Ein Töpfer, ein Heimkehrer & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Töpfer, ein Heimkehrer & ein Geist E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Cornelius ist fassungslos, als seine liebe Mama ihn als Bauaufsicht nach Klaxdonnersbüll schickt. Eigentlich wollte er den Sommer auf Sylt verbringen. Doch sie hat vergnügt das Geburtshaus ihrer Urgroßmutter erworben und will den Birkenhof in einen Ferienluxustempel verwandeln. Für Cornelius bedeutet das Dorf Erinnerungen an einen Teenagersommer mit Kevin, dem draufgängerischen Treckerfahrer, und zärtliche Erdbeerküsse. Danach haben sie sich aus den Augen verloren. Ob Kevin noch in diesem Kuhkaff lebt? Nicht eben enthusiastisch kehrt Cornelius in die ländliche Einöde zurück und wird prompt von seiner Migräne heimgesucht. Auf seiner abendlichen Joggingrunde findet Kevin das Auto mit dem schmerzgeplagten Cornelius. Er erkennt ihn sofort und nimmt ihn erst einmal mit in seine Wohnung über der Töpferwerkstatt. In diesem Zustand fährt der nicht weiter durch die Gegend! Am nächsten Tag bricht Cornelius zum Birkenhof auf, und Kevin grübelt natürlich, ob aus ihnen wieder etwas werden könnte. Doch dann taucht Cornelius vollkommen aufgelöst bei ihm in der Töpferstube auf und erzählt Geistergeschichten. So ein Dummtüch! Die Romane der Reihe sind in sich abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Dieser Roman macht besonders viel Spaß, wenn die vorherigen Geschichten bekannt sind!

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Ein Töpfer, ein Heimkehrer & ein Geist

 

Tanja Rast

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

 

Inhaltsverzeichnis

1. Überaschung
2. Gewitter im Kopf
3. Fundstück am Wegesrand
4. Die kleine Töpferei
5. Freche graue Zellen
6. Der Birkenhof
7. Die Klingel des Todes
8. Erste Nacht im Birkenhof
9. Der Innenhof
10. Erdbeeren reloaded
11. Dinner für zwei
12. Nächtliches Weinen
13. Der verwundete Krieger
14. Alles für die Katze
15. Neue und alte Bekannte
16. Ein Heim entsteht
17. Nudeln und ein Brief
18. Spuren aus Schlamm
19. Dummtüch
20. Der Kater und die Limette
21. Fenster und Hausputz
22. Überfall mit Kuchen
23. Geisterstunde
24. Spurensuche
25. Mit ein wenig Hilfe von Edith
26. Unterstützung
27. Geistergeschichten
28. Zeichen und Wunder
29. Das ist sie!
30. Herr Butenschön
31. Von Gulasch und Heulage
32. Mitternachtskakao
33. Kavallerie
34. Perfekt vorbereitet
35. Acht Männer in der Grube
36. Elsa
37. Der erratische Flummi

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danke
Bücher, die mitgespielt haben

1.Überraschung

Cornelius

Er hasste Überraschungen.

Dafür liebte Cornelius seinen Terminkalender umso mehr. Ordnung, Übersichtlichkeit, klare Notizen in sauberer Schrift und nur mit einem einzigen Stift ausgeführt. Schwarze Gel-Mine, jeder Eintrag am linken Rand ausgerichtet, jeweils eine Zeile Abstand zwischen zwei Notizen. Keine Bilder, Sticker oder Farbe. Und keine Rudel von Ausrufezeichen.

Mama neckte ihn hin und wieder mit der Behauptung, an ihm wären ein Buchhalter oder ein Beamter verloren gegangen.

Cornelius schwang im Drehsessel herum und betrachtete das Regal mit den Ordnern, in denen er jedes wichtige Detail seines Lebens – Versicherungen, das Auto und mehr – abgelegt hatte. Vielleicht kam er ja nach seinem Vater. Nach Mama garantiert nicht. Mama war … ein Flummi. Einer dieser Spielbälle, die im unberechenbaren Zickzack-Kurs über den Boden rollten oder durch die Gegend sprangen. In einem Augenblick da, im nächsten ganz woanders. Es war enervierend!

Da war er doch lieber ein langweiliger Spießer. Wenigstens musste er nicht minutenlang auf einem vollkommen überfüllten Schreibtisch nach einer auf einen verknitterten Zettel gekritzelten Notiz suchen. Sparte Zeit, schonte die Nerven.

Er schob den Terminkalender und den dazugehörigen Stift in die Laptoptasche und sah sich noch einmal in seinem Arbeitszimmer um, ob er etwas vergessen hätte. Natürlich nicht, denn er hatte eine Checkliste in seinem iPhone und jeden Punkt abgearbeitet. Alles war vorbereitet. Morgen setzte er sich in sein fertig beladenes Auto und fuhr nach Sylt in das Ferienhaus, das seine Mutter vor vier Jahren gekauft hatte. Drei Wochen Strand, gutes Essen in teuren Restaurants, vielleicht ein paar Bekannte treffen. Vor allem aber: Seele baumeln lassen und hoffen, dass die frische Seeluft mit seinen Kopfschmerzen aufräumte.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

Und Cornelius ahnte nach einem Blick aufs Display, dass er in seinem exakt getakteten Zeitplan Platz für etwas entsetzlich Spontanes schaffen musste. Mama. Der erratische Flummi. Derzeit war sie in Barcelona zu irgendeinem Social Event. Er hatte gehofft, dass sie das auslasten würde. Sehr witzig, denn sie besaß mehr Energie als eine Grundschulklasse voll hyperaktiver Kinder auf einem Zuckerhoch.

Es gab Tage, da zweifelte er an der Wissenschaft der Genetik. Langweilig würde es mit ihr nie werden! Er atmete tief ein und nahm das Gespräch entgegen.

»Oh, großartig, dass ich dich noch erwische! Cornelius, ich brauche ganz dringend deine Hilfe!«

Er hatte es gewusst. »Ich fahre erst morgen. Ich wollte gegen Mittag los.« Das war mehr als genug Zeit, um den Autozug zu erwischen, auf dem er einen Platz gebucht hatte.

»Erinnerst du dich an Klaxdonnersbüll?«, fragte Mama.

Cornelius zwinkerte verdutzt. Ja, er erinnerte sich. Einmal hatte er seine Sommerferien in diesem winzigen Kaff verbracht. Fünfzehn oder sechzehn war er gewesen … Die glücklichsten Wochen seines Lebens, wie er rückblickend manchmal gedacht hatte. Das war natürlich sentimental und ganz wie ein verliebter Teenager gedacht. Aber auch nicht die Unwahrheit. Er wusste sogar den Namen noch. Kevin mit dem Gipsbein, auf das Cornelius ein winziges Regenbogenherz gemalt hatte. Sein Herzschlag flatterte bei der Erinnerung albern herum.

»Ein Kuhdorf nahe der dänischen Grenze«, sagte er ganz sachlich. »An den Namen des Arztes, bei dem du mich untergebracht hattest, erinnere ich mich nicht mehr sicher. Irgendein Vogel.«

»Fast!« Sie lachte vergnügt. »Doktor Falk. Damals hattest du erwogen, Medizin studieren zu wollen. Das wollte ich natürlich unterstützen durch einen Praxiseinsatz. Aber ganz etwas anderes: Meine Wurzeln liegen in Klaxdonnersbüll!«

Das wäre neu für ihn. Mama war – wie er selbst auch – in Hamburg geboren, wo sie sich nun eine Villa mit Elbblick teilten, in der er seine eigene Wohnung hatte. Eine Tür zum Zumachen, während Mama Partys gab oder in der Welt herumsauste. Wenigstens schien sie nicht länger auf der Suche nach einem Seelengefährten und Ehemann. Oder? Er setzte sich alarmiert gerader auf.

»Meine Urgroßmutter wurde dort geboren«, fuhr Mama fort. »Als sie noch ganz klein war, trennte ihre Mutter sich vom Vater und zog mit ihr nach Lübeck oder so. Großraum Lübeck zumindest, da bin ich mir fast sicher.«

Gut, das klang nicht nach Ehemannsuche. Mama hatte bislang vier Ehen geführt, und Cornelius hatte für einen entsetzlichen Moment gefürchtet, dass ihm eine neuerliche Verlobung eröffnet werden würde. »Deine Urgroßmutter?«, fragte er nach, um ihr zu beweisen, dass er ihr bislang folgen konnte.

»Auf dem Birkenhof. Der liegt ein bisschen außerhalb. Seit Jahren habe ich mich immer mehr in die Idee verliebt, den Hof zu kaufen und herrichten zu lassen.«

What the fuck? Er war froh, dass sie kein Videotelefonat führten, denn genau jetzt musste er besonders fassungslos dreinblicken.

»Als Ferienhaus der Extraklasse. Mit Indoor-Swimmingpool und allem Schnickschnack. Vielleicht irgendwann auch mal ein Altersruhesitz. Mal gucken!«

Nun, wenigstens sah sie sich nicht selbst auf einem Traktor durch die Gegend sausen. Dieser Gedankengang – so absurd er natürlich war – erinnerte ihn wieder an Kevin. Trecker-Rowdie, so hatte dieser sich selbst genannt. Und diese Vorliebe für Landmaschinen hatte ihm auch das gebrochene Bein eingebracht, falls Cornelius sich richtig erinnerte.

Altersruhesitz war ein niedliches Wort, das gänzlich nicht zu Mama passte. Sie würde mit hundert noch durch die Gegend turnen und alles auf den Kopf stellen. Die Vorstellung von Mama – natürlich in ihrem Seidenanzug, der die Farbe von Amseleiern aufwies, und Stilettos, deren astronomische Höhe selbst eine Dragqueen erbleichen lassen würde – auf einem Traktor drängelte sich trotzdem wieder in den Vordergrund von Cornelius’ Vorstellungskraft und schubste die Erinnerung an Kevin kurzzeitig beiseite.

Freche graublaue Augen, daran erinnerte er sich trotzdem noch. Und an Küsse, die nach den Erdbeeren schmeckten, die sie im Garten von Kevins Eltern geerntet und auf der quietschenden Hollywoodschaukel gegessen hatten.

Mamas Stimme drang wieder zu Cornelius durch, und das Quietschen aus der Erinnerung wurde leise genug, dass er sie verstehen konnte.

»Es sollte eine Überraschung für dich sein. Ich habe den Birkenhof vor vier Monaten kaufen können.«

»Mama, wir haben bereits ein Ferienhaus auf Sylt.« Und eine Finca auf Gran Canaria.

»Ja, aber das hier wird großartig! Nun, wie auch immer. Es sollte eine Überraschung werden. Ich wollte es dir erst präsentieren, wenn es fix und fertig ist. Es ist ein alter Vierseithof.«

Klar war das Gebäude alt, wenn Cornelius’ Ururgroßmutter dort geboren worden war. Er brauchte einen Taschenrechner, aber wenn er jeder Generation fünfundzwanzig Jahre für die Reproduktion berechnete …

»Vierseithof«, fuhr Mama unvermindert begeistert fort. »Je Gebäudekante etwa zweiunddreißig Meter. Und er hat einen zauberhaften Innenhof! Die alten Kuhstallungen wollte ich für den Swimmingpool nehmen, und das Haus ist ein veritabler Fuchsbau! Ich habe mich bei der Besichtigung verlaufen und hätte zu gerne ein Navi dabeigehabt.«

Er sah auf seine Armbanduhr und ergriff geschickt das Wort, als Mama Luft holen musste. »Und wobei brauchst du meine Hilfe?«

»Ich wollte vor Barcelona eine Woche dort verbringen, während die neuen Fenster eingebaut werden. Mein Birkenhof, also wollte ich den Bauleiter ein wenig beaufsichtigen. Es hat leider nicht geklappt, weil die Fenster nicht rechtzeitig geliefert wurden. Die Küche ist antiquiert, aber nutzbar. Das Badezimmer ist scheußlich in Orange und Braun und Beige gefliest. So etwas hast du noch nicht gesehen! Bereite dich auf einen Kulturschock vor, Cornelius!«

Da sie ihm den Hof erst zeigen wollte, wenn alles fertiggestellt war, stellte Cornelius sich keinesfalls auf einen solchen Schrecken ein. Die schrecklichen Fliesen würden der Renovierung zum Opfer fallen, sonst kannte er Mama schlecht.

»Außerdem ist ein Raum eingerichtet. Nicht großartig, nicht frisch tapeziert. Nur gründlich geputzt und gestrichen. Aber Bett, Schreibtisch und Kleiderschrank sind vorhanden. Es wirkt ein wenig rustikal, und ich weiß, dass du ein angenehmeres Ambiente gewohnt bist, aber es ist ja nur für ein paar Tage.«

Was? Irgendwo musste er unterwegs den Faden verloren haben. Oder Mama war falsch abgebogen. Wahrscheinlich hatte sie den Faden verloren!

»Handtücher, Bettwäsche, Geschirr und Vorräte sind auch da«, plapperte sie unvermindert fröhlich weiter. »Oh, und natürlich eine Kaffeemaschine. Ich schicke dir die Adresse gleich aufs iPhone. Klaxdonnersbüll hat einen niedlichen Dorfladen, und es gibt einen Bauernhof, auf dem man ganz frische Eier kaufen kann. Marmelade haben die auch und verkaufen obendrein Töpferwaren und so. Lauter Dinge, die im Ort selbst hergestellt werden. Lokalpatriotismus, Cornelius, in ganz kleinem Rahmen. Es ist so niedlich.« Sie schnappte nach dieser langen Rede kurz nach Luft und fuhr sofort fort, ehe er ein Wort einflechten konnte: »Prillsande, das Nachbarörtchen, in dem Doktor Falk immer noch seine Praxis hat, verfügt über ein Bistro. Sonst ist es einfach nur himmlisch still und so friedlich. Viel erholsamer für dich als Sylt.«

»Mama! Halt, Stopp!« Wann und an welcher Stelle des Monologs hatte er so dermaßen den Anschluss verloren, dass sie davon ausging, ihm einen Gefallen damit zu tun, ihn in einen alten Bauernhof mit scheußlichen orangefarbenen Badezimmerfliesen einzuquartieren? Während ringsum Handwerker mit … mit Presslufthämmern lärmten?

»Ich wollte das ja selbst machen, aber mir ist eine sehr wichtige Veranstaltung in die Quere gekommen, die ich beinahe vergessen hätte. Auguste und Richard haben mich zu einem Symposium eingeladen, und ich habe vorher noch fürchterlich viel Recherche zu erledigen, und das Internet in Klaxdonnersbüll ist so grauenhaft langsam. Aber immerhin ist es schon installiert. Ebenso ein Telefon. Lass den Laptop zu Hause, Cornelius. Fürs iPad reicht es bestimmt.«

Das kam ja überhaupt nicht infrage! »Mama, ich will nach Sylt. Ich habe einen Platz auf dem Autozug reserviert.«

Ein kleiner Augenblick Schweigen, als wäre sie fassungslos, dass er nicht sofort mit einem Jubelschrei in dieses verschlafene Kuhnest aufbrechen würde und sich nicht für ihren genialen Plan bedankt hatte. Er wappnete sich für ihren Versuch, ihn irgendwie zu überreden. Wenigstens griff sie niemals zu dem heimtückischen Mittel der emotionalen Erpressung. Das widersprach ihren Überzeugungen und ihrem Anstand. Sie respektierte ihn, das wusste er.

Er hörte, wie sie tief durchatmete. Dann sagte sie: »Ich könnte dir zahllose Gründe aufzählen, warum der Birkenhof viel besser für dich wäre. Weniger Trubel und Lärm …«

»Mit Bauarbeitern, die die alten Fenster herausreißen? Mama!«

»Sylt läuft dir nicht weg. Aber mir hat es gerade wirklich alle Pläne zerschossen. Ich wollte dir den Hof präsentieren, wenn er hergerichtet ist. Es sollte eine wundervolle Überraschung werden. Ein Stück Familiengeschichte zurückerobert und so.«

»Außerdem hast du einen Bauleiter«, sagte er.

»Ja. Aber …«

Er würde vor jedem Gericht schwören, dass er hörte, wie sie die Augen weiter öffnete, große, unschuldige Kulleraugen machte, als wäre sie ein roter Kater, der über seine schwarze Hutkrempe Hilfe suchend den Blick auf Cornelius richtete.

»Du könntest am Wochenende nach Sylt. Ich verstehe vollkommen, dass du meinen Überschwang gerade nicht teilst. Aber ich brauche deine Hilfe. Ich möchte nicht, dass da irgendwelche Handwerker unbeaufsichtigt durch mein Haus stapfen. Ein Ansprechpartner vor Ort – denn der Bauleiter wird nicht die ganze Zeit da sein, der koordiniert nur, beauftragt die Firmen und schickt am Ende eine Rechnung – ist mir wichtig. Mein Plan war, dass ich diese Ansprechpartnerin bin. Klappt nicht, leider. Es ist wirklich nur für ein paar Tage.«

Oh, verdammt. Er wurde weich, natürlich. Nachdem sie ihren Zickzack-Flummi-Kurs auf dem Boden der Tatsachen beendet hatte und vollkommen vernünftige Argumente vorbrachte. Außerdem, so ehrlich musste er sein, war er hauptberuflich Sohn. Er hatte einige abgebrochene Semester studiert, etliche Praktika gemacht, aber an nichts wirklich Interesse gefunden. Und Mama war verständnisvoll gewesen und hatte sehr vernünftig gesagt, dass er nicht arbeiten musste. Das stimmte, denn sie hatten mehr als genug Geld. So viel davon, dass Mama den Birkenhof mal eben kaufen konnte, ohne dass sie nachdenken musste, was ihr Konto dazu sagen würde. Mama war verdammt reich, und nie im Leben käme sie auf die Idee, bei der finanziellen Unterstützung ihres einzigen Kindes zu knausern.

»Schick mir die Adresse«, sagte er und gab sich geschlagen.

»Danke! Oh, du rettest gerade alles. Nachricht kommt sofort, und ich sende dir auch eine E-Mail mit allem, was ich zusammengetragen habe. Und falls du es ganz und gar unerträglich findest, sag mir Bescheid! Hab dich lieb! Ich muss los!«

Und damit entfleuchte sie aus der Leitung.

»Ich bin manchmal echt ein Hornochse«, teilte Cornelius seinem Arbeitszimmer mit. Der Raum verweigerte natürlich jeglichen Kommentar. Also fügte Cornelius hinzu: »Wenigstens bin ich ein hilfreicher Hornochse.«

Nicht, dass diese Erkenntnis dafür sorgte, dass er sich auch nur ein Jota besser damit fühlte. Ein Kuhdorf! Und Mama hatte von einem Bistro gesprochen. Trauriger Ersatz für die Restaurants auf Sylt. Okay, am Wochenende konnte er auf die Insel. Falls er einen Platz für sein Auto auf dem verdammten Zug bekam.

Ein Zimmer, eine altbackene Küche und ein orangefarbenes Bad.

Was hatte Klaxdonnersbüll sonst zu bieten? Nicht viel, so klar waren seine Erinnerungen noch. An Doktor Falk entsann er sich nur noch sehr blass. Freundlich, väterlich. War der schon in Rente? Gut möglich, denn er war Cornelius damals schon sehr alt vorgekommen. Gut, das konnte auch daran gelegen haben, dass er ein Teenager gewesen war. Da kamen einem alle Leute über dreißig uralt vor, glaubte er. Dann fiel ihm ein, dass Mama gesagt hatte, dass der Arzt immer noch praktizieren würde. Falls sie da richtig lag.

An was konnte er sich noch erinnern? Kirche, Supermarkt. Doktor Falk hatte in Klaxdonnersbüll in einem adretten Bungalow in einer Seitenstraße gewohnt, wo Cornelius ein Gästezimmer gehabt hatte. Die Praxis war in Prillsande gewesen, dem nächstgrößeren Ort.

Hm. Mehr fiel ihm nicht ein, zumal die einzig leuchtend-klare Erinnerung Kevin betraf. Gipsbein, Krücken, freches Lachen, ein Hauch von Sommersprossen, lange, sonnengebräunte Beine und diese wunderschönen graublauen Augen, in denen ständig ein Lachen zu lauern schien.

Wohnte er wohl noch in Klaxdonnersbüll? Eher unwahrscheinlich, fand Cornelius. Fliegen, Kuhmist und Traktoren konnten nicht wirklich reizvoll sein. Kevin war der jüngste von drei Brüdern gewesen. Dennis und Mike, stimmt. Wie leicht ihm diese Namen wieder einfielen! Es war Dennis gewesen, der Kevin damals in die Arztpraxis gebracht hatte. Ebenso kalkweiß vor Schreck wie Kevin vor Schmerz.

Bestimmt war es auf dem Land noch sehr konservativ, dass der Älteste den Hof erbte und die jüngeren Brüder dann in die Stadt zogen oder so. Obwohl Kevin gerne mit dem Traktor gefahren war, daran erinnerte Cornelius sich noch deutlich.

Nun, alles Grübeln führte zu nichts. Er würde jetzt den Platz auf dem Autozug stornieren, über andere Kleidung nachdenken und diese einpacken müssen. Irgendwo hatte er noch eine Jeans, die ihre besten Tage hinter sich hatte und nach drei, vier Tagen Bauernhof und Baustelle eine Ehrenbestattung in der Mülltonne erhalten würde. Hoffentlich hatte er noch alte Schuhe, um die es nicht schade wäre.

Das iPhone piepte dezent. Da war die Nachricht von Mama mit der Anschrift. Gut.

Er prüfte seine Mails und fand eine besonders riesige dieser Art, in die Mama vermutlich zahlreiche Bilder und PDFs gestopft hatte. Gleich darauf kamen noch zwei Mails von ihr, ebenfalls aufgebläht bis kurz vor dem Platzen. Aber jede mit einem anderen, klaren Betreff. Gut, das sah er sich später an. Oder in Klaxdonnersbüll. Noch eine Nachricht mit dem WLAN-Passwort.

Er lächelte. Mama war ein wilder Flummi, aber dabei so liebevoll und darauf bedacht, an alles zu denken. Und das war Schwerstarbeit für sie! Sie war ein Flusenhirn! Wahrscheinlich vergaß sie am Tag mehr Dinge, als er sich vorstellen konnte.

Außerdem … er konnte vor Ort ja irgendwen fragen, ob Kevin noch in Klaxdonnersbüll wohnte. Rein aus Neugierde. Einfach so.

Den Urlaub zu verschieben, stellte ja überhaupt kein Problem dar. Er hatte keine festen Zeiten, in denen er verreisen konnte. Und er tat Mama einen Gefallen.

Deutlich mehr mit seinem Schicksal versöhnt ging er ins Schlafzimmer, um nach Kleidung zu fahnden, die einem Aufenthalt in der Provinz angemessen war. Entbehrliche, leicht abgetragene Sachen, die er bislang nur aus Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit nicht entsorgt hatte. Schade, dass er keine Gummistiefel besaß. Die könnten sich als sehr nützlich erweisen. Vielleicht konnte er vor Ort welche erwerben.

Cornelius ertappte sich bei einem leisen Summen, während er eine sehr verblichene Jeans und die ältesten auffindbaren Socken in eine weitere Reisetasche stopfte.

Albern!

Aber die frechen graublauen Augen gingen ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Fast meinte er, Erdbeeren zu riechen, diesen herrlichen Duft nach Sommer und Sonne. Und Kevins Lachen zu hören. Das war nun wirklich albern!

2.Gewitter im Kopf

 

Cornelius

Es handelte sich wahrlich um keine Weltreise. Sobald Cornelius sich aus Hamburg gekämpft hatte, lag plattes Gummistiefel-Land vor ihm, und die A7 würde ihn geradewegs nach Flensburg bringen. Er fuhr in gemütlicher Geschwindigkeit, ließ sich klaglos überholen und wusste, dass diese schnelleren Autos ohnehin nur ein klein wenig vor ihm an ihrem jeweiligen Ziel ankommen würden. Der Preis für diesen Vorsprung waren die Nerven der Leute am Lenkrad. Danke, daran hatte Cornelius keinen Bedarf. Es war ohnehin alles stressig genug.

Nach einer unruhigen Nacht, während derer er sich mehrfach gefragt hatte, ob er auch alles eingepackt hatte, und falls nicht, wo er es wohl kaufen könnte, hatte sich vor dem ersten Kaffee leichter Kopfschmerz gemeldet. Cornelius hatte ihn mit einer Tablette beworfen, nachdem er drei weitere Nachrichten von Mama erhalten hatte, wann welche Handwerker über den Birkenhof kommen wollten. Sehr vernünftig – ungewohnt – plante sie, zuerst das Äußere des Hofes in Angriff zu nehmen. Neue Fenster und Türen, neues Dach, Solarpaneele obendrauf, Blitzableiter, Fassadenisolierung. Der Bauleiter musste ihr das eingeredet haben, denn so viel sinnvolle Planung passte einfach nicht zu Mama.

Da der Kopfschmerz von der Pille gänzlich unbeeindruckt blieb, hatte Cornelius seine Abfahrt weiter und weiter hinausgezögert. Die Handwerker sollten erst am nächsten Tag – Freitag, damit sie nach dem Wochenende loslegen konnten – die Fenster liefern, also hatte er genug Zeit. Dann wartete er noch die Rushhour ab, ehe er sich hinter das Lenkrad klemmte. Es war ja lange hell, auch wenn die Sommersonnenwende schon mehr als einen Monat zurücklag. Ach, was sollte es! Sein Auto besaß serienmäßig Scheinwerfer, und eine Taschenlampe hatte er auch im Handschuhfach. Der Birkenhof hatte Strom und wohl zumindest in dem provisorisch eingerichteten Zimmer eine Deckenlampe.

Auf einem Rastplatz hinter dem Kreuz Bordesholm, wo die Autobahn nach Kiel abzweigte, machte er eine kurze Pause und sandte eine Nachricht an Mama, weil ihm soeben siedend heiß eingefallen war, dass er sein Auto ja auch mal laden musste. Hatte der Birkenhof eine Wallbox? Auf dem Land fuhren doch bestimmt noch alle mit uralten Dieseln herum, oder?

Während er ein Mineralwasser trank und auf Antwort wartete, suchte er Klaxdonnersbüll heraus. Da, eine Tankstelle hatte das Kaff. An die konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Ladestationen vielleicht auch? Nein. Verdammt. Haushaltssteckdosen waren langsam und für einen Ladevorgang nicht wirklich geeignet. Es ging – notfalls! So die Elektrik im Birkenhof nicht von anno Dazumal war, keuchend in die Knie ging und Cornelius den Hof abfackelte, wenn er versuchte, sein Auto dort anzustecken.

Doch dann entdeckte er erleichtert eine Ladesäule auf dem Parkplatz des Dorfladens. Eine! Wohl für die zweieinhalb Dorfbewohner gedacht, die ein E-Auto fuhren und noch auf ihre Wallbox warteten. Oder für Touristen auf dem Weg nach Sylt oder Dagebüll. Ja, das war möglich. Und besser als eine Steckdose des Birkenhofs!

Noch keine Antwort von Mama. Er seufzte. Aber immerhin hatte er eine Option gefunden, damit er in der ländlichen Einöde zumindest Mobilität genießen konnte. Falls er nach Flensburg zum Einkaufen musste: Gummistiefel. Unentbehrliches Kleidungsstück auf dem Land nach Cornelius’ Überzeugung. Er erinnerte sich an den Kuhstall auf dem Hof von Kevins Eltern und schauderte leicht. Vielleicht sollte er gleich in Flensburg Station machen und Gummistiefel kaufen. Und eine Regenjacke? So eine scheußliche Gelbe? Oder war das übertrieben? Der Wetterbericht für die kommende Woche sah eher sonnig und warm aus. Außerdem wusste er nicht, wie lange die Geschäfte in einer solchen Provinzstadt wie Flensburg geöffnet hatten. Besser, eventuell notwendige Anschaffungen auf die nächsten Tage zu verschieben. Hinzu kam, dass er nicht in Kuhställen oder über matschige Weiden wandern wollte. Alles gut!

Der Wagen schnurrte weiter. Über die Rader Hochbrücke, und Cornelius spähte rasch nach links und rechts, ob er einen dicken Frachter entdecken könnte. Aber der Nord-Ostsee-Kanal glänzte mit Leere. Nur Sonnenlicht funkelte auf dem Wasser. Egal, Schiffe konnte Cornelius zu Hause auf der Elbe auch beobachten, falls ihm danach sein sollte.

Die Fahrt zog sich, und nach dem Rastplatz Hüttener Berge führte die A7 nur noch durch Landschaft. Verblüffend, wie leer Schleswig-Holstein wirken konnte. Knicks, Äcker, Wiesen, Kühe, drei dicke Ponys, noch mehr Felder. Einige waren schon abgeerntet. Cornelius hatte keine Ahnung, wann was eingebracht wurde. Kevin könnte ihm das bestimmt sagen.

Es war so sentimental, dass er dauernd an Kevin dachte! Fruchtlos obendrein. Wenn Cornelius in so einem Kaff aufgewachsen wäre, hätte er nach Erreichen der Volljährigkeit aber sofort die Flucht angetreten. Nicht, dass Schleswig-Holstein mit Metropolen glänzte, aber es war doch bestimmt alles besser, als ein Knecht auf dem Hof der Eltern oder eines Bruders zu bleiben. Und so weit weg waren Hamburg oder Hannover oder Berlin ja auch nicht. Kevin war bestimmt meilenweit entfernt von Klaxdonnersbüll.

 

Endlich! Flensburg war erreicht. Leider war damit auch das gemütliche Fahren über die Autobahn am Ende angelangt, denn ab jetzt musste Cornelius sich über Landstraßen durchschlagen. Wie er genau wusste, kuschelten sich immer wieder Ortschaften unterschiedlichster Größe an diese Strecke. Kurvig war es ohnehin, und wenn er Pech hatte, hing er ein paar Kilometer hinter einem Traktor, bis er überholen konnte.

Obendrein meldeten die Kopfschmerzen sich nun wieder. Vielleicht hatte er auch nur zu wenig getrunken. Er sah kurz zum Beifahrersitz, auf dem eine zur Hälfte geleerte und eine volle Wasserflasche lagen. Ja, eindeutig. Er suchte sich jetzt einen Rastplatz, trank mindestens die halbe Flasche leer und sah nach, ob Mama sich wegen der Lademöglichkeit für das Auto gemeldet hatte. Und falls er keinen Rastplatz entdeckte, hielt er eben in einer Ortschaft an. Da würde es bestimmt eine Möglichkeit geben. Er brauchte ja nur eine kurze Pause.

Aber sein Navi führte ihn nach einer Weile von der Bundesstraße auf eine Kreisstraße und dann auf noch schmalere Pfade, ohne dass er einen Hinweis auf einen Parkplatz hatte entdecken können. Die Kopfschmerzen legten noch einen Zahn zu, und Cornelius suchte mit wachsender Unruhe nach einer Haltemöglichkeit. Da! Ein Parkplatz zu einem Waldwanderweg!

Er bog ab, hielt den Wagen an und saß einen Augenblick nur still da, bis er nicht nur das Wasser aus der angebrochenen Flasche trank, sondern auch die zweite öffnete und noch eine Kopfschmerztablette einnahm. Hatte er genug mit? Das Zeug war verschreibungspflichtig. Er sah sich schon bei Doktor Falk in der Praxis sitzen. Falls man ihm dort überhaupt seine Medikamente verschreiben würde, immerhin kannte ihn niemand.

Er informierte Siri, dass er am nächsten Tag bei seiner Ärztin in Hamburg anrufen wollte. Sie würde ihm das Rezept bestimmt nach Klaxdonnersbüll schicken. Dann musste er nur noch eine Apotheke finden. Das erledigte Siri auch gleich für ihn. Es gab eine in Prillsande. Gut. Er schaffte das alles. Und könnte jetzt im Ferienhaus auf Sylt sein, Meeresluft atmen und seine Ruhe haben.

Half ja alles nichts. Laut Navi war es gar nicht mehr weit bis Klaxdonnersbüll. Vielleicht bekam er an der Tankstelle einen Kaffee. Koffein half häufig auch gegen die Kopfschmerzen. Guter Plan!

Ein Warnschild vor Wildwechsel. Cornelius fuhr noch ein bisschen langsamer, da es ja auch schon dämmerte. Waren die Viecher dann nicht bevorzugt unterwegs? Ah, verdammt!

Die nächste Ortschaft war Prillsande. Er atmete auf. Mitten im Dorf würden sich wohl hoffentlich weder Wildschweine noch Rehe tummeln, hoffte er. Außerdem machte es ihm Mut, weil es von dort aus wirklich nicht mehr weit bis nach Klaxdonnersbüll war.

Die erste Straßenlaterne kam in Sicht, und sie war viel zu hell. Cornelius musste die Augen sogar ein wenig verengen. In seinem Kopf biss der Schmerz sich regelrecht fest. Kaffee, das würde helfen, ganz bestimmt …

Hätte sein Schädel nicht so geschmerzt, wäre ihm angesichts eines Schilds auf der linken Straßenseite ein Freudenruf entschlüpft. Ein Bistro! Das hatte Mama doch erwähnt, und hier stand es. Kaffee, ganz bestimmt! Vier Espresso, und es würde ihm besser gehen. Fünf!

Er bog auf den Parkplatz vor der kleinen Gaststätte, stellte den Wagen relativ gerade ab und schaltete den Motor aus. Dann rieb er sich über die Augen, massierte seine Schläfen und redete sich Mut zu, dass es besser wurde. Sobald er den verdammten Birkenhof erreicht hatte, würde er sein Gepäck im Wagen lassen, sich ins Haus schleppen, das Zimmer suchen und dort einfach nur ins Bett fallen. Nichts weiter mehr, bis Koffein und Tabletten das Gewitter in seinem Kopf mit vereinten Kräften niedermetzelten.

Er stellte sich Pillen und Kaffee als Ritter vor, die Seite an Seite angriffen. War nicht wirklich lustig, half aber ein klein bisschen. Cornelius wuchtete sich aus dem Auto, atmete einmal tief durch, ehe er die Zentralverriegelung des Wagens aktivierte, sich eine Sonnenbrille wünschte und gleichzeitig wusste, wie lächerlich er damit aussehen würde. Nach Einbruch der Dämmerung, obendrein in einer fleckigen Jeans und einem nicht eben taufrischen T-Shirt. Ach, du Schande.

Auch im Bistro war es viel zu hell und auch zu laut. Als würden die jungen Leute, die rund um einen Tisch saßen und Berge von Pommes zu verdrücken schienen, aus voller Kehle herumschreien. Cornelius wusste, dass nur seine Migräne daran schuld war.

Hinter der Theke gab es eine Durchreiche zur Küche, in der offenbar fleißig gearbeitet wurde, aber da stand auch ein junger Mann und lächelte Cornelius freundlich entgegen. Braunes Haar mit einem sachten Rotstich, der vom künstlichen Licht wohl verstärkt wurde. Schwarzes Hemd und darüber eine weinrote Schürze. Eine Kombi, die ihm stand. Aber vor allem war es dieses ehrliche Lächeln, als würde er sich wirklich über einen Kunden freuen, der wie verkatert aussehen musste mit kleinen Augen und gerunzelter Stirn wie so ein Klingone.

»Guten Abend«, brachte Cornelius hervor. »Kann ich noch einen Kaffee kriegen? Groß, stark, schwarz.«

»Natürlich! Den mache ich sofort fertig. Wollen Sie sich hinsetzen? Ich bringe den Kaffee an den Tisch.« Er wies auf eine kleine Sitzgruppe. Runder Tisch mit zwei bequem aussehenden Sesseln mit buntem Blumenmuster.

Jetzt erst erkannte Cornelius, dass jeder Tisch andere Polstermöbel hatte. Unterschiedliche Formen, bunte, verspielte oder schlichte Bezüge. Unter anderen Umständen – mit einem funktionierenden Kopf zum Beispiel – hätte er diesen Anblick wahrscheinlich genossen. So nickte er nur und schleppte sich zu dem Blümchensessel, wo er sich schwer auf die weichen Polster fallen ließ.

Wieder rieb er sich über die Augen, massierte seine Nasenwurzel und die Schläfen. Manchmal half das. Oder schien zu helfen. Immerhin hatte er in ganzen Sätzen sprechen können. Wenn die Migräne richtig zuschlug, konnte er mitunter nur noch stammeln, weil er um jedes Wort ringen musste.

Schaffte er es in diesem Zustand noch bis zum Birkenhof? Andererseits: Gab es in dieser Einöde so etwas wie ein Hotel? Und lag ein solches näher als Mamas neuester Geniestreich?

Er atmete auf, als die Bedienung mit dem Kaffee kam. Ein großer Porzellanbecher, in dem sich die lindernde und belebende Flüssigkeit duftend und tintenschwarz präsentierte. Außerdem brachte der junge Mann ein Glas Wasser mit.

»Falls Sie eine Kopfschmerztablette nehmen wollen. Ich hab notfalls auch noch welche da«, sagte er.

»Danke, ich hab schon eine intus«, antwortete Cornelius und sah, als der Becher auf dem Tisch abgestellt wurde, das Namensschild, das an der Schürze befestigt war: Oliver Osterfeld.

Er war für die Umsicht dankbar, bezahlte sofort mit einem vernünftigen Trinkgeld und wurde nach einem letzten freundlichen Lächeln der hoffentlich heilsamen Wirkung seines Kaffees überlassen. Sicherheitshalber, falls er doch noch immer zu wenig getrunken haben sollte, leerte er auch das Wasserglas. Der Kaffee war wundervoll stark, sehr gut und aromatisch. Mit Hoffnung und Überredung konnte Cornelius spüren, dass der Schmerz in seinem Kopf ein wenig nachließ.

Während er den heißen Kaffee trank, sah er in seinem iPhone nach, wie weit es noch bis zum Birkenhof war. Durch Prillsande durchfahren, dann ein Stückchen Landstraße und dann ganz durch Klaxdonnersbüll, um hinter dem Ortsausgang nach rechts in den Birkenweg zu biegen, an dessen Ende der Vierseithof lag.

Es war später und dunkler geworden, als er geplant hatte. Aber er hatte eine Taschenlampe bei sich. Wirklich nur das Auto abstellen, ins Haus wanken und ins Bett fallen. Verdammt, war das bezogen? Ansonsten: egal! Dann lüftete er es eben am nächsten Tag besonders gründlich. Er war so erschöpft von den Kopfschmerzen, dass er nur noch schlafen wollte. Decke über den Kopf, die laute, helle Welt aussperren und pennen, bis er wieder klar denken konnte.

Okay, eine Nachricht an Mama schicken, dass er heil gelandet war. Aber dann: Schlafen, nichts weiter mehr!

Er leerte den Kaffeebecher, erhob sich, winkte der netten Bedienung zum Abschied zu und kehrte zu seinem Auto zurück.

Gar nicht mehr weit. Fast da.

Müde kletterte Cornelius hinter das Lenkrad, startete den Wagen und stieß nach einem Kontrollblick ringsum rückwärts auf die Dorfstraße, die er langsam entlang rollte.

Da war die Straße, die zur Arztpraxis von Doktor Falk führte. Falls die Praxis noch da war. Und falls Doktor Falk noch nicht in Rente gegangen war. Mama konnte viel erzählen.

Er entdeckte das Schild einer Tierarztpraxis, aber das große Gebäude hinter einer Parkfläche lang im Dunklen. Dann endete Prillsande auch schon. Cornelius atmete auf und beschleunigte ein bisschen. Hinter seinem linken Auge pochte unvermindert Schmerz, und falls ihm nun jemand entgegenkam, würde es für ihn wirken, als hätte diese Person Fernlicht, Nebelleuchten und Suchscheinwerfer zugleich angeschaltet. Lieber ein wenig langsamer unterwegs sein und dafür heil ankommen.

Zumindest dachte er das so lange, bis er sauer aufstoßen musste. Nach Kaffee schmeckte das auch, und schlagartig wurde ihm richtig übel.

So fies hatte es ihn lange nicht erwischt.

Mit wachsender Unruhe suchte er eine Möglichkeit zum Anhalten, während er in nicht allzu großer Entfernung bereits Straßenlaternen ausmachen konnte. Aber er schaffte es nicht bis zum Haus.

Da! Eine Feldeinfahrt!

Mehr rasant denn wirklich zielsicher lenkte er den Wagen an den Straßenrand und halbwegs in die Einfahrt, schnallte sich los, würgte den Motor ab und hechtete aus dem Auto und hinter einen Knick.

Dort hielt er sich an einem dicken Ast oder Zaunpfosten fest, atmete flach durch den Mund und betete, dass der Brechreiz ebenso schlagartig verebben würde, wie er aufgetaucht war.

Keine Chance.

Verdammt, wenn er eines hasste, dann Erbrechen. Es war entwürdigend. Wenigstens befand er sich außer Sicht, falls ein anderes Auto vorbeikam.

Danach wankte er noch erschöpfter und mit noch mehr Kopfschmerzen als zuvor zum Auto, ließ sich auf den Fahrersitz fallen, zog die Tür zu und blieb still sitzen.

Nach einer kleinen Weile schaffte er es, das Fenster herunterzufahren. Kühle Abendluft strömte in den Wagen und nahm den Kampf gegen den sauren Geruch auf, den Cornelius noch in den Atemwegen hatte.

Er atmete in flachen Zügen und fragte sich, ob er hier einschlafen würde. Oder vor lauter Schmerz ohnmächtig werden könnte. Wer würde ihn dann wohl wann finden?

Er wollte das nicht.

Tapfer biss er die Zähne zusammen, hangelte nach der halb geleerten Wasserflasche auf dem Beifahrersitz und spülte sich mit einem kleinen Schluck erst einmal den Mund aus.

Zum Aussteigen hatte er schlichtweg nicht genug Kraft. Auch nicht dafür, sich soweit aufzurichten, dass er das Wasser aus dem Fenster spucken könnte. Also klappte er die Tür einen Spalt breit auf, ließ sich nach vorne und zur Seite sinken und spie den üblen Geschmack hoffentlich neben das Auto.

Keuchend lehnte er sich wieder im Sitz zurück und zog die Tür ins Schloss. Halbwegs. Die Innenbeleuchtung blieb an.

Auch egal. Er würde jetzt diese Flasche ganz langsam leer nuckeln und danach notfalls in Schrittgeschwindigkeit zum Hof fahren.

Nur einen Augenblick ausruhen, bis der Magen keine Probleme mehr bereitete, bis die Schwäche im Gefolge des Erbrechens nachließ, bis er ein bisschen besser sehen konnte.

Oh, verdammt.

Taxi rufen? Gab es in dieser Einöde eins? Und was dann? Das Auto hier stehen lassen, bis ein empörter Traktorfahrer es abschleppen ließ?

Er fühlte sich so hilflos.

Er nahm noch einen Schluck Wasser, wartete bang, ob sein Magen diesen als Untermieter dulden würde, als er leise Schritte vernahm.

Hilfe?

Mühsam wandte er den Kopf und vernahm einen Namen aus der Vergangenheit. Aus einer Zeit mit Gipsbein, Erdbeeren und Regenbogenherz.

»Conny? Bist du das?«

3.Fundstück am Wegesrand

 

Kevin

Abends joggen zu gehen, hatte für Kevin den Vorteil, dass er danach unter der Dusche nicht nur Schweiß, sondern auch den allerletzten Rest Ton loswurde.

Er drehte das Schild an der Tür von Geöffnet zu Bis Morgen! um, löschte die Lichter und rollte schließlich den Wagen mit den frischen Töpferwaren in den Trockenraum, wo er Teller, Schüsseln und pummelige Eulen in die Regale räumte, ehe er nach oben in seine kleine Wohnung stieg und sich umzog.

Eigentlich fühlte er sich zu müde zum Joggen, aber Kevin war stur und sagte sich lautlos vor, dass die Runde ihm guttun würde. Frische Luft ins Hirn und richtig wach werden. Im Laden stand er den ganzen Tag, an der Töpferscheibe saß er. Meistens auch noch mit einem krummen Rücken. Nein, Laufen war wichtig.

Er schnürte die Schuhe zu, stopfte das Handy in die Brusttasche der Weste und stöpselte die Kopfhörer in seine Ohren. Zufallswiedergabe und schon mal im Dauerlauf die Treppe nach unten und durch die Hintertür nach draußen.

Tief atmete er durch. Wundervoll milde Abendluft nach der Hitze des Tages. Das war echt Kopfschmerzwetter gewesen. Papa und Dennis waren nach der Getreideernte schon wieder unterwegs, um die Felder für die Wintersaat vorzubereiten. Notfalls würde Kevin aushelfen, aber bislang war kein Hilferuf bei ihm angekommen. Auch gut, denn er hatte noch einiges vor den herbstlichen Mittelaltermärkten zu erledigen.

Langsam und gemütlich lief er die Straße entlang, die im eleganten Bogen die Kirche und den alten Friedhof umschloss, bis er auf die Dorfstraße kam. Dann ging es weiter in Richtung Prillsande.

Wie erhofft belebte das Laufen ihn. Die kühlere Luft trug ihren Teil dazu bei. Kurz überlegte er, welche Runde er nehmen sollte. Rechts ins Wohngebiet, was eine kürzere Strecke bedeutete … Nein, er wollte die Frische ausnutzen. Er lief weiter in Richtung Tankstelle und bog bei ihr nach links ab in Richtung des neuen Friedhofs. Am Ende dieser Straße gelangte er auf die Feldwege, die zwischen frisch umgepflügten Feldern verliefen. Die Luft duftete nach sauberer Erde.

In den Knicks summten noch ein paar Insekten in der Dämmerung. Kevin atmete tief durch und zog das Tempo an, rannte den großen Bogen, der ihn am Ende auf die Strecke zwischen Prillsande und Klaxdonnersbüll entlassen würde, sodass er geradewegs wieder zum Kirchhof nach Hause laufen konnte.

Da kam die Kreuzung auch schon in Sicht. Geradeaus ging es zu den Ackerflächen, die schon zu Rothenbüll gehörten. Links zum Rothenbüller Forst. Kevin bog nach rechts ab und ging ein Stück, um sich zu strecken und abzuwarten, bis seine Atmung wieder ruhiger wurde. Dann lief er weiter in Richtung Straße.

Vor ihm glomm etwas rot, bewegte sich aber nicht. Trecker auf dem Heimweg, der ein passierendes Auto abwartete, vermutete er. In der Hochsaison der Erntezeit fuhren die großen Ackermaschinen schon mal bis nachts um drei. Er selbst hatte oft genug ein Gespann gefahren, mit dem er zwischen dem elterlichen Hof und einem weiter entfernten Feld gependelt war, um Raps, Getreide oder Maishäcksel einzubringen. Er war ganz froh, dass er das nicht mehr regelmäßig machen musste. Neidlos hatte er Dennis das überlassen!

Jetzt erkannte er, dass es ein Auto sein musste, das am Ende des Feldwegs stand, denn die Scheinwerfer beleuchteten den Knick. Tourist auf Irrwegen? Oder eine Panne?

In beiden Fällen konnte Kevin helfen! Bis zur Tankstelle war es nicht weit, falls der Sprit ausgegangen war. Und falls eine Übernachtungsmöglichkeit gebraucht wurde, konnte er Nico in der Wassermühle anrufen. Da war doch bestimmt eine Wohnung frei.

Mit den allerbesten Absichten beschleunigte er also wieder. Der Wagen war aus Richtung Prillsande gekommen und stand ein wenig schief halb in der Feldauffahrt und zur Hälfte auf dem kombinierten Fuß- und Radweg. Hoffentlich kein medizinischer Notfall! Aber auch dann konnte Kevin sich nützlich machen. Alles war besser, als einfach wegzugucken. Erste-Hilfe-Kurs hatte er natürlich, und im schlimmsten Szenario musste er einen Notruf absetzen. Hoffentlich war es nichts Ernstes.

Er hastete um das Heck des Wagens herum und sah auf das Kennzeichen. Hamburger! Na, das klärte ja einiges. Dann bemerkte er, dass die Innenbeleuchtung angeschaltet war. Also vielleicht wirklich nur ein verirrter Tourist, der gerade mit seinem Navi kämpfte, das ihn von der Hauptroute in Richtung Sylt oder Dagebüll fortgelockt hatte. Manche Leute folgten den Anweisungen ja blind! Kevin hatte schon von einem Fall gehört, da jemand in den Nord-Ostsee-Kanal gefahren und glücklicherweise halb auf den Steinen der Uferböschung hängen geblieben war. Wie so ein Lemming nur auf die Stimme aus dem Handy gehört. Das erinnerte ihn daran, die Ohrstöpsel abzuziehen und zum Handy in die Tasche zu stopfen. Konnte ja schlecht laut Musik hören, während er sich um den Touristen kümmerte und hilfreich den Weg wies.

Er trat an die Fahrertür und erkannte, dass das Fenster ganz heruntergelassen war. Dann sah er den Mann, der leicht zusammengesunken hinter dem Lenkrad saß und jetzt schwach den Kopf hob.

Wärme durchrieselte Kevin, und einen Augenblick lang konnte er nur fassungslos starren. Er kannte dieses Gesicht! Vor … vor Ewigkeiten hatte er ihn zuletzt gesehen. Schlaksiger Teenager, der so zauberhaft schüchtern sein konnte.

»Conny? Bist du das?«

Er hatte die altvertraute Abkürzung ausgesprochen, ehe er noch wirklich hatte nachdenken können. Gleichzeitig öffnete er die Tür, und jetzt sah Conny ihn richtig an … Cornelius, denn das war kein Teenager mehr, der Kevins Hand gehalten hatte, während Doktor Falk das Bein untersucht und die Helferin des Arztes mit Dennis geschimpft hatte, dass dieser den kleinen Bruder in die Praxis geschafft hatte, statt 112 anzurufen.

Cornelius sah ihn an, zwinkerte mühsam. Himmel, seine Stirnfalten hatten Falten! Wie so ein Shar-Pei-Baby, das erst noch in sein Fell wachsen musste!

»Was stimmt nicht mit dir? Brauchst du einen Krankenwagen?« Kevin beugte sich zu ihm hinab. Er könnte natürlich auch Doktor Falk anrufen. Vielleicht hatte der Notdienst, sonst würde er auf dem Anrufbeantworter die Vertreterpraxis angegeben haben.

»Migräne. Geht gleich wieder«, flüsterte Cornelius.

Er sah aus wie durchgekaut und ausgespuckt. Und roch auch ein bisschen so. Total verkniffene Augen, und er war bleich vor Schmerz. Doch dann schaffte er ein ganz kleines Lächeln, das vollkommen zerbrechlich auf seinem Gesicht aussah. »Kevin?«

»Ja, ich bin’s. Mann, hab dich sofort wiedererkannt. Wo willst du hin? Was machst du hier?« Cornelius war wohlhabend, erinnerte er sich. Reiche Mama, Internat und alles. Dann sah er, wie voll beladen der Wagen war. Urlaub, klar. Amrum vielleicht. Nein, wahrscheinlicher war Sylt.

Cornelius rieb sich über die Augen, schien nach Worten zu suchen und doch keine zu finden. Kevin hatte keine Ahnung, wie schlimm eine Migräne sein konnte. Hammer Kopfschmerzen, okay. Er fasste einen Entschluss. So fuhr Cornelius nicht weiter, egal, wohin er nun wollte. Und das wurde auch nicht binnen einer Viertelstunde besser, das war offensichtlich. »Kannst du aufstehen? Einmal ums Auto rum auf den Beifahrersitz?«

Cornelius blickte ihn aus diesen kleinen Augen voller Schmerz an. Dann nickte er wie in Zeitlupe.

Kevin packte mit an, zog Cornelius auf die Beine und schleppte ihn halbwegs zur Beifahrerseite, um ihn dort auf den Sitz zu verfrachten, nachdem er die darauf liegenden leeren Wasserflaschen in den Fußraum gefegt hatte. Mit einer Hand schützte er Cornelius’ Kopf vor einem schmerzhaften Kontakt mit der oberen Kante des Türrahmens, schnallte den Mann an und schloss die Tür.

Er atmete einmal tief durch. Einen Wildfremden würde er natürlich nicht mit nach Hause nehmen. Im Prinzip war Cornelius das jetzt für ihn. Zehn Jahre war es her, dass sie die Sommerferien gemeinsam verbracht hatten und sich … nun, deutlich nähergekommen waren. Kevins erste große Liebe, und die Wochen waren trotz des gebrochenen Beins toll gewesen. Oder gerade deswegen. Sonst hätten sie sich nicht kennengelernt. Und er hätte die Ferien auf einem Trecker verbracht, bei der Ernte geholfen, Heuballen auf dem Dachboden gestapelt, Hühner gefüttert und mehr. War mit dem Bein natürlich unmöglich gewesen, und so hatten sie die ganze Zeit miteinander verbracht.

Das genügte! Er würde Cornelius das Schlafzimmer überlassen und die Nacht auf dem Sofa verbringen. Alles fein. Aber er konnte ihn jetzt nicht im Stich lassen. Nicht nur wegen dieser schönen Sommerwochen vor einem Jahrzehnt. Das ging einfach nicht, dass er jemand sich selbst überließ, der so erbärmlich litt und ganz und gar nicht in der Lage war, sich wieder hinters Lenkrad zu schwingen. Gefahr für die Allgemeinheit und so. Und Kevin würde es sich nie verzeihen, falls Cornelius in diesem Zustand einen Unfall baute.

Also stapfte er um die Motorhaube herum und klemmte sich selbst hinters Steuer. Er roch nach Schweiß und klebte auch ein bisschen an dem teuren Ledersitz fest, aber das musste jetzt halt gehen.

Kurz war er irritiert, ob der Wagen nun angesprungen war, bis er die Anzeigen überblickte und begriff, dass das Fahrzeug so leise war, weil es einen Elektroantrieb hatte. Cool! So etwas war er noch nie gefahren. Aber wer mit vierzehn das erste Mal Trecker gefahren war, kam damit auch klar.

Er manövrierte den Wagen zurück auf die Straße und fuhr in Richtung Klaxdonnersbüll. Gar nicht weit. Und Cornelius saß ganz friedlich auf dem Beifahrersitz, ein wenig nach vorne gebeugt und in sich zusammengesunken. Aber er fragte nicht, wohin es jetzt ging, und das war irgendwie eine Erleichterung. Fühlte sich nach Vertrauen an. Oder nach einer überaus gelungenen Entführung.

Kevin lächelte ein wenig gedankenverloren, warf einen Blick zur Seite und grinste, weil das alles so abgedreht war.

Da sah er schon die Beleuchtung der Tankstelle. Also spähte er auf die Ladezustandsanzeige des Autos. Sah noch gut aus. Gleich darauf bog er in seine Straße ein – leider Kopfsteinpflaster, was bei Migräne bestimmt nicht gut war – und kurz darauf auf den Kundenparkplatz seiner Töpferei. Klang gewaltiger, als es war, denn das waren nur drei Stellplätze rechts vom Haus. Genügte, denn den Großteil seines Umsatzes machte er ohnehin auf Märkten, Mittelalterveranstaltungen und ein bisschen übers Internet.

Gut, jetzt musste er den armen Cornelius nur die Treppe hinaufkriegen und ins Bett stecken. Mehr als die Schuhe zog er ihm nicht aus! Sie mochten vor zehn Jahren wild herumgeknutscht und gefummelt haben, aber das war lange her, und es wäre übergriffig, ihn jetzt und heute und in diesem Zustand aus der Jeans zu schälen. Das durfte Cornelius selbst erledigen, falls er die Kraft dazu fand.

»Wir sind da. Komm, ich helfe dir aus dem Wagen«, sagte er.

Cornelius zwinkerte und sah durch die Frontscheibe auf das winzige Schaufenster der Töpferei. »Wo sind wir?«

»Bei mir. Du kriegst mein Bett und Kamillentee.« Der war immer gut, nicht wahr? »Dann pennst du die Kopfschmerzen weg und kannst morgen nach … nach Sylt.«

»Sylt.« Cornelius erwog das eine Weile.

Diese Zeit nutzte Kevin zum Aussteigen. Er eilte um das Auto herum und grub währenddessen schon nach seinem Haustürschlüssel, damit es gleich alles flott ging.

Cornelius schien schon wieder ausreichend beisammen zu sein, dass er verstehen konnte, worauf es nun ankam. Denn bis Kevin bei ihm ankam, hatte er bereits den Sicherheitsgurt gelöst und die Tür geöffnet. Er sah so kläglich aus, wie er da auf dem Sitz kauerte.

»Komm«, sagte Kevin sanft und zog ihn aus dem Auto. Dabei bemerkte er, wie sehr Cornelius die Augen zukniff. Verdammt, der arme Kerl!

»Will dir nicht zur Last fallen«, murmelte Cornelius stockend. »Tut mir leid. Ich kann das Sofa nehmen.«

»Nein. Das Bett ist gemütlicher und heute auch frisch bezogen. Ich muss noch unter die Dusche, ich bin schmutzig und verschwitzt. Das würde für dich zu viel Unruhe bedeuten, weil ich dann durch das Wohnzimmer laufe.« Er führte Cornelius um das Haus herum zur Holztreppe, damit er ihn nicht durch den ganzen Laden schleifen musste. Dieser war verwinkelt, voller Regale und Tische, das musste echt nicht sein.

Cornelius tapste wortlos und gehorsam neben ihm her, stöhnte leise, als sie in den Lichtschein der Außenlampe traten, klammerte sich an Kevins Arm und hatte die Augen nun gänzlich geschlossen.

Sie kamen die Treppe trotzdem gut nach oben, weil Kevin ihn auf die erste und letzte Stufe hinwies. Fieberhaft überlegte er, welche Lampen er in der Wohnung anschalten konnte, ohne dass es zu grell wurde, aber immerhin so hell, dass sie nicht vereint gegen Möbel rannten.

Er ließ das Licht im Flur ausgeschaltet und machte im Vorbeigehen nur die alte Stehlampe an, das sollte genügen. »Gleich da. Möchtest du Tee? Ich hab Kamille.«

»Ein Glas Wasser genügt. Kevin, es tut mir so leid.«

»Alles gut. Morgen bist du bestimmt wieder fit.« Er bugsierte ihn aufs Bett und kniete vor ihm nieder, um die Schnürsenkel zu öffnen. Rasch zog Kevin die Schuhe von Cornelius’ Füßen. »Leg dich hin. Ich bringe dir gleich Wasser, und dann lasse ich dich in Ruhe. Brauchst du noch Medikamente?« Verdammt, falls ja, lagen die bestimmt noch irgendwo im Auto.

Glücklicherweise schüttelte Cornelius den Kopf, ehe er sich wirklich in Jeans und Hemd bekleidet auf dem Bett ausstreckte und wie erleichtert seufzte. Endlich wurde sein armer Kopf nicht mehr durchgeschüttelt.

Ich hab da einen Mann in meinem Bett, der schon vor Jahren verdammt gut küssen konnte. Aus, Kevin! Hundeplatz! Das ist jemand, den du von früher kennst und dem es saudreckig geht. Auch wenn er dreimal ein Schnuckel ist. Und wenn diese Kopfschmerzknitterfalten weg sind, ist er zehnmal ein Schnuckel.

Aber Schnuckel hin oder her, im Augenblick war Cornelius sein Schützling. Fertig.

Er rannte in die Küche, zapfte ein Glas Wasser am Hahn und brachte es zu Cornelius. Dann suchte er schnell frische Wäsche aus dem Schrank und sah noch einmal nach seinem Gast, der halb eingeschlafen schien. Aber er hatte immerhin das Glas zur Hälfte geleert.

Kevin lächelte, fand sich selbst ein wenig albern und verließ lautlos das Schlafzimmer, wobei er die Tür ganz behutsam schloss. Verdammt. Er hätte Cornelius noch das Bad zeigen sollen. Der hatte vorhin gekotzt, ganz sicher. Hm. Feudeleimer? Nur, damit er für Notfälle etwas in Reichweite hatte und nicht würgend und mit winzigen Augen durch die Wohnung irrte, weil er das Klo suchte.

Also holte er als Erstes den quietschblauen Eimer aus dem Bad, spülte ihn noch einmal aus, hängte das getrocknete Wischtuch über das Rohr hinter dem Klo und nahm stattdessen noch ein Handtuch mit. In der Tür zögerte er und kramte dann noch einen Waschlappen hervor, den er mit kaltem Wasser nass machte. Das half bestimmt. Hoffentlich. Zumindest ein bisschen.

Er schlich zurück ins Schlafzimmer. »Bist du noch wach, Cornelius?«

Ein leises, zustimmendes Murren kam vom Bett. Immerhin hatte Cornelius sich inzwischen unter die Decke gekuschelt.

»Habe dir einen Eimer und ein Handtuch mitgebracht. Und einen kalten Waschlappen. Klingt das gut?«

Das folgende Murren klang etwas lebhafter.

Kevin stellte den Eimer in Reichweite neben das Bett, legte das Handtuch auf den Nachttisch und reichte Cornelius den Waschlappen.

»Oh, tut gut.«

»Das hatte ich gehofft. Falls du etwas brauchen solltest, ruf einfach nach mir. Ich bin jetzt fix unter der Dusche und pack mich dann aufs Sofa. Soll ich die Tür einen Spalt auflassen?«

»Lieber nicht. Falls mir noch einmal übel wird.«

Das konnte Kevin voll und ganz verstehen. Die Lage musste für den Armen schon unangenehm genug sein, da wollte er nicht noch einen Ohrenzeugen, falls er in den Eimer kotzte.

»Okay. Schlaf fein. Morgen geht es dir bestimmt wieder besser.«

»Danke.«

Oh, er klang so erschöpft und fertig, dass Kevin ihn am liebsten tröstend in den Arm genommen hätte. Stattdessen schlich er auf Zehenspitzen aus dem Raum und schloss die Tür ganz besonders rücksichtsvoll.

Er erinnerte sich glasklar an den Tag, an dem er sich das Bein gebrochen hatte. Er war – unerlaubt, aber was Papa nicht wusste, konnte ihn nicht aufregen – auf dem Heuanhänger mitgefahren, während sein großer Bruder Dennis den Trecker fuhr. Als sie auf der Wiese ankamen, hatte Kevin sich zu sehr beeilt, vom Anhänger zu klettern. Es war der alte mit dem Gitteraufbau, damit die kleinen Heuklappen während der Rückfahrt sicher verstaut waren.

Gerade, als er halb unten war, fuhr Dennis über eine Bodenwelle. Kevin hatte den Halt verloren und war abgestürzt, wobei er sich mit dem Bein zwischen zwei Stangen verfangen hatte.

Der Aufprall war hart gewesen und hatte allen Atem aus ihm gepresst. Geschrien hatte er trotzdem wie am Spieß, weil in seinem Bein ganz offenbar ein Vulkanausbruch tobte. Immerhin war er laut genug gewesen, dass Dennis ihn über dem Motorengeräusch gehört hatte.

Der Rest war verschwommen. Funkloch auf dem Feld, Dennis ein wahres Nervenbündel, Kevin am Rande einer Ohnmacht. Er war sich ziemlich sicher, dass Dennis den Anhänger abgekuppelt und Kevin irgendwie auf den Seitsitz gewuchtet hatte. Und dann war er mit dem Trecker auf den Feldweg, auf die Hauptstraße und nach Prillsande zu Doktor Falk gekachelt.

Bei der Vorstellung musste Kevin grinsen, während er sich im Badezimmer auszog. Es war der große, neue Trecker gewesen, der den Parkplatz vor der Praxis komplett verstopft haben musste. Schade, dass niemand ein Foto geschossen hatte.

Die nächste klare Erinnerung war Cornelius, der seine Hand hielt, während Kevin auf der Liege im Behandlungszimmer lehnte und heulen wollte vor Schmerz.

Denn Doktor Falk hatte seine Sprechstundenhilfe beiseitegenommen, die Dennis rundgemacht hatte, weil er Kevin zur Praxis gefahren hatte. Vielleicht hatte sie sich auch über den Trecker aufgeregt, das wusste er nicht mehr.

Aber er hatte die liebe Stimme des Arztes noch im Ohr, der so gelassen und ruhig geblieben war.

»Lass Dennis in Ruhe. Der ist mindestens so fertig wie sein Bruder. Dennis, setz dich hin, du kriegst gleich einen heißen Kakao. Du hast Kevin hierher gebracht, alles ist in Ordnung. Und das sage ich auch deinen Eltern. Kevin wird wieder, keine Sorge.«

Und Cornelius hatte seine Hand gehalten, mindestens so erschrocken ausgesehen wie Dennis und war einfach Mitgefühl pur gewesen.

Und jetzt lag er in Kevins Bett und litt an Kopfschmerzen aus der Hölle.

Entschlossen stieg Kevin unter die Dusche, um sich Tonreste und Schweiß von der Haut zu waschen. Und um seinen Kopf auf andere Gedanken zu bringen. War echt nicht hilfreich, dass er an Erdbeeren und vor allem Küsse mit Erdbeergeschmack dachte. An das Quietschen der alten Hollywoodschaukel … Gott, war die pottenhässlich gewesen mit ihren braunen Fransen an den Sitzpolstern und dem wilden Blumenmuster! Die hatte schon Kevins Oma gehört, und die hatte sie wahrscheinlich vom Sperrmüll gefischt.

4.Die kleine Töpferei

 

Cornelius

Er hatte sich während der Nacht nicht noch einmal übergeben. Offenbar war er alles Verfügbare hinter dem Knick losgeworden, ehe Kevin ihn gefunden hatte.

Sollte jemals wieder jemand altklug zu ihm sagen, dass die Welt doch ein Dorf wäre, würde er erwidern, dass dieses mystische Dorf Klaxdonnersbüll hieße.

Der Kopf fühlte sich besser, als Cornelius von leisen Geräuschen geweckt wurde. Er lauschte. Schritte, bemüht behutsames Geschirrklappern, dann das asthmatische Röcheln einer Kaffeemaschine.

Vorsichtig öffnete Cornelius die Augen. Das Zimmer war von morgendlichem Sonnenschein erhellt. Er sah zum Fenster, vor dem nur dünne Gardinen und ein nicht herabgelassenes Rollo hingen. Offenbar hatte Kevin das gestern vergessen oder nicht gemacht, um Lärm zu vermeiden, während er durch das halbdunkle, nur vom Wohnzimmer aus beleuchtete Zimmer gewandert war.

Kevins Zimmer. Und er lag in Kevins Bett. Frisch bezogen, aber trotzdem duftete es nach ihm. Wie das ganze Zimmer.

Klein, unter einer Dachschräge, aufgeräumt, alte Möbel.

Cornelius zog die Brauen zusammen. Den Kleiderschrank kannte er! Der hatte schon in Kevins erheblich größerem Zimmer auf dem elterlichen Bauernhof gestanden.

Vorsichtig setzte er sich auf und fischte den klammen Waschlappen aus der Bettwäsche, hielt das Stück Stoff einen Augenblick ratlos in der Hand, ehe er es in dem Eimer neben dem Bett versenkte. Das Handtuch war in der Nacht unberührt geblieben, da musste er es jetzt nicht mit dem Waschlappen befeuchten.

Er befreite sich von der Decke und schwang die Beine über die Bettkante. Jeans und Socken. Seine Schuhe standen ordentlich in sicherer Entfernung vom Eimer. Sein Hemd war zerknittert und roch nach Schweiß. Er gab ja einen wundervollen Anblick ab. Er tastete nach seinen Haaren, die natürlich auch wild in alle Richtungen abstanden und nicht einmal erahnen ließen, dass der Haarschnitt frisch und eigentlich sehr ordentlich war.

Im Augenblick war nichts an Cornelius ordentlich. Selbst seine Schuhe waren bei der Flucht hinter den Knick schmutzig geworden.

Er zögerte, sie wieder anzuziehen. Er würde eine Krümelspur getrocknete Erde durch die Wohnung tragen. Vorsichtig beugte er sich vor, klaubte seine Schuhe auf und stemmte sich dann in die Senkrechte. Sein Kopf spielte mit und veranstaltete kein neuerliches Gewitter hinter seinen Augen. Cornelius atmete dankbar auf.

So schlimm wie gestern Abend hatte es ihn lange nicht erwischt. Ganz so, als würden wirklich Blitze hinter oder in seinen Augäpfeln knistern und versuchen, alles in Brand zu stecken. Er wäre tatsächlich nicht mehr bis zum Birkenhof gekommen, sondern hätte die Nacht in der Feldeinfahrt verbringen müssen. Oder wäre bei dem Versuch, sein Ziel auf Biegen und Brechen doch noch zu erreichen, gegen irgendetwas oder irgendjemand gefahren. Die Vorstellung ließ ihn unwillkürlich schaudern.

Als rosig empfand er seine jetzige Lage aber auch nicht. Ja, seit dem Telefonat mit Mama hatte er viel und oft an Kevin gedacht. Aber das Schemenhafte, an das er sich vom Vorabend noch erinnerte, war ganz gewiss kein schlaksiger Teenager mit zarten Sommersprossen und frechen Augen mehr. Viel hatte er nicht von Kevin gesehen, aber dass er deutlich größer war als er selbst, war offensichtlich gewesen. Und nun stand Cornelius hier und sah zerknautscht und keinesfalls vorzeigbar aus. Außerdem hatte er Kevin schlichtweg Unannehmlichkeiten bereitet, war kopfüber in seine eindeutig geordnete Existenz gepurzelt, hatte sein Bett belegt und war sicherlich keinesfalls einnehmend gewesen. Das bewies auch der einsatzbereite Eimer neben dem Bett.

Das war … peinlich.

Er lauschte auf die Geräusche von nebenan, hielt sich an seinen Schuhen fest und straffte sich schließlich.

Was hatte er überhaupt erwartet? Er war eine Zeit lang ja sogar überzeugt gewesen, dass Kevin dem Dorf bestimmt schon lange den Rücken gekehrt hätte.

Aber er war hier, bewegte sich leise in seinem eigenen Wohnzimmer, um Cornelius nicht zu wecken.

Irgendwie … irgendwie hatte Cornelius die vage Vorstellung gehabt – so Kevin überhaupt noch vor Ort gewesen wäre –, dass sie sich eher zufällig über den Weg laufen würden. Oder dass er diesem Zufall ein wenig auf die Sprünge helfen könnte. Wiedersehen um der alten Zeiten wegen, ein bekanntes Gesicht in diesem Kuhkaff. Was natürlich auch Unsinn war, da er nur wenige Tage bleiben wollte, bis die Fenster eingebaut waren oder Mama ihn ablöste. Vielleicht sogar dieses Wochenende einen Kurztrip nach Sylt machen, sobald die Fenster angeliefert worden waren. Gab ja keinen Grund, länger als notwendig mit dem orangefarbenen Bad unter einem Dach zu verbleiben. Keinesfalls hatte er vorgehabt, seinen Aufenthalt in einem renovierungsbedürftigen Bauernhof auszudehnen. Sylt war sein finales Ziel für den Sommer. Genau.

Aber …

Er konnte sich nicht den ganzen Tag hier im Schlafzimmer verstecken, verdammt!

Die Lage war peinlich, aber sie wurde nicht besser, wenn er sich nicht bald aus diesem Raum wagte.

Also öffnete er voller Elan die Tür, seine Schuhe in der linken Hand, und fand sich in einem verblüffend gemütlichen Wohnzimmer wieder. Ledersofa, das aussah, als hätte Klitschko es als Boxsack benutzt, flauschiger Teppich auf Dielenboden, ein flacher Tisch, eine Anrichte aus warm schimmernden Holz.

Da ging eine Tür ab, wahrscheinlich das Badezimmer, und hinter einem Frühstückstresen befand sich eine Küche, die nach Birkenholz aussah.

Und hinter diesem Tresen, einen Kaffeebecher in der Hand, stand … Kevin.

Es musste Kevin sein.

Cornelius sah eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Teenager von damals.

Graues T-Shirt mit einem pummeligen Einhorn mit Regenbogenmähne darauf. Kurze Haare, die nicht einfach nur hellbraun waren, sondern einen ganz leichten rötlichen Schimmer aufwiesen. Ein Bart. Kurz, sehr gepflegt, nicht zu vergleichen mit jenen ersten Bartwuchsversuchen von damals. Die Augen unter den geraden Brauen lagen ein wenig im Schatten.

Und … Kevin war weit entfernt von schlaksig. Schlank, breitschultrig, eindrucksvoll.

Cornelius hoffte sehr, dass ihm die Überraschung nicht in Großbuchstaben auf der Stirn stand.

Zehn Jahre waren vergangen, und offenkundig hatte sich jedes einzelne redlich bemüht, aus einem langbeinigen Jugendlichen einen verdammt eindrucksvollen Mann zu machen.

»Moin«, sagte Kevin leise und lächelte.

Das veränderte ihn noch einmal zum Besseren. War das denn die Möglichkeit? Außerdem sah er aus, als wäre er frisch geduscht, auf jeden Fall adrett trotz des Einhorns auf dem T-Shirt. Während Cornelius aussehen musste wie eine Spielangel, mit der vier Babykatzen stundenlang Spaß gehabt hatten.

»Guten Morgen«, gab Cornelius zurück und fühlte sich wie der unbeholfenste Klotz auf Gottes Erden. Los, mehr! »Danke.«

»Geht es deinem Kopf besser? Du siehst besser aus.«

Er nickte und hatte einen Kloß von den Ausmaßen eines Medizinballs in der Kehle. Kevin wirkte so entspannt, so lässig und in sich ruhend. Und er sah gut aus. Er war nie ein hässliches Entchen gewesen, aber jetzt … Als hätte damals alles in ihm nur darauf gelauert, zur vollen Blüte zu gelangen.

»Viel besser. Danke. Ich glaube, ich hätte ohne dich in dieser Feldeinfahrt übernachtet.«

»Sehr ungemütlich.« Kevin stellte den Becher ab. »Ich hab mir gestern Abend wirklich Sorgen um dich gemacht. Ich bin heilfroh, dass du dich ein wenig erholt hast.« Dann grinste er plötzlich. »Und ich bin ein schauderhafter Gastgeber. Frühstück? Geht das schon wieder? Oder willst du erst unter die Dusche springen? Hast du leicht erreichbare Wechselkleidung im Auto?«

»Viermal ja«, antwortete Cornelius und brachte Kevin damit zum Lachen. Wunderbar klang das und wärmte ihn. »Wo ist mein Auto? Ich habe wirklich nur sehr rudimentäre Erinnerungen an gestern. So schlimm hat die Migräne mich lange nicht im Griff gehabt.«

»Erst einen Kaffee? Hier ist dein Autoschlüssel, den habe ich gestern ganz in Gedanken in meine Hosentasche gestopft.«

Cornelius bekam Kaffee. In der Küche stand ein kleiner Tisch mit nur einem Stuhl, aber Kevin holte noch einen Klappstuhl, den er dann besetzte und somit Cornelius den vorhandenen überließ. Einen Augenblick saßen sie einfach nur da und tranken Kaffee.

Beruhigend irgendwie, dass auch Kevin den Tag gemächlich anzugehen schien.

»Ich kann sonst auch später duschen. Es ist ja nicht mehr weit«, sagte Cornelius schließlich, als er sich ausreichend wach fühlte.

»Na, bis Sylt und dann Autozug …«

»Alle reichen Leute fahren nach Sylt?«, fragte Cornelius mit einem Grinsen. »Nein, du hast schon recht. Das war mein Plan für diesen Sommer. Mama kam mir in die Quere. Kennst du den Birkenhof hier in Klaxdonnersbüll? Den hat sie nämlich gekauft, und ich soll Baustellenaufsicht spielen, bis die Fenster ausgetauscht wurden.«

»Deine Mutter zieht nach Klaxdonnersbüll?«, fragte Kevin und klang komplett fassungslos. »Oder … oder ist das so ein Investor-Ding?«

»Sie will ein Ferienhaus daraus machen. Frag nicht. Die Begründung lautet, dass ihre Urgroßmutter in dem Haus geboren wurde.« Das Schweigen eben war ihm beinahe lastend erschienen, aber jetzt hatte es hörbar Klick gemacht, fand er, als sie sich wie früher unterhielten. Ganz selbstverständlich und locker.

»Nun, ein Haus würde ich es nicht unbedingt nennen. Alter Resthof, und ein verblüffend großes Ding, weil es rund um den Innenhof gebaut ist. Tenne, Viehstall und Wohngebäude. Klar kenne ich den Birkenhof. Zuletzt hat ein altes Pärchen darin gewohnt, aber der Hof steht jetzt schon etliche Monate leer. Ich würde erst einmal lüften.«

»Auf jeden Fall! Ich wurde auch schon vor einem schauderhaften orangefarben gefliesten Badezimmer gewarnt.«

Kevin lachte. Ein tiefer, wohliger Laut, der schier über Cornelius’ Haut zu prickeln schien.

»Ich kann es mir lebhaft vorstellen«, sagte Kevin. »Du hast mein Bad hier noch nicht gesehen. Aber solange alles heil ist, renoviert der Vermieter nicht. Falls ich die moosgrünen Fliesen nicht länger ertragen will, muss ich das selbst bezahlen. Nicht ein Stück.« Er stand auf. »Willst du im Orangenbad duschen oder hier? Ich würde uns sonst jetzt Frühstück machen.«

»Ich stelle mich dem Schrecken des letzten Jahrtausends. Ich möchte dir nicht noch mehr zur Last fallen.«

»Tust du nicht. Aber falls der Schrecken dich allzu sehr erschüttert: Mein Bad ist dein Bad. Ich würde gerne mal vorbeikommen, damit ich vergleichen kann. Falls das Bad im Birkenhof moderner ist als meins, habe ich vielleicht noch ein frisches Argument, um meinen Vermieter zu überreden.«

Cornelius lachte nun auch. »Mein Bad ist dein Bad. Gerne, komm vorbei, wann immer du Zeit und Lust hast. Ich werde meine Tage damit verbringen, Bücher zu lesen, den Hof zu erkunden und von dem Baulärm genervt zu sein.« Bücher lesen? Ähm, was ist aus dem Aufbruch nach Sylt, mit dem Wochenende dort, ehe die Fenster ausgetauscht werden würden, geworden? Ach, wahrscheinlich bekomme ich so kurzfristig ohnehin keinen Platz auf dem Autozug. Egal!

»Geh nicht alleine auf die Dachböden, bitte. Nicht, dass du dich plötzlich ein Stockwerk tiefer wiederfindest.« Das Lächeln war wie weggewischt, die blaugrauen Augen blickten sehr ernst.

»Versprochen«, antwortete Cornelius ein wenig erschrocken. An solche Gefahren hatte er überhaupt nicht gedacht!

Sie deckten den Tisch gemeinsam. Kevin hatte frisches Brot, Marmeladen, Honig und auch Käse. Außerdem holte er Frühstücksspeck und Eier aus dem Kühlschrank.

»Oder bist du Vegetarier oder Veganer? Bei Letzterem hätte ich ein Problem, weil ich nur Butter, aber keine Margarine für die Brötchen habe.«

»Nein. Machst du Rühreier oder Spiegelei?«

»Rührei.«

»Wunderbar.« Cornelius trug alles zum Tisch, was Kevin bislang auf die Arbeitsfläche der Küche gestellt hatte. Eine kleine Küche, zu zweit etwas eng um die Hüften, aber irgendwie fand er das sehr gemütlich.

Wie alles gerade rund um Kevin. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie miteinander umgingen, als wären sie nicht zehn Jahre, sondern nur eine Woche getrennt gewesen. Cornelius war auch dankbar, dass ihre Begegnung bislang vollkommen frei von Peinlichkeit war. Dazu hätten sie genug Möglichkeiten gehabt, wenn er an die Knutscherei auf der Hollywoodschaukel dachte. Ja, er hatte seit Mamas Anruf viel an Kevin gedacht, aber … irgendwie nicht romantisch. Neugierig und ein klein wenig enttäuscht bei der Vorstellung, dass sie sich wohl nicht wiedersehen würden, dass Kevin aus dem Dorf fortgezogen sein könnte.

Und nicht nur keine Peinlichkeit, sondern auch kein selbstverständlicher Versuch, wieder an den Erdbeersommer anzuknüpfen. Auch dafür, sagte Cornelius sich, war er dankbar. Zumal seine Anwesenheit in Klaxdonnersbüll ja nur ein paar Tage dauern würde. Ob er das Ferienhaus nach dessen vollständiger Renovierung jemals nutzen würde, wusste er ja auch noch nicht.

Kevin kam mit duftendem Rührei zum Tisch, schenkte Kaffee nach und nahm Platz. Das vertraute Lächeln tauchte auf, und Cornelius bekam wohliges Herzklopfen dabei. Der erste Mensch, der ihm in Klaxdonnersbüll – nun, in einer Feldauffahrt kurz vor dem Dorf – begegnete, war ausgerechnet Kevin.

Er bestrich eine Scheibe Brot mit Butter und blickte auf. »Ich hatte irgendwie erwartet, dass du nicht mehr hier sein würdest«, sprach er aus, was ihn seit gestern beschäftigt hatte.

»Landei in einer so berauschenden Metropole wie Schleswig oder Kiel?« Kevin lachte und schaufelte Rührei auf seine Brotscheibe. »Nee, das ist nichts für mich. Mike ist an der Fachhochschule in Flensburg. Mir zu viel Theorie. Ich hab überall mal reingeschnuppert, war aber ganz froh, von Treckern und Kühen wegzukommen. Dennis wird natürlich den Hof übernehmen. Ich wollte etwas ganz anderes machen. Ich hab den Bachelor of fine Arts angefangen – Muthesius Kunstschule in Kiel, aber ich hatte nicht genug Sitzfleisch. Aber alles, was ich von da mitgenommen habe, findet sich in meiner Töpferei wieder.«

»Töpferei?« Kevin war ihm nie als jemand erschienen, der wirklich an Kunst interessiert war. Aber … es waren nur sechs Wochen und sie beide Teenager gewesen.

»Die Werkstatt ist unten – und der Laden. Ich hätte gerne noch jemand mit reingenommen, weil die Miete für dieses Haus echt happig ist, aber ich brauche so viel Platz für die Trockenregale und die Öfen, dass das einfach nicht geht. So habe ich nur zwei Regale im Laden für andere Leute reserviert. Ein bisschen Kunsthandwerk wie Korbflechten, eine Frau siedet Seifen, die Seniorengruppe spinnt Wolle. Im Advent wird es noch ein wenig bunter hier.«

»Das würde ich mir gerne einmal ansehen. Nicht heute – ich muss zum Birkenhof, ehe die Fenster geliefert werden.« Wer kauft solche Sachen in einem derartigen Winzdorf?

Kevin kramte sein Portemonnaie hervor und entnahm diesem eine Visitenkarte. »Hier, da sind die Öffnungszeiten mit drauf. Die meisten Sachen gehen übers Internet weg, aber gerade jetzt in der Sommerzeit kommen auch viele Touristen vorbei. Und ich habe bei Bauer Stroh ein Regal, das ist nämlich die zweite Klaxdonnersbüller Touristenfalle.« Er lachte. »Oh, und Mittelaltermärkte und so. Das sind meine liebsten Veranstaltungen.«

Cornelius sah die Öffnungszeiten, die niedlich kurz waren. Kein Wunder, wenn Kevin das alles alleine machte, nebenbei neue Sachen herstellte und ja auch irgendwie noch Freizeit benötigte. Es juckte ihn in den Fingern, einen Business-Plan zu erstellen, wie die Öffnungszeiten ausgeweitet werden könnten. Ladendienst im Gegenzug für Regalplätze und so, aber er hatte das Gefühl, dass Kevin das als Einmischung empfinden würde und eigentlich alles gut im Griff hatte.

Außerdem: Welches Recht der Welt hatte Cornelius, in Kevins Geschäft zu platzen und alles umkrempeln zu wollen? Obendrein tickten die Uhren auf dem Land wahrscheinlich anders als in Hamburg oder einer anderen Großstadt. Ohnehin alles gemächlicher. Daran würde er sich auch erst wieder gewöhnen müssen, damit er die nächsten Tage gut zurechtkam. War ja nicht auf Dauer.

»Ich bin auch sonst meist im Haus. Glasieren, Brennen, Trocknen und so, aber zu den Öffnungszeiten erwischst du mich hier auf jeden Fall.« Kevin zögerte kurz. »Auch, falls du Hilfe brauchst mit dem Birkenhof und den Handwerkern.«

Das Angebot kam überraschend. Und irgendwie doch nicht. Irgendwie war da immer noch ein Band zwischen ihnen, das die zehn Jahre offenbar unbeschadet überstanden hatte, obwohl der Kontakt eingeschlafen war. Cornelius war aus ländlicher Einöde in sein Internat zurückgekehrt, hatte weitere Ferien an Mamas Seite oder bei anderen Praktika verbracht, während Kevin mit Treckern und Gummistiefeln zurückgeblieben war und von Kunst geträumt hatte.

»Danke«, sagte er ehrlich. »Wirklich.«

Sie hatten während des Gesprächs gefrühstückt und deckten nun gemeinsam den Tisch ab.

»Stell es einfach neben das Waschbecken. Ich spüle nachher schnell«, sagte Kevin. »Und jetzt zeige ich dir den Weg zu deinem Auto. Brauchst du noch eine Wegbeschreibung zum Birkenhof?«

»Mein Navi hatte ihn gestern Abend gefunden. Und jetzt habe ich Tageslicht, das sollte es einfacher machen.«

»Absolut. Nur die Warnung: Du verlässt Klaxdonnersbüll in Richtung Leck, ehe du rechts in den Birkenweg einbiegst. Das kann irritieren. Aber die meisten größeren Höfe liegen ja außerhalb.«

»Genau wie der deiner Eltern«, stimmte Cornelius zu. Der Hof lag auf der anderen Seite von Klaxdonnersbüll in Richtung Prillsande und Moor. Ob er da noch hinfinden würde?

»Und wenn du denkst, da kann auf gar keinen Fall noch ein Haus sein, fahre noch einen halben Kilometer weiter«, sagte Kevin und lachte leise.

Ja, so ähnlich lag der Hof seiner Eltern auch, daran erinnerte Cornelius sich noch deutlich.

Kevin führte ihn durch einen kleinen Flur und wies auf eine Tür. »Da geht es runter zur Werkstatt. Aber wir haben gestern den Weg um das Haus herum genommen.«

»War bestimmt weiser. Nicht, dass ich etwas zerschlagen hätte.« Cornelius zog seine Schuhe an und hoffte, dass er jetzt nicht das letzte Stück des Flurs vollkrümeln würde.