Ein Gutsherr, ein Ausreißer & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Gutsherr, ein Ausreißer & ein Geist E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Dass er adoptiert ist, wusste Tizian schon immer, und es war auch nie ein Problem, da er die beste Mama der Welt hat. Doch jetzt schneit ihm die Überraschung ins Haus, dass er eine Urgroßmutter hatte, die ihm ausgerechnet das Herrenhaus Rothenbüll bei Klaxdonnersbüll vererbt hat. Er beginnt, die einschüchternd weitläufige Anlage zu erkunden, als er mit einem Mal einen Ausreißer in seinem Auto findet. Oliver ist ein Pechvogel reinsten Wassers. Vor seinem gewalttätigen Vater floh er in immer neue Beziehungen und kam dabei vom Regen in die Traufe. Ehrensache, dass Tizian sich seiner annimmt. Und nicht nur Ehrensache, denn für Olivers Charme ist er absolut empfänglich! Doch es bleibt nicht bei einer sanft keimenden Romanze, denn auf dem Gut taucht jemand auf, der gar nicht willkommen ist. Und irgendjemand – oder irgendetwas – scheint da ganz Tizians Meinung zu sein …

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Ein Gutsherr, ein Ausreißer & ein Geist

 

Tanja Rast

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

 

Inhaltsverzeichnis

1. Plötzlich Gutsherr
2. Der Duft der Freiheit
3. Rothenbüll
4. Nordstern
5. Ein Ausreißer
6. Erste Hilfe
7. Pizzen und Erkundungen
8. Das Brandenburger Tor
9. Morgendlicher Sonnenschein
10. Ausflug nach Klaxdonnersbüll
11. Der Friedhof von Klaxdonnersbüll
12. Täuschungsmanöver
13. Schleichstrecken
14. Der Garderobenschrank
15. Picknick
16. Privatbesitz
17. Nachrichten von Helene
18. Grieß mit Kirschen
19. Der frühe Vogel
20. Liebesbeweise
21. Katharina
22. Für Elise
23. Schlüssel
24. Showdown im Bistro
25. Wonnemorgen
26. Imperial March
27. Pläne für Sonntag
28. Theodors Vermächtnis
29. Alter Verwalter
30. Alarmanlage
31. Mittag im Park
32. Kiellinie
33. Arthurs Beute
34. Willkommen
35. Tagesausklang
36. Briefe
37. Lose Fäden
Epilog: Helene

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danke
Bücher, die mitgespielt haben

1.Plötzlich Gutsherr

Tizian

Der Kaffee, den Tizian sich bei einem Bäcker am Schlossplatz geholt hatte, ehe er die Eisenbahnstraße über- und die Eisenbahnbrücke unterquert hatte, schmeckte gut und frisch. Er suchte sich eine Bank mit Blick über die Ober-Eider, ließ sich tonnenschwer auf das Sitzmöbel fallen und starrte auf das Wasser, ohne es wirklich zu sehen.

Ein Herrenhaus! Nein, noch mehr. Ein ganzes Gut mit Herrenhaus, einer Künstlerscheune, einem Reitstall und viel Weideland und Wald. In der norddeutschen Wildnis in einem Ort, der auf Büll endete.

Das musste er erst einmal sacken lassen, um es überhaupt irgendwie zur Gänze in seinen armen Kopf zu bekommen.

Er nahm noch einen Schluck Kaffee, sah einer Möwe zu, die in kühnem Schwung zwei jungen Leuten fast die Köpfe rasierte in dem Versuch, ein Brötchen zu stehlen. Dieses Mal ging sie leer aus.

Gut Rothenbüll. Von seiner Urgroßmutter. Nun, genau genommen war sie irgendwie nicht seine Urgroßmutter. Seine Urgroßeltern waren alle tot gewesen, als er zur Welt kam. Deswegen hatte das eben im Kontor des Rechtsanwalts de Vries zu einem Augenblick peinlicher Verwirrung gesorgt, während der Mann offenkundig nach Worten gesucht hatte, um Tizian behutsam beizubringen, dass er bis vor Kurzem sehr wohl eine Urgroßmutter gehabt hatte.

Plötzliches Verstehen hatte wie ein Halogenstrahler in Tizians Kopf aufgeleuchtet. Dass der Schalter geklemmt hatte, war den Fotos und dem Lageplan des Guts zu verdanken gewesen. »Oh, sie meinen meine biologische Urgroßmutter?«

Herr de Vries hatte sichtlich aufgeatmet, dass nicht er es war, der Tizian über das Thema Adoption in Kenntnis setzen musste. Da musste er aber generell mal ein wenig an seiner Methodik feilen. Hätte Tizian nicht schon seit Jahren gewusst, dass er adoptiert war, hätte dieser Rechtsanwaltstermin sehr unschön ausgehen können. Aber er wusste es, seitdem er sechs oder sieben Jahre alt war. Kein Drama, eher im Gegenteil. Er hatte sich seitdem als etwas Besonderes gefühlt, weil seine Eltern ihn mit ganzem Herzen hatten haben wollen, weil er das absolute Wunschbaby gewesen war.

Deswegen hatte er auch so eine lange Leitung gehabt, bis ihm klar geworden war, wer ihm da das Gut Rothenbüll vererbt hatte. Ein ausgewachsenes Gut, verdammt. Kein Wunder, dass er es immer noch nicht begreifen konnte. Eine ihm wildfremde Frau hatte einen Anwalt beauftragt, ihn aufzustöbern, ihm Fotos zu zeigen und ihn fassungslos aus der Kanzlei taumeln zu lassen.

Die frische Brise, die mit Anlauf über die Ober-Eider bis zu Tizians sonnigem Sitzplatz blies, klärte seinen Kopf zumindest ein bisschen.

Was wusste er? Die Erblasserin war die Großmutter seiner biologischen Mutter. Rothenbüll lag knapp südlich der Hot-Dog-Grenze, irgendwo zwischen Flensburg und Leck. Es war ein winziges Kuhdorf. Hm, das war nicht viel.

Er fischte sein Handy aus der Jackentasche und suchte Rothenbüll. Kuhdorf war noch geschmeichelt. In direkter Nachbarschaft lagen zwei etwas größere … Örtchen. Das waren dann wohl die Kuhdörfer. Prillsande und Klaxdonnersbüll.

Verdammt, was mache ich mit einem Herrenhaus in ländlicher Einöde? Er steckte das Handy unentschlossen wieder ein und öffnete die Mappe, die de Vries ihm mitgegeben hatte.

Bild eins zeigte ein Torhaus, auf das ein Fahrbahndamm zwischen halbhohen Mauern hinführte. Das Gebäude war in hellem Zitronengelb gehalten, Fenster und Türen leuchteten weiß wie frisch gestrichen. Ob da ein Trecker hindurchpasste? Oder ein Pferdeanhänger? Möglicherweise gab es mehrere Zufahrten, und das hier war nur die Hochherrschaftliche, die die Leute beeindrucken sollte.

Das zweite Bild zeigte eine gewaltige Fläche, die wohl hinter dem Torhaus lag. Zum Teil gepflastert, unterbrochen von malerisch hingetupften Gärten und gepflegten Rasenflächen. Und dann: große Gebäude. Stallungen oder so. Scheinbar nach Bedarf hierhin und dahin gestellt.

Dann das Herrenhaus. Wie das Torhaus in Gelb mit grauen Akzenten. Ein gewaltiges Bauwerk mit zwei Flügeln rechts und links eines Hauptteils. Eine breite Treppe führte zur Haustür unter einem von Säulen getragenen Vordach. In dem Haus konnte man ein ganzes Fußballteam bequem unterbringen, vermutete Tizian. Inklusive Betreuer und Trainer.

Weitere Bilder zeigten eine Reithalle, Stallungen, Sandplätze mit weißen Zäunen, Weiden mit grasenden Pferden. Der Reitstall war verpachtet, soviel hatte er noch erfasst, während de Vries ihm alles Mögliche erklärt hatte, was nur wie ein Herbststurm an Tizians Ohren vorbeigebraust war.

Zu viel. Zu gewaltig. Zu überraschend.

Er trank den Rest Kaffee, stopfte den Becher in den Mülleimer neben der Bank und wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. Vielleicht sollte er sich kneifen. Aber das hier war die Wirklichkeit, dessen war er sicher. Er war nach Rendsburg zu diesem Anwalt gefahren, der ihm den Schock seines Lebens verpasst hatte. Und danach, um Tizians hilflose Fassungslosigkeit abzumindern, hatte Herr de Vries auf ein Foto zweier junger Männer an der Wand gezeigt. Einer weißblond mit eisblauen Augen, der andere mit einer dunklen Lockenmähne, der dem Anwalt ähnlich sah. Beide strahlten vor Leben und Freude und hatten jeweils dem anderen einen Arm um die Mitte gelegt.

»Landschaftlich wirklich wunderschön«, hatte der Anwalt gesagt. »Mein Sohn und sein Partner wohnen im Nachbardorf. Falls Sie es wünschen, frage ich Hagen, ob ich seine Telefonnummer herausgeben darf. Er kann anfangs gewiss helfen.«

Danke, nein. Im Augenblick gab es nur einen einzigen Menschen, der Tizian helfen konnte. Er zog das Handy wieder hervor und wählte aus dem Speicher, wartete mit bang klopfendem Herzen, bis seine Mama sich meldete. Er brauchte gerade ihre fröhliche Stimme der Unvernunft, ihr Verständnis. Außerdem würde er schlichtweg vor Neuigkeiten platzen, sollte er versuchen, diese bei sich zu behalten, bis er wieder in der kleinen Wohnung in Neumünster war. Peng. Fort. Futsch. In die Luft geflogen.

Als er gerade dachte, sie wäre vielleicht im Keller oder zum Einkaufen, meldete sie sich ein wenig atemlos. »Ich war in der Küche! Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat! Ist alles in Ordnung? Wer hat dir um alles in der Welt etwas vererbt? Wir haben keine reichen Verwandten! Und was hast du geerbt? Willst du das Erbe annehmen?« Sie schnappte nach Luft. »Entschuldigung! Du bist dran. Ich halte schon die Schnute.«

Er lachte, weil es so guttat, dass sie genauso aufgeregt war wie er.

»Die Oma meiner biologischen Mutter hat mir … ein Haus vererbt. Ein großes Haus. Mit Land und Wald und … Mama, es ist ein ganzer Gutshof!«

»Mit Kühen und Trecker?«, fragte sie, wobei ihre Stimme etwas heller als sonst klang.

»Pferde. Ein Reitstall gehört dazu.«

»Nimm mich nicht auf den Arm. Ernsthaft?«

»Der Anwalt hat mir Bilder gezeigt. Es ist … richtig groß. Er sagt, ich soll in Ruhe überlegen.«

»Wo ist das?«

»Ich hab den Namen des Kaffs schon wieder vergessen. Oben zwischen Flensburg und Niebüll. Es ist so winzig, dass es eben gerade noch auf einer Landkarte zu finden ist.« Mama, was mache ich jetzt? Ihm schwirrte wirklich der Kopf. Sie bewohnten in Neumünster eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung mit einem winzigen Badezimmer und einer ebenso zwergenhaften Küche. Sie kamen zurecht. Es war schwierig geworden nach Papas Tod, noch mehr, nachdem Mama aus gesundheitlichen Gründen in Frührente gehen musste. Dabei war sie gerade erst sechzig geworden.

»Wie lange hast du Zeit, dich zu entscheiden?«

»Sechs Wochen, nachdem ich erfahren habe, dass sie tot ist. Das zählt also ab heute. Der Anwalt hat sich entschuldigt, dass er mich jetzt erst kontaktiert hat. Sie ist vor zwei Wochen gestorben. Aber er musste erst auf das Nachlassgericht warten, ob sie da vielleicht ein aktuelleres Testament hinterlegt hat. Hat sie nicht. Außerdem sagte er, dass sie ihn vor sieben Jahren, als ihr einziger Sohn starb, beauftragt hat, mich aufzuspüren. Nicht, weil sie Kontakt wünschte, sondern weil sie mich als Erben einsetzen wollte. Schräg, oder?«

»Gar nicht so sehr schräg, mein Lieber. Kinder können ihre biologischen Eltern ausfindig machen, falls sie es wünschen. Für die Familie, aus der das Kind stammt, ist es zum Schutz der neuen Familie deutlich schwieriger. Du und ich hätten einem Kontaktversuch zustimmen müssen. Also, jetzt nur noch du. Du bist ja erwachsen.« Sie atmete tief durch, und Tizian wusste genau, dass sie die Unterhaltung gerade noch einmal in Gedanken durchging, ihren Anteil bewertete und überlegte, was sie alles vergessen hatte. »Tizian, wenn dieses Gut nicht gerade bis über die Regenrinnen verschuldet ist, solltest du die Erbschaft unbedingt annehmen.«

»Der Anwalt hat mir Kopien aller Unterlagen mitgegeben. Keine Hypotheken, keine Kredite. Selbst das Geld für die Erbschaftssteuer soll zurückgelegt worden sein.«

»Nimm die Erbschaft an und fahr hin! Guck es dir an. Vielleicht stehen schon zehn sabbernde Investoren Schlange, um es dir abzukaufen. Vielleicht entdeckst du etwas ganz anderes.«

»Auf jeden Fall mehr Platz als unsere Wohnung, das kann ich jetzt schon sagen. Passt dir dieses Wochenende?«

»Ich denke, es ist besser, wenn du erst einmal alleine hinfährst.«

Es prickelte kalt in seiner Brust. Er machte ein brummendes Geräusch, das Mama als Zustimmung oder Ablehnung auffassen konnte. Auf jeden Fall als Aufforderung, diesen Gedankengang zu erklären.

»Es ist dein Gut. So weit ich Erbrecht verstehe, hat deine biologische Urgroßmutter keine anderen Verwandten mehr. Ihr Sohn ist gestorben, hast du gesagt. Aber auch sonst kann niemand mehr da sein, weil die nämlich alle Pflichtteile bekommen müssten. Deswegen hat sie nach dir suchen lassen, als ihr Sohn starb. Dein Opa.«

»Mein biologischer Großvater. Mama, du bist meine Familie. Papa war meine Familie.« Er musste einmal tief durchatmen. »Okay. Ich fahre in dieses winzige Kuhfleckchen und sehe mir das Gut an. Aber jetzt komme ich erst einmal nach Hause.«

»Ich habe Kirschkuchen mit Pudding im Ofen. Bis du hier bist, ist er fertig und abgekühlt. Fahr vorsichtig, mein Schatz.«

»Immer. Hab dich auch lieb. Bis nachher, Mama.«

Er blieb noch eine Weile sitzen, sah einem Boot zu, das über das Wasser der Ober-Eider sauste, hörte hinter sich einen Güterzug über den erhöhten Damm rattern und beobachtete eine Möwe, die über das Gras spazierte und Leckerbissen suchte.

Natürlich, seine Mutter hatte vernünftige Dinge vorgeschlagen. Verblüffend nur, dass sie sich so weit zurücknehmen konnte. Sie brannte vor Neugierde, und wenn er ihr nachher die Bilder zeigte, würde es ihr sehr schwerfallen, ihn alleine fahren zu lassen. Aber sie würde darauf beharren. Vermutlich hatte sie recht damit. Er war kein Kind mehr, es war sein Erbe, seine biologische Familie. Es fühlte sich trotzdem fremdartig an, seine Mutter nicht an seiner Seite zu wissen, wenn er das Herrenhaus das erste Mal betrat, nicht gemeinsam mit ihr über alte Möbel lachen zu können, über anderes zu staunen und sich vergnügt im dem weitläufigen Anwesen zu verirren.

Er war neugierig. Einen Gutshof besichtigte man nicht alle Tage. Zumal dann nicht, wenn er einem gehörte.

Mir gehört ein Gutshof. Mit Herrenhaus. Mit Reitstall und so viel mehr anderem. Verdammt.

Er atmete noch einmal tief durch, dann rief er Herrn de Vries an und sagte ihm, dass er das Erbe annahm. Der Rechtsanwalt hatte auf diesen Rückruf wohl schon gelauert. Ja, natürlich. Niemand ließ sich einen solchen Besitz durch die Lappen gehen. Auf jeden Fall hatte er die Rufnummer seines Sohnes parat, die Tizian artig aufschrieb.

»Hervorragend. Leider muss ich Sie bitten, dass Sie jetzt noch einmal zu mir kommen. Ich hatte den Antrag auf den Erbschein schon vorbereitet. Den muss ich Ihnen natürlich vorlesen, und Sie müssen unterschreiben. Wissen Sie schon, wann Sie nach Klaxdonnersbüll … nach Rothenbüll fahren werden? Ich kann ihnen alle weiteren Unterlagen per E-Mail zusenden und später den Erbschein per Post. Hagen wird dafür Sorge tragen, dass Sie bei Ihrer Ankunft die Schlüssel des Anwesens erhalten. Frau Seedorf beschäftigte einen Verwalter, der Ihnen selbstverständlich alle weiteren Fragen zum Gut beantworten kann. Mein Sohn wird das im Vorwege für Sie klären und den Mann informieren, Herr Falckenstein.«

Tizian dachte kurz nach. Seiner Mutter hatte er das Wochenende vorgeschlagen. Aber … Er hatte gerade Auftragsflaute, sein Schreibtisch war leer und aufgeräumt. Er gab sich einen Ruck. »Morgen.«

»Dann bereite ich alles vor. Von meinem letzten Besuch bei meinem Sohn weiß ich, dass in Rothenbüll selbst kaum etwas ist. Eine Gärtnerei, eine Tischlerei und Bauernhöfe. In Klaxdonnersbüll, das mit dem Auto nur wenige Minuten entfernt ist, gibt es einen Supermarkt und einen Hofladen. Prillsande weist Arztpraxis, Tierarzt und Bistro auf. Ich werde Hagen bitten, ihnen eine kurze Zusammenstellung der Anlaufstellen vorzubereiten.«

Der Sohn tat Tizian mittlerweile schon leid. Was sollte der arme Kerl denn noch alles machen? Und dann dachte er an das Bild der beiden jungen Männer, die so glücklich ausgesehen hatten. Ein Bild, das ein auf den ersten Blick sehr biederer, möglicherweise konservativer Vater in seiner Kanzlei in seinem Arbeitszimmer aufgehängt hatte, wo alle Mandanten es sehen konnten. Nein, Hagen de Vries schien schon Glück mit seinem Vater zu haben. Tizian beschloss, den jungen Mann nicht über Gebühr zu strapazieren. Schlüssel und eine kurze Übersicht, wo er einkaufen und tanken könnte, wären gut. Den Rest schaffte er alleine. So liebevoll seine Eltern immer gewesen waren, so sehr sie ihr einziges Küken stets gehütet hatten, war es doch unbeirrt ihr Ziel gewesen, ihn irgendwann für alles gewappnet in die Welt zu entlassen. Dass es wegen Papas Tod alles ein bisschen anders als geplant gekommen war, änderte nichts daran, dass Tizian auch mit einem ausgewachsenen Herrenhaus fertigwerden würde!

Er stand auf, streckte sich und machte sich mit neuer Entschlossenheit auf den Weg zurück zur Anwaltskanzlei. Papierkrieg, den würde er besiegen. Und er ahnte, dass noch viel mehr von der Sorte auf ihn zukam!

 

Keine halbe Stunde später erreichte er wieder die Ober-Eider, jetzt in der Gewissheit, dass die Mühlen der Verwaltung im Nachlassgericht in Gange gebracht worden waren. Das war mehr als aufregend! Das war schon ein wenig unheimlich.

Er grinste bei dem Gedanken, wie fehl am Platze sein kleines Auto auf dem Gutshof wirken würde. Nicht mehr ganz jung, eine Beule im Kotflügel vorne rechts, knallgrün. Der Gedanke machte es irgendwie leichter, während er zu seinem Wagen zurückging. Er musste nur den Park zwischen Tennisplatz und Eisenbahndamm durchqueren, dann eine Straße entlang bis zum Park-and-Ride-Parkplatz beim Bahnhof. Ausreichend zentral gelegen und kostenfrei.

Ehe er in den Wagen stieg, sah er zum Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Sollte er noch irgendetwas kaufen, um mit Mama zu feiern? Nein, das fühlte sich falsch an. Jemand war gestorben. Auch wenn er diese Frau nie kennengelernt hatte, fand er doch, ihr einen gewissen Respekt schuldig zu sein. Außerdem hatte Mama Kirschkuchen im Backofen. Reichte vollkommen aus.

Tizian stieg ein, startete den kleinen Möhrchenmotor und setzte behutsam rückwärts aus seiner Parklücke. Da er keine Lust hatte, erneut durch den Kanaltunnel zu schleichen, fuhr er zur Fähre, die ihn in der Nähe des Rendsburger Autobahnkreuzes übersetzen würde. Von dort war es gar nicht weit bis Neumünster.

Er hatte Glück, denn auf der Autofähre, die an der Nordseite des Kanals lag, war noch genau ein Platz für sein kleines Auto frei. Hinter ihm rasselten die Schranken nieder, und Tizian stellte den Motor aus, legte den ersten Gang ein und zog die Handbremse an.

Die Abfahrt der Fähre verzögerte sich, da gerade ein großer Frachter vorbeifuhr. Tizian beobachtete die Passage des Ungetüms, während seine Gedanken bei seinem Herrenhaus verweilten.

Es wirkte immer noch erschreckend auf ihn. Aber … vielleicht war es wirklich ein Glücksfall. Er arbeitete von zu Hause aus. Mediengestalter nannte sich sein Tätigkeitsfeld, und es machte ihm Spaß. Die meisten Aufträge waren Hilferufe, eine Homepage für ein kleines Unternehmen zu erstellen und zu pflegen. Oder eine vorhandene, schauderhafte Seite umzubauen. Es war gleichgültig, ob er das in der Wohnung in Neumünster erledigte oder aus dem Bücherzimmer eines Herrenhauses in … in … in dem Kaff mit Büll. Vielleicht konnte er Teile des Anwesens verkaufen oder verpachten. Na ja, der Reitstall war ja schon verpachtet. Er hatte keine Zahlen, was das einbrachte, aber möglicherweise genügte es ja schon. Mama konnte ein Nähzimmer bekommen. Ein Schlafzimmer, das nicht einer Sardinenbüchse ähnelte. Und sie mochte Gärten, Kühe und Spaziergänge. Vielleicht war auch die lang ersehnte Katze möglich. Platz sollte doch ausreichend da sein.

Und falls all das doch zu viel war, konnte Tizian das Gut verkaufen und dann eine andere Immobilie erwerben. Ein Doppelhaus oder so.

Die Fähre fuhr los, querte den Kanal und legte mit einem ziemlichen Ruck auf der südlichen Seite an. Tizians kleines Auto schaukelte protestierend. Die Schranken hoben sich, und zuerst durften die vier Fahrzeuge auf der rechten Seite abfahren. Dann war die linke Seite dran, als letzter Wagen rollte Tizians von der Fähre.

Eine gute halbe Stunde, bis er zu Hause war. Sein Herzschlag beschleunigte sich wohlig. Nicht mehr für lange, das stand fest. Wie auch immer der Besuch morgen auf dem Gut ausging, die kleine Wohnung würden er und seine Mama bald verlassen.

Vielleicht entdeckst du etwas ganz anderes.

Was auch immer seine Mutter damit gemeint hatte. Sollte er nun Ahnenforschung seiner biologischen Familie betreiben?

Ein Mitschüler hatte ihn einmal gefragt, ob er sauer auf seine biologische Mutter wäre. Die Frage hatte Tizian verwundert. Warum sollte er ihr etwas nachtragen? Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die ihr Leben betraf, und ihm die allerbesten Chancen damit gegeben. Welche Gründe sie auch immer gehabt hatte, ihn auszutragen und zur Adoption freizugeben, er hatte immer das Gefühl gehabt, diese respektieren zu können und zu wollen. Sein Leben wäre sonst ein ganz anderes gewesen, er hätte niemals seine Eltern kennengelernt, nie ihre Liebe und ihr Vertrauen erlebt, wäre nicht zu dem Mann geworden, der er jetzt war.

Und doch nagten Mamas Worte über Erbrecht jetzt an ihm. Wäre seine biologische Mutter noch am Leben, wäre sie die Erbin zumindest eines Pflichtteils gewesen. Ihre Großmutter hätte niemals das Anwesen einem Wildfremden vermacht, mochte der auch dreimal ihr biologischer Urenkel sein.

Vielleicht sollte er den Anwalt noch einmal fragen. Dieser schien die Familie ja seit Jahren beraten und vertreten zu haben. Möglich, dass er nicht einmal Nachforschungen anstellen musste, sondern jegliche Frage umgehend beantworten konnte. Und falls de Vries doch Recherche betreiben musste – die konnte Tizian sich jetzt ja wohl leisten, oder?

Der Gedanke fühlte sich beruhigend und fremdartig zugleich an.

Ein wenig so, als bedeutete die Fahrt gen Norden mehr, als nur ein Haus zu besichtigen. Er dachte an die Bilder. Die Mappe lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Tizian grinste, merkte selbst, dass es ein wenig schief ausfiel. Irgendwie war das Gut ja schon so eine Art Märchenschloss. Da war doch alles möglich.

2.Der Duft der Freiheit

 

Oliver

In einer Stunde begann seine Schicht im Futterladen. Halbtagsjob, tolles Team, und Oliver liebte Tiere. Besonders freute es ihn, wenn die Leute ihre Hunde mit in den Laden brachten und er bei der Auswahl eines neuen Halsbandes oder beim Anpassen eines Geschirrs helfen durfte. Die meisten Hunde waren begeistert, von ihm gestreichelt zu werden.

Sein Herz schlug für alle Tiere. Sie alle verdienten Respekt und Liebe. Doch besonders liebte Oliver Katzen. Irgendwann würde er eine bei sich aufnehmen. Einen scheuen Streuer mit ausgefransten Ohren, dessen Vertrauen er geduldig gewinnen würde. Oder ein anderes Wegwerfkätzchen. Das entschied die Mieze, sie wählte aus. Zukunftsmusik, aber sie klang wundervoll.

Denn heute war nicht nur irgendein Arbeitstag mit der Hoffnung auf tierische Begegnungen und Einkaufende, mit denen Oliver lachen konnte. Heute war sein erster Tag in Freiheit. Der Tag, an dem er ausbrach, nachdem er endlich kapiert hatte, dass Marcel sich niemals bessern würde, dass er nie ein wundervoller Mensch gewesen war und es auch niemals sein würde. Und schon gar nicht Olivers Liebe fürs Leben.

Sein Rucksack stand neben der Wohnungstür. Es hatte lange nicht alles hineingepasst, was Oliver gehörte. Gleichgültig. Die wichtigsten Sachen waren darin. Der Rest war ersetzbar. Sein Laptop, die ganzen Ladekabel, notwendige Wäsche, die wenigen Wertsachen, die er noch von seiner Mutter besaß. Papiere, Zeugnisse, der ganze wichtige Kram. Und ja, er hatte das Geld aus der Keksdose ebenfalls eingepackt. Marcel mochte den besseren Job haben, mehr Geld nach Hause bringen. Dafür verprasste er auch Unsummen für Bier, sein scheußliches knallrotes Auto und teure Klamotten. Das Geld in der Keksdose war offiziell gemeinsames Haushaltsgeld, nur leider vergaß Marcel öfter mal, etwas in diese Kasse zu legen. Oder er war vor Ende des Monats pleite und guckte Oliver wie ein verprügelter Welpe an. Allerdings: Billiges Essen durfte es natürlich auch nicht sein. Einen Teller Nudeln mit selbst gemachter Tomatensauce hatte Marcel ihm einmal an den Kopf geworfen. Nicht nur bildlich gesprochen.

Jetzt sah Oliver in den Spiegel, wie schlimm die Spuren des letzten Mals die Beherrschung verlieren noch zu sehen waren. O ja. Beherrschung verlieren konnte Marcel gut. Ebenso, wie ihm sehr gut mal die Hand ausrutschen konnte.

»Wenn er es nur genug verharmlost, glaube sogar ich, dass es doch gar nicht so schlimm war«, teilte er seinem Spiegelbild mit. »Oder dass ich schuld bin.« Er biss die Zähne fest zusammen, richtete sich gerader auf. »Ich bin nicht schuld. Und jetzt haue ich ab.« Er sah seinem Gegenüber im Spiegel fest in die Augen. »Und wenn er auf Knien anrobbt und Rosen und Pralinen anschleppt …«

Er lachte, und es fühlte sich fremd und wundervoll zugleich an. Denn Marcel würde nicht herausfinden, wohin Oliver sich verkrümelt hatte. Die letzten Feinheiten würde er heute auf der Arbeit klären. Marcel konnte mit Rosen und Pralinen in ganz Kiel herumrennen, aber er würde Oliver nicht wiederfinden, ihm nie wieder versprechen, dass er sich bessern würde.

Oliver tippte seinem Spiegelbild auf die Brust. »Du hast nämlich Besseres verdient. Und ich auch! Ich bin doch kein Boxsack oder Lakai.«

Er trug ein T-Shirt, darüber ein zweites, das nicht mehr in den Rucksack gepasst hatte, und darüber noch einen Pullover. Nun zog er den langen grauen Mantel mit dem eingewebten Karomuster an, wickelte sich einen Schal um den Hals, obwohl es so kalt gar nicht mehr war, aber hierlassen wollte er dieses flauschige Ding auch nicht.

Ein letztes Mal sah er sich in der Wohnung um, ob er noch irgendetwas Wichtiges vergessen hatte. Mit dem Rad, das er Marcel ebenfalls nicht überlassen würde, brauchte er nur fünf Minuten bis zur Arbeit. Und selbst falls er ein paar Minuten zu spät kam, würde seine Chefin das verstehen. Sie hatte ihm schon ohne Probleme drei Wochen Urlaub genehmigt. Die brauchte er, denn er musste eine Bleibe finden und zur Ruhe kommen. Und bevor er in den Feierabend und den Urlaub entschwand, würde er ein längeres Gespräch mit Nadine führen, alles erzählen. Das war auch wichtig, damit niemand aus dem Team sich verplapperte, falls Marcel auf die Idee kam, in den Laden zu kommen und nachzufragen, wohin Oliver entschwunden war.

Er entdeckte noch eine kleine Katzenfigur in Orange, Weiß, Gelb und Gold, die er eilig in die Manteltasche steckte. Wie hatte er die vergessen können?

Sonst noch etwas? Nein, das war alles, was wichtig war. Und alles, was er im Rucksack verstauen konnte.

Oliver verließ die Wohnung, schloss ab, löste den Wohnungsschlüssel von seinem Schlüsselbund und warf ihn unten in den Briefkasten. Keine Abschiedsnachricht. Er hatte Angst, dass Marcel heute früher Feierabend machte und dann nach Lektüre eines solchen Briefes wutschnaubend im Laden auftauchte, solange Oliver noch da war. Auf die Szene hatte er so gar keine Lust! Womöglich musste er dann noch die Polizei rufen. So er sich das traute und nicht doch wieder klein beigab. Wie schon zu oft. Nein, damit war heute Schluss.

 

Er kam etliche Minuten zu früh beim Laden an, schloss sein Fahrrad hinten neben der Laderampe an und lief zum Haupteingang auf der Vorderseite des flachen Zweckbaus. Für die Lagertür besaß nur Nadine einen Schlüssel.

Sie erwartete ihn schon. Zumindest sagten ihr rascher Blick und ihr Lächeln in seine Richtung das, während sie einen Berg Vogelfutter in die Kasse eingab, kassierte und dann die Kundin freundlich verabschiedete.

Sofort rückte von der Seite Corinna nach und löste Nadine ab. Diese kam zu Oliver. »Büro? Oder brauchst du noch ein bisschen? Ich hab Kaffee und Kekse.«

»Kekse! Zu gerne, danke dir. Ich hab heute Morgen echt noch nichts runtergebracht.«

»Glaube ich dir.« Sie ging voraus. Ihr Büro, wie es so hochtrabend hieß, war ein abgeteiltes Kabuff im Lager, wo ein Schreibtisch mit PC und vielen Papierstapeln und ein kleiner Bistrotisch mit vier zierlichen Stühlen standen. Auf dem Bistrotisch befanden sich eine Kaffeekanne, zwei Becher der Tierfutterkette und eine riesige Keksdose. Die leckeren dänischen Butterkekse, deren Dose man später so gut für Nähzeug, Sammelsachen und Krimskrams nutzen konnte. Als Oliver klein gewesen war, hatte er schon mehrere solcher Dosen gehabt für seine Wachsmalstifte, seine Spielzeugautos und für Funde aus der freien Natur: Steine, Tannenzapfen, Federn und mehr.

»Setz dich, bitte. Kaffee! Und plündere die Keksdose nach Herzenslust. Du siehst aus, als würdest du dringend Zucker brauchen.« Nadine nahm ihm gegenüber Platz, schenkte Kaffee ein und rückte einen kleinen Pappkarton mit Zuckerwürfeln und ein Plastikkännchen Kondensmilch in Olivers Reichweite. »Und jetzt sag, was ich für dich tun kann. Erzähl mir nur, was du erzählen willst. Ich werde nicht neugierig nachfragen oder versuchen, dir Details zu entlocken, die für dich privat sind. Lass mich nur so viel sagen: Gut, dass du da raus bist. Ja, wir alle haben die blauen Flecken, die rotgeweinten Augen gesehen. Wahrscheinlich hätte ich dich früher schon mal darauf ansprechen sollen. Das tut mir leid.«

Oliver hatte schon einen Keks im Mund und erstickte nun fast an ihm. Hastig kaute und schluckte er, schüttelte den Kopf. »Hätte nichts gebracht, ehrlich. Corinna hat mich vor einem Monat angesprochen, und ich habe gemauert. Ich habe Marcel in Schutz genommen und für ihn gelogen. Bin die Treppe runtergefallen. Bin gegen die Schranktür gelaufen. Bin auf Socken ausgerutscht. Klassisch, fürchte ich. Und dabei hab ich mir auch noch selbst eingeredet, dass es besser werden würde, wenn ich mich ändere. Aber jetzt bin ich so weit.« Er wies auf den Rucksack. »Da ist alles drin. Ich habe die Wohnungstür heute das letzte Mal abgeschlossen und den Schlüssel in den Briefkasten geworfen. Nie wieder. Aber das musste ich erst selbst begreifen.« Er atmete tief durch. Erst einmal ein Schluck Kaffee, noch ein Keks. Kraft sammeln.

Nadine saß einfach nur da und sah ihn an. Keine Verachtung, kein Mitleid. Aber er meinte, Mitgefühl in ihrem Gesicht zu lesen. Damit konnte er leben. Das tat sogar verdammt gut.

»Deswegen die drei Wochen Urlaub«, sagte er schließlich. »Ich muss mich um vieles kümmern, und ich will vor allem abtauchen. Ich habe Angst, falls er mich aufstöbert, dass ich meine guten Vorsätze einfach wieder vergesse.«

»Tust du nicht. Du bist bis hierhergekommen, Oliver. Du hast kapiert, dass das keine Beziehung, sondern einfach nur riesige Scheiße ist. Was kann ich tun, um dich zu unterstützen?«

Einen Herzschlag lang zog sich alles in ihm zusammen, schnürte ihm die Luft ab, machte jedes weitere Wort unmöglich. Dann brannten auch schon Tränen in seinen Augen.

Nadine schob wortlos ein Papiertaschentuch über den Tisch.

Sein ganzes Leben war Murks. Und alle hatten gesehen, wie Scheiße es war, was für ein Dreckskerl Marcel war, wie Oliver das monatelang selbst nicht hatte begreifen können. Er hatte Hilfsangebote abgeblockt. Marcel war doch so wundervoll! Der Mann seines Lebens. Gut im Bett, humorvoll, immer ein bisschen eifersüchtig, was Oliver als Kompliment aufgefasst hatte. Es ließ ihn tatsächlich glauben, dass er so begehrenswert und liebenswert war, dass Marcel Angst hatte, jemand könnte ihn wegschnappen. Unfug, natürlich.

Er wischte sich die Tränen von den Wangen und aus den Wimpern und putzte sich die Nase. Gerade Naseputzen war etwas so herrlich Normales, Prosaisches, dass er danach wieder besser Luft bekam, ohne einen glühend heißen Kloß in der Kehle.

Er trank seinen Kaffee, und Nadine ließ ihm Zeit, damit er sich wieder fassen konnte.

Schließlich gab Oliver sich einen Ruck. »Ich liebe die Arbeit hier. Aber ich habe Schiss, dass Marcel wieder auftaucht. Deswegen der Urlaub. Und … ich wollte fragen, ob ich nach dem Urlaub vielleicht in einer anderen Filiale arbeiten kann? Zumindest zeitweise. Ich weiß auch noch nicht, wo ich eine Wohnung finden werde.« Verdammt, ich weiß ja noch nicht einmal sicher, wo ich heute Nacht pennen werde! Was, wenn das mit dem Hostel nicht wie gehofft funktioniert?

»Springer? Wäre das interessant für dich? Dann bist du überall und nirgends. Selbst falls Marcel auf die Idee kommt, auch mal bei anderen Läden aufzutauchen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er alle sieben Filialen in Kiel und Umgebung gleichzeitig im Auge behalten kann.«

»Oh! Oh, das wäre großartig! Vielleicht sucht er mich auch gar nicht. Aber … für eine Weile wäre das klasse!«

Nadine legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Dann machen wir das so. Du machst jetzt Urlaub, ich regel das mit den Leuten von den anderen Filialen und gebe dir Bescheid, sobald ich etwas Handfestes habe. Kannst du heute arbeiten?«

»Auf jeden Fall. Ich brauche auch etwas um die Ohren. Fühle mich, als hätte ich Ameisen im Hintern.«

Sie lachte, klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Trink Kaffee, iss Kekse. Ich bin schon mal wieder im Laden. Nimm dir die Zeit, die du brauchst.« Sie stand auf. »Oh, und Oliver?«

Er blickte sie fragend an.

»Ich bin stolz auf dich, dass du da raus bist. Gut gemacht!«

Die Tür fiel hinter Nadine ins Schloss, und Oliver musste erneut Tränen aus seinen Augen wischen und sich noch einmal kräftig die Nase putzen. Er schenkte sich Kaffee nach und aß noch drei Kekse, ehe er fand, dass er Nadine auch nicht ausbeuten sollte. Dann raffte er sich auf, verstaute den Rucksack im Spind des Gemeinschaftsraums, schälte sich aus Mantel, Pullover und einem T-Shirt, stopfte alles zum Rucksack und warf sich in sein großes Hemd in Firmenfarben. Ein kurzer Blick noch in den Spiegel über dem Waschbecken. Er sah gar nicht schlimm verheult aus! Das ging.

 

Eine halbe Stunde später startete er eine umfassende Beratung für einen Dackel mit empfindlichem Magen. Dann schleppte Oliver Ware aus dem Lager und sortiere Dosen in Regale.

Als er die Pappkartons entsorgt hatte, kam sein Highlight des Tages in den Laden. Eine Frau steuerte – Transportkorb in der Hand – die Abteilung mit Katzenzubehör an, sah sich eine Minute lang die reichhaltige Auswahl an und blickte dann Hilfe suchend um sich.

Sofort war Oliver zur Stelle. Er lugte unauffällig in den Kennel, und sein Herz machte einen freudigen Hopser! Eine Chinchillakatze erwiderte seinen Blick aus großen dunklen Augen und wagte ein zartes Schnurren.

»So eine Schönheit! Als würde sie einen Kajalstrich tragen!«, entfuhr es ihm.

»Den macht sie jeden Morgen frisch, glaube ich.« Die Frau lachte und hob den Korb höher, damit sie gemeinsam die kleine Katze bewundern konnten. »Ich habe sie soeben vom Tierarzt abgeholt. Kastration. Und ich suche nach einem Kragen für sie, damit sie nicht an die Fäden geht. Nicht so ein Plastikdings, bitte. Das hatte ich bei ihrer Vorgängerin, und die mochte sich zum Schluss gar nicht mehr rühren, weil sie dauernd irgendwo anstieß. Ich hatte Bilder von Blumenkragen gesehen, aber sehe hier nichts in der Art.«

»Blumen haben wir nicht. Aber Orangenscheiben. Oh, und Donuts! Sehr weich, und sie ermöglichen vor allem eine freie Rundumsicht, verzerren Geräusche nicht. Ich habe von Kunden schon gehört, dass ihre Miezen den Flauschkragen obendrein als tragbares Kissen sehr zu schätzen gelernt haben. Stets für ein spontanes Nickerchen ausgestattet.«

»Genau so etwas. Hm. Donut oder Orangenscheibe? Was sieht niedlicher aus?«

Oliver lachte und führte sie die paar Schritte zu den Kissenkragen. Er zupfte jeweils eine Orangenscheibe und einen Donut von der Halterung und hielt beide hoch. Dann – er kam sich vor wie ein Zauberkünstler – drehte er die Kragen um. Denn Vorder- und Rückseite waren unterschiedlich gemustert. Der Donut hatte eine goldbraune Rückseite, während sich auf der anderen rosa Zuckerguss mit bunten Streuseln über den Stoff ergoss. Die Orangenscheibe sah aus wie eine in der Mitte durchgeschnittene Orange, die andere Seite war wie die Schale gefärbt und ganz dezent gemustert.

Die Frau stellte den Kennel ab und nahm Oliver beide Kragen ab, um sie zu befühlen. »Wie weich!«

»Wir haben Modelkater Thomas. Einen Augenblick, bitte!« Oliver hastete zu den Halsbändern und Geschirren, wo der rote Plüschkater als Demonstrationsobjekt, wie alles anzulegen war, ausharrte. Er war der Liebling aller kleinen Kinder und trug auch jetzt ein Geschirr mit Strasssteinchen und drei Halsbänder. Rasch befreite Oliver ihn davon und kehrte zu seiner Kundin zurück. Er nahm einen neuen Donut vom Haken und legte diesen dem Plüschkater an, um die Funktionsweise des Zugbandes zu zeigen.

Die Kundin schlug sich die Hand vor den Mund und lachte begeistert. Dann musterte sie wieder ihre beiden Kragen. »Ich nehme beide mit! Dann kann ich wechseln, falls sie den Plüsch in ihr Futter taucht. Danke, das ist so niedlich.«

»Warten Sie ab, bis morgens ein schnurrender Donut ins Bett kommt. Zuckerschock garantiert.«

Er trug der Dame die Halskragen zur Kasse, damit sie die Hände frei hatte für ihre zauberhafte Katze. Dann durfte er den Finger durch das Gitter stecken, und die kleine Chinchilla schnupperte tatsächlich daran, rieb schließlich ihre Wange am Gitter und schnurrte leise. Zauberhaftes Geschöpf.

Eines Tages, sagte Oliver sich stumm, würde er auch einer Katze ein Heim bieten. Bis es so weit war, stellte er sich eben indirekt in Katzendienste. Immerhin: Jetzt, da er sich von Marcel getrennt hatte, waren Katzen nicht länger in unerreichbarer Ferne. Marcel hasste Haustiere.

Oliver grinste. Nicht länger sein Problem!

3.Rothenbüll

 

Tizian

Auch der liebevoll von Mama gefüllte Picknickkorb konnte das klamme Gefühl von Einsamkeit nicht ganz verdrängen, das Tizian bei der Abfahrt befallen hatte.

Seine Mama war stur wie drei Maulesel, das wusste er, aber er hatte insgeheim doch gehofft, dass sie ihn begleiten würde, nachdem sie am Vorabend die Mappe vom Rechtsanwalt durchgeblättert und sich verrückte Vorstellungen vom Gut und vor allem vom Herrenhaus gemacht hatten. Nein, sie blieb dabei, ihn alleine loszuschicken.

Bei der ersten roten Ampel hatte er einen Blick in den Korb gewagt. Typisch! Außer belegten Broten und Wasserflaschen war auch Kuchen darin. Und Kekse und Schokolade, vier kleine Joghurtbecher sowie drei Frischhaltedosen, deren Inhalt er in der kurzen Zeit nicht überprüfen konnte. Besteck und Küchenkrepp als Servietten. Mama schien der Überzeugung, Tizian könnte auf der Fahrt von gut einer Stunde Dauer verhungern. Oder als würde er unterwegs ein halbes Jugendfußballteam einsammeln, das er ebenfalls durchfüttern musste. Er deckte den Korb wieder zu und konnte rechtzeitig wieder anfahren, ehe hinter ihm ein erbostes Hupkonzert einsetzte. Die berüchtigte Neumünsteraner Sekunde bezeichnete die Zeit zwischen dem Umschalten der Ampel auf Grün und dem ersten Hupen. War eine gültige Zeiteinheit.

Er fuhr auf die Autobahn in Richtung Norden. Noch brauchte er das Navi seines Smartphones nicht, beschloss aber, es auf dem Parkplatz Hüttener Berge zu programmieren. Ja, nach Flensburg fand er auch so, aber in der Ecke kannte er sich nicht gut genug aus, welchen Rastplatz er ansteuern sollte. Hüttener Berge war fest eingeplant, da er auch von dort aus Hagen de Vries anrufen wollte. Es tat ihm zwar leid, wie ruchlos dessen Vater ihn einspannte, aber irgendwie musste Tizian ja den Haustürschlüssel erhalten. Falls Hagen das auf den Verwalter abgewälzt hatte – was Tizian nur zu gut verstehen konnte –, musste er das ja nur wissen!

Sein kleiner grüner Wagen brummte über die Autobahn, ließ sich klaglos von diversen Fahrzeugen überholen. Tizian spähte auf die Tankanzeige. Noch genug drin, und er hatte gestern nach Karten der Umgebung von Rothenbüll gesucht. Endlich konnte er sich den Namen des Dorfes merken. Im Nachbarort gab es eine Tankstelle und den vom Rechtsanwalt erwähnten Dorfladen. Er tankte lieber im Dorf als an der Autobahn. Und für alles andere musste der Dorfladen ausreichen, beschloss Tizian. Keinesfalls würde er für den Wocheneinkauf zig Kilometer verschwenden, damit er sich in Flensburg auf der Suche nach einem gewohnt größeren Supermarkt verirrte.

Endlich kam die Rader Hochbrücke in Sicht. Europabrücke, wie sie eigentlich hieß. Tizian entsann sich an die Berichte, die die Runde gemacht hatten, als der marode Zustand der Brücke offensichtlich geworden war. In Rekordzeit gebaut, als die Segelevents der Olympischen Spiele in Schilksee abgehalten worden waren. Tja, schön sah sie aus, aber das war es leider auch.

Er klemmte sich hinter einen Lastwagen und ließ sein Auto einfach gemütlich hinterherzuckeln. Nur noch ein paar Minuten bis zum Rastplatz. Und ja, er würde ein braver Sohn sein und etwas aus dem liebevoll vollgestopften Picknickkorb essen, nachdem er Hagen de Vries angerufen hatte.

Schon erreichte er die Ausfahrt. Er fuhr an der Tankstelle und dem ersten Parkareal für Pkw vorbei, um dann auf der zweiten Fläche einen Platz zu ergattern. Tizian stellte den Motor aus, schnallte sich los und überlegte, ob er ein paar Schritte gehen sollte. Ach, so lange war er doch noch gar nicht unterwegs! Knappe halbe Stunde, und er führte sich auf, als würde er eine Weltreise unternehmen! Er sah zum Picknickkorb. Da saß der Übeltäter, der ihm das einredete, so gut gefüllt, wie er war.

Tizian lachte über sich selbst und rief dann den Sohn des Rechtsanwalts an.

Nach nur drei Klingelzeichen meldete dieser sich. Eine freundliche Stimme, die ein wenig nach mühsam unterdrücktem Lachen klang.

Tizian stellte sich vor und entschuldigte sich gleich vorab für die Umstände, die er bereitete.

»Oh, ignorieren Sie Papas Neigung, alle möglichen Leute für seine Zwecke einzuspannen. Ich mache das seit Langem schon … Nun, genau genommen, seitdem ich hier wohne.« Jetzt lachte er tatsächlich. Ansteckend und charmant. »Ich weiß natürlich, wo Gut Rothenbüll ist. Aber das war es dann auch schon. Deswegen habe ich unsere liebe Nachbarin gefragt, ob sie das nicht übernehmen möchte. Jasmin Kellermann. Ich gebe Ihnen gleich die Nummer. Sie ist heute den ganzen Tag auf dem Gut, weil sie da ihre Ponys über Winter stehen hat. Sie hält Ausschau nach einem Auto mit Neumünsteraner Kennzeichen … Ähm, haben Sie doch, oder?«

»Habe ich. Klein, knallgrün und nicht zu übersehen.«

»Prima. Rufen Sie Jasmin einfach an, sobald Sie Rothenbüll erreicht haben. Sie lauert Ihnen dann auf. Den Schlüssel habe ich ihr weise schon gestern Abend gegeben. Sie können sie nicht übersehen. Sie ist über einsachtzig groß und hat eine blonde Wallemähne mit türkisfarbenen Strähnchen. Ich nenne sie liebevoll Walküre, und sie ist ein Schatz.«

»Danke, das klingt großartig.«

Das tat es wirklich.

Nachdem er aufgelegt hatte, suchte Tizian sich ein Sandwich mit gekochtem Ei aus dem reichhaltigen Angebot. So, wie es aussah, würde er frühestens Übermorgen, am Freitag, einkaufen müssen. »Danke, Mama.« Dann verspeiste er sein Sandwich, trank etwas Wasser und machte sich wieder auf den Weg.

 

Rothenbüll stellte einen Kulturschock dar. Es war kein Dorf, sondern ein Häuflein Häuser. Tizian entdeckte eine Tischlerei und eine Hinweistafel auf eine Gärtnerei. Laut Navi musste er gleich rechts abbiegen, und es sollte auch nur noch wenige Minuten dauern, bis er das Gut erreichte. Also fuhr er rechts ran und wählte die Nummer von Frau Kellermann, um sie vorzuwarnen.

Sie meldete sich prompt, begrüßte ihn freundlich und versprach, ihm aufzulauern. Herrlich unkompliziert.

Tizian fuhr wieder an, und im gleichen Augenblick, da sein Navi die Abbiegung nach rechts ankündigte, entdeckte er auch ein Hinweisschild auf den Reitstall. Erleichtert bog er nach rechts ab und folgte der Straße, die eine Tempo-30-Zone war. Vorbei an ein paar Häusern hinter Hecken und Zäunen, dann kam das Ortsausgangsschild. Das Navi erklärte ihm, dass er noch ein Stück weiterfahren musste. Das Gut lag außerhalb der geschlossenen Ortschaft, das wusste Tizian, weil er sich am Vorabend die Karten angesehen hatte. Laut denen war Gut Rothenbüll größer als das ganze dazugehörige, gleichnamige Dorf. Er bekam feuchte Hände vor Nervosität bei diesem Gedanken.

Die Straße war nicht eben breit. Sollte ihm jetzt ein Geländewagen mit Pferdeanhänger entgegenkommen, müsste Tizian auf die Bankette ausweichen.

Rechts und links zogen Bäume, Felder und Wiesen vorbei, dann kamen Zäune in Sicht, hinter denen sich Weiden erstreckten, die jahreszeitlich bedingt noch ein wenig karg aussahen. Keine Pferde weit und breit zu entdecken.

Beinahe wäre Tizian dank einer jähen Erkenntnis auf die Bremse getrampelt. Gehörte das Weideland schon zum Gut? Gehörte das ihm?

Die Vorstellung war lächerlich, viel zu groß und ein wenig beängstigend. Er gestaltete Internetauftritte, Newsletter und Kontaktformulare, verdammt! Er hatte keine Ahnung, wie man ein solch riesiges Gut verwaltete! Sein Verwalter würde sich für ihn schämen, wie unwissend er war.

Diesem geistigen Ausbruch folgte eine weitere Erkenntnis. Er stellte sich das Gut als Zuhause vor, nicht als etwas, was er schnellstmöglich verkaufen wollte.

»Ich muss größenwahnsinnig geworden sein«, flüsterte Tizian, während sein Auto an den Weiden vorbeibrummte.

Dann tauchten die Gebäude des Gutshofes auf. Zitronengelb gestrichen, dunkle Dächer, teilweise von Efeu oder Wein berankt. Das Torhaus erkannte Tizian sofort wieder, dahinter ragten riesige Scheunen und Stallungen auf. Und noch weiter dahinter, auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von Hecken und alten Bäumen, stand das Herrenhaus.

Grundgütiger!

Es war noch größer und eindrucksvoller als auf den Bildern. Das war irgendwie ein großes Haus gewesen, zu dem Tizian keinerlei Bezug hatte. Jetzt sah er sein Herrenhaus aus der Ferne. Es saß da wie ein freundlich lächelnder Buddha, der gütig über das Anwesen wachte.

Grundgütiger!

Er suchte verzweifelt nach einem kraftvolleren Ausspruch, während er dem Straßenverlauf bis zur Abbiegung gen Torhaus folgte. Die Straße selbst wand sich weiter an Koppeln vorbei und tauchte dann in ein Waldstück ein. Was immer sie da auch machte.

Tizian war kurz davor, einfach umzudrehen. Nach Prillsande fahren, wo er bei der Durchfahrt ein Bistro gesehen hatte. Eine Kanne Kaffee trinken und hoffen, dass das Koffein ihn aus diesem Traum holen konnte.

Traum. Vielleicht Albtraum. Unwirklich auf jeden Fall.

Aber Mama und Papa hatten ihm beigebracht, dass man sich mitunter so riesenhaften Herausforderungen stellen musste, sich Hilfe holen durfte. Verstecken galt nicht. Er war hier, jetzt zog er das durch.

Vor dem Torhaus verlief eine Senke, auf der ein erhöhter Fahrdamm direkt auf die Durchfahrt zuführte. Gemauerte Brückengeländer ließen genug Platz für einen Trecker, fand Tizian.

Ein schlichtes Schild Gut Rothenbüll stand vor der Auffahrt. Darunter in Grün ein zweites Schild Reitstall Holsten.

Er war hier auf jeden Fall richtig.

Klein und schüchtern rollte sein grünes Auto über den Fahrdamm, tauchte in den Schatten des Torhauses ein und fuhr dann auf den großen, gepflasterten Hof mit seinen kleinen Inseln von Rasen und Beeten und Obststreuwiesen.

Das war alles noch so viel größer als auf den Bildern!

Da, noch ein Wegweiser. Künstlerscheune, Rosengarten, Reitstall. Das Gut war so gewaltig, dass man sich ohne dieses Straßenschild verfahren könnte!

Tizian bog nach links ab, und da kam ein lang gestrecktes Stallgebäude mit großer Reithalle in Sicht. Davor weiß umzäunt einige Sandplätze, auf denen Pferde herumstanden und die Aprilsonne genossen. Eines wälzte sich gerade, zwei andere knabberten sich gegenseitig die Mähnen.

Es gab einen Parkplatz am Stall, auf dem teure Pferdeanhänger und viele, wahrscheinlich noch kostspieligere Geländewagen und Kombis standen. Dazwischen machte Tizian wenige kleine Autos aus.

Dann entdeckte er Jasmin Kellermann. Sie musste es sein. Hochgewachsen, breite Schultern und Haare, die blond und türkis in der Sonne leuchtete. Außerdem winkte sie und eilte ihm entgegen.

Dankbar hielt er an, drehte den Zündschlüssel auf aus und entstieg seinem Wagen. Walküre hatte Hagen de Vries gesagt, und das passte. Nebenbei hatte Frau Kellermann ein herrliches Grinsen, das ansteckend wirkte und ihn willkommen hieß.

»Moin! Herzlichen Glückwunsch: Sie haben in die ländliche Einöde gefunden. Eine Bitte: Ich hasse es, wenn man mich Frau Kellermann nennt. Jasmin, bitte, und ist Du okay?«

»Sehr okay«, antwortete Tizian und reichte ihr die Hand. Ihr Griff war fest, beruhigend und keinesfalls grob. Er mochte Jasmin vom Fleck weg.

»Dann fange ich mit der feierlichen Schlüsselübergabe an.« Sie gab seine Hand frei und grub aus der Tasche der gesteppten Weste einen ausgewachsenen Schlüsselbund. »Die sind nicht alle beschriftet, fürchte ich. Der Verwalter ist vor einer knappen Woche quasi über Nacht abgezogen, wohl zu einer neuen Anstellung, die treulose Tomate. Frau Holsten hat sich um alles Mögliche gekümmert. Aber sie managt eben auch den Reitstall, und ein Job ist wirklich genug.«

Tizian bekam die schwere Schlüsselansammlung überreicht. Ganz kurz fragte er sich, ob er nicht seinen Ausweis vorzeigen sollte, bis ihm einfiel, dass alles über den Anwalt gelaufen war: Hagen de Vries’ Telefonnummer, der ihm die Rufnummer von Jasmin gegeben hatte. Es mochte ein wenig ungewöhnlich sein, aber es war wasserdicht. Jetzt fühlte sich das alles noch unwirklicher an. Er hielt die Schlüssel für sein Herrenhaus in der Hand. Mehr noch: die Schlüssel für sein ganzes Gut! Grundgütiger!

»Alles in Ordnung? Entschuldige, bitte. Ich hab vergessen … Mein Beileid.« Jasmin betrachtete ihn genau, als erwarte sie einen Zusammenbruch.

Tizian straffte sich. »Danke. Es ist gerade alles ein wenig viel. Meine biologische Mutter hat mich direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Ich wusste weder von diesem Gut noch von meiner Urgroßmutter.«

»Uff! Ja, das ist dann einmal verdammt viel auf einem Haufen. Möchtest du eine kurze Führung? Hast du Fragen? Ich kenne Hagens Vater nicht, aber … der ist Rechtsanwalt.« Sie klang dabei wie die Hyäne aus König der Löwen, die die Löwen als hässlich bezeichnete. Genau der gleiche Tonfall.

Tizian musste lachen. Dann sah er einmal ringsum. »Fangen wir mit etwas Praktischem an: Wo kann ich parken?«

»Wo du willst!« Jasmin lachte nun auch. »Frau Seedorf – deine biologische Urgroßmutter, wenn ich das nun richtig sage – hat immer neben dem Herrenhaus in der Remise geparkt. Drei offene Stellplätze, drei mit Garagentor. Ihr Auto müsste auch noch da sein. Steht in einer der geschlossenen Garagen. Keine Ahnung, was sie sonst noch da hat.«

»Gibt es einen Nebeneingang?«

»Ja. Wirtschaftseingang, Terrassentüren, alles Mögliche.«

Tizian gab sich einen Ruck. Mama hatte ihm geraten, mehr über seine biologische Familie herauszufinden, und wenn er ehrlich war, verspürte er auch gerade Neugierde, und Jasmin war hilfsbereit. »Wann ist sie gestorben?«

»Vor zwei Wochen.« Sie wartete kurz, ob er noch etwas fragen wollte. Dann fuhr sie fort: »Sie war deutlich über neunzig. Aber bis zuletzt fit, viel draußen. Die Gärten lagen ihr am Herzen. Und überhaupt Ordnung auf dem Gut. Selbst hat sie nichts mehr gemacht, aber die Arbeiter überwacht.«

Tizian zögerte. Dann fragte er doch: »Mochtest du sie?«

»Ich kannte sie nicht genug. Aber, ja, das was ich von ihr sah, mochte ich.«

Aus dem Stall erklang eine drängende Stimme: »Jasmin! Rocco frisst Eloises Mähnengummis!«

»Dann tüddel deiner Stute die Haare eben nicht ein«, brummte Jasmin.

»Eloise?«, murmelte Tizian ein wenig boshaft.

»Ruf das mal quer über die Koppel, wenn der Zossen seinen Hintern nicht bewegen will. E-lo-i-se. Ich sage immer Eläuse. Hört sie auch nicht drauf. Okay, ich muss los, ehe mein Pony alles auffuttert. Ruf an, falls ich noch helfen kann. Und sonst: Viel Spaß!«

»Danke.« Spaß, den erwartete er nicht wirklich. Er sah zum Herrenhaus, das aber immer noch freundlich wirkte.

Jasmin stapfte derweil in den Stall und rief streng: »Rocco! Wat hest nu alweller mokt, min Seuten?«

Er sortierte die Silben, sprach die Wörter beinahe lautlos nach und kam dadurch der Botschaft an das gummifressende Pony auf die Spur. Mein Süßer, was hast du nun schon wieder angestellt? Ein Jammer, dass er Plattdeutsch nur ein wenig verstand und schon gar nicht zu sprechen wagte. Ob das Pony sich taub stellen würde, wenn jemand Hochdeutsch mit ihm redete? Tizian grinste und schwang sich wieder in sein treues Vehikel.

Ich schaff das. Riesig, wie es ist, ist es doch nur ein Haus. Ein Gut ohne Verwalter, verdammt. Das hieß, dass Tizian ganz schnell einen neuen brauchte oder sich selbst als Gutsherr versuchen musste. Grundgütiger, das konnte doch nur schiefgehen!

Er startete den Motor, ließ die Kupplung einen Hauch zu forsch kommen, und der grüne Wagen hopste wie ein Grashüpfer los, ehe er wieder gemächlich brummte und sich zielstrebig dem Herrenhaus näherte. Vor diesem gab es eine kreisförmige Auffahrt, die eine aufwendige Rosenrabatte mit gleich vier Bögen und einem kleinen Marmorvogelbad in der Mitte umschloss. Kein Springbrunnen. Irgendwie enttäuschend.

Tizian entdeckte die Zufahrt zur Remise links des großen Hauses und folgte diesem Weg. Flankiert wurde die Auffahrt von altertümlichen schmiedeeisernen Lampen, die wie frisch aus einem englischen 50er-Jahre-Krimi importiert wirkten.

Neben dem Haus befand sich ein gepflasterter Hof, der von Rhododendren umstanden war und die Zufahrt zur Remise gestattete. Zartrosa Blütenbüschel schimmerten im dunkelgrünen Laub. Wunderschön! Und wie groß die Büsche waren!

Links befanden sich drei Garagentore, rechts wie versprochen drei offene Stellplätze, die allesamt frei waren. Tizian stellte den Grünen auf den Platz ganz rechts, der dem Herrenhaus am nächsten war.

Er blieb noch einen kleinen Augenblick sitzen, nachdem der Motor aus war. Er sammelte Mut. War das Haus noch voll möbliert? Daran hatte er bislang gar nicht gedacht. Er war der Alleinerbe, das bedeutete, dass niemand ohne seine Order das Haus geräumt haben konnte. Dabei hatte er zur Sicherheit seine Luftmatratze mitgebracht und einen Schlafsack.

Entschlossen ließ er das Lenkrad los und zog den Zündschlüssel ab. Dann stieg er aus, wobei er Mamas Picknickkorb ebenso an sich nahm wie das Smartphone und seine Jacke, die er nachlässig auf den Beifahrersitz geworfen hatte.

Nicht zum Haus sehen. Noch nicht. Erst einmal die Reisetasche aus dem Kofferraum holen. Luftmatratze und Schlafsack konnten wohl drinnen bleiben. Tizian zögerte und nahm zumindest den Schlafsack an sich. Wo auch immer er schlafen würde, die Bettwäsche war seit zwei Wochen nicht gelüftet worden. Er erstarrte. Er hätte Jasmin fragen sollen, wo die alte Dame gestorben war. Zu Hause? Und welches war ihr Schlafzimmer gewesen? Egal! Notfalls nächtigte er mit Schlafsack auf einem Sofa!

Er stapfte zur seitlichen Tür, zu der ein hübscher Weg führte. Rosenbüsche säumten diesen. Dann hieß es, die Schlüssel durchzuprobieren. Tizian hatte Glück, der Dritte passte. Das Schloss ließ sich leichtgängig aufschließen, die Tür öffnete sich lautlos. Vor ihm lag ein langer Flur, der in nebelhafter Ferne an einer Doppelflügeltür mit Glaseinsätzen endete. Eine Seite stand offen. Rechts und links gingen weitere zweiflügelige Türen ab.

Tizian zog die Nebentür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und verriegelte diese Tür. Das sollte verhindern, dass er sich versehentlich ausschloss. Er stellte sein Gepäck ab und sah sich um.

Dunkle Holzpaneele bis auf Hüfthöhe, darüber eine cremefarbene Tapete. Licht fiel nur durch die Glaseinsätze der Türen links und rechts. Teures Glas, leicht milchig und mit floralem Muster verziert.

Tizian öffnete die erste Tür links. Eine Küche. Sozusagen. Eigentlich ein Tanzsaal mit modernen Einbaumöbeln an der linken Wand und an der Fensterseite. Ein wuchtiger Küchenblock stand in der Mitte des Raumes. Rechts gingen zwei weitere, unscheinbarere Türen ab. Die Linke führte in einen Hauswirtschaftsraum. Etwas, wovon seine Mama in schwachen Momenten träumerisch geschwärmt hatte. Waschmaschine, Trockner, Regale, Schränke, eine Mangelmaschine, ein Bügelbrett. Es roch sauber und ein wenig nach Seife. Es gab auch eine Tür nach draußen.

Die andere Tür öffnete sich in eine Speisekammer. Volle Regale mit Einmachgläsern, Konserven, Weinflaschen und diversen Kartons. Dazu zwei Gefriertruhen, deren Kontrolllampen beruhigend grün leuchteten. Das zum Thema des Jugendfußballteams. Die könnte Tizian hier alle über Wochen hinweg füttern! Dazu passend lagerten in einem Regal Unmengen Klopapier.

Tizian trat den Rückzug in den Flur an und öffnete die Tür gegenüber derjenigen der Küche. Ein Speisesaal. Lange Tafel, viele Stühle, alte halbhohe Schränke an den Wänden und eine pompöse Standuhr. Über dem Büfett hing das Ölgemälde einer Wassermühle.

Teures Porzellan mit Rosendekor und Goldrand stand in den Schränken hinter Glastüren. Weiße Spitzendeckchen lagen darunter. Porzellanfiguren von Pferden, Details mit Goldfarbe hervorgehoben, befanden sich in einer anderen Vitrine.

Das Zimmer duftete nach Holzpolitur mit Leinöl und Bienenwachs. Eine leichte Staubschicht lag auf den Möbeln und der langen Tafel, auf der ein goldfarbener Kandelaber stand. Ein Kronleuchter an der Decke und weiße Gardinen mit weinroten Vorhängen vervollständigten das Bild.

»Grundgütiger«, flüsterte Tizian. Das Zimmer war größer als der Raum, den er derzeit bewohnte, in dem Bett, Kleiderschrank und Schreibtisch standen und Regale den restlichen Platz einnahmen. Und das war nur ein Esszimmer! Mama und er hatten einen kleinen Tisch in der Küche, an dem sie ihre gemeinsamen Mahlzeiten einnahmen.

Er musste sich zwingen, das nächste Zimmer auf der rechten Seite in Augenschein zu nehmen. Einen … Salon nannte man so etwas wohl. Oder war es das Wohnzimmer? Das wäre beruhigend, wenngleich der Raum ziemlich steif aussah. Und die Polstermöbel auf ihren zierlichen Beinchen, die Polster mit altrosa Samt bespannt, boten sich keinesfalls als Schlafstatt für ihn an. Zu kurz. Kommoden und weitere Tischchen sahen aus, als bestünden sie aus Mahagoniholz. Ein Teppich – ebenfalls altrosa, mit zierlichen Blättergirlanden verziert, die gestickt aussahen – rundete das Bild altertümlicher Nobilität ab. Ein Zimmer zum Ansehen, weniger zum darin wohnen.

Die nächste Tür ging wieder nach links ab. Tizian atmete überrascht auf, als er ein Zimmer voller Grünpflanzen betrat. Er hatte nicht recht einen grünen Daumen, meinte aber, so etwas wie Zitruspflanzen und Gummibäume zu erkennen. Und selbst er sah auf den ersten Blick, dass die versammelte Pflanzenschar ausreichend mit Wasser versorgt war. Jemand musste sich gekümmert haben. Nicht der Verwalter, denn der war ja längst abgedampft. Blumengießen hatte wohl auch eher nicht zu seinen Aufgaben gehört.

Weiß lackierte Korbmöbel und Fensterbänke voller Orchideen ergänzten den Eindruck, in einem Garten zu stehen.

Er wollte sich eben abwenden und den Raum hinter der nächsten Tür erkunden, als jemand hinter ihm leise Mama sagte.

Tizian wirbelte herum, sah im ersten Augenblick niemand, bis das zarte Stimmchen erneut erklang und er den Blick senkte.

Eine Katze. Flauschig, blaue Kulleraugen in einem dunklen Gesicht, weiße Handschühchen an den Pfoten. Ganz gelassen erwiderte das kleine Geschöpf Tizians fassungslosen Blick, legte das Köpfchen schief und maunzte erneut. Es klang wirklich wie Mama.

Okay. Das bewies ja nun eindeutig, dass jemand täglich hier gewesen und auch die Pflanzen versorgt hatte. Trotzdem Sünde, dass die arme Mieze hier seit zwei Wochen bis auf kurze Besuche eines Katzensitters alleine gelebt hatte. Armes Ding!

Er ging in die Hocke und streckte langsam eine Hand aus. »Hey, Mäuschen. Das ist ja fies, dass du hier so einsam bist.«

Die Katze maunzte fröhlich, spitzte die Ohren beim Klang seiner Stimme und sträubte die Barthaare nach vorne. Dann erhob sie sich und tapste ihm zutraulich entgegen. Ein kleiner Rasenmäher erwachte zum Leben, als Tizian über das Köpfchen streichelte und die Mieze hinter einem Öhrchen krabbelte. Die Katze kuschelte sich in seine Hand, stampfte mit den Vorderpfötchen und konnte kaum still halten.

»Ich möchte wetten, dass du Hunger hast. Hm. Ich habe nirgends Näpfchen oder eine Kiste gesehen. Habe aber auch noch nicht alles besichtigt. Läufst du vor und zeigst mir, wo du deinen Futterplatz hast?« Er erhob sich behutsam.

Blaue Kulleraugen sahen ihm wie bewundernd dabei zu. Dann machte das Miez auf dem Absatz kehrt und marschierte mit hoch erhobenem Flauscheschwänzchen in den Flur und bog selbstsicher nach rechts ab. In Richtung Küche.

Tizian folgte dem kleinen Staubwedel auf Pfoten stirnrunzelnd. Die Küchentür war geschlossen gewesen, als er ins Haus gekommen war, dessen war er sicher. Alle anderen Türen bis auf jene am anderen Ende des Flurs ebenfalls, soweit er das bislang gesehen hatte.

Aber die Katze bog nach rechts in die Küche ab, sprang auf den großen Block in der Mitte und wanderte maunzend an dessen Kante hin und her.

»Du frisst nicht da oben. Rein zufällig ist das ein Herd.«

Mama!

Tizian sah sich suchend um. Immer noch kein Schälchen in Sicht. Nicht einmal eines mit Wasser! Toller Katzensitter, ehrlich.

Systematisch und von dem kleinen Flausch angefeuert durchsuchte er die Schränke, bis er endlich auf ein Fach mit drei kleinen Schüsseln und einem ganzen Minidöschen Katzenfutter stieß. Kein Trockenfutter, nichts. Und ein Klo stand auch nicht in der Küche.

Unschlüssig betrachtete Tizian die magere Ausbeute. Dann sah er auf seine Uhr. Wie lange mochte ein Dorfladen geöffnet haben? Denn wenn er sich jetzt an die weitere Besichtigung des Hauses und die Suche nach einem Katzenklo machte, statt umgehend zum Einkaufen aufzubrechen, hatte er im schlimmsten Fall heute Abend nichts für die Katze und morgen früh Hungergeschrei. Mamas Sandwiches waren keine geeignete Nahrung.

Er füllte eines der drei Schüsselchen mit Wasser und stellte es auf den Boden. Es gab ein plumpsendes Geräusch, als die Katze vom Küchenblock sprang und zur Wasserschüssel sauste. Solcherart ermutigt füllte Tizian den Inhalt des Minidöschens in ein zweites Schälchen und stellte es mit etwas Abstand zum Wasser ebenfalls nach unten.

Von wegen, erst Übermorgen einkaufen, weil Mama ihm einen riesigen Proviant mitgegeben hatte. Er musste jetzt sofort los. Verdammt, der Anwalt hätte ja auch mal etwas sagen können.

»Okay, ich fahre jetzt und kaufe dir alles, was du brauchst. Derweil werde ich dich in der Küche einsperren. Hier kann ich eine Sauerei einfach wegputzen, während der rosa Teppich wohl im Eimer wäre.« Ob die Mieze in die Blumentöpfe gepieselt hatte? Nein, die Tür zum Gartenzimmer war ja ebenfalls geschlossen gewesen.

Aber damit konnte er sich später beschäftigen. Er merkte sich, wie das Dosenfutter hieß, schloss die Küchentür hinter sich und bewaffnete sich mit Schlüsseln und Portemonnaie.

Er hatte eine Katze!

Eine, die aussah wie ein Mischwesen aus Siamese – dunkles Gesichtchen, dunkle Beine mit verblüffend weißen Pfötchen und dunklem Plüschschwanz, der Rest war weiches Creme – und Perserchen. Mit einem frechen Stupsnäschen und leuchtend blauen Kulleraugen. Heilige Birma? Er würde das nachher im Internet suchen.

Tizian grinste, als er das Herrenhaus wieder durch die Tür bei der Küche verließ und hinter sich abschloss. Dann rannte er zum Auto, denn es hatte zu regnen begonnen.

Unterwegs sandte er ein Versprechen in die Welt über den grauen Regenwolken: Es fällt mir schwer, dich als Uroma anzusprechen. Ich kenne deinen Vornamen nicht. Also, liebe Frau Seedorf, ich verspreche, dass ich mich gut um deine kleine Mieze kümmere.

4.Nordstern

 

Oliver

Feierabend. Viel wichtiger: Freiheit! Oliver hatte einen Schlafplatz in einem günstigen Backpacker-Hostel ergattert. Mit dem Fahrrad würde er eine gute halbe Stunde mindestens brauchen, um es zu erreichen. Doch hoffentlich benötigte er den Platz nur für ein paar Nächte. Während er dort in Sicherheit aufatmete, konnte er seine Fühler zu Freunden und Bekannten ausstrecken oder versuchen, etwas auf dem Wohnungsmarkt zu finden. Letzteres würde sich nicht ganz einfach gestalten. Und sein Freundeskreis war erbärmlich zusammengeschrumpft, weil Marcel solche Kontakte nach Möglichkeit unterbunden hatte.

Er hatte Oliver isoliert, ihn von sich abhängig gemacht. Und Oliver hatte viel zu lange gebraucht, bis er das endlich verstanden hatte.

Er begriff, dass er noch immer weit davon entfernt war, alles zu erfassen, wie sehr Marcel sein Leben verändert und dominiert hatte. Das würde Zeit brauchen. Und Ruhe!

Drei Wochen Urlaub, in denen er irgendwie wieder zu sich selbst finden musste, herausfinden, wie es weiterging, wie er sich schützen konnte. Und vor allem: Wie er es endlich auf die Reihe bekam, nicht immer auf die gleiche Art Kerl hereinzufallen! Denn Marcel war nicht der Erste dieser Art gewesen! Als würde Oliver zielsicher immer auf die gleiche Sorte anspringen, sich Hals über Kopf verlieben, obwohl er irgendwie doch wusste, dass es ein böses Erwachen geben würde. Nicht grundlos war sein Hausstand so klein, dass das Wichtigste in einen Rucksack passte. Weil er in den letzten drei Jahren schon zweimal heimlich ausgerückt war und nur das Notwendigste hatte mitnehmen können.

Ja, er mochte bullige, handfeste Männer, neben denen er sich klein und beschützenswert fühlen konnte. Aber eigentlich wollte er dann verdammt noch einmal auch wirklich voller Wertschätzung behandelt und vor allem beschützt werden!

Mann! Liebe war mitunter echt beschissen. Und er auch, weil er einfach nicht dazulernte, Warnsignale erst sah, wenn es zu spät war.

Er holte den Rucksack aus dem Spind. Zumindest hatte er das vor, denn am Schrank hing eine Tüte aus dem Laden. Gefüllt mit Energieriegeln, Schokolade, Zwieback, Keksen, Mini-Salamis, Käseblätterteigstangen, Bechersuppen und mehr.

Oliver starrte in die Tasche und hatte mit Tränen zu kämpfen. Eine seiner Kolleginnen – oder sie alle, inklusive Nadine – hatte ihm ein Fresspaket geschenkt. Damit er für die ersten Tage irgendwie über die Runden kam.

»Brauchst du einen größeren Rucksack?«, fragte Corinna leise hinter ihm. »Ich war kurz zu Hause und hab meinen Flugzeugrucksack geholt, falls du möchtest.«

Er wischte sich hastig Tränen aus den Augen und versuchte ein Lächeln, als er sich zu ihr umdrehte. »Das … das wäre lieb. Ich hab schon so nicht alles einpacken können. Aber ich weiß nicht, wann ich ihn dir zurückbringen kann.«

Corinna stellte den Rucksack neben ihn. »Das ist okay. Ich brauche ihn erst im Sommer wieder. Bis dahin liegt er ohnehin nur ungenutzt auf dem Kleiderschrank. Ich glaube, er ist groß genug, dass du deinen Rucksack einfach komplett hineinstecken kannst. Und dann den Rest. Brauchst du Hilfe?« Mit einem Mal sah sie selbst nach Weinen aus. »Wo kommst du sicher unter, Oliver? Meine Wohnung ist leider so voll mit den drei Kindern und meinem Mann. Aber notfalls kannst du eine Nacht auf dem Sofa pennen.«

»Danke. Aber … ich habe eine Unterkunft. Das klappt alles. Würdest du den Rucksack aufhalten, bitte? Und dank dieser Leihgabe muss ich nicht wieder zwei T-Shirts und einen Pullover tragen.«

»Zwiebellook ist immer gut!« Sie zwinkerte offenbar eine Träne fort, dann öffnete sie den Reißverschluss, und gemeinsam verstauten sie alles in ihrem großen Rucksack.

Er war himmelblau und hatte bunte Fesselballons als Motiv. Fotodruck, nicht alltäglich und wundervoll geräumig. Oliver packte als Letztes die Bechersuppen ein und schloss den Reißverschluss dann wieder. »Danke. Das ist großartig. Ich bringe ihn dir wieder, sobald ich kann. Pfadfinderehrenwort.«

»Ich weiß.«

Als er aufstand und sich die Riemen des Rucksacks um die Schultern legte, breitete Corinna die Arme aus. Eine Einladung, keine Pflicht. Oliver lächelte und nahm die Umarmung dankbar an. Er mochte alle seine Kolleginnen, aber dass sie so sehr Anteil an ihm nahmen, überwältigte ihn nahezu.

»Und wenn der Schweinekerl auf Knien anrobbt – sei standhaft wie des Nordens Stern!«, flüsterte Corinna ihm ins Ohr. »Du bist so viel mehr wert, Oliver. Du verdienst einen Mann, der so gut zu dir ist, wie du es zu ihm bist, wirklich. Verkauf dich nicht unter Wert.«

»Ich weine gleich wieder.«

»Ich auch. Irgendjemand schneidet Zwiebeln.« Sie kicherte ein wenig erstickt. »Pass auf dich auf!«

»Versprochen. Wo kommt der Spruch mit dem standhaften Stern her?«

»Shakespeare natürlich!«

 

Oliver marschierte mit dem Rucksack, mit verblüffenden Vorräten und seinen traurig kargen Habseligkeiten am Gebäude entlang nach hinten zur Laderampe. Zum Laden gehörte ein kleiner Parkplatz, der sich mit dem eines Restaurants auf der anderen Seite des Häuserblocks mischte. War nicht immer optimal, wenn jemand sich nicht an die aufgemalten weißen Linien hielt, aber für heute war es perfekt.

Er plante, das Rad über beide Parkplätze zur Parallelstraße zu schieben und damit fast zehn Minuten Fahrzeit zum Hostel einzusparen.

Standhaft wie des Nordens Stern. Er lachte leise. Atmen fiel ihm viel leichter. Er fühlte sich so unbeschwert, so glücklich und frei, obwohl noch ziemlich viel Stress vor ihm lag. Ignorieren brachte nichts. Sobald er sicher in seiner Unterkunft angekommen war, würde er das freie WLAN nutzen, um einige Punkte zu klären. Zum Beispiel, wie eine Auskunftssperre beim Einwohnermeldeamt funktionierte. Nicht, dass Marcel ihn über diesen Weg aufstöberte. Falls der sich so viel Mühe machte und nicht einfach nur pöbelnd beim Futterladen auf der Matte stand. Da legte er sich mit Nadine an, und sie konnte wundervoll Haare auf den Zähnen haben. Nadine bluffte nicht. Sie würde die Polizei rufen, Marcel Hausverbot erteilen und notfalls mehr. Vor allem würde sie absolut dichthalten. So wundervoll.

Er bog um die Gebäudeecke und prallte gegen Marcel.

Sofort fand er sich in einer bärenhaften Umarmung, wurde fest an die breite Brust gedrückt, roch eine Mischung aus Deo, Schweiß und Bier.

Sein Herz flatterte wie ein ganzer Vogelschwarm, der vor einem Raubvogel floh, Schutz in der Menge suchte. Ihm wurde schwindelig und übel zugleich, und für einen kurzen, schmerzhaften Augenblick hatte er Sorge, ohnmächtig zu werden vor Entsetzen. Alles zerfiel in Scherben.

Der fieberhafteste, panische Gedanke lautete: Wie erkläre ich meinen Schlüssel im Briefkasten? Wenn Marcel versteht, dass ich weglaufen wollte? Oh, verdammte Scheiße! Ich hätte den Schlüssel mitnehmen und später einwerfen oder ihm per Post schicken sollen. Was macht der hier?

»Da bist du ja endlich. Habe mir die Beine in den Bauch gestanden. Komm, mein Auto steht drüben.«

Finger unter seinem Kinn, während Marcel ihn immer noch so fest hielt, dass Atmen schon anstrengend war, Flucht unmöglich. Abgesehen davon, dass Olivers Beine sich kalt und fremd anfühlten und er nicht sicher sagen konnte, ob sie ihn tragen würden, sollte er sich losreißen können.

Der Kuss schmeckte nach Bier.

Monatelanger Drill, sich nichts anmerken zu lassen, keine Angst zu zeigen, sprang ihm zur Seite, sodass er ein Schaudern unterdrücken konnte.

»Mein Fahrrad«, brachte er hervor, als Marcels Lippen seinen Mund endlich wieder freigaben.

»Kann warten. Ich fahre dich morgen zur Arbeit. Oder du läufst. Ich habe endlich das Ersatzteil für mein Auto gefunden.«

Die verdammte, knallrote Karre, die immer klang, als hätte sie ein Loch im Auspuff. Blubbernder Ami-Sound.

»Ersatzteil?«, fragte er schwach.

»Hörst du denn nie zu?« Marcel legte ihm einen Arm um die Mitte, wobei er erstmals den Rucksack zu bemerken schien. »Was schleppst du da alles mit dir rum?«

»Futterspenden«, stieß Oliver hervor. »Soll ich morgen vor Arbeitsbeginn im Tierheim abgeben.«

Marcel rollte mit den Augen und zog Oliver mit sich in Richtung des Restaurants. »Du und die Viecher. Komm nicht auf die Idee, etwas anzuschleppen. Und in den Kofferraum kann der Rucksack auch nicht. Du wirst ihn auf die Rückbank legen müssen.«

»Aber wo willst du jetzt hin?«, fragte Oliver, der schon das rote Auto sah.

»Niebüll. Da hat ein Kerl sein Auto geschrottet und verkauft jetzt Ersatzteile. So billig komm ich nie wieder an die Sachen, die mein Auto braucht.«

Niebüll. Nordfriesland. Eine Stunde Fahrt etwa. Und Marcel hatte mindestens eine Flasche Bier schon intus.

Oliver ergab sich in sein Schicksal. Wenn er nett war und gute Miene zum bösen Spiel machte, konnte er Marcel bestimmt überzeugen, ihn nach der Rückkehr wieder beim Futterladen abzusetzen. Er brauchte ja offiziell das Fahrrad, um am nächsten Morgen zum Tierheim Uhlenkrog zu flitzen und die Futterspenden abzugeben. Oh, wie gut, dass ihm diese Erklärung für den großen Rucksack eingefallen war, obwohl sein Hirn sich wie in Schockstarre hatte verkriechen wollen.

Marcel entriegelte den Wagen mit der Funkfernbedienung und öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite, damit Oliver den Rucksack auf die Sitzbank legen konnte. Da war ein angebrochener Sixpack. Zwei Flaschen fehlten. Und so, wie Oliver Marcel kannte, hatte er ihm während der Fahrt bestimmt noch eine Flasche zu reichen. Er wollte nicht einsteigen! Doch Marcel hielt ihm die Beifahrertür auf. Mit weichen Knien schleppte Oliver sich dorthin und ließ sich auf den Sitz fallen, weil seine Beine sonst einfach nachgegeben hätten. Marcel wartete kaum, dass er saß, ehe er die Tür schloss.

Olivers Finger waren so kalt und zitterten, dass er kaum den Sicherheitsgurt anlegen konnte. Das Gurtschloss stellte sich obendrein mal wieder widerspenstig an. Endlich klickte es.