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Ein kleines Mädchen verschwindet nachts aus seinem Zuhause in Rothenbüll. Ehrensache, dass sich auch der Club der Geisterfreunde von Klaxdonnersbüll und Umgebung an der Suche beteiligt. Die Kleine ist glücklicherweise rasch gefunden, doch Rebecca offenbart noch einen Vermisstenfall, der möglicherweise schon viele Jahre in der Vergangenheit liegt. Ingeborg spukt höchst einsam im Prillsander Moor und entpuppt sich als ziemlich widerspenstiger Geist! Mit unerwarteter Unterstützung machen die Freunde sich daran, auch dieses Rätsel zu lösen. Wie immer gilt es, einem ruhelosen Geist Frieden zu schenken. Wird es ihnen mit vereinten Kräften gelingen? Fünfzehn Männer & ein Geist schließt im zeitlichen Ablauf an den Roman von Gero und Dominik an und lässt alle bisher in Erscheinung getretenen sieben Paare in einer Spukgeschichte zusammenarbeiten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!
Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:
www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen
Ein Staubsaugerroboter mit schielenden Kulleraugen und Jolian auf dem Buckel fuhr leise schnaufend ob des kapitalen Katergewichts Kevin vor die Füße, als dieser die Thermoskanne befüllen wollte. Er wartete also geduldig, dass Jolians Privatlimousine sich in die Diele aufmachte, ehe er sich um den Kaffee kümmerte.
Der Roboter bumste gegen den Türrahmen, orientierte sich rasch und brummte davon. Es verblüffte Kevin immer wieder, dass Jolian, der sein Dasein vor über einhundert Jahren als Hofkater begonnen hatte und vor einem Jahr von Cornelius als verletzter Streuner in den Brombeeren eingesammelt worden war, sich als so technikaffin entpuppt hatte. Keine Neuerung konnte den kleinen Krieger schocken, so schien es.
Lächelnd trug Kevin die Kaffeekanne durch die Küchentür auf den Innenhof des Vierseitgehöfts, wo unter einem Sonnenschirm ihre gemütliche Sitzecke rund um den bereits gedeckten Tisch auf Vollendung in Gestalt des Kaffees wartete.
Außerdem saß Cornelius dort über sein Tablet gebeugt und mit den Gedanken bei Zahlen oder einer Rede oder höchst vertrackter Terminplanung für seine sprunghafte Frau Mama. Brigitte war reich, ständig auf Achse, beglückte Wohltätigkeitsveranstaltungen mit ihrer Anwesenheit und großzügigen Zahlungen und besaß drei Ferienhäuser, die sie sporadisch nutzte. Liebevoll nannte Cornelius sie einen erratischen Flummi, und Kevin fand das sehr passend. Ein Unruhegeist war sie!
Selbst der Birkenhof, das große Anwesen am Rande von Klaxdonnersbüll, in dem Cornelius und Kevin nun lebten, war von ihr gekauft worden, um zu einem Ferienhaus der Extraklasse umgebaut zu werden. Kevin war heute noch dankbar, dass Cornelius den Indoor-Swimmingpool als Erstes gestrichen hatte! Und dann zog Brigitte, die ganz feine Antennen hatte, wenn es um ihren Sohn ging, los und kaufte das dritte Ferienhaus auf Juist, damit Cornelius und Kevin im Birkenhof dauerhaft ihr Domizil aufschlagen konnten. Die Frau war unberechenbar, aber einfach wundervoll.
Kevin füllte Kaffee in die weißen Porzellanbecher und wartete gespannt, wann Cornelius seine Anwesenheit bemerken würde.
Oh, das ging schnell! Mit einem Lächeln tauchte Cornelius aus seiner Arbeit auf, legte das Tablet hastig beiseite und sprang auf, um Kevin in eine liebevolle Umarmung zu ziehen. »Ich mach das nachher in Ruhe, während du in der Töpferei bist. Es pingten nur gerade drei E-Mails von Mama herein, da wollte ich schnell nachsehen.«
»Kein Grund, dich zu rechtfertigen«, antwortete Kevin und küsste seinen Schatz zärtlich. »Ich konnte nicht schneller mit dem Kaffee kommen, da Jolian hoheitsvoll an mir vorbeifuhr.«
Cornelius riss fragend die Augen weit auf.
»Auf einem schwer schuftenden Staubsaugerroboter. Ich erwäge, das nächste Mal ein Video zu machen, es online zu stellen und damit reich zu werden.«
Cornelius lachte. »Da machen dir ein paar unserer Freunde bestimmt Konkurrenz! Nachdem ich ihnen beweisen konnte, dass Jolian als eingefleischter Dorfkater keine Angst vor den Robotern hat, hat mindestens Raphael sich zwei von den Dingern gekauft. Leider ist er zu erwachsen, um ihnen Kulleraugen aufzukleben! Dafür hat der Staubsauger bei Gero und Dominik zusätzlich flauschige Ohren, und ich vergehe vor Neid, weil das so süß aussieht.«
Kevin machte sich eine geistige Notiz, die beiden Neuesten in ihrem Freundeskreis zu befragen, wo diese Plüschohren zu kaufen waren. Wenn Cornelius Staubsaugerroboter mit Ohren wünschte, sollte er sie bekommen! Ein Flauschschwänzchen ging ja leider nicht, weil der Roboter dieses selbst auffressen und sich daran verschlucken würde. Genau wie an Jolians Spielmäusen.
»Aber gut«, sagte Cornelius, als sie saßen und er sich einen Bagel aus dem Brötchenkorb fischte, »dass ich in Mamas Mail gesehen habe, ehe du aufgebrochen bist: Sie fleht dich an, ihr ein paar Exemplare dieser Milchseife mit Lavendelduft mitzubringen. Dabei habe ich ihr erst letzten Monat fünf Stücke geschickt! Was macht sie nur damit? Oh, und zwei von deinen neuen Seifenschalen möchte sie auch haben. Altrosa, so du hast.«
»Habe ich.« Kevin häufte Frischkäse auf seinen Bagel und streute Steakpfeffer darüber. Das mochte barbarisch sein, aber das war ihm definitiv gleichgültig. Frischer Schnittlauch kam auch noch obendrauf! Er überlegte. »Die sollte ich sogar noch hier haben. Ich habe das meiste ja gestern Abend schon in mein Auto gestopft, aber die Seifenschalen muss ich noch verladen.« Er grinste. »Sie weiß, dass es die jetzt auch mit ganz kleinen Eulen auf dem Rand gibt?«
»Nein! Das wusste noch nicht einmal ich! Bitte, sie muss zwei mit Eulchen bekommen!«
»Das war Caros Idee.« Die kleinen Eulen waren genau wie Hexenkessel in allen möglichen Größen Kevins Markenzeichen. Die findige Caro war seine Schwägerin, die sich begeistert in die Führung des Ladens und auch ins Töpfern eingefuchst hatte. Monatelang war sie nur zu schüchtern gewesen, um Hilfe anzubieten. Da sie Angst vor Kühen hatte und nicht wagte, auf einen Trecker zu klettern, hatte sie sich auf dem Hof von Kevins Eltern immer ein bisschen überflüssig gefühlt, während sie gleichzeitig bewundernd Kevins Kleine Töpferei beäugte. Und Kevin hatte das viel zu lange nicht mitbekommen! Stattdessen hatte er sich selbst halb kaputt geschuftet, bis Edith Voigt ihn mit der Nase darauf gestoßen hatte, dass Unterstützung lediglich darauf lauerte, endlich zum Einsatz zu gelangen!
»Ich liefere nur die Waren ab«, sagte Kevin, »dann kaufe ich Futter für Jolian und komme wieder nach Hause. Brauchst du sonst noch etwas aus dem Dorfladen?«
»Nein, sonst sollte alles da sein. Ich kümmere mich gleich um Mamas E-Mails. Ich hoffe, ich bin schnell damit fertig. Es sieht immer nach trügerisch geringem Arbeitsaufwand aus, bis ich auf eine Lücke in ihren Planungen stoße. Oh, und ich mache den Kartoffel-Brokkoli-Auflauf von Alexanders Haushälterin fürs Mittagessen. Benny hat mir das Rezept verschafft! Nur so als Ansporn, damit wir beide heute schnell mit unserer Arbeit sind.«
»Klingt gut. Lass das Geschirr stehen, Liebling. Ich decke ab, ehe ich dir die Seifenschalen heraussuche und den Rest ins Auto lade.«
Cornelius schüttelte den Kopf. »Gemeinsam!« Er beugte sich für einen Kuss vor, der nach Kaffee und Honig schmeckte.
»Einverstanden«, murmelte Kevin, ehe er ihn noch einmal fest an sich drücken musste.
Sie räumten gemeinsam ab, und während Cornelius Frischkäse und Co zurück in den Kühlschrank stellte, verstaute Kevin rasch das benutzte Geschirr in der Spülmaschine.
Er liebte ihre Küche – jetzt. Als er Cornelius das erste Mal vor den umfangreichen Renovierungen auf dem Birkenhof besucht hatte, hatten hier uralte Einbaumöbel in einem altmodischen Schilfbeige gestanden. Glücklicherweise besaß Cornelius einen unglaublichen Farbsinn. Als er Fliesen nach Delfter Art vorgeschlagen hatte, hatte Kevin das noch sehr gruselig gefunden, weil er sich das Endergebnis nicht recht hatte vorstellen können. Doch jetzt glänzte die Küche! Eingezogene Balken bildeten einen tollen Kontrast zu ganz schlichten Fronten aus Birke, und das dunkle Blau der Fliesen passte wundervoll dazu. Obendrein hatte Cornelius’ Mama für passende Tischdecken und Geschirrtücher mit breiten Schmuckbordüren gesorgt. Und Kevin hatte unter anderem einen Tontopf mit dem gleichen Farbton geschaffen, in dem Kochutensilien standen. Und natürlich eine Seifenschale!
Der ganze Birkenhof hatte eine Frischzellenkur erhalten. Verschwunden war der orangefarbene Albtraum – ein Badezimmer mit nachgedunkelter Kiefernvertäfelung und unglaublichen Wand- und Bodenfliesen in Braun und Orange. Ein Überrest der Sechzigerjahre und ganz besonders scheußlich! Ja, klar, der Hof war eigentlich viel zu groß für zwei Männer und einen Kater. Kevin machte sich Mut, dass das Herrenhaus von Rothenbüll noch sehr viel größer war, und da wohnten auch nur Oliver, Tizian und ihr Kater Davil! Dagegen nahm der Birkenhof sich wirklich bescheiden aus.
Sie gingen zusammen über den Innenhof zu den vormaligen Stallungen. Kevin liebte diese kleine, stille Oase, die von allen vier Seiten durch die Flügel des Hofs geschützt wurde. Die Brennnesseln schienen nun auch endgültig besiegt, wofür er ganz besonders dankbar war.
»Es sind nur zwei Kisten«, sagte er, als sie in seine Werkstatt traten. Hier hatte Brigitte ihren Innen-Pool haben wollen. Statt großer Wassermengen oder wie früher Pferde, Rinder und Schweine beherbergte dieser Flügel nun die Töpferei mit drei Öfen, zahlreichen Trockenregalen, zwei Töpferscheiben und Wandborden mit Werkzeug. Kevin konnte gar nicht mehr glauben, dass ein Viertel dieser ganzen Ausstattung früher Platz im Hinterzimmer seines Geschäfts gefunden hatte! Jetzt konnte er sich wirklich ausbreiten, und es war auch gar nicht mehr so eng um die Hüften, dass er beständig Sorge haben musste, bei der Arbeit etwas aus einem Regal zu fegen.
Dem Laden hatte der Umzug der Werkstatt auf den Birkenhof auch sehr gutgetan. Kevin verkaufte dort ja nicht nur seine Töpferwaren, sondern hatte schon immer auch Regalplätze für andere Leute angeboten, die Kunsthandwerk herstellten: die handgesiedeten Seifen, Thors exklusive Notizbücher, die der gelernte Buchbinder voller Fantasie und Liebe erschuf, Weidenkörbe, von Hand gesponnene Wolle, Strickwaren, seit Neuestem auch Kleinmöbel, Wandkränze und mehr. Die Kleine Töpferei wurde wirklich immer mehr zu einem Kunsthandwerkermarkt und zog täglich mehr Kundschaft auch von weiter entfernt an. Dazu kam der Onlineshop, den Tizian optimiert hatte.
Vielleicht würde er irgendwann sogar noch jemand einstellen, statt den Laden nur mit der Hilfe von Caro, Seifensiederin Theresa und natürlich Thor zu wuppen. Bei dem Gedanken konnte ihm schon einmal ein bisschen schwindelig werden, weil er so klein angefangen hatte, bis nun alles ins Rollen kam.
Jetzt grub er auf jeden Fall erst einmal in dem größeren der beiden Kartons, um für Brigitte zwei Seifenschalen in Altrosa und mit Eule aufzustöbern. Ah, da waren sie!
Cornelius enttäuschte ihn nicht, sondern stieß begeistert aus: »Himmel, sind die zauberhaft! Mama wird vor Freude quietschen! Denk dran, dass ich sie bezahlen werde. Sonst stürzt deine Buchhaltung ins Chaos.«
»Die macht mir ja ab sofort Dominik. Er liebt Zahlen, ist das nicht außergewöhnlich? Und er nimmt damit eine Tonnenlast und Nächte der Verzweiflung von mir, wenn ich last minute versuche, alles in Formulare zu quetschen.«
»Du bist so heroisch, dass du das jahrelang auf dich genommen hast. Dabei wäre ich nicht einmal eine Hilfe gewesen, weil Mama dafür natürlich ein Büro beschäftigt.«
Kevin beugte sich über die Seifenschaleneulchen, um Cornelius zu küssen. »Aber du hast mir immerhin schon deine eherne Ordnung in Bezug auf Papiere beigebracht! Ohne die würde bestimmt auch Dominik weinen, weil er mir dauernd hinterherlaufen müsste.«
»Wahrscheinlich hätte er dich jetzt im Handumdrehen zur Ordnung erzogen. Er kann so streng gucken!«, wehrte Cornelius das Lob natürlich ab.
»Ich habe es viel lieber von dir gelernt. Du guckst nicht missbilligend. Außerdem liebe ich dich und vertraue dir. Okay, ich wachse hier gerade an, dabei haben wir beide Programm, bis wir Auflauf futtern und einen gemütlichen Nachmittag verbringen können.«
»Lauf! Verkaufe Töpferwaren! Komm zu mir zurück!« Cornelius lachte, hauchte einen letzten Kuss auf Kevins Mundwinkel und stellte dann die Seifenschalen auf ein Regalbord, um sich den kleineren Karton zu schnappen, der noch ins Auto sollte.
Kevin folgte ihm mit dem zweiten Behältnis. Keine Minute später rollte sein Lieferwagen dann auch schon den Birkenweg entlang Richtung Klaxdonnersbüll. Der bessere Feldweg schlängelte sich malerisch zwischen Knicks dahin, bis er die Hauptstraße außerhalb des Orts erreichte, die nach dem gelben Schild schließlich zur Dorfstraße wurde.
Vor der Kirche bog Kevin auf Kopfsteinpflaster ab, passierte die Zugangstore zum alten Friedhof und parkte dann gekonnt auf dem Hinterhof der Kleinen Töpferei ein. Hier durften auch Kunden stehen, die etwas Großes erworben hatten, weil es durch die Hintertür einfacher in Autos zu laden war, als mit einem riesigen Hexenkessel einmal durch den Laden zu wanken.
Kevin öffnete die Tür zum Geschäft und die beiden Heckklappen des Lieferwagens und machte sich an die Arbeit. Möglichst, bevor Caro mitbekam, dass er hier schleppte. Sonst packte sie gleich mit an, und sie erledigte schon so viel Arbeit für ihn!
Doch als er den ersten Karton in ein Regal im Hintergrund abstellte, hörte er eine Stimme von vorne, die ihm gar nicht willkommen war, wenn er ehrlich war. Auch, wenn das dreimal garstig sein mochte! Ihm doch egal, dass Pastorin Gunnarson und Edith Voigt beide behaupteten, der Mann wäre nur alt und einsam! Dafür wichen ihm nämlich beide höchst geschickt aus, sobald sie ihn auf der Straße erblickten!
Aber obwohl Kevin früher auf dem Heimweg nach der Schule Umwege gelaufen war, um Herrn Butenschön nicht in die Fänge zu geraten, straffte er sich jetzt. Das ging ja gar nicht, Caro alleine dem Sturm des Dorfklatsches auszusetzen! Und zwar Dorfklatsch von Jahrzehnten – wenn nicht noch mehr!
Nach Herrn Butenschöns eigener Aussage lebte seine Familie seit vielen Generationen in Klaxdonnersbüll und Umgebung. Irgendein Ahnherr hatte offenbar im Alleingang und wahrscheinlich über Nacht die Kirche gebaut, wenn Kevin dem alten Mann glauben sollte. Tat er nicht. Er stiefelte also heroisch und besonders mäßig begeistert nach vorne.
Herr Butenschön war nicht garstig, das war es nicht. Ein freundlicher, hilfsbereiter alter Mann. Aber er war klebrig und fand einfach kein Ende, sobald er ein unwilliges Ohr gefunden und den dazugehörigen Menschen ohne einen halbwegs höflich zu erreichenden Fluchtweg gestellt hatte.
Da stand er: klein, weißhaarig, harmlos erscheinend.
Als Kevin den vorderen Teil des Ladens betrat, blickte Herr Butenschön, der dieses Mal nur mit einem Gehstock bewaffnet war, rasch auf und lächelte freundlich. »Herr Andresen! Wie schön, dass Sie auch da sind. Ich will Ihnen gar nicht viel Zeit rauben.«
Ein leeres Versprechen, fürchtete Kevin, lächelte aber zur Begrüßung. »Moin, Herr Butenschön.« Jetzt sah er auch den E-Scooter, mit dem der alte Mann mitunter das Dorf unsicher machte. Mit dem knallroten Gefährt war er erheblich schneller als zu Fuß oder mit seinem Rollator. Und das Ding rollte lautlos, was schon einigen Leuten jede Chance auf Flucht vermasselt hatte. Auch Kevin!
»Ich hab Ausdrucke mitgebracht. In Rothenbüll ist heute Nacht ein kleines Kind verschwunden.«
»Was?« Etwas prickelte eiskalt über Kevins Rücken. Vor seinem geistigen Auge tauchte umgehend ein schmales Mädchengesicht mit Schlamm auf der Wange und Moos in den blonden Haaren auf – und mit einem Kakaoschnurrbart. Elsa.
Er trat hastig näher, und Herr Butenschön reichte ihm einen schlicht aufgemachten Zettel mit der Fotografie eines lachenden Mädchens in einer Sandkiste. Rot kariertes T-Shirt, dunkelblaue Shorts. Neben ihr nicht nur Förmchen und Schäufelchen, sondern auch pummelige Pferdeplastikfiguren, die im Sand herumgaloppierten. Darunter fanden sich eine knappe Beschreibung und Name, Adresse und Telefonnummer einer Frau.
»Ich bin ja nicht mehr so mobil, wie ich gerne wäre. Also versuche ich, auf meine Art zu helfen. Ich habe das Bild und die Daten von der Mama der kleinen Rebecca bekommen: Nina Johannsen. Und jetzt gurke ich durch die Gegend und verteile die Zettel überall. Herrn Petersen habe ich auch schon getroffen und ihm ein paar Zettel in die Hand gedrückt. Er kommt ja so viel herum. Hängen Sie es ins Schaufenster, bitte? Hier kommen ja so viele Leute vorbei. Im Supermarkt war ich schon, und bei der Bücherei habe ich einen Zettel eingeworfen, die macht heute ja erst nachmittags auf. Ich fahre gleich weiter zu Hof Stroh.«
»Soll ich Ihnen die Fahrt dorthin abnehmen?«, fragte Kevin, der kaum den Blick von dem kleinen Ponymädchen nehmen konnte. Sein Herz klopfte kalt vor Sorge in seiner Brust. »Ich wollte hier nur ausladen, Kleinkram besprechen und dann wieder nach Hause.« Herr Butenschön wusste ja, wo Kevin wohnte.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein, bitte. Lassen Sie mich das machen, Herr Andresen. Ich weiß, dass sich schon Suchtrupps gebildet haben. Da kann ich nicht helfen. Aber ich mache, was ich kann. Die arme kleine Maus. Und die arme Frau Johannsen! Den Schock mag ich mir gar nicht vorstellen, das Bettchen leer vorzufinden, als sie Rebecca zum Frühstück wecken wollte.«
Instinktiv blickte Kevin auf seine Armbanduhr. Elf Uhr! Und das kleine Kind fehlte immer noch! Bislang von keiner Person auf einem Spaziergang oder Ausritt eingesammelt worden, noch niemand auf dem Weg zur Arbeit aufgefallen. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er nickte. »Gut, das verstehe ich. Caro, ich lade wirklich nur schnell aus und überlasse dir das Einsortieren. Ist das in Ordnung? Ich will nach Hause und mit Cornelius sprechen, ob wir uns den Suchtrupps anschließen können.«
»Klar, mach das! Ich rufe gleich Dennis an. Deine Eltern und er halten ganz bestimmt auch die Augen auf.«
»Und wie! Gerade Mama. Moment.« Er machte mit dem Handy ein Foto von Herrn Butenschöns Aushang.
»Sie können auch ein Blatt mitnehmen. Ich habe ganz viele gedruckt und verteile sie an alle, die ich sehe«, warf Herr Butenschön ein.
»Danke. Aber so habe ich alles auf einen Griff parat«, wehrte Kevin ab. Vor allem würde er dieses Bild gleich in den Gruppenchat der Geisterfreunde von Klaxdonnersbüll und Umgebung einstellen. Vierzehn Männer und Edith waren sie. Und sie konnten alle die Augen offenhalten.
»Und ich hänge den Zettel gleich ins Schaufenster«, versprach Caro und kramte schon den Klebestreifen unter dem Tresen hervor. »Herr Butenschön, würden Sie mir bitte einen zweiten Zettel hierlassen, den ich hier auf den Tresen legen kann, um alle, die in den Laden kommen, extra darauf aufmerksam zu machen?«
»Selbstverständlich, Frau Andresen. Danke, das ist eine sehr gute Idee.«
»Kirche«, sagte Kevin und zählte stumm im Geiste die Türen, an die er mit Reißzwecken den Zettel heften könnte.
»Hab ich schon erledigt. Die neue Küsterin hängt fünf Zettel auf«, verkündete Herr Butenschön zufrieden. »Bei der Tankstelle war ich auch schon. Gut, ich mach mich wieder auf die Socken. Hoffentlich wird die Kleine ganz schnell gefunden. Immerhin ist es nachts warm, und es regnet derzeit auch nicht.« Er nickte Caro und Kevin zu und marschierte behutsam an den vollgestellten Regalen vorbei zur Tür.
Nur wenig später sauste der rote E-Scooter wieder los. Batmobil, wie Gero sagen würde. Trotz der Anspannung, die ihn angesichts eines verlorenen Kindes befallen hatte, musste Kevin bei dem Gedanken grinsen.
»Ich helfe dir beim Entladen«, sagte Caro entschieden. »Keine Widerworte! Wenn die Tür bimmelt, kann ich gleich nach vorne flitzen. Aber du siehst aus, als wolltest du ganz schnell zu Cornelius.«
»Ich will mich der Suche anschließen. Weiß der Kuckuck, wann Rebecca das Haus verlassen hat.«
»Die Polizei ist bestimmt auch schon dran. Die können vielleicht Hunde anfordern, oder?«
Die nächste Polizeistation befand sich in Prillsande, dem dritten Örtchen, das zur Dreifaltigkeit Klaxdonnersbüll-Rothenbüll-Prillsande gehörte. Die drei Ortschaften ergänzten sich gegenseitig und arbeiteten eng zusammen. Die Polizeistation war eher niedlich, aber Kevin kannte etliche von denen, die dort arbeiteten, und wusste, dass sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen würden, um das verlorene Kind aufzustöbern. Vielleicht störten die Heerscharen der hilfswütigen Dorfbewohner auch ein bisschen. Aber wenn sich schon Freiwillige einbringen wollten, fand Kevin, konnten diese bestimmt nutzbringend eingesetzt werden. Menschenketten, die zum Beispiel das Moor abgrasten, waren personalintensiv.
Und wieder drängte sich Elsas Bild vor, wie sie barfuß über den Friedhof gerannt war. Geradewegs in die Arme ihrer wartenden Großmutter. Kleine Elsa in Wolldecke gehüllt auf dem Sofa, wo sie frech mit den Zehen gewackelt und Haferkekse mit Schokolade verputzt hatte, während Jolian wachsam jeden fallenden Krümel aufleckte.
Rebecca war bestimmt nichts passiert, machte er sich Mut. Ganz bestimmt nicht! Hoffentlich!
Nun war er dankbar, dass Caro beim Entladen des Wagens half. Es ging einfach schneller, und er war wirklich kribbelig.
»Sag bitte Bescheid, wenn sie gefunden ist, ja? Ich schicke jetzt das Bild an Dennis und werde allen, die reingucken, den Zettel unter die Nase halten«, versprach Caro, umarmte ihn und scheuchte ihn zu seinem Auto.
»Du bist ein Schatz«, teilte Kevin ihr noch mit, ehe er sich auf den Fahrersitz wuchtete und den Motor startete. Sein Handy piepste und verkündete den Eingang einer Nachricht. Die sah er gleich zu Hause an. Und außerdem wollte er ja auch dringend das Foto in den Gruppenchat stellen. Das hatte er eben über dem eiligen Ausladen vergessen.
Während der Fahrt hielt er Ausschau nach Herrn Butenschön auf seinem roten Batmobil, aber das Gefährt war offensichtlich wirklich flott, denn Kevin konnte es nirgends erblicken. Dafür beschäftigte er sich im Geiste mit einer Karte der Umgebung, wohin das kleine Mädchen sich wahrscheinlich gewandt haben könnte. Falls sie nicht schon gefunden war. Herr Butenschön hatte ja auch Zeit benötigt, seine Zettel zu erstellen, zu drucken und auszutragen.
Er wusste genau: Hätte er Elsa niemals kennengelernt, wäre er jetzt nicht so unruhig. Rebecca war etwa in Elsas Alter, und kleinen Kindern konnten Unfälle zustoßen.
Kevin hieb mit der flachen Hand auf das Lenkrad, um sich aus dieser Gedankenspirale zu befreien.
Da kam schon der Birkenhof in Sicht, und Kevin parkte direkt vor Cornelius’ Arbeitszimmerfenster, sprang aus dem Auto und klopfte an das Fensterglas.
Cornelius öffnete arglos lächelnd. »Guten Tag, mein Liebling. Ich kämpfe noch mit einem Termin, aber gleich danach kümmere ich mich um den Auflauf, versprochen.« Dann wurde seine Miene ernster. »Ist alles okay?«
»Keine Ahnung.« Kevin reichte ihm das Handy mit dem Foto von Herrn Butenschöns Zettel. »Vielleicht ist sie schon wieder zu Hause. Ich weiß es nicht.«
»Fünf Jahre alt.« Cornelius’ Blick flackerte zu ihm zurück. Ja, der Schatz dachte genau das Gleiche wie Kevin.
»Ich möchte mich an der Suche beteiligen«, sagte Kevin.
»Ich auch. Jedes Wasserloch, jeder Graben – ich werde hineinsehen und gründlich sein.«
»Kinder fallen ja nicht im Sekundentakt in Wasser«, versuchte Kevin, ihrer beider Fantasie zu zügeln.
»Nein. Und wie du sagst: Vielleicht ist sie schon wieder zu Hause oder auf dem Weg dorthin. Wo willst du anfangen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht erst einmal nach Rothenbüll und gucken, ob wir da jemand finden, der irgendwie organisiert? Es bringt ja nichts, wenn wir abgrasen, wo andere schon gründlich nachgesehen haben. Oder wir fahren zum Parkplatz hinter der Wassermühle und nehmen uns den Rothenbüller Forst vor.«
»Klingt beides gut. Bin gleich bei dir.« Cornelius schloss das Fenster.
Wie weit konnte ein Kind wandern? Rebecca war fast im schulfähigen Alter, die Antwort lautete also: weit. Es war verblüffend, wie viel Energie Kinder in der Altersklasse besaßen. Und im Rothenbüller Forst, der das kleine Dorf mit dem Mühlenweg von Klaxdonnersbüll verband, gab es einen Seerosentümpel. Oh, und dann natürlich den Mühlteich der Wassermühle plus die ganzen zu diesem führenden Wasserläufe. Kevin entschied sich, dass sie sich den Forst vornehmen sollten, statt Zeit mit der Fahrt nach Rothenbüll zu vergeuden. Rebecca war schon zu lange abgängig.
»Elsa, wir geben alles«, versprach Kevin leise und wartete auf Cornelius. Dann entsann er sich der Seife, die er bei all dem Trubel natürlich sauber vergessen hatte. Mist!
Darum kümmerte er sich dann eben morgen. Eingekauft hatte er auch nicht. Schließlich sah er nach, wer ihm eine Nachricht geschickt hatte. Gruppenchat, Nachricht von Nico, der ebenfalls Herrn Butenschöns Handzettel fotografiert und schon eingestellt hatte. Kevin nickte grimmig. Die anderen wussten Bescheid.
Es fühlte sich ausreichend schurkenhaft an, dass es Tizian noch mehr Spaß machte als ohnehin schon.
Er hatte einen Rasenmähertrecker gekidnappt. Aus der großen Gerätekammer der Gutsgärtnerei entwendet und mit fröhlich klopfendem Herzen über das Gelände gesaust, ohne erwischt zu werden! Herrlich!
Nun, irgendwie auch albern, immerhin gehörte das Gut Tizian, und somit war auch das bullige dunkelgrüne Gefährt mit den vielen Hebeln, dem PS-starken Motor und dem niedlichen Lenkrad sein Eigentum.
Aber das war ein Detail, das seiner Chefgärtnerin Henriette Beer offenbar bislang entgangen war. Wahrscheinlich war sie einfach nur der Überzeugung, dass ein Gutsherr eben ein notwendiges Übel war und sich auf jeden Fall aus ihrer Domäne herauszuhalten hatte. Oder sie hielt Tizian für eine Kostbarkeit, weswegen er bösen Rasenmähertreckern nicht zu nahe kommen durfte.
Er grinste und schob den Gashebel noch ein bisschen höher. Die Pferdestärken unter ihm freuten sich darüber.
Grundgütiger, Frau Beer wäre wahrscheinlich einfach aus den Latschen gekippt, hätte sie Tizians Urgroßvater Ansgar gesehen, der laut einhelligen Beschreibungen alteingesessener Leute, die allesamt viel älter als Frau Beer waren, eigenhändig Stallungen ausgemistet, ausgewachsene Trecker gefahren und Heu und Stroh auf Dachböden gestapelt hatte. Tizian lachte vergnügt und kachelte auf seinem brüllenden Gefährt an ein paar Hecken vorbei, bis er vor sich die alte Meierei sehen konnte.
Gestern hatte er Mama das Video von Jason Momoa im Sketch mit männlichen Haushaltsgeräten gezeigt. Die Spülmaschine mit der Siebzig-Pfund-Tür, einem Verschlussrad und Benzinantrieb. Zum Anreißen wie alte Rasenmäher! Die Krönung aber, wegen der Mama Schluckauf vor Lachen bekommen hatte, stellte ein Aufsitzstaubsauger dar.
So ein Monster besaß Tizian zwar leider nicht, aber wegen dieses Videos war heute einfach der perfekte Tag gewesen, das grüne Monster zu kidnappen, auf dem er gerade gen Mamas Haus fuhr.
Auf dem Gut war es im Moment ungewohnt friedlich, hatte er befunden, nachdem er Oliver hinterhergewinkt hatte, der zu seinem Job im Bistro in Prillsande aufgebrochen war. Genau genommen war dieser Job ebenso unnötig wie Tizians als Mediendesigner, an dem er immer noch festhielt. Das Gut warf wirklich genug Geld ab, aber Tizian wäre sich erbärmlich vorgekommen, nur noch auf der faulen Haut zu liegen. Zumal er üblicherweise von Henriette Beer und ihrem Team sogar am Laubrechen oder Schneeschippen gehindert wurde. Und Oliver arbeitete im Bistro, weil es für ihn Unabhängigkeit bedeutete, eigenes Geld zu verdienen. Alles, was gut für Olivers wachsende Selbstbewusstsein war, wurde von Tizian vollumfänglich unterstützt!
Schade, dass der Rasenmäherdiebstahl nicht gemeinsam mit Oliver hatte erfolgen können. Aber das Ding wies auch nur einen Sitzplatz auf. Als Zweisitzer wäre es auch zu offensichtlich, dass das Vehikel das perfekte Männerspielzeug war, fand Tizian. Okay. Er war dicht genug an der Meierei. Jetzt musste er herausfinden, wie er das Mähwerk senkte und aktivierte!
Oh! Mama hatte den Radau schon gehört und sah aus dem Fenster. Gleich würde sie ihn erkennen. Da! Sie winkte schon vergnügt!
Tizian zerrte an einem Hebel und sah zufrieden zu, wie das Mähwerk sich damit auf Arbeitsniveau begab. Und da war noch ein Hebel … Jetzt wurde sein Mähmonster richtig laut, als Tizian offenkundig die richtige Einstellung vorgenommen hatte. Er legte wieder den Vorwärtsantrieb ein und sauste über das Rasenstück vor der alten Meierei. Herrlich! Sein kleiner Trecker spuckte abgemähtes Gras meterweit zur rechten Seite aus, und Tizian kurvte stolz über den Rasen.
Das machte Spaß! Kein Wunder, dass Frau Beer das Mähmonster eifersüchtig hütete! Obendrein war das hier kein niedlicher Rasentrecker, wie Horatio und Thor ihn besaßen. Tizians Monster hatte erheblich mehr Mähbreite und bestimmt mehr Pferdestärken. Auf so riesigen Arealen, wie Gut Rothenbüll sie aufwies, würde Horatio mit seinem Dschingis Khan genannten Mäher auch einige Tage beschäftigt sein, bis er alles kurz hätte. Und dann durfte er gleich wieder von vorne anfangen.
Mama kam mit zwei Kaffeebechern aus dem Haus und setzte sich davor auf die blau gestrichene Bank.
Mit elegantem Schisslaweng fuhr Tizian zu ihr und hielt sein röhrendes Gefährt an. Er schaltete das Mähwerk aus und drosselte den Motor deutlich, ehe er den Leerlauf einlegte.
»Du wirst Ärger mit Frau Beer bekommen«, sagte Mama und lachte, ehe sie aufstand und ihm einen der beiden Becher reichte. Dann leuchteten ihre Augen auf. »Darf ich auch?«
»Erst Kaffee! Das erste Mal, dass ich Kaffee an den Rasenmähertrecker getragen bekomme.« Er schaltete den Motor aus, kletterte von seinem Gefährt und setzte sich mit Mama auf die Bank. Die Sonne hatte das Holz bereits erwärmt, sehr gemütlich.
Tizian streckte die Beine aus und legte einen Arm um Mamas Schultern.
Schweigend tranken sie ihren Kaffee und beobachteten Schwalben auf Mückenjagd. Die kleinen Kunstflieger kurvten eifrig über dem Gut herum und waren wirklich eine Augenweide.
»Oh, hatte ich schon erzählt, dass ich nächste Woche zusammen mit Gesa Andresen – Kevins Mama, weißt du? – nach Kiel zum Einkaufen will?«, brach Mama das Schweigen.
»Nein, hattest du nicht gesagt. Willst du das große Auto?« Damit war sein champagnerfarbenes Monster gemeint, das seine Uroma Helene für ihn gekauft hatte, ehe sie starb. Ohne Tizian zu kennen! Und das Auto war gigantisch, hatte Allrad und den ersten Härtetest im vergangenen Winter mit Bravour gemeistert. Eine der vielen, vielen Liebenswürdigkeiten, mit denen Helene den ihr unbekannten Urenkel bedacht hatte. Denn Tizians biologische Mama hatte ihn zur Adoption gegeben, da ihr ätzender Vater sie wegen der Schwangerschaft verstoßen und sogar Katharinas Briefe an Helene abgefangen hatte. Mittelalterlicher Mistkerl!
Da war Helene ja gar nichts anderes übrig geblieben, als im Herrenhaus zu spuken, damit sie Tizian kennenlernen konnte. Er grinste bei dem Gedanken.
Mamas Stimme rupfte ihn aus diesen Erinnerungen. »Oh, bloß nicht! Wir nehmen Gesas Auto. Ich bringe dir auch Kaffee mit, weil wir nämlich ganz gemütlich die Holstenstraße in voller Länge abbummeln und so gut wie jedes Geschäft heimsuchen wollen.«
»Der Kaffeeröster? Mama, sei ein Schatz, bitte, und bringe für Jarl Schoko-Chili mit, ja? Er liebt das Zeugs, und ich liebe es, meine Freunde zu überraschen.«
»Das mach ich gerne!« Sie trank ihren Becher leer und stellte ihn auf die Bank, dann sah sie tatendurstig zum wartenden Minitrecker. »Fahrschule, jetzt! Ich will eine Runde drehen, ehe wir erwischt werden und fürchterliche Schimpfe kriegen.«
»Ich werde alle Schuld auf mich nehmen, Mama, keine Sorge!«, versprach Tizian ernsthaft und reichte ihr galant die Hand, um ihr auf den Sitz zu helfen. Dann erklärte er ihr die Hebel, deren Funktion er selbst durch Versuch und Irrtum erforscht hatte.
»Ich will nur ein bisschen fahren«, verkündete Mama.
Als der Rasenmäher sich munter in Bewegung setzte und Tizian an Mamas Seite blieb, erfasste er, wie sie und Papa sich gefühlt haben mussten, als sie ihm Radfahren beigebracht hatten. Sie mussten Blut und Wasser geschwitzt haben! Er erinnerte sich, wie Papa neben ihm her gerannt war, ihn immer wieder erinnert hatte, wo die Bremse war, ihm versichert hatte, dass er Tizian notfalls auffangen würde. Und wie Papas Augen trotz aller Sorge um sein Küken geleuchtet hatten.
Nun, Mamas Augen strahlten gerade ganz eindeutig. Sie quietschte sogar fröhlich, als sie den Hebel entdeckte, der im Augenblick zwischen den Bildern von Schildkröte und Hase mittig eingestellt war. Typisch Mama griff sie beherzt zu und schob den Hebel komplett gen Hase.
Tizian schnaufte und musste joggen, um mit seiner rasenden Mama Schritt halten zu können.
»Da kommt Frau Beer!«, rief Mama über Motorendröhnen und Fahrtwind und zog den Hebel ganz schnell auf Schildkröte, um klein, niedlich und betont harmlos weiterzutuckern.
Tizian geriet beinahe ins Stolpern, weil er darüber so sehr lachen musste. Das verging ihm rasch, als er die Miene seiner Chefgärtnerin sah. Frau Beer wirkte natürlich nicht ärgerlich, aber sehr besorgt, als würde Mama auf einem defekten Trecker sitzen, der eine tickende Zeitbombe war. Oder als bestünde die reale Gefahr, dass Mama gleich die Rosenbeete einebnen würden. Was ihr wohl schlimmer erschien?
»Da stecken Sie! Herr Falckenstein, in Rothenbüll ist ein kleines Kind nachts aus dem Haus verschwunden.« Sie nickte Mama zu. »Frau Falckenstein, tut mir leid. Guten Morgen.«
Mama schaltete den Motor ab. »Entführt?«, fragte sie mit bangem Entsetzen in der Stimme.
»Weiß man nicht. Der Tenor ist wohl, dass die Kleine alleine das Haus verlassen hat. Ich wollte mit dem Gartenteam das Gutsgelände abgrasen.«
»Ja, natürlich«, antwortete Tizian verdutzt, bis ihm klar wurde, dass es zwar für die Öffentlichkeit freigegebene Reit- und Wanderwege und einen Reitstall auf seinem Grund und Boden gab, vieles aber eben doch als Privatbesitz mit Begehungsverbot beschildert war. Nicht, dass in seinen Augen auch nur ein einziges dieser Schilder Gültigkeit besaß, wenn es darum ging, ein verloren gegangenes Kind zu suchen. Also setzte er hinzu: »Auch andere Suchteams haben selbstverständlich Zutritt. Wie alt ist das Kind?«
»Rebecca ist fünf. Ich habe eine Beschreibung, die einen Schlafanzug mit rosa Einhörnern erwähnt. Die Mama weiß nicht sicher, ob die Kleine Schuhe angezogen hat. Auf jeden Fall keine Jacke. Glücklicherweise ist es warm und trocken.«
»Aber nachts kann ein so kleines Kind rasch auskühlen«, warf Mama besorgt ein. »Frau Beer, ich lasse dieses Gerät jetzt einfach stehen und schließe mich dem Gartenteam an.«
Tizian zog sein Handy aus der Hosentasche. »Haben wir eine Kontaktnummer? Oder einfach den Notruf wählen, falls wir eine Spur finden?«
»Notruf geht auf jeden Fall. Ich schicke Ihnen eine Nachricht aufs Handy, falls ich etwas anderes höre«, versprach Frau Beer.
Also steckte er das Handy wieder ein und schwang sich auf den Rasenmähertrecker. Unter Vollgas war dieser schneller als Tizian zu Fuß. »Ich sage beim Reitstall Bescheid. Mama, nimm dein Handy mit.«
»Mach ich!« Sie nickte Frau Beer zu und rannte zurück zum Haus, wo sie auch die beiden Becher von der Bank einsammelte.
»Fahren Sie mir nur keine Schilder oder Hecken um«, bat Frau Beer mit einem frechen Grinsen.
»Ich gebe mir Mühe«, versprach Tizian. »Auch Rosen werden verschont werden, ich schwöre es!