl und kristallklar Wissen, das brandneu für sie war. Sie wusste nicht, woher es kam, aber sie riss den Kopf hoch und starrte ihren Verwalter an. Der Haderlump hatte sie betrogen! Schon zu Theodors Lebzeiten hatte er die Bücher gefälscht und etwas Geld hier und ein Sümmchen da für sich abgezweigt!
Zu gerne hätte sie etwas Gehaltvolleres von sich gegeben als ein fassungsloses Ach, du meine Güte! Aber ihr fiel nichts ein. Außer einem Spruch ihres Mannes Ansgar: Grundgütiger! Nein, gütig passte ganz und gar nicht! Sie war zornig, enttäuscht und gönnte es Hinrichs gerade von Herzen, dass er sie gefunden hatte. Also, ihre Leiche. Blass war der Gauner geworden, und das freute sie. Hoffentlich hatte er die nächsten Nächte Albträume und fühlte sich heimgesucht vom Geist der Seedorfs und einem schlechten Gewissen!
Theodor hatte es geahnt, erfasste sie. Hatte gesucht, vielleicht etwas gefunden und war gestorben, ehe er Schritte gegen Hinrichs einleiten konnte.
Sie musste aufstehen, weil Zorn und Enttäuschung so sehr in ihr brodelten, musste sich durch Bewegung Luft verschaffen. Obwohl sie gar nicht mehr atmete. Jetzt, da sie das klar gedacht hatte, fühlte es sich vollkommen merkwürdig an, und sie lauschte auf … nun, nicht auf ihren Körper, dessen Gesicht der Haderlump gerade mit der Wolldecke bedeckte. Hatte wohl Angst, sie würde gleich böse ein Auge aufmachen und ihm seine Diebstähle vorwerfen!
»Ganove!«, schimpfte sie ungehört.
So ein Ärger, dass sie eine angeblich liebe alte Frau war, wohlerzogen und alles. Zu gerne hätte sie diesem Betrüger einen Tritt vor das Schienbein verpasst. Allerdings würde sie wohl durch ihn hindurchtreten. Hm. Ob er das spüren würde? Kälte im Bein? Sie fühlte sich gerade wie ein Igel, der seine Stachelhaube aufstellte und nötigenfalls sogar mit einem leisen Knurrgrunzen nach vorne stoßen würde, um einem allzu neugierigen Hund die Stacheln in die empfindliche Nase zu piksen.
Nein, sie blieb jetzt nicht hier und wartete auf den Arzt und auf andere Leute, die das kleine Drama auf der Terrasse vielleicht bemerkten und besorgt nachsehen kamen.
Schnurstracks spazierte sie wieder durch die Tür in ihr Haus und wanderte im Gartenzimmer einige Male hin und her, bis sie bemerkte, dass sie mindestens einmal durch den Tisch spaziert war. Das war lästig und führte ihr neuerlich vor Augen, dass sie tot war. Und vielleicht ein Geist.
Von wegen, sie wollte zu gerne Tizian kennenlernen, so schien es. Hinrichs hatte das Gut seit Jahren bestohlen, und ganz offensichtlich war es an Helene, das aufzuklären, den Kerl anzuprangern … Aber er hatte sie weder gesehen noch gehört, und da er das nicht getan hatte, war ja leider davon auszugehen, dass es ihr mit anderen Menschen ebenso ergehen würde.
Wer hatte sich dieses Konzept ausgedacht, bitte sehr? Was nützte ein Geisterdasein, wenn niemand sie hören oder sehen konnte? Sie verharrte. Geisterstunde? Machte das vielleicht den Unterschied? Aber wer verirrte sich zur Nachtzeit in das Haus einer frisch Verstorbenen? Hatte sie Ketten im Haus? Abgesehen von ihrem Schmuck? Sie meinte richtige Ketten, mit denen sie rasseln könnte. Nein, das war albern. Und ganz gewiss würde sie das nicht tun! Immerhin besaß sie Prinzipien.
Theodor hatte etwas geahnt. Seine Sachen hatte sie samt und sonders auf dem Dachboden einlagern lassen. Vielleicht fand sich dort eine Spur.
Helene schob diesen Gedanken erst einmal beiseite. Denn wenn sie schon ein Gespenst sein musste, wollte sie einfach kein Rachegeist sein. Tizian. Katharinas Sohn erbte Rothenbüll und würde hierherkommen. Vielleicht – weil er ja nun einmal mit ihr verwandt war – konnte er sie wahrnehmen. Möglicherweise bestand der Zweck ihres Spukschicksals darin, dass sie ihn warnte und ihm half. Sie lächelte. Und ihn kennenlernte! Das war doch ein viel schönerer Grund, um hier ohne Kettengerassel herumzugeistern.
Das Dasein als Geist war ein entsetzlich langweiliges, befand Helene am dritten Tag. Die Novität, durch Wände gehen zu können, hatte sich binnen einer halben Stunde abgenutzt. Außerdem war es ihr irgendwie peinlich, also nahm sie die gewohnten Wege, so die Türen offenstanden.
Sie konnte ja nicht einmal das angefangene Buch lesen, das auf dem kleinen Tischchen neben ihrem gemütlichen Sessel lag! Das war wirklich nicht in Ordnung.
Also stand sie am Fenster und sah auf ihr geliebtes Rothenbüll, auf die Fliederbüsche, deren Knospen immer dicker wurden, auf den Rhododendron bei der Remise, der so viele, wunderschöne Blüten präsentierte, die zartrosa im dunklen Laub leuchteten.
Sie grübelte, ob sie das Gut ausreichend für den Erben vorbereitet hatte. Seit Theodors Tod hatte sie das Unterste zuoberst gekehrt, die Windbäume installieren lassen, alles renoviert und aufgeräumt. Ob Tizian Rothenbüll so lieben würde wie sie? Oder würde er das Anwesen einfach verkaufen, ohne es jemals besichtigt zu haben? Diese Furcht nagte von Tag zu Tag mehr an ihr. Und auch, ob aus dem Baby, das sie nie gesehen hatte, ein so wundervoller Mann geworden war, wie sie es sich immer vorgestellt hatte.
Eine willkommene Abwechslung von Langeweile und Trübsal stellte sich in Gestalt dreier junger Frauen ein, die in Hinrichs’ Begleitung das Herrenhaus betraten.