Ein Kuhkaff & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Kuhkaff & ein Geist E-Book

Tanja Rast

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In diesen drei kürzeren Erzählungen begleiten wir den Club der Geisterfreunde von Klaxdonnersbüll und Umgebung abseits der großen Romane:

Helene, ein Geist
Spuken mal aus einer anderen Sicht!

Eine Hochzeit & kein Geist
Jarl und Raphael heiraten!

Grillparty ohne Geist
Wie eine Plaudertasche die Wassermühle rettet!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltswarnungen

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

Inhaltsverzeichnis
Helene, ein Geist
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Eine Hochzeit & kein Geist
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Grillparty ohne Geist
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Die Autorin
Der Club der Geisterfreunde von Klaxdonnersbüll und Umgebung
Eine kleine Bitte
Impressum

Helene, ein Geist

Eins

Helene starrte auf die stille, in zwei Wolldecken eingemummelte Gestalt auf der Sonnenliege. Nun, genau genommen starrte sie auf sich selbst und begriff, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Sie war nicht religiös, aber das war nicht wirklich das, was sie erwartet hatte. Sie stand hier in ihrem bequemen grünen Hausanzug aus Nickystoff und – sie sah nach unten – auf von Hand gestrickten Socken. Ihre Schuhe standen neben der Sonnenliege. Und auf dieser lag … nun, da gab es nichts schönzureden. Auf der Sonnenliege lag ihr Leichnam.

»Ach, du liebe Zeit«, murmelte Helene. Und jetzt? Musste sie hier warten, bis Gevatter Tod – sie stellte ihn sich vor wie bei Terry Pratchett, nicht wirklich fürchterlich und wie sie selbst mochte er Katzen, das war doch schon mal sympathisch – erschien, um sie abzuholen? Und welcher arme Tropf würde sie finden und sich gar fürchterlich erschrecken? Das war ihr nun wirklich unangenehm.

Sie blickte über die weite Rasenfläche, ob vielleicht jemand vom Gartenteam dort unterwegs wäre. Henriette Beer zum Beispiel. Aber alles lag friedlich da, kein Rasenmäher war zu vernehmen.

Sie wartete. Zwischendurch versuchte sie, ob sie ihre Schuhe anziehen könnte. Ihr war zwar nicht kalt, aber sie fand es nicht angemessen, sockfuß wem auch immer gegenüberzutreten. Die Schuhe widerstanden diesem Versuch allerdings und blieben, wo sie waren.

Nach einer halben Stunde wurde es ihr zu bunt. War es üblich, dass Gevatter Tod sie so lange warten ließ? War sie hier angenagelt und an ihren Leichnam gebunden? Die Terrassentür war lediglich ein paar Schritte entfernt und auch nur angelehnt.

Entschlossen stapfte Helene dorthin und spürte keinerlei Widerstand, kein unsichtbares Band zu ihrem toten Körper. Das war ja schon einmal prima.

Leider glitt ihre Hand durch den Türgriff. Oh, und auch gleich durch den Türrahmen. Sie biss die Zähne zusammen und trat vorwärts und glatt durch das Glas hindurch in das Gartenzimmer. Da musste sie sich erst einmal setzen, um diesen Schrecken zu verdauen. Leider saß sie auf Luft, denn sie wäre beinahe durch den weißen Rattansessel gesunken.

»Das ist doch wirklich ganz besonders lästig«, teilte sie Gummibäumchen und Orchideen mit. Immerhin schien der Boden gewillt, sie zu tragen.

Sie saß eine Weile ganz still und überlegte fieberhaft. Denn da drängte sich eine Idee, ein Gedanke auf. Das war wahrscheinlich Dummtüch, aber Helene hatte das Gefühl, Zeit zu haben, um auch Unfug gründlich zu überdenken.

Vor sieben Jahren war ihr Sohn Theodor gestorben, und sie hatte ihrem Anwalt den Auftrag gegeben, Theodors Enkel ausfindig zu machen. Tizian, Katharinas Sohn, den diese gleich nach der Geburt zur Adoption gegeben hatte, da sie an Krebs erkrankt war und ihr Baby weder dessen noch ihrem eigenen Vater anvertrauen wollte.

Sie hätte mir Tizian anvertrauen können. Es tat weh – immer noch –, dass Katharina ihr nicht vertraut hatte.

Herr de Vries hatte Tizian gefunden. Und Helene hatte ihr Testament aufgesetzt und diesen ihr unbekannten Urenkel zu ihrem Alleinerben gemacht. Und jetzt … war sie tot. Sobald jemand ihren Leichnam entdeckte, würde auch Herr de Vries benachrichtigt werden. Und dann … dann kam Tizian hierher. Katharinas Sohn.

Ob er seiner Mama ähnlich sah? Ob er so lachte wie sie? Die gleichen bernsteinfarbenen Augen, den gleichen Humor besaß?

»Da Gevatter Tod nicht in die Puschen kommt … ob ich wohl ein Geist bin? Weil ich seit seiner Geburt immer wieder an Tizian denke? Weil ich ihm mein geliebtes Rothenbüll vermacht habe? Oh, ich würde ihn so gerne kennenlernen!«

Aus den Augenwinkeln sah sie Bewegung auf der überdachten Terrasse und sprang auf. Falls das jetzt nicht Gevatter Tod war, der streng eine Sanduhr anstarrte und sich fragte, wo Helene sich herumtrieb, würde jetzt jemand einen unangenehmen Schrecken erleben, und das tat ihr leid. Ja, sie war deutlich über neunzig Jahre alt geworden, und bestimmt hatten etliche Leute schon früher mit ihrem Ableben gerechnet. Trotzdem bedauerte sie jetzt schon die Person, während sie wieder durch die Terrassentür hastete.

Sie zwinkerte verdutzt, als sie ihren Verwalter am Fuß der Sonnenliege stehen sah. Ungewöhnlich, dass er nicht zur Vordertür des Hauses gekommen war. Auf jeden Fall stand er da und sah sehr blass um die Nase aus. Oh, das war ja ganz fürchterlich! Wie ungefällig von ihr!

»Frau Seedorf?« Er räusperte sich und fragte fester noch einmal: »Frau Seedorf?« Dann beugte er sich über die stille Gestalt und zog die Wolldecke ein wenig zur Seite, um an der Halsseite des Leichnams nach einem Puls zu suchen.

»Es tut mir so leid, Herr Hinrichs. Können Sie mich hören?« Sie winkte versuchsweise. »Nein? Verflixt, das ist sehr ungünstig.«

Er wich von der Sonnenliege zurück und zerrte sein Handy aus der Jackentasche. Bestimmt rief er jetzt Doktor Falk oder den Notruf.

Helene nahm auf der zweiten Sonnenliege Platz – das klappte schon besser als eben auf dem Rattansessel, sie schien sich an ihren Zustand zu gewöhnen – und wollte missmutig zuhören und dann gemeinsam mit Herrn Hinrichs auf das Eintreffen eines Arztes warten. Doch da durchrieselte sie plötzlich kühl und kristallklar Wissen, das brandneu für sie war. Sie wusste nicht, woher es kam, aber sie riss den Kopf hoch und starrte ihren Verwalter an. Der Haderlump hatte sie betrogen! Schon zu Theodors Lebzeiten hatte er die Bücher gefälscht und etwas Geld hier und ein Sümmchen da für sich abgezweigt!

Zu gerne hätte sie etwas Gehaltvolleres von sich gegeben als ein fassungsloses Ach, du meine Güte! Aber ihr fiel nichts ein. Außer einem Spruch ihres Mannes Ansgar: Grundgütiger! Nein, gütig passte ganz und gar nicht! Sie war zornig, enttäuscht und gönnte es Hinrichs gerade von Herzen, dass er sie gefunden hatte. Also, ihre Leiche. Blass war der Gauner geworden, und das freute sie. Hoffentlich hatte er die nächsten Nächte Albträume und fühlte sich heimgesucht vom Geist der Seedorfs und einem schlechten Gewissen!

Theodor hatte es geahnt, erfasste sie. Hatte gesucht, vielleicht etwas gefunden und war gestorben, ehe er Schritte gegen Hinrichs einleiten konnte.

Sie musste aufstehen, weil Zorn und Enttäuschung so sehr in ihr brodelten, musste sich durch Bewegung Luft verschaffen. Obwohl sie gar nicht mehr atmete. Jetzt, da sie das klar gedacht hatte, fühlte es sich vollkommen merkwürdig an, und sie lauschte auf … nun, nicht auf ihren Körper, dessen Gesicht der Haderlump gerade mit der Wolldecke bedeckte. Hatte wohl Angst, sie würde gleich böse ein Auge aufmachen und ihm seine Diebstähle vorwerfen!

»Ganove!«, schimpfte sie ungehört.

So ein Ärger, dass sie eine angeblich liebe alte Frau war, wohlerzogen und alles. Zu gerne hätte sie diesem Betrüger einen Tritt vor das Schienbein verpasst. Allerdings würde sie wohl durch ihn hindurchtreten. Hm. Ob er das spüren würde? Kälte im Bein? Sie fühlte sich gerade wie ein Igel, der seine Stachelhaube aufstellte und nötigenfalls sogar mit einem leisen Knurrgrunzen nach vorne stoßen würde, um einem allzu neugierigen Hund die Stacheln in die empfindliche Nase zu piksen.

Nein, sie blieb jetzt nicht hier und wartete auf den Arzt und auf andere Leute, die das kleine Drama auf der Terrasse vielleicht bemerkten und besorgt nachsehen kamen.

Schnurstracks spazierte sie wieder durch die Tür in ihr Haus und wanderte im Gartenzimmer einige Male hin und her, bis sie bemerkte, dass sie mindestens einmal durch den Tisch gegangen war. Das war lästig und führte ihr neuerlich vor Augen, dass sie tot war. Und vielleicht ein Geist.

Von wegen, sie wollte zu gerne Tizian kennenlernen, so schien es. Hinrichs hatte das Gut seit Jahren bestohlen, und ganz offensichtlich war es an Helene, das aufzuklären, den Kerl anzuprangern … Aber er hatte sie weder gesehen noch gehört, und da er das nicht getan hatte, war ja leider davon auszugehen, dass es ihr mit anderen Menschen ebenso ergehen würde.

Wer hatte sich dieses Konzept ausgedacht, bitte sehr? Was nützte ein Geisterdasein, wenn niemand sie hören oder sehen konnte? Sie verharrte. Geisterstunde? Machte das vielleicht den Unterschied? Aber wer verirrte sich zur Nachtzeit in das Haus einer frisch Verstorbenen? Hatte sie Ketten im Haus? Abgesehen von ihrem Schmuck? Sie meinte richtige Ketten, mit denen sie rasseln könnte. Nein, das war albern. Und ganz gewiss würde sie das nicht tun! Immerhin besaß sie Prinzipien.

Theodor hatte etwas geahnt. Seine Sachen hatte sie samt und sonders auf dem Dachboden einlagern lassen. Vielleicht fand sich dort eine Spur.

Helene schob diesen Gedanken erst einmal beiseite. Denn wenn sie schon ein Gespenst sein musste, wollte sie einfach kein Rachegeist sein. Tizian. Katharinas Sohn erbte Rothenbüll und würde hierherkommen. Vielleicht – weil er ja nun einmal mit ihr verwandt war – konnte er sie wahrnehmen. Möglicherweise bestand der Zweck ihres Spukschicksals darin, dass sie ihn warnte und ihm half. Sie lächelte. Und ihn kennenlernte! Das war doch ein viel schönerer Grund, um hier ohne Kettengerassel herumzugeistern.

Zwei

Das Dasein als Geist war ein entsetzlich langweiliges, befand Helene am dritten Tag. Die Novität, durch Wände gehen zu können, hatte sich binnen einer halben Stunde abgenutzt. Außerdem war es ihr irgendwie peinlich, also nahm sie die gewohnten Wege, so die Türen offenstanden.

Sie konnte ja nicht einmal das angefangene Buch lesen, das auf dem kleinen Tischchen neben ihrem gemütlichen Sessel lag! Das war wirklich nicht in Ordnung.

Also stand sie am Fenster und sah auf ihr geliebtes Rothenbüll, auf die Fliederbüsche, deren Knospen immer dicker wurden, auf den Rhododendron bei der Remise, der so viele, wunderschöne Blüten präsentierte, die zartrosa im dunklen Laub leuchteten.

Sie grübelte, ob sie das Gut ausreichend für den Erben vorbereitet hatte. Seit Theodors Tod hatte sie das Unterste zuoberst gekehrt, die Windbäume installieren lassen, alles renoviert und aufgeräumt. Ob Tizian Rothenbüll so lieben würde wie sie? Oder würde er das Anwesen einfach verkaufen, ohne es jemals besichtigt zu haben? Diese Furcht nagte von Tag zu Tag mehr an ihr. Und auch, ob aus dem Baby, das sie nie gesehen hatte, ein so wundervoller Mann geworden war, wie sie es sich immer vorgestellt hatte.

Eine willkommene Abwechslung von Langeweile und Trübsal stellte sich in Gestalt dreier junger Frauen ein, die in Hinrichs’ Begleitung das Herrenhaus betraten. Eine von ihnen erkannte Helene sofort: Dies war die Chefin einer kleinen Reinigungsfirma aus dem Dorf Rothenbüll. Das gleiche Team kümmerte sich um die Ferienwohnungen in der alten Wassermühle in Klaxdonnersbüll, die Natascha und Dorothea gehörte. Auch in der Kirche sorgte diese Firma für Sauberkeit.

Auf Hinrichs’ Gegenwart hätte Helene aber gut und gerne verzichten können. Sie bezog Position hinter einer Tür in bester Gruselmonstermanier mit zu Klauen gekrümmten, erhobenen Händen und einer fürchterlichen, zähnefletschenden Grimasse. Und er ging einfach an ihr vorbei, ohne sie zu sehen, dieser Schuft! Auch die Frauen reagierten nicht auf Ansprache oder Winken, es war frustrierend! Was sollte sie machen, falls der Haderlump etwas mitgehen ließ? Frustriert und ungehört schreien?

Sie folgte ihm und behielt ihn im Auge, während er durch ihr Wohnzimmer ging und sich umsah.

Helene ballte die Fäuste vor Wut. Sie hatte diesem Mann vertraut. Theodor hatte ihn engagiert und ihm die Verwaltung von Rothenbüll in angeblich zuverlässige Hände gelegt.

Als er bei ihrem Flügel stehen blieb, trat sie dichter zu ihm und pustete ihm in den Nacken.

Er zuckte zusammen, wischte sich mit einer Hand über die Haut. Ha! Das hatte er also gemerkt! Ganz so machtlos war sie doch nicht!

Sie rückte näher und blies ihm ins Ohr. Dabei sah sie in Höhe seines Kiefergelenks ein paar vergessene Barthaare.

Jetzt fuhr er richtig herum, hielt sich die Hand auf das angepustete Ohr und blickte wild um sich.

»Du Gauner hast uns bestohlen. Du hast Rothenbüll beraubt. Und damit Tizian! Glaub ja nicht, dass ich dir das durchgehen lasse«, zischte sie und pustete ihm direkt ins Gesicht.

Er prallte rückwärts gegen den Flügel. Sie roch, dass ihm Schweiß aus den Poren brach, sah sogar zwei, drei Tröpfchen auf seiner Stirn. Er wischte sich mit der Hand durch das Gesicht, als wollte er Spinnweben loswerden, wie man sie sich sie im Spätsommer einfing, wenn man durch den Wald oder den Rosengarten ging.

»Ich schwöre, ich mache dir dein Dasein zur Hölle«, sagte sie. »Und ich werde es irgendwie schaffen, Tizian die Beweise für deine Unredlichkeit zu zeigen. Und wenn ich ihn durch das ganze Haus pusten muss!«

Hinrichs stützte sich auf dem Flügel ab und wich zwei Schritte zurück. Ha! Er spürte ihren Geisteratem! Oder es hatte einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht, als sie ihn anpustete. Zufrieden und erbost zugleich sah sie, dass er einen feuchten Handabdruck hinterließ.

»Und fasse nie wieder meinen Flügel an, sonst puste ich dir ins Gesicht, bis du knallrote Augen hast!«

Nach einem letzten Blick ringsum verließ Hinrichs nahezu fluchtartig das Wohnzimmer.

Helene straffte sich, klopfte sich imaginären Staub von den Händen. »Gar nicht schlecht für eine Uroma auf Socken, was?«

Sie trödelte noch ein wenig durch das Haus, während das Reinigungsteam Raum für Raum bearbeitete, Schmutzwäsche wusch, das Bett oben frisch bezog, den Kühlschrank ausräumte und das Haus für Tizian auf Vordermann brachte.

Nachdem der Trubel im Obergeschoss verebbt war, zog Helene sich in ihr Zimmer zurück. Es duftete frisch, die bestickte Tagesdecke, die sie so liebte, war auf dem Bett ausgebreitet. Und doch wirkte der große Raum nicht steril oder unpersönlich, denn da lagen ihre Taschenbücher auf dem Tischchen neben dem Lesesessel, die Schreibplatte des Sekretärs war unverändert aufgeklappt.

Würde Tizian dieses Zimmer mögen? Oder wies es zu sehr die Handschrift seiner Urgroßmutter auf?

Alleine schon das Puppenhaus … Das war ihr Steckenpferd gewesen. Nicht zum Spielen, nur zum Ansehen. Ansgar hatte es für sie anfertigen lassen, und sie hatte Jahre … nein, Jahrzehnte damit verbracht, es auszustatten. Immer auf der Suche nach Kleinodien, mit denen sie ihr Heim, ihr Rothenbüll nachstellen konnte.

Mit einem wehmütigen Lächeln trat sie zu dem Modellhaus, das auf einem stabilen, maßgefertigten Tisch stand, damit sie bequem hatte hineinsehen können.

Helene stutzte.

Das Puppenhaus sah … anders aus. So viel lebensechter. Helene starrte die winzigen Möbel an, den Teppich im Salon, der wirklich genau so aussah wie im Original. Das konnte doch gar nicht sein! Und da auf dem Sideboard stand die Vase, die sie vor zwei Monaten gekauft hatte. Sie hatte bislang keine Miniaturausgabe dafür gefunden, aber nun war sie da!

Sie hastete um das Modell herum und sah in ihr eigenes Zimmer, in dem sie sich die letzten Jahre hauptsächlich aufgehalten hatte. Da war ihr Bett. Sie zwinkerte, sah zu dem großen Möbel und verglich dieses mit der Miniaturausgabe. Sogar die Tagesdecke war identisch! Sie blickte zurück ins Puppenhaus und schnappte – eher gewohnheitsmäßig, sie wusste es – nach Luft, als sie sich selbst sah! Im Lesesessel, gekleidet in ihre weiße Lieblingsbluse und eine schlichte schwarze Hose, ein Buch vor der Nase. Und auf ihrem Schoß … Sie hatte das Gefühl, Tränen fortzwinkern zu müssen. Er war es. Dauphin. Ihr über alles geliebter kleiner Heiliger Birmakater, den sie mit in die Ehe nach Rothenbüll gebracht hatte. Damals war Dauphin schon alt gewesen, und er war drei Jahre später gestorben, noch vor Theodors Geburt. Ansgar hatte ein Grab für ihn ausgehoben im Rosengarten, und dort ruhte Dauphin seit so vielen Jahrzehnten. Sogar einen Stein hatte er erhalten, auf dem ein schnörkeliges, großes D prangte. Doch hier, im Puppenhaus, lag er zusammengerollt auf ihrem Schoß. Creme und Sealpoint, das Näschen in den puscheligen Schwanz gekuschelt.

»Oh, mein Dauphin«, flüsterte Helene und hörte die Tränen in ihrer Stimme.

Sie richtete sich resolut auf, sah zum Sessel, zu den beiden Taschenbüchern daneben. Das eine stammte natürlich aus der Feder von Georgette Heyer, immer ihre Zuflucht, weil sie so sehr über die Dialoge lachen, sich in den Geschichten verlieren konnte. Aber das Buch daneben, das sie bereits durchgelesen und noch nicht ins Regal gestellt hatte, weil sie es vielleicht ein zweites Mal verschlingen wollte, hatte ihre Freundin Anita ihr geschenkt. Diesen Roman hatte Anitas Enkel Horatio geschrieben: Ein Krimi, der auf Amrum spielte und nebenbei die zauberhafte Romanze zwischen zwei Männern beschrieb. Die Geschichte hatte Helene besser gefallen als seine britischen Krimis, und sie hatte gehofft, dass der junge Mann öfter Geschichten in Schleswig-Holstein spielen lassen würde. Und mehr Romanze wäre ihr auch recht. Auch wenn das leider keine Rolle mehr für sie spielen würde.

Sie machte einen Schritt vorwärts, knetete nervös die Hände. Dann sah sie wieder zum Puppenhaus, wo der winzige Kater immer noch zusammengerollt auf dem Schoß der kleinen Helene-Figur lag.

»Dauphin?«, fragte sie in den großen Raum hinein. Das war natürlich albern, aber … Dann gab sie sich einen Ruck und eilte zu ihrem Sessel, nahm darin Platz und griff nach dem Taschenbuch von Anitas Enkel. Doch ihre Finger glitten nicht hindurch! Sie konnte das Buch vom Tischchen heben, fühlte den Kartoneinband, die schon einmal gelesenen Seiten. Ein Lesezeichen stak ganz vorne im Buch, bereit, sie ein zweites Mal durch die Geschichte zu begleiten.

Mama!

»Dauphin!« So miaute nur er. Er maunzte wirklich Mama, die beiden Silben so klar und deutlich.

Sie warf das Buch regelrecht zurück auf den Tisch, wollte sich gerade aus dem Sessel wuchten, denn das Stimmchen war hinter ihr erklungen.

Doch mit elegantem Satz sprang Dauphin von der Seite auf ihren Schoß, strahlte sie aus seinen leuchtend blauen Babyaugen an, schnurrte, rieb sich an ihr, trampelte auf ihr herum und plapperte immer wieder sein süßes Mama!

Sie drückte ihn an sich, fühlte das weiche Fell an ihrer Wange, die Wärme des kleinen, zarten Körpers unter all seinem Flausch, das Schnurren, das diesen Leib vibrieren ließ.

»Dauphin, mein süßer, kleiner Prinz. Oh, ich habe dich so vermisst.«

Er sah jung aus! Lebhaft, quicklebendig und voll und ganz ihr kleiner Dauphin. Und doch, begriff Helene, war er ein Geist wie sie. Was vielleicht ganz gut war, denn natürlich hatte sie weder Futter noch ein Kistchen im Haus.

»Dann spuken wir jetzt mit vereinten Kräften, mein kleiner Prinz?«

Dauphin schnurrte sie mit halb geschlossenen Augen versonnen an. Abgemacht!

Drei

Mit Dauphin an ihrer Seite, auf ihrem Schoß, zu ihren Füßen und sogar auf ihrer Schulter, wenn sie las, schien die Wartezeit so viel einfacher zu überstehen.

Er galoppierte die langen Flure entlang, tanzte auf dem Deckel des Flügels, beschnupperte und betrachtete alles und entdeckte das große Haus mit staunendem Kinderblick neu.

Sie las ihm vor, gemeinsam beobachteten sie die heimkehrenden Schwalben und nachts die Fledermäuse. Sie vertrieben sich die Zeit, und Helene war sicher, dass Dauphin genau wusste, auf wen sie warteten.

Sie übte. Sie mochte es gar nicht, dass sie durch Türen gehen musste. Da sie inzwischen Bücher nicht nur hochheben, sondern auch in ihnen lesen konnte, waren die Türen als Nächstes dran. Sie musste sich sehr konzentrieren, um das erste Mal eine Klinke niederzudrücken, danach wurde es immer einfacher. Dauphin saß stets in der Nähe und schnurrte, als würde er das achte Weltwunder betrachten dürfen.

Die erste Woche ihres Geisterdaseins war geschafft, es konnte doch gar nicht mehr lange dauern, bis Tizian auf dem Gut erschien, fand Helene.

Dauphin nörgelte, maunzte immer wieder sein Mama und strebte zum Treppenhaus, wobei er sich dauernd zu Helene umsah und sie anzufeuern schien.

»Was hast du denn?« Sie sprang auf. »Tizian? Ist er da?« Sie lief ihrem Geisterkater hinterher, der zufrieden die Stufen hinabhopste, wobei sein flauschiger Schwanz bei jeder einzelnen leise Fluff zu machen schien.

Helene folgte ihm, und als er unten im Foyer geradewegs durch die Haustür nach draußen lief, tat sie es ihm nach.

Sie konnte ihr Haus verlassen, das wusste sie ja. Aber nun trat sie das erste Mal vorne aus dem Gebäude, auf die Auffahrt mit Blick über die Grünanlagen bis zum Torhaus. Es fühlte sich aufregend an, obwohl das früher für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen war. Früher, wie das schon klang! Sie war doch erst eine Woche tot!

Mama!

Zu seinen Lebzeiten hatte Dauphin selbstverständlich nicht nach draußen gedurft. Heutzutage gab es sichere Katzengeschirre und Netze, mit denen man auch jemand wie ihm Freigang ermöglichen könnte. Unter Aufsicht und mit Bodyguard, denn leider verließen doch immer wieder ortsfremde Spaziergänger mitsamt ihren Hunden die ausgeschilderten, der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Wanderwege rund um das Gut. Dauphin hatte sich auf dem großen Balkon sonnen dürfen, von wo aus er Schwalben und mehr hatte beobachten können.

Doch jetzt? Ihr kleiner Geisterfreund sauste über die Auffahrt, als hätte er das schon seit Jahren getan. Und vielleicht war genau das der Fall. Wie lange hatte der arme Dauphin schon ungesehen und ungehört herumgespukt?

»Dauphin!«, rief sie ihm nach und beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Der letzte Gedanke hatte geschmerzt, und sie musste ihn unbedingt auf den Arm nehmen, einmal gründlich knuddeln, ehe sie ihn wieder zu Boden setzen konnte.

Mama! Er strich ihr um die Beine, sträubte die Barthaare fröhlich nach vorne und schnürte dann weiter, wobei er sich wie vorhin im Haus immer wieder umsah, ob sie ihm auch brav hinterherlief.

Das tat sie – verblüffend flott für ihren Geschmack! Sie hatte fast das Gefühl, dass ihr so etwas wie Fahrtwind um die Nase wehte. Keine schmerzenden Füße, keine Arthrose, keine Kurzatmigkeit. Ein Dasein als Spuk hatte doch Vorteile.

»Wo willst du nur hin?«, fragte sie ihren Kater, der zielstrebig in schnurgerader Linie die Anlagen durchquerte, den Reitstall links liegen ließ.

Dann begriff sie. Vor ihr lag die alte Meierei, die noch zu Ansgars Lebzeiten zu einem Wohnhaus mit angrenzendem Büro umgebaut worden war. Das Verwalterhaus. Hinrichs’ Unterkunft auf dem Gut.

Oh, natürlich! Auf die Idee hätte sie ja auch selbst kommen können! Gut, bislang hatte sie ja auch nicht daran gedacht, das Haus zu verlassen. Kein Wunder, dass Dauphin sie stupsen musste, damit sie sich nützlich machte und etwas für die Umsetzung ihres Vorhabens tat, den diebischen Verwalter zur Strecke zu bringen. Außerdem hatte sie seit Dauphins Auftauchen dazugelernt. Sie war nicht länger nur darauf beschränkt, Hinrichs anzupusten!

Und falls er dabei war, ein … ein krummes Ding drehen zu wollen, konnte es Helene nur zum Vorteil gereichen, dass er sie weder sah noch hörte! Er sollte sich hüten vor der Rache der Uroma auf Strumpfsocken! Von deren Anwesenheit er natürlich nichts ahnte.

Dauphin wartete vor der Haustür zum Wohnbereich des Gebäudes auf sie.

»Halali«, verkündete Helene und trat durch die Tür. Dauphin hielt sich dicht an ihrer Seite. Sein flauschiger Schwanz zuckte vor Anspannung, während er den breiten Flur entlangschnürte.

Gleich darauf hörte Helene, warum Dauphin sie gerade an ein Raubtier erinnerte. Hinrich schien zu telefonieren. Oder er hatte Besuch, der ihm schweigend lauschte. Nein, ein Telefonat war wahrscheinlicher.

»… mir egal, was du machst. Aber ich bleibe nicht länger hier. Ich verschwinde, ehe jemand mir mehr als beiläufige Aufmerksamkeit schenkt!«

Hatte er sich so gedacht, der Lump! Aber dieser Gesprächsfetzen bewies Helene, dass das geisterhaft zu ihr gekommene Wissen um seinen Betrug nicht nur eine Ahnung war.

»Ja, er hat mir gesagt, dass er den Erben zu sich eingeladen hat. Nächste Woche Dienstag. Und wenn ich so ein riesiges Anwesen erben würde, wäre ich aber garantiert am gleichen Tag hier!«

Gewohnheitsmäßig wollte Helene näherschleichen und freute sich gerade, dass sie auf Socken unterwegs war, weil deswegen ihre Schritte leiser … So ein Dummtüch! Sie war ein Geist, Hinrichs hörte sie gar nicht, selbst falls sie hier herumstampfen und Seemannslieder singen wollte. Energischer schritt sie voran, passierte Badezimmer und Küche und die Tür zum Wohnzimmer, während sie die Ohren spitzte, wo Hinrichs genau steckte.

Sie betrat Seite an Seite mit Dauphin das Schlafzimmer, wo Hinrichs neben seinem Bett stand und telefonierte. Auf dem Bett lag ein erst zur Hälfte gepackter Trolley, die Schranktüren standen offen.

»Nein. Mir egal. Mach, was du willst. Aber ich bin raus. Ich packe jetzt noch, werfe meine Klamotten in mein Auto, und dann sehe ich zu, dass ich die Abrechnungsbücher verschwinden lasse. Ohne die wird dieser nervige Anwalt mir nicht auf die Schliche kommen. Mir reicht, was ich hier abgesahnt habe, und ich will einfach nicht auffallen. Ja, klar. Wünsche dir viel Erfolg und hoffe, dass der junge Mann ein Einfaltspinsel ist.« Er legte auf, stöhnte genervt und stopfte das Handy in seine Hosentasche, um sich dann wieder dem Kleiderschrank zuzuwenden.

Helene wurde von blubberndem Zorn gefüllt, wie dieser Gauner es hatte wagen können, Tizian als potenziellen Einfaltspinsel zu bezeichnen. Immerhin erfreulich, dass er Herrn de Vries, ihren Rechtsanwalt, zu fürchten schien.

Dann sah sie, dass Dauphin schon im Kleiderschrank saß! Wie war er da so rasch hingekommen, während sie noch gelauscht und das Gespräch zu verstehen versucht hatte?

Mama, maunzte er vergnügt und zwillte dann dem schurkischen Verwalter mit kühnem Pfotenhieb ein zusammengerolltes Sockenpaar ins Gesicht!

Hinrichs stieß einen Schrei aus und taumelte rückwärts. Da war Helene, die ihm nach Leibeskräften ins Ohr pustete, dass es sich hoffentlich nach Orkanstärken anfühlte.

Wie aus einem Maschinengewehr abgefeuert flogen Feinrippunterhosen durch das Zimmer wie die größten Schneeflocken der Welt.

Helene raffte alle Geisterkraft und Konzentration zusammen, um eine Kommodenlade aufzuziehen, aufs Geratewohl nach Dingen zu greifen, die sich darin befanden, und sie ebenfalls durch die Gegend zu pfeffern. Ein textiler Tornado, und mittendrin der schreiende Verwalter, herrlich!

Er wirbelte jetzt herum, auf der Schulter eine Unterhose, während Dauphin immer noch mit Stoff warf. Dabei verhakte er sich mit einer Kralle absichtlich oder versehentlich in einer Unterhose und schüttelte das Pfötchen, um sich davon zu befreien. Schade, dass Hinrichs das nicht mehr sah! Denn dieser stürmte aus dem Schlafzimmer, wobei Helene – dumme Angewohnheit, wirklich, sie war doch ein Geist – noch beiseite sprang, um nicht über den Haufen gerannt zu werden.

Sie folgte Hinrichs aber dichtauf, um seine Flucht zu beschleunigen und ihm jede Neigung, an die Abrechnungsbücher auch nur zu denken, gründlich zu nehmen.

Da! Im Badezimmer unter dem leer geräumten Spiegelschrank stand noch eine gläserne Deoflasche! Helene verblüffte sich selbst, wie fix sie ins Bad flitzen und die Flasche mit viel Getöse im Waschbecken zerschlagen konnte. Sie war jetzt ein Poltergeist, jawohl!

Sie hetzte zurück auf den Flur und sah, wie Dauphin aus der obersten Schublade der Kommode Handschuhe fischte und sie Hinrichs hinterherwarf.

Der vormalige Verwalter knallte die Haustür hinter sich ins Schloss.

Helene rannte zurück ins Badezimmer, um von dessen Fenster aus zuzusehen, wie Hinrichs – wirklich, wie von Furien gejagt, dabei flüchtete er doch nur vor einer kleinen Uroma und deren flauschigem Kater – in sein Auto sprang und mit viel zu viel Druck auf das Gaspedal anfuhr.

Triumphierendes Schnurren erklang neben ihr.

»Ich glaube, den haben wir gründlich vertrieben. Zumindest kam er nicht an die Bücher heran. Irgendwie werden wir Tizian einen Wink geben müssen«, sagte Helene und nahm ihren schnurrenden Weggefährten auf den Arm.

Sie steckte ihre Nase in sein weiches Fell, atmete den sauberen Duft, der sie schon immer an Heu und Sonnenschein erinnert hatte.

Sie hob den Kopf. Über all der Aufregung und der fliegenden Unterwäsche hätte sie beinahe das Wichtigste vergessen!

»Tizian wird bald kommen! Dienstag hat er einen Termin bei Herrn de Vries. Ach, du liebe Zeit! Dauphin, in ein paar Tagen wird er hier sein!«

Mama!

»Ich werde bis dahin wahrscheinlich noch einige Male vor Aufregung platzen«, gestand sie. Dann runzelte sie die Stirn. »Und die andere Person, mit der Hinrichs telefonierte, hat etwas mit Tizian vor. Wir müssen wachsam sein, mein kleiner Prinz.«

Dauphin sah sie schmachtend an und gurrte leise. Offenkundig war er bereit, notfalls wieder mit Socken zu werfen. Doch vielleicht genügte das nicht. Sie musste einen Weg finden, mit Tizian zu kommunizieren, damit sie ihn warnen und ihm zur Seite stehen konnte.

Vier

Dass Hinrichs sie nicht gesehen hatte, ging ja gerade noch an, obwohl es sie so zornig gemacht hatte. Aber am Sonntag kam ihr beste Freundin Edith ins Herrenhaus.

Klein und verloren wirkte sie, Traurigkeit lag wie eine schwarze Decke auf ihr.

»Hallo, Helene.«

Es war nur ein Flüstern, und zu gerne hätte Helene sie in den Arm genommen, ihr erzählt, dass sie und Dauphin auf Tizian warteten. Sie wollte ihre Freundin bitten, auf den wundervollen Urenkel achtzugeben, ihm in den ersten Tagen zur Seite zu stehen.

Und nichts davon vermochte sie, weil Edith sie weder hörte noch sah, nicht auf Dauphin reagieren konnte, der ihr schnurrend um die Knöchel strich.

Obwohl sie gedacht hatte, sich mit ihrem Geisterdasein und ihrer damit verbundenen Mission abgefunden zu haben, suchte Helene frustriert nach einem der Kraftausdrücke, die sie bestimmt von Ansgar gelernt haben musste. Sie erschienen ihr alle allzu schwach. Sie wollte weinen, während sie Edith ins Gartenzimmer folgte, wo ihre Freundin die Blumen goss. Sie war so ein Schatz, so ein lieber Mensch, und Helene konnte ihr nicht beistehen in ihrer Trauer.

»Dat is allens en Schietdreck!« Der kleine Ausbruch machte es auch nicht besser.

Gestern hatte Tizian den Termin bei Herrn de Vries gehabt, und Helene klebte an jedem Fenster und hielt nach ihm Ausschau. Er würde doch bestimmt rasch kommen, um sein Erbe in Augenschein zu nehmen, oder? Herr de Vries hatte doch ganz gewiss alles genau erklärt?

Grundgütiger, was, wenn Tizian keine Ahnung gehabt hatte, dass er adoptiert war? Aber seine Eltern würden ihm das sicherlich gesagt haben. Sie mussten einfach großartige Menschen sein, hatte Helene beschlossen. Sonst hätten sie ein so wundervolles Baby wie Tizian niemals bekommen.

Dauphin tobte mit einem Stückchen Packpapier um sie herum, und Helene hatte deutlich das Gefühl, dass er sie ablenken und aufmuntern wollte.

Vielleicht erschien Tizian erst morgen. Oder nächste Woche. Er hatte den Schock zu verarbeiten, dass er eine biologische Urgroßmutter gehabt hatte, die ihm ein Herrenhaus, ein Gut, Weideflächen, Ackerland und Wälder hinterlassen hatte. Gut möglich, dass er mehr Zeit benötigte, während sie so dringend auf ihn wartete, um ihn kennenzulernen.

Also beugte sie sich gehorsam nieder, als Dauphin ihr sein Papierstückchen vor die Füße legte. Sie wollte das Schnipselchen zu einem Bällchen zusammenrollen und für ihren Kater werfen, als sie beide gleichzeitig spürten, dass Tizian gerade den Grund und Boden von Gut Rothenbüll betreten hatte.

Mama! Dauphin sauste wie ein von der Sehne entlassener Pfeil den Flur entlang. Und Helene folgte ihm. Als Lebende hätte sie jetzt wildes, aufgeregtes Herzklopfen gehabt und wäre nie so schnell gewesen wie jetzt.

Sie kam nach Dauphin am Fenster über dem Nebeneingang bei der Remise an und sah gerade noch ein kleines, unglaublich grünes Auto auf einen leeren Stellplatz rollen.

»Er ist da! Dauphin, er ist da!« Jetzt klebte sie richtig an der Fensterscheibe, um ihren allerersten Blick auf ihren Urenkel werfen zu können. Dauphins flauschiger Schwanz peitschte vor Aufregung hin und her. Der kleine Kater schnatterte, als würde er sich auf Fliegenjagd befinden.

Da! Da war Tizian!

Er trug eine Jacke über dem Arm und darunter noch etwas. Gleichgültig! Da war Tizian, Katharinas Sohn. Hochgewachsen wie Ansgar und ebenso schlank und breitschultrig. Sie starrte ihn an, drückte sich die Nase am Fensterglas platt, um ihn wirklich sehen zu können. Sonnenlicht ließ sein Haar leuchten, zeichnete seine Bewegungen nach. Ein wenig zögerlich, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Wie auch immer er aufgewachsen war, Rothenbüll war eindrucksvoll, sie wusste es. Wie eine Prinzessin hatte sie sich hier gefühlt, obwohl Ansgar abends oft schmutzig, verschwitzt und mit Heuhalmen im Haar, mit matschigen Gummistiefeln heimgekehrt war.

Tizian öffnete den Kofferraum des kleinen Wagens, schien einen Moment zu überlegen, ehe er sich mit einem unförmigen Bündel belud und mit gesenktem Blick in Richtung des Nebeneingangs stapfte, als fürchte er, das Herrenhaus würde sich in Luft auflösen, wenn er es nur zu genau ansah.

»Das ist dein neues Heim, Tizian«, flüsterte sie. »Ich hoffe so sehr, dass du es ebenso lieben wirst wie ich.«

Mama.

Tizian musste die Haustür erreicht haben, war jetzt nicht mehr sichtbar, und Helene riss sich vom Fenster los, um Dauphin anzusehen. »Er ist da, mein kleiner Prinz.«

Ganz ernst blickte Dauphin zu ihr auf, streckte ein Pfötchen nach ihr aus, und sie nahm ihn auf den Arm, drückte ihn liebevoll an sich.

Er schnurrte, drückte das Köpfchen gegen ihr Kinn, dann streichelte er ihr mit einem Samtpfötchen über die Wange. Das hatte er noch nie zuvor getan.

Mama. Er schloss die blauen Augen, runzelte ein bisschen das kleine Näschen, und dann fühlte sie die Veränderung. Mit einem Mal spürte sie sein Gewicht im Arm, sein weicher Wattepelz fühlte sich anders an. Echter.

»Dauphin?« Ach, du meine Güte!

Der kleine Kater riss die Augen wieder auf und schnurrte wie drei Rasenmäher auf einmal.

»Dauphin, kleiner Prinz, bist du sicher?«

Er war es, das fühlte sie. Und er wollte dies. Wie viele Leben besaß eine Katze? Sieben, nicht wahr?

»Ich passe auf dich auf. Falls … falls Tizian ein fürchterlicher Mensch sein sollte, bin ich da, mein Kleiner«, murmelte sie, während sie mit Dauphin im Arm den Flur entlang zur Treppe ging.

Unten hörte sie eine Tür klappen. Tizian, der wohl von Raum zu Raum ging, um überhaupt erfassen zu können, wie groß das Herrenhaus war.

---ENDE DER LESEPROBE---