Ein Snob, ein Niemand & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Snob, ein Niemand & ein Geist E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Unter normalen Umständen wäre es wohl die Hochzeit des Jahres, zu der Alexander eine Einladung erhalten hat. Leider hat sein Geschäftspartner und Freund Raphael sich entschieden, sich an einen Niemand fortzuwerfen und in einem winzigen Kuhdorf leben zu wollen. Himmel hilf!

Aber noblesse oblige. Wie hätte Alexander auch damit rechnen können, dass Amors Pfeil ihn niederstrecken würde? Und dass der Mann, in den er sich vom Fleck weg während der Feierlichkeiten verliebt, ebenfalls ein Niemand ist? Mehr noch: Benny wurde von seiner Familie verstoßen und steht total alleine da. Die Traurigkeit in seinen Augen schmerzt Alexander bis auf den Grund seiner Seele.

Er muss in diesem Kuhkaff mit dem unaussprechlichen Namen bleiben! Selbst falls Benny nicht an ihm interessiert ist, es ist Alexander eine Herzensangelegenheit, ihm zu helfen. Spontan kauft er ein schäbiges Ferienhaus und adoptiert einen streunenden Kater, um in Bennys Nähe bleiben zu können. Doch Klaxdonnersbüll trotzt wieder einmal den Behauptungen seiner Bürgermeisterin, dass es hier gar nicht spukt ...

Die Romane aus Klaxdonnersbüll sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Da aber immer wieder die Paare aus den vorherigen Romanen kleine Gastauftritte haben, macht es einfach mehr Spaß, die Bücher der Reihe nach zu lesen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

 

Inhaltsverzeichnis
1. Kulturschock
2. Der Anhalter
3. Ein sicherer Hafen
4. Willkommen auf Gut Rothenbüll
5. Hochzeit auf Gut Rothenbüll
6. Shostakovich
7. Schicksalsgöttin
8. Ein kleines Jammertal
9. Die Stimme der Vernunft
10. Treffen im Moor
11. Ein Ferienhaus
12. Erstes Date
13. Aschenputtel
14. Kalte Dusche
15. Museumsfrische
16. Die Plünderung des Dorfladens
17. Willkommen im Chaos
18. Feuer und Flamme
19. Ein sehr lebhafter Albtraum
20. Mit vereinten Kräften
21. Clotted Cream
22. Wichtige Erkenntnisse
23. Im Dunkel der Nacht
24. Feuer im Moor
25. Aufnahme in den Club
26. Frühstück
27. Schlachtpläne
28. Der Ritter
29. Kompromisse
30. Moralische Unterstützung
31. Roswitha
32. Vorbereitungen
33. Grethlin
34. Feuer und Wasser
35. Überraschungen
Epilog: Gedenken

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danke
Mehr aus Klaxdonnersbüll
Bücher, die mitgespielt haben
Impressum

1. Kulturschock

 

Alexander

Der Sportwagen schnurrte über die Landstraße, während Alexander sich von Herzen ob der eintönigen Umgebung langweilte. Felder. Feldwege. Feldrainhecken. Ein Fahrradweg hinter einem breiten Grünstreifen auf einer Seite der schmalen Straße und weit und breit keine Menschenseele.

Die Nacht hatte er in einer besseren Absteige in Flensburg verbracht, dann ein karges Frühstück zu sich genommen und war diesem Örtchen umgehend und hastig entronnen. Offenbar gab es Menschen, die dort freiwillig wohnten, auch wenn ihm das unvorstellbar erschien.

Je weiter er sich von der Fördestadt entfernte, desto begreiflicher wurde es ihm aber. Kaum hatte er die Stadtgrenze passiert, versank das Land in Feldern und Einöde. Und Kühen. Eine Weide mit struppigen Ponys stellte schon ein Highlight dar. Hin und wieder gab es eine … eine Ortschaft, die so winzig war, dass Alexander schon wieder den Ortsausgang erreicht hatte, ehe er das Kaff richtig wahrgenommen hatte. Dagegen nahm sich Flensburg wie eine pulsierende Metropole aus.

Himmel hilf! Johannes wohnte hier irgendwo! Alexander blickte zum Navi. Gute zehn Kilometer noch, sagte dieses. Und dann ermahnte er sich, dass Johannes nun seinen dritten Vornamen Raphael benutzte. Das hatte Alexander selbstverständlich vor, vollauf zu respektieren. Die Umgewöhnung fiel ihm nur schwer.

Schockierend war, dass Raphael keinen Villenkomplex zu bewohnen schien, sondern ein kleineres Haus. Denn er hatte ausdrücklich gesagt, dass er nur über ein Gästezimmer verfügte, in dem die Mutter seines Bräutigams untergebracht sein würde. Das bedeutete dann auch, dass selbst Raphaels Eltern, seine Schwester und sein Schwager in einem Hotel irgendwo in der Umgebung unterkommen mussten.

Alexander schauderte leicht und sagte sich, dass das eben eine kleine Villa sein musste. Und zwar ganz offenkundig am Hintern der Welt.

Er näherte sich einem weiteren Kaff, aber sein Navi bestand darauf, dass er vorher nach links abbog, obwohl sich dort offenbar nur Bäume befanden. Nach kurzem Zögern befolgte Alexander die Anweisung und fuhr umgehend rechts ran, als er eine Möglichkeit dazu fand. Das war ein … ein Feldweg, auf den das Gerät ihn gelockt hatte!

Er zoomte in der Karte herum, bis er einen Überblick bekam und die Gewissheit erlangte, dass sein Navi ihn nicht in die Irre führte. Der nächste Ort, an dem er nun vorbeigeleitet wurde, wies immerhin einen Namen auf, den Alexander würde aussprechen können. Prillsande. Falls es denn jemals notwendig sein sollte, diesen Namen zu nennen. Sehr wahrscheinlich nicht. Die Landstraße führte dann in einem Bogen nach Klaxdonnersbüll, das Raphaels neue Heimat war. Er scrollte weiter und erkannte, dass er auch das Kaff hätte ganz durchfahren müssen, um den Prillsander Weg zu erreichen, während er hier schon von der anderen Seite in diesen eingebogen war. Nicht schlecht, das sparte einige Kilometer ländliche Einöde und Langeweile. Ob es auch eine Zeitersparnis darstellte, wagte Alexander zu bezweifeln, nachdem er den … Autotrampelpfad beäugt hatte.

Wagte er es? Sein Auto war nicht extrem tiefergelegt, besaß aber nicht so viel Bodenfreiheit wie ein Geländewagen. Alexander trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad und fuhr dann wieder an.

Ja, er hatte überlegt, in den Norden von Deutschlands Norden zu fliegen und sich einen Leihwagen zu nehmen. Aber so weit war es von Berlin dann doch nicht, Flughäfen schienen hier obendrein Mangelware und würden ohnehin zusätzliche Fahrt- und Wartezeit bedeuten. Hinzu kam, dass er nicht wirklich gerne flog. Also war er lieber doch mit dem eigenen Wagen gekommen.

Ob dieser nun die notgedrungen niedrige Geschwindigkeit oder die durch Baumwurzeln unter dem Asphalt verursachten Bodenunebenheiten übler nahm, konnte Alexander nicht sicher unterscheiden.

Er fuhr an Wiesen, Waldstückchen und Einöde vorbei, bis wie ein Lichtblick der sogenannten Zivilisation kleine Ferienhäuser im Grün auftauchten. Mal hier eins, dann wieder eine Lücke, ehe das Nächste kam. Sehr idyllisch. Sehr niedlich. Garantiert nicht an die Kanalisation angeschlossen. Himmel hilf! Wohnte Raphael etwa in einem solchen … Häuschen? Selbst komplett renoviert und seinen Gewohnheiten halbwegs angepasst, musste das doch eine qualvolle Enge für ihn bedeuten!

Einer der kleinen Schuppen stand sogar zum Verkauf. Alexander fuhr zum Schutz seines Fahrzeuges besonders langsam und konnte deswegen die gesamte Umgebung in allen öden Einzelheiten auf sich wirken lassen.

Rechts hing ein Parkplatzschild mit dem Hinweis auf einen Wanderweg. Ganz entzückend. Dann kam bis auf Äcker und Hecken lange Zeit gar nichts, aber das Navi beharrte darauf, dass es nicht mehr weit war.

Inmitten eines Getreidefeldes auf der linken Seite thronte wie eine Oase ein Gehöft. Oder ein Haus mit besonders großen Schuppen, alles umgeben von alten Bäumen. Alexander atmete tief durch. So wohnte also Johannes M. Winterhagen aka Raphael auf dem Lande. Grauenhafte Vorstellung. So das Navi keine Märchen erzählte.

Er bog auf die Auffahrt und fuhr auf das Wohnhaus zu. Das sah zumindest renoviert aus. Neue Türen und Fenster, ein neues Dach mit Solarpaneelen. Er spähte in den mit Moos bewachsenen Carport zu seiner Rechten und erkannte das Berliner Kennzeichen an einem relativ neuen silbernen Kombi. Er war hier tatsächlich richtig!

Noch ein Stückchen ließ er den Wagen rollen, ehe er ihn im Schatten einer Fliederhecke abstellte und mit einem mulmigen Gefühl im Magen ausstieg.

Er wusste natürlich, warum Raphael hier lebte. Immerhin hatte er eine Einladung zur Hochzeit erhalten. Übermorgen! Also Zeit für einen Antrittsbesuch. Johannes – Raphael – hatte sich in einen Niemand verliebt. Einen Mann, der weder Namen noch Rang oder auch nur Reichtum oder Verbindungen besaß. Es war eine Vergeudung!

Und dann, während er noch mit dem Schicksal eines Mannes haderte, den er zu seinem großen, losen Freundeskreis zählte, den er seit anderthalb Jahren nicht gesehen hatte, weil Raphael sich hier in der Walachei eingegraben hatte, flog die Haustür auf, und Alexander blieb die Spucke weg.

Der Mann, der ihm da entgegenkam, strahlte und versprühte Lebendigkeit, wie Alexander sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. Als wäre Johannes immer nur der Schatten von Raphael gewesen.

Das konnte nicht nur am Landleben liegen! Und jetzt war Alexander wirklich gespannt auf den Bräutigam. Niemand hin oder her!

»Alexander! Verdammt, es tut gut, dich wieder zu sehen.«

Aus der Nähe sah er noch lebendiger aus. Das gab für Alexander den Ausschlag, nicht darauf hinzuweisen, dass es Raphael gewesen war, der nicht nach St. Moritz, an die Riviera oder nach Nizza gekommen war, wo sie sich sonst immer mal wieder über den Weg gelaufen waren. Er schluckte auch kommentarlos Raphaels abenteuerliche Aufmachung: Das weiße Hemd war unverkennbar maßgeschneidert, aber die obersten zwei Knöpfe standen offen, die Ärmel waren achtlos hochgekrempelt. Und dazu trug Raphael eine ausgeblichene Jeans und weiße Turnschuhe. Erschütternd.

Alexander ließ sich in eine brüderliche Umarmung ziehen und sagte: »Mann, ich hab dich echt vermisst. Irgendwie habe ich dich immer verpasst, wenn du in Berlin gewesen bist.«

»Es waren auch stets nur Stippvisiten, die ich mir mit viel zu vielen Terminen vollgepackt habe. Es ist schwierig, diese Angewohnheit gänzlich abzuschütteln. Komm rein, Alexander! Es ist ein wenig chaotisch, weil wir nebenbei schon – oder noch - packen.«

»Flucht gleich nach der Trauung?«, fragte Alexander, hakte sich bei Raphael ein und wanderte mit ihm zur offen stehenden Haustür.

In dieser erschien gerade ein kleiner roter Kater mit weißen Söckchen, spähte nach draußen, sauste mit einem Maunzen los und verschwand mit hoch erhobenem Schwänzchen hinter einer Hecke. Eine Wald- und Wiesenkatze. Noch etwas Unerwartetes, aber Alexander war überzeugt, dass ihn nichts mehr überraschen würde.

»Nicht direkt«, beantwortete Raphael seine Frage. »Zwei knappe Tage bleiben wir danach noch. Montag wird ausgeschlafen und gefaulenzt. Anordnung von Jarl. Dienstag Abend fahren wir nach Hamburg zum Flughafen. Jarl ist gerne gründlich und auf alles vorbereitet. Es ist seine erste Flugreise, und er ist zauberhaft aufgeregt.«

Alexander hatte sich geirrt. Das war eine Ansage, die aus dem Nichts kam und ihn überrascht nach Luft schnappen ließ.

Leises Gelächter erschütterte Raphael. »Ah, Kulturschock! Klingt vertraut, das ging mir am Anfang ähnlich, als ich nach Klaxdonnersbüll zog. Ich hatte auch schon das Gefühl, dass du sehr fassungslos hier ankamst. Hm, was kann ich da noch hinzufügen, um den Schockzustand auszubauen? Lass mich nachdenken!«

Alexander überlegte fieberhaft, welche unverfängliche Frage er stellen könnte. »Wo habt ihr euch kennengelernt?« Ah, das war gewiss nicht unverfänglich! Wo lernte ein Millionär einen Mann kennen, der noch nie im Leben geflogen war und ebenjenen Millionär in einem Kuhdorf annagelte? Himmel hilf!

Raphael lachte erneut. Wirklich, so viel lebendiger und entspannter, es erschien Alexander wie ein Wunder und versöhnte ihn ein wenig mit den ungewöhnlichen Lebensumständen hier.

»Ich wollte zum Einkaufen fahren und legte eine Vollbremsung hin, als mir eine Katze – unser Kater Aravil, den du soeben gesehen hast – vor den Kühler lief. Dabei kam ich von der Straße ab und landete auf der matschigen Bankette. Als ich mir die Bescherung ansehen wollte, tauchte Jarl auf seinem alten Rennrad auf und bot mir Hilfe an, den Wagen wieder flottzukriegen. Ich stand Todesängste aus, dass ich vor lauter Aufregung den falschen Gang einlegen und ihn einfach überfahren würde. Nun, mein Auto steckte nicht halb so fest, wie wir beide gedacht hatten. Es kam von alleine frei, und Jarl legte einen Bauchklatscher im Matsch hin. Nie zuvor in meinem Leben habe ich mich so geschämt. Ich sprang aus dem Wagen und murmelte Entschuldigungen. Und er … hat einfach gelacht.«

Das klang, fand Alexander verblüfft, sympathisch. Nicht nur die Hilfsbereitschaft, sondern vor allem die Fähigkeit, über das Missgeschick zu lachen. Allerdings stellte er sich nun einen stämmigen Landjunker mit Latzhose und Gummistiefeln vor. Das Rennrad passte nicht ganz zu diesem Bild, doch das störte ihn momentan nicht.

Raphael führte ihn in eine geräumige Diele mit Marmorfliesen, einer alten Holztreppe, die in das Obergeschoss führte, und einem großen Gemälde eines Getreidefeldes unter blauem Himmel mit zahllosen Kornblumen und Mohnblüten am Rand. In der Ferne war ein Wäldchen angedeutet, das wie eine trotzige Insel aus der wogenden See aufragte. Das war gut! Ländliches Idyll zwar, aber die Pinselführung war hervorragend, die Farben unglaublich brillant. Er erkannte nicht sofort den Meister, aber es war wirklich schön. Nicht kitschig, doch das hätte er bei Raphael auch im Leben nicht erwartet. Und dieser würde sich doch gewiss gegen den sehr wahrscheinlich plebejischen Geschmack seines Verlobten durchsetzen!

»Jarl? Alexander ist da!«, rief Raphael die Treppe hinauf.

»Sekunde!«, erklang eine tiefe Stimme von oben.

»Kaffee?«, fragte Raphael. »Wir haben einen monströsen Automaten. Und eine Standardmaschine.«

»Sehr gerne.« Alexander wies auf das Gemälde. »Von wem ist das?«

»Kennst du wahrscheinlich nicht, obwohl er hervorragend ist: Hagen de Vries.«

»Noch nie gehört, nein. Aber es ist sehr gut.«

Raphael nickte und wies auf eine offen stehende Tür. »Da ist das Wohnzimmer, falls du schon Platz nehmen möchtest. Ich kümmere mich um den Kaffee.«

Aber dann blieb er doch stehen, als von oben leichte Schritte zu vernehmen waren, und sah zur Treppe. Alexander tat es ihm gleich.

Okay. Okay, jetzt konnte er schon ein wenig begreifen, warum Jo… Raphael die Betriebsamkeit der Weltstädte gegen die ländliche Einöde eingetauscht hatte.

Barfuß und in einer Jeans, die so kunstvoll distressed aussah, dass sie ein Vermögen gekostet haben musste oder … echt so abgewetzt und sogar mit Farbflecken versehen war. Angetan in ein teures Sport-Funktionsshirt, das einen Oberkörper nachzeichnete, der deutlich machte, dass dies kein trendy Accessoire war, kam Raphaels Verlobter leichtfüßig die Treppe herab. Hochgewachsen, breitschultrig und mit den definitiv schönsten Deltamuskeln, die Alexander jemals in freier Wildbahn gesehen hatte. Dunkles, kurzes Haar, ein samtig-kurzer, gepflegter Bart und helle Augen unter geraden Brauen.

Himmel hilf! Armer Raphael, kein Wunder, dass er sich nicht mehr aus diesem Kuhkaff rührte!

Raphael stellte sie einander vor. »Jarl, das ist Alexander von Wenkendorf-Gadeland. Siehst du, ich komme mit Doppelnamen klar. Alexander, ich freue mich, dir meinen Verlobten Jarl Rodenbek vorzustellen.«

Jarls Händedruck war fest, aber nicht grob. Alexander spürte Schwielen an seiner Handinnenfläche, während sie sich höflich begrüßten.

»Geht schon mal vor ins Wohnzimmer. Ich komme gleich mit dem Kaffee nach«, sagte Raphael und ging geradeaus in eine große Küche.

Alexander selbst folgte Jarl auf dessen einladende Handbewegung in das Wohnzimmer. Groß, sonnig mit Blick auf einen von Hecken umschlossenen Garten mit Sonnenliegen, Blumenbeeten und gepflegtem Rasen. Gute Gärtner hatten die beiden, falls nicht … Der alarmierende Gedanke beschlich Alexander, dass sehr wahrscheinlich der Verlobte seines Freundes Rasen mähte und Unkraut jätete! Vielleicht tat auch Jo… Raphael das? Selbst das Gras kurz halten, statt an Alexanders Seite über das Grün eines Golfplatzes zu schlendern, Caddys im Gefolge, die ihre Ausrüstung und Schläger schleppten und auf absolute Schweigsamkeit gedrillt waren? Es machte ihn ganz schwindelig!

Half ja alles nichts. Und ging Alexander auch nicht wirklich etwas an. Keinesfalls würde er versuchen, Raphael zwei Tage vor der geplanten Hochzeit vor dem Altar und einer Mesalliance zu bewahren. Außerdem ging das nicht, weil die standesamtliche Trauung doch immer vor der kirchlichen stattfand, oder? War auch egal, denn er hatte sich schlichtweg nicht einzumischen!

Raphael wirkte glücklich, und selbst falls er vor lauter Liebe keinen klaren Kopf behielt, konnte man sich doch darauf verlassen, dass der alte Winterhagen das tat und einen guten Ehevertrag ausgetüftelt hatte.

Er bemühte sich nun um Konversation, auch um diesen Verlobten besser kennenzulernen. »Wohin geht es denn in die Flitterwochen?«

»Kanada. Zuerst Niagarafälle.« Jarl lächelte fast ein wenig beschämt. »Ich weiß, dass das ein fürchterliches Klischee ist, und das ist auch alleine auf meinem Mist gewachsen.«

Oh! Hatte er bereits Gegenwind von Raphaels Familie erhalten? Widersinnigerweise fühlte sich Alexander nun, als müsste er vor diesem großen, muskulösen Mann in die Bresche springen und ihn vor Anfeindungen verteidigen! »Klischee hin oder her«, sagte er energisch. »Die Fälle sind eine Augenweide. Ich war schon einige Male dort. Ja, natürlich ist alles im Umkreis kommerzialisiert, aber das Naturschauspiel ist einfach atemberaubend. Ich würde auch dringend dazu raten, Behind the Falls zu gehen. Da gibt es ein Tunnelsystem hinter dem fallenden Wasser.«

»Das werde ich mir merken. Danke.« Das Lächeln wirkte gleich ungezwungener. »Raphael hat eine Suite im Hotel über den Fällen gebucht.«

»Ich hoffe doch sehr: mit Blick auf diese!«

»Keine Ahnung. Aber ich gehe mal kühn davon aus. Dann hat er noch eine Überraschung geplant und will mir nicht verraten, wo wir die zweite Woche verbringen. Ich bin gespannt.«

»Natürlich hat die Suite Blick auf die Fälle. Und einen Balkon«, sagte Raphael von der Tür aus und trug drei Kaffeebecher auf einem Tablett ins Zimmer. »Und die Überraschung bleibt mein Geheimnis, mein Prinz.« Er stellte das Tablett ab, beugte sich vor, wobei er eine Hand in Jarls Nacken legte, um seinen Verlobten sanft zu küssen.

Es war keine Demonstration, begriff Alexander verblüfft, sondern nur ein ganz kurzer Austausch von Zärtlichkeit. Vollkommen selbstverständlich und liebevoll. So hatte er Raphael auch noch nie erlebt.

Er selbst käme natürlich nie auf die Idee, sich zu binden. Womöglich noch Kinder adoptieren und sich irgendwo niederlassen, um die Blagen gemeinsam mit einem häuslichen Partner großzuziehen! Oh, nein! Er hatte in Gestalt eines Großcousins einen Erben, der gerade brav im Internat steckte und sich aufs Leben vorbereitete. Acht war der Knabe. Oder neun? Keine Ahnung, war ja auch gerade egal. Er war ein Garant, dass Alexander nicht daran denken musste, seine Freiheiten aufzugeben.

Der Kaffee war gut, und allmählich entspannte Alexander sich auch. Jarl schien ihm nicht übel. Lebhaft, intelligent und selbstsicher genug. Ein Mäuschen hätte auch nicht zu Raphael gepasst, da konnten noch so viele Leute davon schwätzen, dass Gegensätze sich anzogen. Für eine kurze Weile vielleicht, aber diese beiden waren – er rechnete rasch nach – seit anderthalb Jahren zusammen.

Es erfüllte ihn mit einer nahezu gönnerhaften Zufriedenheit, erkannte er verblüfft, Raphael glücklich zu sehen. Wenngleich in einem nicht standesgemäßen Domizil in einem Kuhdorf. Und im Begriff, einen Niemand zu heiraten, so attraktiv und liebenswert dieser auch war.

»Wie bist du auf dieses Haus gekommen?«, fragte Alexander schließlich und verkniff sich mühsam den Zusatz ausgerechnet.

Raphael stellte seinen Kaffeebecher auf den Tisch und lehnte sich zurück. »Ich brauchte dringend eine Pause. Ich musste für eine Weile raus aus der Firma, nur für mich etwas tun, mich auf andere Gedanken bringen.«

Ja, kein Wunder. Raphael war das absolute Arbeitstier gewesen, unfähig, auch nur Kleinigkeiten zu delegieren. Alexander hingegen hatte mit dem ganzen Hintergrund, aus dem sein Vermögen immer noch wuchs, herzlich wenig zu tun. Das erledigten gute Leute, die er sehr gut bezahlte. Er sah keinen Sinn darin, sich mit solcher Arbeit aufzureiben, statt das Leben zu genießen und Dinge zu tun, die ihm Freude bereiteten und die sein Reichtum ihm ermöglichten.

»Sehr naiv dachte ich, ein Haus weit weg von allem, das ich eigenhändig renoviere, wäre gut für mich.«

Alexander verschluckte sich fast an seinem Kaffee. »Eigenhändig? Du meinst Dinge wie … Tapeten an die Wände kleben? Nicht wirklich, oder?« Er sah sich im Wohnzimmer um und war fassungslos. Das waren Dinge, die einfach geschahen! Er suchte Farben und Muster aus, besprach vage mit seiner Innenarchitektin, was er erwartete, und kam dann drei Wochen später zurück, nachdem all seine Wünsche perfekt umgesetzt worden waren.

»So weit kam ich nicht.« Raphael lachte. »Die vielen übereinander geklebten Schichten Tapeten waren eine Zeitreise in die Vergangenheit und zu meinem Erstaunen Schwerstarbeit.« Er sah zu Jarl und lächelte diesen an. »Wir haben gemeinsam viel selbst gemacht. Im Endeffekt habe ich das meiste trotzdem an Fachfirmen übergeben, sonst würden wir wohl immer noch in einem Zimmer mit teilweise abgefitzelten Tapeten auf einer Matratze auf dem Fußboden schlafen. Ich kann dir aber berichten, dass ein Balkenmäher sehr effektiv zwei Meter hohe Brennnesseln rodet und das sogar Spaß macht.«

»Himmel hilf! Das klingt …« Das klingt, als wäre dies eine komplette Bruchbude gewesen. Mühsam schluckte Alexander diesen Satz.

»Abenteuerlich, ich weiß. Und sehr, sehr naiv auf meiner Seite. Das Haus wurde zuletzt von einer alten, alleinstehenden Frau bewohnt und stand nach deren Tod etliche Monate leer, ehe ich es kaufte und dachte, ich renoviere das mal eben im Alleingang. Du hättest die Badezimmer sehen sollen. Nein, besser nicht. Sie waren scheußlich ohne Gleichen! Ich hatte nicht einmal etwas, das die Bezeichnung Küche verdiente.«

»Und löslichen Kaffee und Tütensuppen«, setzte Jarl hinzu und schauderte sichtlich bei der Vorstellung.

Alexander hatte noch nie im Leben das Missvergnügen gehabt, einer Tütensuppe zu begegnen. Kulturschock hoch drei!

2. Der Anhalter

 

Alexander

Er war tatsächlich nicht eine Minute länger als eine Stunde bei Raphael und seinem Verlobten geblieben und tief in Gedanken wieder nach Flensburg aufgebrochen, als ihn der spontane Geistesblitz überkam, sich die Stätte der geplanten Hochzeit im Vorwege anzusehen.

Er war ja extra schon am Vortag in Flensburg angereist, um heute seinen kleinen Antrittsbesuch machen zu können, ehe am Samstag die ganze Familie und noch viel mehr Freunde und Bekannte auftauchten und Raphael und sein Zukünftiger im Stress ertranken. Sonntag war der große Tag, und Alexander wünschte Johannes – Raphael, verdammt! –, dass alles gut gehen würde. Wirklich alles, nicht nur Zeremonie und Feierlichkeiten.

Er hatte schon fest eingeplant, den Samstag komplett im sogenannten Wellness-Bereich des Hotels zu verbringen. Massage war bereits bestellt. Hoffentlich taugte die etwas.

Aber heute hatte er noch Zeit, die er totschlagen musste, wollte er nicht einfach nur mit einem Buch auf dem Sofa abhängen und die Nacht herbeisehnen, weil ihm so langweilig war.

Er fuhr durch Klaxdonnersbüll, woran sein Navi ihn vorhin ja gehindert hatte. Ganz liebreizend und glücklicherweise schnell vorbei. An Sehenswürdigkeiten hatte er einen Hofladen, eine Kirche, einen Supermarkt, einen Sportplatz mit einem ganzen Rudel Kinder, das einen Fußball über den Rasen jagte, und eine Tankstelle entdeckt.

Aber er hatte auch niemand gesehen, der ihm im Auspuff klebte, an der Ampel – gut, es gab hier keine – mit röhrendem Motor auf den Anblick des Sportwagens reagierte. Dafür hatte er den Jubel und das Gelächter der Kinder auf dem Spielfeld vernommen und Menschen gesehen, die Zeit hatten oder sich nahmen, um auf ein Schwätzchen am Gartenzaun stehen zu bleiben.

Er ertappte sich selbst dabei, dass er einem Kleinwagen die Gelegenheit gab, sich vor ihm von der Tankstelle auf die Dorfstraße zu begeben. Und freute sich sogar, als ihm zum Dank aus beiden Seitenfenstern zugewinkt wurde.

Es war ja nicht so, dass er nur ein Partylöwe war. Er konnte auch friedliche Augenblicke auf dem Golfplatz oder in einem Ferienbungalow mit Rund-um-Service genießen. Hm. Ein wenig begann er gerade, Raphael zu verstehen, der die Zeit, in der er unter Dauerstrom gestanden hatte, gegen ländliche Langeweile getauscht hatte.

Nicht, dass das für ihn selbst in dieser Form infrage käme! Eine Skihütte mit Personal war etwas ganz anderes!

Er bog nach links ab, als sein Navi dies von ihm verlangte. Der Festort sollte ein Gut sein. Gut Rothenbüll, um exakt zu sein. Kein Wunder, war doch das Haus im Prillsander Weg zu klein, um auch nur Raphaels Familie aufzunehmen. Wenn Alexander sich ein Gut vorstellte, dann war dieses prachtvoll mit gepflegten Gärten und einem eindrucksvollen Herrenhaus. Na, er war gespannt, was dieses Dörfchen, in das er gerade einfuhr, diesbezüglich zu bieten hatte.

Es blieb ihm gänzlich unverständlich, warum Raphael die Hochzeit nicht im Sitz seiner Familie in Berlin abhielt. Vielleicht Rücksicht auf die Angehörigen seines Verlobten. Himmel hilf, das würde gewiss unterhaltsam werden, wenn sich Geldadel mit Landvolk mischte. Nicht, dass Alexander etwas gegen Landvolk einzuwenden hatte, wie er sich sagte.

Das Navi lotste ihn in eine Tempo-30-Zone, war das denn zu fassen? Und da war auch schon der Ortsausgang. Klaxdonnersbüll war ja eine regelrechte Metropole gegen dieses Rothenbüll!

Jetzt fuhr er wirklich aufs Land. Wiesen, Äcker, Wald. Hinter einer Kurve entdeckte er am rechten Straßenrand eine einsame Gestalt, die unter der Last eines Rucksacks und zwei großer Einkaufstaschen stapfte und sich umdrehte, als das Motorengeräusch das Nahen von Alexanders Wagen ankündigte. Fast zaghaft hob der Mann den rechten Arm ein wenig – und den Daumen!

Anhalter hatte Alexander noch nie mitgenommen. Und ganz bestimmt hielt er hier nicht direkt nach der Kurve! Er fuhr um den Rucksackwanderer herum, und irgendetwas bewog ihn, in den Rückspiegel zu sehen, nachdem er ihn passiert hatte.

Er bremste und fuhr rechts ran.

Wie der Mann die Schultern hatte sinken lassen, wie er regelrecht in sich zusammengefallen war … Das hatte etwas in Alexander berührt. Wie Jarls leicht beschämtes Lächeln und die Vorstellung, wie schwer er es haben würde, sich in Raphaels Familie und Freundeskreis zu behaupten.

Alexander legte den Rückwärtsgang ein und ließ den Wagen langsam rückwärts rollen.

Als wäre er unter einer schwarzen Wolke gewandert, die jetzt aufriss und Sonne auf ihn scheinen ließ, kam Leben in den Anhalter. Er beeilte sich, zu Alexanders Auto und dort an die Fahrerseite zu kommen.

Das muss am Frühstück liegen, das sie mir im Hotel serviert haben. Ich bin doch sonst nicht so überaus einfach zu erweichen!

Bevor er es sich anders überlegen konnte, betätigte er die Taste für das Fenster, kurz bevor der Anhalter dieses erreichen konnte.

Ein wenig außer Atem, Schweißperlen auf der Stirn und den hohen Jochbeinen, was erstaunlicherweise attraktiv wirkte, obwohl Alexander gerade fürchten musste, dass der junge Mann wahrscheinlich auch nach Schweiß roch. Hoffentlich nahmen die Ledersitze das nicht an!

»Oh, danke! Wohin Sie auch fahren, meine Füße sind dankbar für jeden Kilometer, den sie nicht laufen müssen!«, stieß der Anhalter hervor.

»Nun, bis zu meinem Ziel ist es wirklich nicht mehr weit«, antwortete Alexander freundlich. »Wohin wollen Sie?«

»Gut Rothenbüll. Ich wusste nicht, dass das so weit außerhalb liegt. Und ich wusste nicht, dass der Bus nur morgens und abends hier vorbeifährt und sonst von Prill… Prillsande direkt in den nächsten Ort.«

»Klaxdonnersbüll«, half Alexander mit seinem neu erworbenen Wissen der norddeutschen Geografie aus.

Der junge Mann lachte. »Hier oben hat es verdammt viele Bülls, scheint mir. Von Klixbüll und Klanxbüll hab ich ja schon mal gehört.«

Das fand Alexander interessant. Er kannte diese Ortsnamen nämlich nicht. »Wirklich?«, fragte er nach, ehe er sich besann: »Steigen Sie ein. Den Rucksack werden Sie auf den Schoß nehmen müssen, der passt keinesfalls in das Gepäckfach.«

»Danke!«

Ein so strahlendes Lächeln begleitete dieses Wort, dass die Sonne noch einmal so hell leuchtete. Das lag auch an dem dunkelblonden Haar – ein wenig wie Altgold - des Mannes und seinen verblüffend klaren Augen, deren Farbe ein schönes, dunkles Grün war.

Er flitzte um den Wagen herum, zerrte sich die Trageriemen von den Schultern und fiel auf den Beifahrersitz, wobei er erst die Taschen und dann das unhandliche Gepäckstück zwischen seine Beine klemmte und gegen sich lehnte.

»Mein Ziel ist ebenfalls dieses Gut«, sagte Alexander, während sein neu gewonnener Beifahrer sich angurtete. »Freunde von mir heiraten dort am Sonntag.«

Der junge Mann erstarrte und riss die Augen weit auf. »Oliver heiratet am Sonntag?« Seine Stimme war dabei mindestens drei Töne heller als eben gerade noch. »O mein Gott, oh, verdammt! Ich überfalle ihn ohnehin schon, und wenn er übermorgen heiratet … Was mach ich denn jetzt?«

»Da keiner meiner Freunde Oliver heißt, kann ich Sie beruhigen.« Er ließ den Wagen langsam wieder anrollen. Bis zum Gut war es wirklich nicht mehr weit, und merkwürdigerweise wollte er die Ankunft dort ein wenig hinauszögern.

»Uff! Sie ahnen gar nicht, wie sehr mich das erleichtert. Oliver sagte bei unserem letzten Kontakt vor ein paar Monaten, dass ich immer willkommen wäre. Aber ich habe seine Telefonnummer nicht mehr – neues Handy, weil das alte schlagartig verreckte, und ich konnte keine Daten mehr retten. Jetzt ist bei mir Holland in Not, und ich habe schon ein schlechtes Gewissen, einfach aufzukreuzen.«

Und dann sank er wieder so in sich zusammen wie in dem Augenblick, als Alexander an ihm vorbeigefahren war. Das goldene Leuchten erlosch, und zurück blieb ein junger Mann, der einfach nur zu Tode erschöpft aussah.

Alexander suchte nach Worten, weil ihm dieser Anblick unerwarteterweise wehtat. »Sie kennen diesen Oliver schon länger, nicht wahr?«

Ein knappes Nicken.

»Gibt es einen Grund, an seinem Wort zu zweifeln?«

»Nein. Es fühlt sich trotzdem nach Überfall an. Und nach dem Schreck eben, ich könnte in seine Hochzeit platzen. Entschuldigung, ich sollte Sie echt nicht mit meinem Jammertal belasten.«

»Das ist schon in Ordnung.« Was rede ich da?

»Danke.« Ein tiefer Seufzer. »Und der Sitz hier ist so bequem! Ich hatte echt keine Ahnung, wie weit es von der Bushaltestelle ist. Wahrscheinlich bin ich auch noch einen Umweg gelaufen. Egal … Oh! Ist es das da? Ist das Gut Rothenbüll?« Er wies aufgeregt nach vorne, wo sich tatsächlich die Konturen eines ansehnlichen Landsitzes inmitten Pferdeweiden und Wäldern präsentierten.

Alexander hatte ja dank Navi gewusst, dass es wirklich nicht mehr weit war. Also nickte er und wies auf das eingebaute Gerät. »Das muss es sein.« Und es war wirklich eindrucksvoll. Dunkle Dächer, die Wände in hellem Zitronengelb gehalten, Fenster und Türen strahlend weiß.

Ein wenig von den riesigen Scheunen abgesetzt thronte auf einer kleinen Anhöhe das Herrenhaus. Ebenfalls in hellem Gelb, aber mit zartgrauen Absetzungen versehen. Das war einmal an angemessenes Anwesen. Nicht zu vergleichen mit dem kleinen Gehöft, auf dem Raphael hauste. So ansprechend er das Haus auch hatte herrichten lassen. Guten Geschmack hatte er schon immer bewiesen – nur nicht in der Wahl des Gebäudes, in das er so viel Mühe und Geld investiert hatte.

»Oh!«, sagte Alexanders Beifahrer offenkundig schwer beeindruckt. Er wirkte schon wieder hoffnungslos.

Alexander jedoch bog äußerlich ungerührt auf einen Fahrdamm, der durch das Torhaus führte, nachdem sie ein Hinweisschild auf einen Reitstall und eine schlichte Tafel mit der Aufschrift Gut Rothenbüll passiert hatten.

Hinter dem Torhaus breitete sich das Anwesen aus. Gepflegte Grünflächen, Obstbäume und vor allem schöne Zierbeete.

»Wo wohnt Oliver?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Gibt es hier irgendwo eine kleine Kate inmitten Brombeeren und Brennnesseln?«

»Sieht nicht so aus. Also fragen wir. Wie heißt er mit Nachnamen?« Alexander ließ den Sportwagen in etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit in Richtung des Reitstalls rollen. Eine Reihe großer und kleiner Fahrzeuge tummelte sich auf einem Streifen, der als Parkplatz ausgewiesen war. Weiter hinten gingen die Autos zu einer Ansammlung Pferdeanhänger über.

»Osterfeld«, kam die Antwort und klang ganz danach, als würde Alexanders Schützling sich im Sitz klein machen und hinter seinem Rucksack verstecken wollen.

»Wir finden ihn.« Und dann setzte er hinzu: »Ich liefere Sie sicher bei ihm ab. Überraschungsgast mögen Sie sein, aber ich wette, dass er sich freuen wird, Sie zu sehen.« Er sah aus den Augenwinkeln noch ein zaghaftes, ungemein tapferes Lächeln, dann entdeckte er eine hochgewachsene Frau mit blondem Haar, in dem sich türkisfarbene Strähnchen befanden. Sie führte ein ungemein massives, weißes Pferd, das das nahende Auto neugierig beäugte. Alexander ließ das Fenster hinab. Er wollte nicht zu nahe an Ross und Frau heranfahren, da er keinen Hufabdruck in seinem Lack wünschte. »Guten Tag«, grüßte er höflich.

»Moin«, kam es zurück, und die Frau drängte das Tier leicht zurück, ehe sie näher kam.

»Wir suchen einen Herrn Oliver Osterfeld.«

»Er sollte zu Hause sein, meine ich«, antwortete sie und wies dann zum Herrenhaus.

»Ich danke Ihnen«, sagte Alexander höflich und konnte hören, wie sein Begleiter fassungslos nach Luft schnappte.

Sacht ließ er das Auto wieder anrollen. Pferde waren Fluchttiere, wusste er, und er wollte das Tier nicht erschrecken. Irgendein Kaltblüter war das wohl, so viel verstand Alexander. Reitsport hatte ihn selbst nie interessiert, aber es gab ausreichend Pferdebegeisterte in seinem Umfeld, dass doch einiges bei ihm hängen geblieben war.

»Ihr Oliver scheint Gutsherr zu sein«, bemerkte er freundlich. Der Kontakt zwischen den beiden musste schon eine ganze Weile auf Sparflamme laufen oder eingeschlafen sein, dass diese Tatsache seinem Begleiter nicht bekannt gewesen war.

»Er … er ist vor einem Jahr hierhergezogen. Er meinte noch, dass es ein großes Haus ist. Aber … Junge, Junge, Junge! Es … es gehört seinem Lebensgefährten, aber trotzdem … Wow!«

Alexander spitzte bei diesen Worten die Ohren. Nicht, weil ihn Olivers Lebensumstände sonderlich interessierten, sondern weil sein Beifahrer so vollkommen selbstverständlich von einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft sprach, ohne verächtlich oder angewidert zu klingen.

Vor dem Herrenhaus lag eine kreisrunde Auffahrt, in deren Mitte sich ein regelrechter Rosenhain inklusive Rankbögen befand. Sehr geschmackvoll und exquisit gepflegt.

»Sollten wir nicht einen Nebeneingang suchen?«, stieß der junge Mann neben ihm verzweifelt aus.

»Das hätte die Pferdedame uns gesagt. Falls uns sogleich ein hochnäsiger Butler zu einem solchen Nebeneingang verweist, werde ich alle Schuld auf mich nehmen, keine Sorge.« Den Teufel würde er tun. Es gab keinen Butler, der auch nur annähernd hochnäsig genug war, um es mit Alexander aufzunehmen!

Er parkte direkt vor der Treppe und stieg gemächlich aus, wobei er instinktiv seine Brille zurechtrückte, ehe er um die Motorhaube herumging und seinem Fahrgast höflich die Tür aufhielt, damit dieser einfacher aussteigen konnte.

Alexander ging vor zur Haustür und klingelte, ehe sein Schützling Einwände erheben oder sich eigenmächtig auf die Suche nach einem Dienstboteneingang machen konnte.

Es dauerte eine geraume Weile, bis er Schritte hinter dem gewaltigen Portal vernehmen konnte. Offenbar kein Butler. Oder zumindest keiner, der sein Gehalt wert war.

Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und vor Alexander stand ein weiterer junger Mann, der fragend zu ihm aufsah, ehe er den Anhalter entdeckte. »Benny! Holla, die Waldfee! Das ist ja eine tolle Überraschung!«

»Es tut mir so leid, dass ich dich überfalle … Er hat mich schon wieder rausgeschmissen, und ich hatte deine Nummer nicht mehr, weil mein altes Handy verreckt ist …«

Alexander spitzte die Ohren. Vielleicht wäre es angemessen, sich nun zu entschuldigen und den Rückzug anzutreten, aber etwas in ihm sträubte sich immens dagegen.

»Dein Vater ist das Hinterletzte!«, verkündete Oliver und umarmte Benny.

Benny. Kurzform für Benjamin? Benedikt? Bernhard? Alexander mochte Abkürzungen per se nicht wirklich. Außer in Notwehr, selbstverständlich. Die Bedeutung des H. auf seiner Visitenkarte würde er niemals offenbaren.

Dem Vater würde gerne einige Takte erzählen. Ohne zu wissen, was da los war, vielleicht eine überstürzte Intention, aber das war Alexander in diesem Augenblick gleichgültig. Hm. Da war bestimmt etwas in seinem Hotelkaffee gewesen heute Morgen!

»Komm rein. Du kannst mir da alles erzählen. Ich hab auch Taschentücher da.« Oliver hob den Blick und sah zu Alexander. »Entschuldigung. Ich freu mich so, Benny zu sehen, dass ich Sie voll übergangen habe.« Er wies einladend in Richtung des Foyers.

»Genau genommen gehöre ich nicht dazu«, sagte Alexander.

»Er … er hat mich bei Rothenbüll als Anhalter mitgenommen. Ich hätte mich im Leben nicht getraut, bei diesem Haus zu klingeln!«

»Danke«, sagte Oliver schlicht und hielt Alexander die Hand hin.

Er schlug ein und stellte sich dann auch gleich vor: »Alexander von Wenkendorf-Gadeland. Ich kam nicht ganz zufällig hier vorbei. Mein Freund Raphael Winterhagen hat mich zu seiner Hochzeit am Sonntag eingeladen, und ich verabscheue es, durch kleine Straßen zu irren und einen Schauplatz nicht im Vorweg zu kennen. Da ich ihn heute ohnehin besucht habe, dachte ich, ich fahre hier einfach vorbei.«

»Einmal vorher ausbaldowern, wo die Parkplätze und die Toiletten sind?« Oliver lachte. »Sehr weise.«

Ganz so hätte Alexander es nicht umschrieben, aber es traf den Kern der Sache. Also nickte er einfach.

Oliver wies zur Seite. »Da hinten ist der Rosengarten. Nicht zu übersehen. Fluchende Helfende bauen Pavillons und so auf. Nach der Trauung geht es in die Künstlerscheune, die bereits zum Teil hergerichtet ist. Wollen Sie sich das ansehen? Falls unsere Chefgärtnerin Frau Beer Sie stellt, sagen Sie ihr einfach, dass Oliver es gestattet hat. Kann sein, dass sie dann noch einmal bei mir nachfragt. Sie nimmt die Verteidigung des Guts sehr ernst.«

»Danke, der Einladung folge ich gerne. Ein wunderschönes Anwesen haben Sie hier.« Dann wandte Alexander sich an Benny. »Alles Gute, und erholen Sie sich bitte von dem Fußmarsch.« Im Hinterkopf nistete der Gedanke, dass Benny bestimmt auch am Sonntag noch hier sein würde. Ausgeruht und den Schrecken, die sein Vater verbreitet hatte, sicher entronnen. Oliver machte einen guten Eindruck auf Alexander, was er verwirrenderweise sehr beruhigend fand. Sein Anhalter war hier gut aufgehoben.

»Mach ich«, versprach Benny, und da war das strahlende Lächeln wieder. Doch in seinen Augen lagen auch Schatten und Erschöpfung.

Alexander begriff, dass Herumtrödeln hier nicht angebracht war. Benny war erst einmal in Sicherheit, das war wichtig. Jetzt benötigte er Zeit und Ruhe und ganz gewiss keinen Fremden, der ihn über Gebühr aufhielt.

Er wies also auf sein Auto. »Gestatten Sie, dass ich das hier derweil stehen lasse? Höchstens eine Viertelstunde.«

»Ja, natürlich. Platz ist doch genug«, antwortete Oliver erfrischend unkompliziert. Dann wandte er sich an Benny. »Komm. Zeit, dass du dein Gepäck loswirst und auf ein Sofa kommst.« Er legte ihm den Arm um die Schultern, nickte Alexander noch einmal zu und führte den Anhalter dann ins Haus.

Und Alexander machte sich plangemäß und mit viel Kraut und Rüben im Kopf auf den Weg, um den Rosengarten in Augenschein zu nehmen, damit er auf andere Gedanken kam.

3. Ein sicherer Hafen

 

Benny

Das war hochherrschaftlich hier! Benny fühlte sich ganz klein und unbedeutend, und den einzigen Trost stellte gerade Oliver dar, der ihm energisch die Taschen und den Rucksack abnahm und alles auf eine wuchtige Eichentruhe stellte, die in diesem … Saal an der Wand stand. Eine Treppe mit Marmorstufen wendelte sich nach oben. Da hätten vier Leute nebeneinander gemütlich hochgehen können!

Benny hatte das Gefühl, dass ihm gleich die Augäpfel eintrockneten, weil er alles nur anstarren konnte und nicht zu zwinkern wagte, weil sich dann alles auflösen und sein Vater vor ihm stehen könnte. Und mitten in dieser Pracht stand Oliver bei ihm, lässig in Jeans und ein T-Shirt gekleidet und wirkte ebenso fehl am Platz, wie Benny sich fühlte. Und doch … so selbstsicher und vollkommen als Herr der Lage hatte Benny ihn noch nie erlebt. Wie gelassen er mit dem netten Mann … Herrn aus dem Sportwagen umgegangen war!

»Was ist passiert?«, fragte Oliver, hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich aus dem prunkvollen Eingangsbereich. »Wie konnte der Kerl dich rauswerfen? Ich weiß, dass deine Oma, die dich aufnahm, als er dich rauswarf, gestorben ist, aber …«

Das erste Mal mit fünfzehn vom eigenen Vater vor die Tür gesetzt. Und jetzt schon wieder. Ja, vielen Dank. Er nickte müde. »Sie hatte kein Testament hinterlassen. Und damit ist er automatisch Alleinerbe, weil er ihr einziges Kind war.«

»Verflixt! Oh, tut mir leid, ich wollte nicht …«

Benny drückte Olivers Hand. »Ich weiß es auch erst seit einer Woche sicher. Ich war überzeugt, sie hätte etwas veranlasst. Aber ihr Rechtsanwalt hat alles abgecheckt. Bei ihm nicht, beim Gericht nichts hinterlegt, und ich habe ihre ganzen Unterlagen durchsucht und nichts gefunden. Und ich konnte dir nichts sagen, weil ich deine Nummer verloren hatte … Ach, alles scheiße. Ich war fertig genug, sie verloren zu haben, und dann machte mein Vater natürlich Stress, ich telefonierte dauernd mit dem Anwalt … auf jeden Fall gehört meinem Vater damit das Haus, und er hat mich, sobald er das sicher schwarz auf weiß hatte, aus ihrem Haus geschmissen und mir mit Strafanzeige gedroht, sollte ich auch nur eine Papierserviette mitnehmen, die jetzt ihm gehört. Alles, für das ich keinen Kaufbeleg vorweisen konnte, musste dableiben. Ich hab zwei Tage in einem Hostel verbracht und mich fürchterlich bedauert. Meine Mutter wohnt in Hessen, da kenne ich absolut niemand. Außerdem hätte mein Geld nicht für die Zugkarte gereicht. Und ihre Nummer ist auch mitsamt dem alten Handy über den Jordan gegangen. Und dann habe ich mich erinnert, dass du mir gleich nach Omas Beerdigung vor vier Monaten gesagt hast, dass du mir helfen könntest, wenn mein Vater mal wieder … Ey, tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Ich wusste echt nicht weiter.«

»Und das ist voll in Ordnung. Wir haben Platz! Du kriegst ein Gästezimmer, ich zeige dir das Bad, und dann schnaufst du erst einmal durch. Ich verstehe dich wirklich. Denk dran, dass ich Marcel auf der Tankstelle ausgerückt bin und mich bei Tizian im Auto versteckt habe, weil ich mir keinen anderen Ausweg mehr wusste.«

»O Gott, ja, ich weiß.« Ihm wurde noch einmal nachträglich schlecht. »Was wird … was wird Tizian sagen?« Denn Oliver war ja nicht alleiniger Herr über das Gut! Der wirkliche Gutsherr, das wusste Benny, war Tizian.

»Oh, wahrscheinlich herzlich willkommen und dein Vater ist ein Mistkerl.« Oliver lachte und führte Benny in ein Zimmer mit weißen Korbmöbeln und vielen Grünpflanzen. »Jetzt setzt du dich hier hin. Hast du heute schon etwas gegessen?«

»Ein Croissant auf dem Bahnhof.«

»Das reicht ja mal gar nicht! Ist dir nach etwas Süßem zumute? Tizians Mama backt den weltbesten Kirschkuchen, und ich habe noch welchen im Schrank!«

»Das klingt großartig.« Dankbar ließ Benny sich auf einem der Korbsessel absetzen und streckte die schmerzenden Beine aus. Alexander von und zu hatte ihn ja wirklich nur das allerletzte Stückchen Weg mitgenommen, und jetzt merkte er alles. Den ganzen Stress, die zwei Nächte im Hostel, die Bahnfahrt, den schaukelnden Bus und vor allem den Fußmarsch.

Und Oliver war da. Hoffentlich dachte er an Taschentücher, denn so langsam sickerte bei Benny das Begreifen ein, dass sein Freund ihn wirklich aufnehmen wollte.

Mama!

Er fuhr im Sessel herum und sah jetzt, dass sich aus einer cremefarbenen Decke eine ebenso cremefarbene Katze erhoben hatte und ihn aus blauen Kulleraugen in einem dunklen Gesicht musterte.

»Du musst … Davil sein, nicht wahr?« Oliver hatte ihm Bilder des Katers geschickt. Und von der putzigen Art des Katers erzählt, beim Maunzen Mama zu sagen. Das hatte Benny für etwas übertrieben gehalten, bis er es soeben selbst gehört hatte.

Der Kater war klein und sah aus, als wäre er aus Zuckerwatte gemacht. Zutraulich kletterte er auf die Lehne des Korbsofas und sprang federleicht auf Bennys Schoß, sandte noch einen Blick aus Kulleraugen empor und schnurrte dann volltönend.

»Ich habe gerüchteweise gehört, dass du süß bist. Lass dir gesagt sein, dass diese Berichte dir nicht gerecht werden«, sagte Benny und krabbelte vorsichtig den Kopf des Katers.

Davil fand das offenkundig großartig und klatschte sich an ihn, um mehr Streicheleinheiten zu bekommen.

Es tat unerwartet gut, dieses flaumige, warme Wesen im Arm zu halten, durch das Fell zu streicheln und das Schnurren nicht nur zu hören, sondern auch in sich selbst zu spüren.

Oliver hatte Benny erzählt, dass Tizian am ersten Abend kurz ohnmächtig geworden war und wie der kleine Kater ihn gehütet und betreut hatte, während Oliver losgerannt war, um einen nassen Lappen und Schokolade zu holen. Sagte man Katzen nicht gerne nach, dass sie ganz feine Antennen hatten, wer gerade eine Extraportion Liebe und Zuwendung benötigte? Auf Davil traf das ganz bestimmt zu!

Ein leises Bollern wie von einem alten Tretroller erklang auf dem Flur und wurde allmählich lauter.

Oliver schob einen altmodischen Servierwagen ins Zimmer! Er grinste auch prompt, als er wohl Bennys Erstaunen sah. »Ja, ich weiß. Aber das Haus ist so weitläufig, und ich liebe dieses Dings. Davil fährt oft auf der unteren Etage mit und tut so, als wäre es sein persönliches Rennauto. Oh! Er hat dich schon gefunden!«

Benny nickte und streichelte weiter den Kater, während Oliver den Tisch deckte und einen Teebecher vor ihn stellte. »Mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass du keinen Kaffee magst. Das ist Schokotee, ich hoffe, der ist okay?«

»Das ist so lieb von dir. Ja, danke!«

Insgesamt fiel die Anspannung ein wenig von ihm ab. Die Katze schnurrte, der Kuchen war einfach himmlisch, und Oliver erzählte munter von seinem Job im Bistro.

Er war schon immer gut darin gewesen, aus einfachen Zutaten köstliche Gerichte zu zaubern, hatte Spaß in der Küche und liebte es, neue Gewürze auszuprobieren, wusste Benny.

»Das Bistro habe ich gesehen, glaube ich. Gegenüber von der Bushaltestelle?«, fragte er. Er war dankbar, dass Oliver keine Nachfragen stellte, nicht sofort von ihm wissen wollte, wie er sich seine weitere Zukunft vorstellte.

»Ja, genau. Sondergaard. Ich arbeite da eigentlich als Bedienung und Barista, aber ich schnuppere immer öfter auch in die Küche rein. Ich kann jetzt Bagels und Donuts backen.« Oliver lachte.

»Entschuldige, dass ich dumm frage: Aber warum arbeitest du? Wenn ich mich hier umsehe …«

»Wir gewöhnen uns immer noch ein, ehrlich. Und es ist mir wichtig, eigenes Geld zu haben. Ja, das mag albern erscheinen, wenn man das Gut einbezieht. Tizian arbeitet auch in seinem alten Job weiter. Er ist Webdesigner. Das Gut – mit Pachten und Mieten und eigenem Anbau sowie Veranstaltungen – trägt sich absolut selbst. Aber wie langweilig wäre das, nur hier zu sitzen und Luxus zu frönen? Mir würde die Decke auf den Kopf fallen! Nein, wir brauchen beide etwas um die Ohren, denn Tizian hat eine unglaublich tüchtige Verwalterin, die sich um das meiste kümmert. Nur die Veranstaltungen – Ausstellungen in der Künstlerscheune, Ostermarkt, Herbstmarkt, Sommerfest und natürlich alles in der Adventszeit managen wir alleine, und es macht ungemein viel Spaß.«

»Das glaube ich gern.« Es klang märchenhaft. Gerade, weil Oliver auch keinen leichten Start ins Leben gehabt hatte mit seinem Säufervater und einigen sehr missglückten Beziehungen. Marcel war bestimmt der Schlimmste von allen Freunden gewesen, die man sich vorstellen konnte, aber die Kerle davor waren nicht viel ersprießlicher gewesen. Benny nahm den letzten Schluck Tee und stellte den Becher zurück. »Oh, so viel besser. Ich gestehe, dass ich die ganze Zeit zwischen Angst und Hoffnung schwankte während der Zugfahrt. Und im Bus. Und auf Schusters Rappen. Als dann Alexander – ich hab mir den Nachnamen echt nicht gemerkt!«

»Alexander von und zu. Wir erfragen das am Sonntag noch einmal. Oder ich schicke Raphael nachher eine Nachricht, weil wir neugierig sind.«

»Er war wirklich nett. Ich dachte zuerst, er fährt an mir vorbei. Kein Wunder bei dem Auto. Nun, er erwähnte auf jeden Fall die Hochzeit von Freunden am Sonntag. Auf Gut Rothenbüll! Ich dachte echt, ihr seid das – und ich bin das Überfallkommando!«

Oliver lachte. »Noch nicht. Wer weiß, vielleicht kommen wir Sonntag auf den Geschmack. Auf jeden Fall können wir das Ganze als Übung ansehen. Wobei wir nicht so viele Leute an Bord haben werden – glücklicherweise! Aber hey: Selbst falls wir Sonntag heiraten würden, käme ich doch nie auf die Idee, dir die Tür vor der Nase zuzuknallen. Wie oft hast du mich in meinem Liebeskummer ertragen? Der einzige Grund, warum ich nicht vor Marcel zu dir floh, lautete schlicht und ergreifend, dass ich dich nicht in Gefahr bringen wollte. Na, und er hat meine glorreichen Pläne ja ohnehin durchkreuzt, weil er mir nach der Arbeit auflauerte und unbedingt irgendwelche Ersatzteile für sein Auto kaufen wollte. Also blieb mir nur beim ersten Tankstellenstopp die Flucht. Okay, bereit für das Gästezimmer und eine kurze Orientierung, damit du morgen ins Bad und in die Küche findest?«

»Dafür muss ich mich ja von Davil trennen.«

»Der kommt ohnehin mit.«

Behutsam setzte Benny also den Kater auf den Boden und erhob sich. Oh, seine Beine würde er wohl den restlichen Tag noch spüren! Er freute sich auf eine Nacht in einem bequemen Bett! Bestimmt ging es ihm morgen schon besser. Und dann wollte er sich irgendwie nützlich machen. Wobei … Es hing ja auch noch an Tizian, ob er hier eine Weile unterkommen durfte, auch wenn Oliver felsenfest überzeugt schien, dass sein Freund keine Einwände erheben würde.

Er folgte Oliver wieder auf den langen Flur.

»Die Küche ist ganz hinten rechts. Gegenüber Esszimmer, das wir selten nutzen, und der Rosa Salon.« Oliver wies in die andere Richtung zu einer Doppeltür. »Wohnzimmer, Bibliothek. Wir sind immer noch damit beschäftigt, sie unserem Geschmack anzupassen. Aber wir haben Horatio Dabelstein komplett!«

»Der ist so brillant!«

»Und wohnt in Klaxdonnersbüll.«

»Nein!«

»Doch!« Oliver grinste. »Zusammen mit dem lokalen Buchbinder und Dorfbibliothekar, der zufällig der kleine Bruder des Bistrobesitzers ist. Wir haben fünf schwule Paare in Klaxdonnersbüll und Umgebung! Die Hochzeit am Sonntag: Raphael und Jarl. Da wirst du alle anderen auch kennenlernen. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft! So, jetzt Treppensteigen. Keine Widerworte, bitte, ich werde deinen Rucksack schleppen. Du siehst so müde aus.«

Also belud Benny sich nur mit den beiden blauen Plastiktaschen, in denen die meisten seiner Klamotten Zuflucht gefunden hatten. Der Kater galoppierte voraus die Stufen nach oben, blieb auf halber Strecke stehen und sah sich um, ob sie auch brav folgten.

Der Grundriss oben schien dem des Erdgeschosses sehr ähnlich. Das Haus war gigantisch! Irgendwie hatte Benny erwartet, dass Oliver und Tizian nur einen Teil davon bewohnen würden und der Rest vermietet wäre, aber das war wirklich alles eins!

»Ich möchte dir dieses Zimmer geben. Es ist ungemein gemütlich, und das Badezimmer ist gleich gegenüber.« Oliver wies zu einer großen Doppeltür wie unten, die dort zum Wohnzimmer führte. »Da liegt unser Schlafzimmer, wir haben auch ein eigenes Bad, also keine Scheu, falls du eine Stunde in der Wanne einweichen willst, um deine müden Beine zu entspannen.« Er öffnete die Tür und ließ Benny den Vortritt in ein verdammt großes und wirklich heimeliges Zimmer. Das war fast eine eigene Wohnung! Nicht nur ein breites Bett mit karierter Tagesdecke stand hier, sondern auch Truhen und Kommoden und ein kuschelig aussehendes Ecksofa mit kleinem Tisch.

Benny trat zum Fenster, um sein Orientierungsgefühl zu bestätigen, dass das Zimmer zur Vorderseite des Hauses lag. Ja, er hatte recht. Unter ihm breitete sich die runde Auffahrt mit dem zentralen Rosengarten aus. Sein Blick ging weiter bis zum Torhaus. Er konnte die Gebäude des Reitstalls sehen und links große Scheunen.

»Wow«, brachte er mühsam hervor.

Oliver lud den Rucksack auf einer Kommode ab. »Hier hab ich in der ersten Nacht gepennt und mich pudelwohl und sicher gefühlt. Ich hoffe, es wird dir ähnlich gehen.«

»Bestimmt. Nur … dein Freund … sicher, dass er nichts dagegen hat, dass ich ein paar Tage hierbleibe?«

»Ganz sicher. Denk dran, dass er mich aufgenommen hat, nachdem ich mich einfach in seinem Auto versteckt hatte. Er ist jetzt im Rosengarten und hilft beim Aufbau der Pavillons. Ich gehe ihn mal suchen, damit er dich gebührend begrüßen und dir diese Sorge nehmen kann. Richte dich hier ein, nimm ein Bad – mach auf jeden Fall Pause und dir nicht zu viele Sorgen.« Oliver umarmte ihn brüderlich und klopfte ihm dann auf die Schulter. »Ich freu mich, dass du hier bist.«

Dann blieb Benny alleine zurück und atmete einmal tief durch, ehe er die Schuhe abstreifte und die Zehen krümmte. Oh, tat das gut!

Er beugte sich vor und spähte noch einmal aus dem Fenster. Jetzt konnte er den Sportwagen sehen, dessen Lack in der Sonne zu funkeln schien. Schwarz mit einem besonderen Metallic-Effekt. Sah edel aus und passte zu Alexander von und zu, auch wenn Benny diese Titulierung insgeheim ein wenig respektlos fand. Ein von und ein Doppelname, den er sich so schnell nicht hatte merken können.

Und da kam Alexander auch gerade vom Rosengarten zurück. Benny hob eine Hand, bis ihm klar wurde, dass er hier hinter einer Gardine stand und unsichtbar war, selbst falls Alexander gerade nach oben sehen sollte.

Also blieb ihm nur, dem lässigen Schlendern zuzusehen. Nonchalant mochte es wirken, aber Alexander hielt sich trotzdem perfekt aufrecht, mit geraden Schultern, den Kopf hoch erhoben. Kein geducktes oder nachlässiges Schlurfen.

»Hallo, Ritter«, murmelte Benny und lachte etwas verspannt über sich selbst und diese törichte Anwandlung. Den Rest des Weges hätte er auch noch geschafft. Okay, er hätte einen Nebeneingang gesucht! Keinesfalls wäre er direkt zur großen Haustür marschiert, um dort furchtlos zu klingeln. Also doch ein Ritter. Nicht in schimmernder Wehr, sondern im funkelnden Auto.

Er sah zu, wie Alexander sich mühelos in dieses verfrachtete. Nicht so wie Benny vorhin, der echt hineingeplumpst war, irgendwie den Rucksack davon abgehalten hatte, überall anzuecken, weil das Auto eine flache Flunder war.

Übung machte offenbar den Meister.

Er sah zu, wie der Wagen langsam anrollte, die Auffahrt umrundete und dann sehr gesittet den Weg zum Torhaus nahm. Jetzt hob Benny erneut die Hand und winkte Alexander hinterher, obwohl dieser ihn weder sehen konnte noch guckte.

Ja, klar, Oliver hatte gesagt, dass sie ihn am Sonntag ja wiedersehen würden, um seinen Nachnamen zu erforschen. Aber … Oliver würde ihn wiedersehen, nicht Benny. Er konnte ja nicht einfach auf einer wildfremden Hochzeit auftauchen. Außerdem war das doch total fruchtlos und echt nicht klug. Er hatte gerade genug zu tragen. All sein Besitz passte in einen Rucksack. Selbst sein Fahrrad hatte er seinem Vater überlassen müssen, weil er keinen Kaufbeleg hatte vorweisen können. Gebraucht gekauft, liebevoll wieder aufgemotzt und jetzt futsch.

Ewig konnte er nicht hierbleiben. Dieses gemütliche Gästezimmer war nur vorübergehend seine Bleibe. Er musste sich einen Job und in dessen Nähe eine Wohnung oder ein WG-Zimmer suchen. Aber wenigsten dafür hatte er jetzt Zeit und Muße. Sobald er seinen Kopf klären konnte.

Der Sportwagen verschwand im Schatten des Torhauses. Kurz sah Benny die Bremslichter aufleuchten, dann war das Auto fort. Und damit Alexander.

Albern, das war es. Ja, der Mann war wirklich freundlich gewesen, hatte in seinem edlen Auto einen staubigen, verschwitzten Anhalter mitgenommen, für ihn nach dem Weg gefragt und an der Haustür geklingelt, was Benny sich im Leben nicht getraut hätte.

Na ja, und Alexander war zu einer Hochzeit zwischen zwei Männern eingeladen. Er hatte auch nicht mit der Wimper gezuckt, als Benny so arglos von Oliver und Tizian als Paar gesprochen hatte. Mal wieder nicht nachgedacht, klar. Dazu neigte er unter Stress. Aber keine negative Reaktion von Alexander. Das klang an und für sich doch schon mal positiv. Zumindest schien er keine Probleme mit queeren Personen zu haben.

Das waren doch echt vollkommen unangebrachte Gedanken! Zufallsbegegnung, so freundlich der Mann auch gewesen war. Echt hilfsbereit und selbstlos.

Egal! Benny ging jetzt unter die Dusche. Oder tatsächlich in die Badewanne, um seinen übermüdeten Körper zu entspannen.

Er schnappte sich den Rucksack, holte das kleine Netbook hervor, für das er glücklicherweise einen Beleg gehabt hatte, und schüttelte den Rest über dem Bett aus.

Es war ein kärglicher Haufen. Wenigstens war er im letzten Augenblick auf die Idee gekommen, sich die großen Einkaufstaschen aus der Waschküche zu holen, weil er keine Reisetasche besaß und ja nicht Omas Koffer hatte nehmen dürfen. Also hatte er einfach nur wild in den Rucksack gestopft, was er hatte unterbringen können. Ohne die Taschen hätte er nun kaum etwas zum Anziehen.

Er öffnete eine Kommode und begann, die zusammengeknüllten Sachen dort einzusortieren. Immerhin, eine halbwegs anständige Garderobe. Auch Sachen, die er bei einem Vorstellungsgespräch anziehen konnte. Dann sortierte er die Sachen durch, die dem Füllhorn des Rucksacks entstammten. Socken vor allem, die er als Polstermaterial benutzt hatte, da sich außer dem Notebook und vielen Kabeln auch zwei Paar Schuhe darin befunden hatten. Eine Jacke hatte er. Nun, es war warm und sonnig; bis er wieder eine Winterjacke benötigte, hatte er bestimmt schon irgendeine Anstellung gefunden.

Anspruchsvoll war er nicht, und er konnte anpacken. Falls er hier auf der Ecke blieb – Wohnungsmieten sollten einigermaßen bezahlbar sein, was sie in Lübeck, von wo seine wilde Reise durch ganz Schleswig-Holstein ihren Anfang genommen hatte, definitiv nicht waren –, konnte er vielleicht auf einem Bauernhof anfangen. Oder in der Gastronomie. Oder eine handwerkliche Ausbildung beginnen oder so. Mit seinem gelernten Beruf Bürokaufmann kam er wohl nicht wirklich weiter. Und auf gar keinen Fall würde er Tizian um einen Job auf dem Gut bitten. Das wäre Ausnutzen von Gastfreundschaft. Die Tizian ihm hoffentlich gewährte.

Magengrimmen kam zum Frust angesichts seiner Habe und der gerade wirklich tristen Lage dazu.

»Reiß dich zusammen. Oliver kennt seinen Freund. Und jetzt gehst du unter die Dusche. Danach wirst du dich gleich viel besser fühlen.«

Jemand kratzte dezent an der Tür. Benny öffnete diese, und der kleine Kater spazierte munter in das Zimmer und schnurrte ihn an. Ja, Katzen und ihre feinen Antennen.

»Lass mich erst die Kabel vom Bett räumen. Und ich wollte danach unter die Dusche«, sagte Benny entschuldigend.

Mama!

»Ich mag dich auch«, antwortete Benny pflichtgetreu und streichelte den Kleinen vom Kopf bis zum Schwanzansatz. Dann räumte er das Bett und stopfte alles Elektronische in die oberste Nachttischschublade. Er würde Oliver nachher fragen, ob er vielleicht das WLAN nutzen dürfte. Das Handy musste auch an die Ladestation.

Benny strich sich Haarsträhnen aus der Stirn, als der Kater mit kühnem Satz das Bett eroberte, von unten nach oben wanderte, dann wieder ein Stück zurück, um sich genau im Zentrum der karierten Tagesdecke einzurollen und ihm träge zuzuzwinkern.

Obwohl er das Zimmer von Anfang an gemütlich gefunden hatte, wirkte es mit der zufriedenen Mieze im Bett gleich noch heimeliger.

Er ließ Davil zurück und trat beladen mit frischer Kleidung und der kleinen Stofftasche mit seinen Pflegeutensilien auf den Flur und geradeaus in das von Oliver angekündigte Badezimmer. Wow! War das … Ja, das musste rosa Marmor sein! Dusche, Eckbadewanne, ein Hochschrank und ein Sideboard aus mahagoni- oder kirschbaumfarbenem Holz. Und offensichtlich hatte Oliver ihm sogar schon Handtücher hingelegt. Helles Grün und Weiß, und so flauschigen Frottee hatte Benny definitiv noch nie gesehen. Oliver war – wie er auch – immer ein armer Schlucker gewesen, hatte im Tierfutterfachmarkt gearbeitet und nie viel Geld gehabt. Ob Tizian schon immer märchenhaft reich gewesen war? Oder erst, seitdem er das Gut geerbt hatte? Wie groß war dieses Haus? Also, ja, er hatte es von außen gesehen, und es war monströs!

»Gut, dass es das ist. Sonst hätten sie keinen Platz für mich gehabt«, murmelte er und betrachtete die Badewanne. Dann entschied er sich doch für die Dusche. Einfach, weil diese riesige Badewanne ihm zu verschwenderisch erschien.

4. Willkommen auf Gut Rothenbüll

 

Benny

Die heiße Dusche hatte bei Bennys verspannten Schultern und müden Beinen Wunder bewirkt. Leider hatte sie ihm auch seine gesamte emotionale und körperliche Erschöpfung vor Augen geführt und ihn angenehm schläfrig gemacht.

Immer noch nagte Sorge wegen Tizians Reaktion auf den unerwarteten Eindringling in seine Gutsidylle. War doch bezeichnend, dass Oliver seinen Freund suchen gegangen war, um ihm das schonend beizubringen, oder? Aber bestimmt würde Tizian ihn nicht gleich heute Abend rausschmeißen, hoffte Benny.

Da Davil immer noch auf dem Bett pennte, als Benny aus dem Badezimmer zurückkehrte, ließ er die Tür leicht offen stehen, damit der Kater sich zurückziehen konnte, so er das wollte. Dann räumte er weiter seine Sachen auf, stöpselte das Handy ans Ladegerät und ließ sich müde auf das Sofa fallen. Oh, war das gemütlich. Fehlte nur eine Wolldecke, und Benny würde hier friedlich einschlafen.

Doch jemand klopfte leise an der halb offen stehenden Tür.

»Ja?«, antwortete Benny ein wenig bang.

Die Tür schwang ganz auf, und das musste Tizian sein. Deutlich größer als Oliver, breitschultrig und schlank. Er lächelte freundlich – hoffentlich.

Benny sprang auf, weil ihm alles andere angesichts eines leibhaftigen Gutsherrn sehr unhöflich erschienen wäre.

»Oliver hat mir erklärt, dass ich umgehend bei dir den Eindruck geradebiegen muss, dass ich ein kaltherziges Ungetüm bin. Hi, Benny, willkommen auf Gut Rothenbüll. Ich bin Tizian, und ich bin wirklich nicht grausam.« Das Lächeln wurde zu einem jungenhaften Grinsen, als Tizian näher kam.

Ansteckend war es, und die kalte Angst in Bennys Magengrube schmolz ein bisschen.

»Arme?«, fragte Tizian.

Benny nickte, gerade zu hoffnungsvoll, um auch nur einen Piep hervorzubringen. Gleich darauf drückte Tizian ihn wirklich total brüderlich an sich und spendete so viel Trost mit dieser einfachen Geste. Gleich darauf hielt er ihn auf Armeslänge von sich und sah ihm in die Augen. »Komm zur Ruhe. Hier bist du sicher, wirklich. Du nimmst dir die Zeit, die du brauchst, okay?«

»Okay, danke. Ich wusste mir echt keinen anderen Ausweg mehr.«

»Das verstehe ich. Und darf ich hinzufügen, dass dein Vater echt ein Arsch mit Ohren ist?«

Auch das tat gut. Benny nickte jetzt schon etwas forscher. »Oma rotiert gerade bestimmt vor Wut in ihrem Grab.«

»Das tut sie, jede Wette. Versuch, ihn abzuhaken. Du musst ihn nicht wiedersehen, wenn du es nicht willst. Mach es dir hier gemütlich. Oh, glaubst du, du findest wieder ins Gartenzimmer? Oliver hat gerade die Küche geentert, um für Abendessen zu sorgen. Ich werde mich ihm gleich anschließen, um ein wenig zu helfen. Alles wegräumen, das er nicht mehr braucht. Ich bin ein grässlicher Hausmann, aber ich weigere mich, ihn alles erledigen zu lassen.«

»Ich kann auch helfen.«

»Nur, wenn du wirklich Lust hast und wieder fit genug bist«, sagte Tizian entschieden. »Oliver hat mir von deiner Wanderung von Prillsande hierher erzählt. Auf dem langen Weg die Landstraße entlang. Aber falls du einfach nur bei uns sitzen willst, komm gerne mit nach unten. Ich sollte vielleicht auch überall wieder Wegweiser im Haus aufstellen. Oliver träumt immer noch von E-Rollern für die langen Flure!« Er lachte, drückte noch einmal Bennys Schultern und gab ihn dann frei.

»Ich komme gerne mit.« Er fühlte sich willkommen, und wenn er nur die Zwiebeln schneiden würde, um Oliver ein wenig Arbeit abzunehmen, würde es ihn freuen.

»Davil, kommst du auch mit?«, fragte Tizian.

Der Kater gähnte, streckte sich wie ein Gummiband und sprang dann vom Bett, um fröhlich vorauszulaufen.

Auf dem Flur zeigte Tizian geradeaus zu der großen Doppeltür, auf die Oliver ja auch schon hingewiesen hatte. »Da ist unser Schlafzimmer. Nun, unser Schlafsaal. Gegenüber dem Treppenhaus befindet sich eine Art Wohnzimmer mit dem wahrscheinlich größten Fernseher der Welt. Würde mich sehr wundern, wenn der keinen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde hat. Wir hängen nicht jeden Abend vor der Glotze, aber wenn du etwas sehen willst: gerne!«

Benny blickte auch in die andere Richtung, wo noch zwei Gästezimmer lagen, wenn er das richtig verstanden hatte. Schande, wie riesig war dieses Haus? Er folgte Tizian die Treppe nach unten und dann den langen Flur bis zur letzten Tür auf der rechten Seite.

Der Spruch mit den E-Rollern klang wirklich nicht übertrieben. Hm. Er sah sich in der großen Küche um. Hier wäre auch genug Platz, um ein kleines Rennen zu veranstalten!

Oliver winkte ihm von hinter einem gewaltigen Küchenblock aus zu. »Oh, du siehst schon erholter aus! Heute Abend gibt es Nudeln mit Spinat-Rahm-Sauce, ich hoffe, das ist okay für dich?«