Ein Tänzer, ein Griesgram & ein Geist - Tanja Rast - E-Book

Ein Tänzer, ein Griesgram & ein Geist E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Ein dringender Familiennotruf scheucht Gero in das winzige, ihm wohlbekannte Kuhdorf ganz oben im Norden: Ticktackoma Rosemarie wird ins Pflegeheim ziehen. Jemand – nämlich Gero – muss ihre persönlichen Dinge packen, das Haus ausräumen und für einen Verkauf vorbereiten.

Doch vor Ort findet er ausgerechnet seinen Cousin und Erzfeind Dominik mit dem gleichen Auftrag vor! Diesen Umstand wiegt auch die Hilfe der lieben Nachbarin nicht auf, findet Gero. Zähneknirschend fügt er sich in die Zusammenarbeit, so schwer ihm das auch fällt, ist er doch seit Jahren heimlich in den arroganten und widerlichen Kerl verliebt.

Dominik ist ebenso wenig begeistert wie sein Cousin. Für Ticktackoma tut er wirklich gerne alles, aber muss er sich das Haus und die Aufräumaktion ausgerechnet mit der Ballettratte Gero teilen? Doch zum Streiten bleibt nicht viel Zeit, denn irgendetwas stimmt hier nicht, und das liegt nicht nur daran, dass Dominik mitunter vergisst, dass er Gero doch nicht ausstehen kann ...

Die Romane aus Klaxdonnersbüll sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Da aber immer wieder die Paare aus den vorherigen Romanen kleine Gastauftritte haben, macht es einfach mehr Spaß, die Bücher der Reihe nach zu lesen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

 

Inhaltsverzeichnis
1. Unverhofft kommt oft
2. Mit vereinten Kräften
3. Gedanken über einen Griesgram
4. Arbeitsessen im Bistro
5. Der diebische Priester
6. Eine liebe Nachbarin
7. Käsekuchenfrühstück
8. Schäufelchen
9. Geschirr mit Goldrand
10. Ein Promi im Wald
11. Herr Butenschön
12. Die kleine Töpferei
13. Das Einhorn im Graben
14. Eiskalte Erbsen
15. Geborgenheit
16. Annäherung über Hackbraten
17. Die Welt steht kopf
18. Wichtige Gespräche
19. Wilde Verfolgungsjagd
20. Hier spukt es
21. Ticktackoma
22. Ankunft der Fachfrau
23. Schlachtpläne
24. Zukunftsmusik
25. So viel Hilfe
26. Frühstück mit Geistern
27. Weihwasser
28. Spuktheorien
29. Eine Wildschweinattacke
30. Einsatz Kamala Gunnarson
31. Vorbereitung auf die Schlacht
32. Die Ruhe vor dem Keiler
33. Auftritt des Schweinekerls
34. Keilerdämmerung
35. Frühstück in Frieden
Epilog: Der große Umzug

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte
Danke
Bücher, die mitgespielt haben

1. Unverhofft kommt oft

 

Gero

Schon als Kind hatte er gedacht, dass Ticktackoma aber ganz weit weg von allem wohnte. Heute würde er unverblümt sagen, dass sie am Arsch der Welt lebte. Die Fahrt von Kiel bis in die norddeutsche Einöde war ihm früher als ein endloses Abenteuer erschienen. Autobahn bis Flensburg und dann ab in die Walachei, in der man von Dorf zu Dörfchen tingelte, einzeln stehende Gehöfte passierte, an Kuhweiden und Äckern vorbeifuhr, bis das Haus erreicht war. Heute grauste ihm vor der Straße, an der das Haus lag. Es waren nur ein paar Hundert Meter, aber der Weg war so schmal, dass einem um Himmels willen kein anderes Auto entgegenkommen durfte. Oder gar ein Treckergespann!

Seit seinem Unfall war Gero viel zu selten hier gewesen, weil Autofahren anfangs eine Unmöglichkeit dargestellt hatte, bis er auf einen Wagen mit Automatik hatte umsatteln können. Außerdem konnte er all das, was er sonst für Ticktackoma erledigt hatte, nicht mehr leisten. Rasenmähen? Ging einfach nicht mehr. Beruhigt hatte ihn in diesen schwierigen Wochen nur ihre Versicherung, dass ihre Nachbarin stets für sie da wäre, dass sie noch andere Freundinnen im Dorf hätte, dass einer seiner Cousins einmal die Woche vorbeikäme. Ein einziger von dem ganzen Rudel Urenkel. Faule Bande!

Sie hatte ihm auf ihre unglaublich liebe Art gesagt, dass ihr Telefonate mit ihm absolut genügen würden, bis er wieder gesund genug für den weiten Weg wäre. Ihre Sorge hatte natürlich ihm gegolten, während sie sich um sich selbst herzlich wenig Gedanken machte.

Doch jetzt … Er seufzte ganz besonders laut, während er noch vor Prillsande nach rechts abbog. Jetzt sollte dies sein letzter Besuch in Ticktackomas Haus sein. Der Rat ihrer Enkelkinder hatte sich zusammengetan und beschlossen, dass sie nach dem Sturz, dank dem sie mit Gehirnerschütterung und am ganzen Körper geprellt im Krankenhaus gelandet war, besser in einem Pflegeheim aufgehoben wäre. Laut Geros Mama hatte Ticktackoma durchaus Verständnis für diese Notwendigkeit gezeigt.

Dadurch, dass er etliche Wochen kaum zu Besuch bei ihr gewesen war, wagte Gero kein Urteil, ob es wirklich nicht mehr anders ging, ob sie tatsächlich so hinfällig geworden war. Und das wurmte ihn mehr, als er vor seiner Mutter, seinen Onkeln und Tanten zugegeben hatte, als Tante Anke ihm die Aufgabe aufgebürdet hatte, Ticktackomas Sachen durchzugehen. Sein Job war es, alle Dinge, an denen ihr Herz hing, zu packen und zu Tante Anke zu schaffen. Diese würde die Sachen dann dorthin bringen, wo auch immer Ticktackoma landen würde. Was mit dem Rest werden sollte, wusste er noch nicht, aber seine Mutter hatte gemeint, dass der Pflegeheimplatz ja irgendwie bezahlt werden müsste.

Das tat weh, und Gero gab sich auch ein wenig die Schuld daran. Wäre er öfter bei ihr zu Besuch gewesen, hätte er vielleicht gegensteuern können. Denn am Telefon hatte er nichts davon gemerkt, dass Ticktackoma wackeliger geworden war. Sie war alt! Klar, dass sie nicht mehr herumhopste wie ein Teenager. Er biss die Zähne zusammen und fuhr weiter, während er versuchte, das Mahlen seiner Gedanken und die Schuldgefühle irgendwie zu verdrängen.

Endlich bog er in den besseren Treckerpfad ein, an dem das Haus lag. Gero verringerte sein Tempo auf nur einen Hauch mehr als Schrittgeschwindigkeit. Mitunter waren hier Leute hoch zu Pferd unterwegs oder machten Spaziergänge mit Kindern und Hunden, wusste er. Und dieser Weg war so schmal! Daran würde er sich nie gewöhnen. Verdammt, das würde er auch nicht mehr müssen.

Links und rechts ragten Knicks auf, wenigstens sauber beschnittene Bäume und Büsche auf dem Erdwall. Im Herbst hatte er manchmal das Gefühl gehabt, dass der Weg komplett zuwucherte. Dahinter lagen Felder und Wiesen, verblühter Raps und Getreide.

Mit einem leicht wehmütigen Lächeln hielt er Ausschau nach der Einfahrt auf die alte Hofstelle. Da war sie schon zwischen zwei weiß gestrichenen, gemauerten Pfosten, die von schwarzen Laternen gekrönt wurden.

Gero setzte trotz totaler Einsamkeit vor und hinter ihm den Blinker links und rollte langsam auf die Auffahrt, die sich nach der Tordurchfahrt auf einen breiten Vorplatz vergrößerte, in dessen Mitte eine alte Kastanie aufragte. Und in deren Schatten stand ein Auto mit Eckernförder Kennzeichen.

Gero fluchte leise und trat instinktiv auf die Bremse. Der linke Fuß wollte aus reiner Gewohnheit auf ein Kupplungspedal, das nicht mehr da war. Tat trotzdem weh.

Er biss die Zähne zusammen und ließ das Auto wieder anrollen, um es so nonchalant wie möglich neben den schwarzen Kombi zu stellen. Wenigstens war er vorgewarnt.

Ein grimmiges Lächeln breitete sich einfach so auf seinem Gesicht aus. Dominik war nicht vorgewarnt. Er kannte dieses Auto noch nicht, könnte also nur wissen, wer da eben auf den Hof gefahren war, sollte er sich das Kennzeichen mal gemerkt haben, das Gero natürlich beibehalten hatte. Sehr unwahrscheinlich.

Er stellte den Motor aus, holte die verfluchte Krücke von ihrem Platz vor und auf dem Beifahrersitz und öffnete die Wagentür, um sich, seine Beine und die Gehhilfe zu sortieren, ehe er den Rucksack von der Rückbank holen würde. Die Kühltasche mit Resten aus dem heimatlichen Gemüsefach musste er später holen.

Er stemmte sich aus dem Wagen, stützte sich so wenig wie möglich auf der Krücke ab, schloss die Fahrertür und machte die hinten dann auf.

In seinem Rücken vernahm er das Geräusch der Haustür, die immer – allen Ölkännchen und seinen energischen Bemühungen zum Trotz – ganz leise quietschte.

Gero hielt sich aufrecht und hob den Rucksack aus dem Wagen. Er lauerte nur auf eine gehässige Bemerkung und konnte Dominiks Blick spüren, der sich zwischen seinen Schulterblättern in seinen Rücken brannte.

Noch ehe er die hintere Tür schließen konnte, hörte er leise Schritte auf dem gepflasterten Hof und wandte sich so lässig wie möglich um.

Nicht eben groß, stämmig, das dunkle Haar ein wenig verwuschelt, wobei das Absicht sein konnte, in Jeans und einem blütenweißen T-Shirt, das die muskulösen Arme reizend in Szene setzte, kam Dominik auf ihn zu. Abgebrochener Giftzwerg hatte Gero ihn voller Wut schon einmal genannt. Nie trafen sie aufeinander, ohne sich in die Haare zu geraten, wobei Dominik gerne gewitterwolkengleiche Blicke unter dunklen, geraden Brauen als Zeichen seiner Missbilligung nutzte. Jetzt sah er schon wieder wie drei Tage Regenwetter drein, der verfluchte Griesgram.

Wann hatte Gero ihn das letzte Mal lachen oder auch nur lächeln sehen? Musste während ihrer Kindheit gewesen sein, zwei Vierjährige in der Sandkiste hinter Ticktackomas Haus. Und hatte garantiert nicht länger als einen halben Sekundenbruchteil gedauert. Weil sie sich dann nämlich gegenseitig mit Sand beworfen und mit Schäufelchen geschlagen hatten.

»Benötigst du Hilfe mit deinem Gepäck?«, fragte Dominik.

Dieser Satz drohte, Gero vor Überraschung zu Boden zu schleudern. Aber wahrscheinlich hatte Dominik im Gegensatz zu ihm doch gewusst, dass sie hier aufeinandertreffen würden, und war von seinen Eltern bekniet worden, sich halbwegs zivilisiert zu benehmen.

»Danke, ist nicht schwer«, antwortete er.

Dominik nickte nur auf übliche Art eines erzürnten Gewittergottes und wartete, bis Gero sein Auto verriegelt hatte. Dann hielt er mit ihm Schritt bis zur Haustür unter dem weiß gestrichenen Portikus und schloss sie hinter ihnen beiden.

Sie standen in der Diele mit der bauchigen Truhe, dem leicht wurmstichigen Garderobenschrank mit dicken, runden Füßen und Intarsien. Neben der Tür zum Wohnzimmer stand ein Trolley, der echt gut zu Dominiks Auto passte: schwarz und edel. Vor allem aber bemerkte Gero bewusst den Duft in dem alten Haus: ein bisschen Bienenwachs, Holz, Äpfel, immer präsent ein süßer Duft nach Gebäck. Alles war so vertraut, so wenig hatte sich in den Jahren seit seinen Sommerurlauben als Kind hier geändert. Es tat weh, dass Ticktackoma das Haus nun aufgeben sollte. Und es schmerzte, dass der vormalige Hof wohl verkauft werden sollte und musste. Das war ein so existenzieller Teil seines Lebens! Vielleicht zog auch jemand anders aus der großen Familie hier ein, was sich ebenso falsch anfühlen würde.

»Weißt du, wo sie gestürzt ist?«, fragte er, um das Schweigen zu brechen.

»Auf der Treppe nach oben. Tante Anke erzählte, sie hätte noch nie so eindrucksvolle blaue Flecken gesehen.«

»Und Ticktackoma ist sehr schlank und ohne Polstermaterial.«

Dominik nickte knapp. Er wies den Flur entlang, der links von der Diele abging und bei der Treppe endete. »Ich würde mich oben im Zimmer neben dem Badezimmer einquartieren.« Seine Brauen zogen sich noch ein wenig mehr zusammen. »Willst du das andere große Zimmer oben nehmen? Geht das mit der Treppe?«

Was war denn mit dem los? So viel Rücksichtnahme und Mitdenken war Gero von seinem Cousin nicht gewohnt!

»Hier unten wäre besser. Ich kann auf dem Sofa pennen oder Ticktackomas altes Schlafzimmer nehmen, falls das okay ist.«

»Klar ist es das. Mach, was du willst, wir sind hier beide keine Hausherren.« Dominik schien sich einen Ruck zu geben. »Mama hat mir einen Fresskorb gepackt. Kaffee, Imbiss, Schlachtplan?«

Okay. Wer ist das, und was hat er mit Dominik gemacht? Aber Gero nickte nur wohlerzogen. Falls sein widerwärtiger Cousin sich zivilisiert geben wollte, würde er dem in nichts nachstehen. Mal gucken, wer zuerst zusammenbrach.

Da sie offenbar beide von Tante Anke hierher beordert worden waren und einige Tage Sortieren, Packen und Schleppen vor sich hatten, konnte es nur weise sein, sich nicht die ganze Zeit anzugiften. Das war ohnehin anstrengend und bereitete Gero grundsätzlich Magenschmerzen, weil er das Kläffen und Knurren einfach hasste. Obendrein wollte er es gerne Dominik überlassen, Kartons zu tragen. Da hatte er nämlich sonst wirklich ein Problem, selbst, wenn er sein Auto genau vor die Haustür stellte.

»Ich kümmere mich um den Kaffee«, sagte Dominik. »Ich bin selbst erst vor ein paar Minuten angekommen.«

»Dann richte ich mich derweil ein.« Er wartete das Nicken ab und ging dann in den Flur, von dem erst das Schlafzimmer und dann ein Badezimmer nach vorne abgingen. Geradeaus befand sich die Treppe in den ersten Stock.

Das Haus war nicht unbedingt verschachtelt, aber einige Türen lagen wirklich putzig. Alleine, dass es von diesem Flur keine Tür zur Küche oder der vormaligen Melkkammer gab, durch die man nach hinten in den Garten gelangte. Wenigstens der Hauswirtschaftsraum mit Waschmaschine und ähnlich Nützlichem war vom Treppenhaus aus zu erreichen. Aber Schmutzwäsche aus der Küche musste auf dem langen Weg durch die Diele und den Flur entlang zur Waschmaschine getragen werden. Hätte Gero hier etwas zu sagen, würde er für mehr Türen sorgen!

Gerade mit dem angeschlagenen Knöchel ging er sehr sparsam mit seinen täglich zu marschierenden Wegen um, verband gerne verschiedene Aufgaben miteinander, um nicht zu weit und oft gehen zu müssen. Nun, dieser fromme Vorsatz würde sich in den nächsten Tagen in Wohlgefallen auflösen müssen. Denn das Haus war weitläufig, und Ticktackoma hatte wirklich überall ihre Lieblingsgegenstände. Wintergarderobe zum Beispiel sollte sich oben in einem der vormaligen Kinderzimmer befinden. Zuletzt hatte Ticktackoma nur noch die beiden benachbarten und durch eine große Doppeltür verbundenen Wohn- und Esszimmer genutzt. Soweit Gero wusste, hatte die liebe Nachbarin sie unterstützt. Und er selbst war die meisten Wochenenden hier gewesen, um anfallende Arbeiten wie Rasenmähen zu erledigen. Bis zu seinem Unfall. Verdammt.

Aber Ticktackoma hatte sechs Kinder groß gezogen, da gab es doch noch ein paar mehr Enkel und Urenkel, die fit genug waren, um ihr helfen zu können. Die meisten wohnten auch in Schleswig-Holstein, und da war es nun echt keine Weltreise, nach Prillsande zu fahren. Obendrein gab es Übernachtungsmöglichkeiten genug im ersten Stock. Aber irgendwie waren die anderen alle faul.

Er lud den Rucksack auf dem Nachtschrank ab und sah sich um. Das Schlafzimmer trug Ticktackomas Handschrift, ganz eindeutig. Vor ein paar Jahrzehnten war dieser Look garantiert der allerletzte Schrei gewesen: Tagesdecke mit vielen Rüschen und einem Volant aus Polyester, ein echt kitschiges Bild mit Schutzengel, der zwei Kinder vor der maroden Brücke über einen reißenden Gebirgsbach warnte, Teddys in gehäkelten Pullovern und mit Mützen und Söckchen, ein Kleiderschrank mit glänzenden Fronten in einem merkwürdigen Grau-Grün und eine dreiteilige, plüschige Teppichgarnitur rund um das breite Doppelbett, das wahrscheinlich so alt war wie das Haus. Dazu hing an der Decke eine Ballonlampe, die ein ganz besonders hervorragender Staubfänger sein musste. Und trotzdem fühlte Gero sich wohl in diesem Raum, obwohl kein einziger Einrichtungsgegenstand seinem Geschmack entsprach.

Es kam ihm wie Heimkommen vor. Wäre da nicht Dominik. Gut, dieser konnte sich als Packmaultier betätigen, was Gero ja sehr schwerfallen würde.

Tante Anke hatte ausdrücklich gesagt, dass Ticktackoma Gero das Sortieren ihrer Sachen anvertraute. Dass Dominik hier war, entsprang also entweder dessen Sturheit oder der Sorge seiner Eltern, dass sie irgendwie leer ausgehen könnten, oder Ticktackomas Wunsch, dass Dominik ebenfalls half.

Gero fühlte, wie seine Muskeln sich unwillkürlich anspannten. Das würde noch sehr erheiternd werden, seinen Cousin deswegen zu befragen. Oder er ließ das ganz und fragte bei Tante Anke nach. Sie war das Organisationstalent der Familie und wohnte in Süderlügum, was relativ nahe an Prillsande lag. Leider verließ sie nach einem Bandscheibenvorfall nur noch selten ihr Haus und besuchte Ticktackoma dementsprechend kaum noch. Dafür regelte sie alles telefonisch, was sie meinte, managen zu müssen, und scheuchte Familienmitglieder auf. Außerdem, er verzog das Gesicht, mischte sie sich gerne in alles ein. Auch und besonders in Dinge, die sie nichts angingen.

Er zog die dünne Jacke aus und legte sie aufs Bett, ehe er sich auf den Weg ins Wohnzimmer machte, um Dominik und den versprochenen Imbiss zu suchen. Da sein Cousin sich offenbar in Höflichkeit und Anstand übte, wollte Gero dies ausnutzen und ihr gemeinsames Vorgehen besprechen, ehe er die Lebensmittel aus seinem Auto holte.

Er sagte sich stumm vor, dass das Haus groß war, dass sie sich prima aus dem Weg gehen konnten, wenn sie in unterschiedlichen Räumen arbeiteten. Sie würden ja sogar auf unterschiedlichen Etagen schlafen. In jedem Stockwerk gab es ein Badezimmer, das half ebenfalls! Er hatte definitiv keine Lust auf Zahnpastareste oder Bartstoppeln seines Cousins in seinem Waschbecken.

Wer auch immer auf Dominik eingewirkt hatte, sich nicht so scheußlich und unnahbar wie sonst zu geben, hatte gute Arbeit geleistet. Mal sehen, wie lange das anhielt, denn ihre Feindschaft war über Jahre gewachsen. Das mit dem Sand und den Schäufelchen war keine liebenswerte Anekdote.

Dominik empfing ihn mit der Kaffeekanne in der Hand. »Esszimmer oder Sofa? Wo kommst du besser wieder auf die Beine?«

Ganz bestimmt, der wahre Dominik war von Aliens entführt und durch einen auffällig höflichen Doppelgänger ersetzt worden! Gero musste sogar eine Schrecksekunde verarbeiten, ehe er antworten konnte: »Esszimmer ist tatsächlich besser. Sofas fressen mich.« Autsch, war es weise, humorvoll erscheinen zu wollen?

»Dachte ich mir. Papa hatte letztes Jahr ein Gipsbein, und ihn aus der Couch oder einem Sessel hochzuwuchten, war kein Zuckerschlecken.«

Aliens am Werk, ganz eindeutig. Das hier war ein Klon.

Dominik wies mit einer knappen Geste auf die breite Doppeltür, die zum Esszimmer führte. Ein wenig herrisch wirkte diese Einladung schon, und das war widersinnigerweise sogar beruhigend. Ein anderer, höchst unhübscher Verdacht wollte nämlich gerade in Gero Wurzeln schlagen: Nämlich, dass seine offensichtliche, wenngleich nur vorübergehende Behinderung ausgerechnet Dominik zu Mitleid veranlasste. Der hinkende Feind an Krücken stellte keinen vollwertigen Gegner mehr dar und wurde deswegen verschont. Danke, wenn es etwas gab, was Gero ganz definitiv nicht von seinem Cousin wollte, dann war es Mitleid. Das konnte Dominik sich gepflegt in die Haare schmieren!

Ticktackomas alter Tisch war schlicht gedeckt. Zwei Kaffeetassen, ein Milchkarton, Ticktackomas Geschirr für täglich: dickes Steingut in Erdbeerrot mit weißen Herzchen, dazu eine Küchenkrepprolle auf einem Holzständer und jede Menge Frischhaltedosen aus dem persönlichen Hort von Dominiks Mama. Die Sorte Dosen, bei der Enterbung, Bannfluch und missbilligende Blicke bis in alle Ewigkeit zum Programm gehörten, sollte auch nur ein Deckel fehlen.

»Deine Mama scheint mit der gesamten Urenkelschar gerechnet zu haben«, sagte Gero betont leichthin. Vielleicht bekam er ja so heraus, ob Dominik gewusst hatte, dass sie hier aufeinandertreffen würden.

»Lach nur und sei dankbar, dass du kein Einzelkind bist. Nein, das hat sie alles nur für mich eingepackt, da sie der Überzeugung ist, ihr einziges Küken könnte während der einstündigen Fahrt hierher verhungern.« Dominik seufzte und streckte die Hand nach der Rückenlehne eines Stuhls aus, sah Gero an und presste die Lippen aufeinander. Sein Blick flackerte kurz zur Krücke.

»Ich stehe nicht an Todes Schwelle«, sagte Gero sanft.

»Nein, das sehe ich. Und du wärst auch nicht zum Packen und Räumen hier erschienen, wärst du beständig auf Hilfe angewiesen.« Und dann setzte er hinzu: »Tut mir leid. Ich wollte nicht …«

»Wollte nicht?«, fragte Gero nach. Scheiß an Höflichkeit, er ließ Dominik nichts durchgehen.

»Ich wollte nicht der Typ sein, der eine Oma am Arm packt und über die Straße schleift, ohne vorher gefragt zu haben, ob Hilfe gewünscht wird.« Er zögerte. »Du bist keine Oma, das meinte ich damit nicht. Ich mache es gerade schlimmer, nicht wahr?«

Mitleid mit dem unwürdigen Gegner. Großartig. Laut – und ohne vorheriges Nachdenken – schnappte Gero: »Könntest du bitte einfach Arschloch wie immer sein, statt mich mit Samthandschuhen anzufassen?« Na, klasse. Jetzt standen ihm die ungemütlichsten Tage des Jahres bevor, da dieser Ausbruch Dominik deutlich sagte, dass er die elterlichen Anweisungen in den Wind schlagen und mit mindestens gleicher Münze zurückzahlen durfte.

Aber der Alienklon lachte. »Deal.«

Gero konnte ihn nur anstarren. Das war eine Reaktion, mit der er absolut nicht hatte rechnen können. Und – verflucht! – das stand Dominik auch noch! Das machte einen vollkommen anderen Menschen aus ihm. Klon, Alien, was auch immer.

»Beißt du mir die Nase ab, wenn ich frage, was passiert ist?«

»Ja«, knurrte Gero, der sich in die Defensive gedrängt fühlte. Er zog den Stuhl zurück und nahm Platz, wobei er die Krücke gegen die Tischkante lehnte, kurz abwartete, ob sie sich seitwärts abseilen wollte, und dann Dominik erneut finster anstarrte. War doch kein Staatsgeheimnis! »Ich war mit Freunden in einem Trampolinpark.«

»Ärzte hassen Trampoline«, verkündete Dominik natürlich. Ein Klugscheißer war er ja schon immer gewesen.

»Nicht nur die. Ich auch. Jetzt. Ich bin auf dem Metallrahmen aufgekommen und hab mir den Knöchel mehrfach gebrochen. Ich trage ein Pfund Metall darin mit mir herum.«

»Du packst Kartons – ich schleppe sie?«

»Deal.«

Dominik schenkte Kaffee in zwei dicke rote Tassen und schob eine zu Gero über den Tisch. »Dann kümmere ich mich ums Obergeschoss. Da sollte nicht ganz so viel sein, weil sie die letzten Monate hauptsächlich hier unten gewohnt hat.«

»Ich weiß. Aber die Wintergarderobe müsste oben sein.« Gero sah ins Wohnzimmer, wo unter dem Fenster ein schmales Bett stand, für das die Ledergarnitur ein Stückchen verschoben worden war. Dank des Unfalls wusste er ja jetzt bestens, wie es war, wenn man Wege sparen wollte und musste. Ticktackoma war über neunzig, und natürlich hatte sie mit ihren Schritten gegeizt und sich hier ein kleines Reich geschaffen. Das Haus war für eine Person ohnehin zu groß, aber sie war hier als Braut eingezogen und geblieben, fast ihr ganzes Leben lang.

Er nahm einen Schluck Kaffee, der selbstverständlich viel zu stark war. Dominik musste Magenwände aus Stahl haben, wenn er immer so einen Atomkaffee trank. Gero hatte echt das Gefühl, Herzflattern von dem Koffeinkick zu bekommen. Mehr Milch! Eckernförder Sterbehilfe, kam ihm die Bezeichnung in den Sinn, die Mama einmal für Dominiks Kaffee verwendet hatte. Wie treffend! Und leider konnte er sich gerade davon überzeugen, dass sie nicht übertrieben hatte. Dies war ja das erste Mal, dass er dieses Gebräu kostete.

Dominik hatte angeblich nichts von Geros Abscheu bemerkt, da er gerade mit den Frischhaltedosen hantierte, die Deckel an der Seite stapelte und die Behälter wie die Zinnsoldaten in einer Reihe aufstellte.

Dominik wohnte, das zumindest wusste Gero – im großen Bungalow seiner Eltern in einer Einliegerwohnung mit eigenem Eingang. Der Spruch über Geros Glück, kein Einzelkind zu sein, passte dazu, dass Dominiks Eltern ihr einziges Küken nicht aus den Augen verlieren wollten. Was der Fressalienberg auf dem Tisch bewies.

»Ist irgendetwas dabei, was ich dir unbedingt nicht wegfuttern sollte?«, fragte Gero und zückte schon seine Gabel.

»Der Käsekuchen ist nach Ticktackomas Rezept. Aber es sind zwei Stücke da, ein Besitztest ist also nicht notwendig«, entgegnete Dominik und verfrachtete eines der goldgelben Dreiecke auf seinen Teller.

Das ließ Gero sich nicht zweimal sagen. Das Rezept kursierte in der gesamten Familie und war einfach ganz besonders köstlich. Er selbst hatte einmal Ticktackoma beim Backen assistieren dürfen, und so wusste er von den Unmengen Butter und dem Grieß, die neben einem Halbdutzend Eiern ihren Einzug in die Quarkmasse hielten. Außerdem wies dieser Kuchen keinen trockenen Mürbeteigboden und –rand auf, was einfach perfekt war. Ach, scheiß ans Kalorienzählen! Er würde die nächsten Tage ausreichend arbeiten, um diesen kleinen Ausbruch wieder abzuarbeiten. Dieser Kuchen war es wert!

»Doch ganz gut, dass ich ein Einzelkind bin. Ich habe noch nicht in Ticktackomas Kühlschrank nachgesehen, aber ich denke, mit Mamas Vorräten kommen wir locker bis morgen aus«, meinte Dominik, ehe er sich den ersten Bissen Käsekuchen in den Mund schob.

Humor. Noch eine Neuheit, die Gero da gerade entdeckte. Wetten, dass Dominik heute Abend halb tot vor lauter Liebenswürdigkeit ins Bett fiel? Das musste ihn doch komplett erschöpfen!

»Ich hab auch noch ein bisschen was mitgebracht«, antwortete Gero. »Salatgurke, Tomaten, Paprika und so.« Dann schlug er vor: »Ich würde in der Küche anfangen. Denn wir sollten während unseres Aufenthalts hier tatsächlich alles Verderbliche aufessen. Lagervorräte würde Tante Anke übernehmen.«

»Ja, das möchte ich wetten. Ticktackoma hat tonnenweise Marmelade und mehr eingekocht. Ein Wunder, dass hier noch nicht die halbe Familie Schlange steht, um sich die Autos damit vollzustopfen«, erwiderte Dominik und fiel damit erfrischend zurück in sein natürliches Selbst.

»Eingekochter Kürbis in Weißwein, mit Zimtstangen, Sternanis, Nelken und viel Zucker«, stimmte Gero zu. Himmel, er stimmte Dominik zu! Vielleicht war das ja ansteckend, was den alten Griesgram befallen hatte? Damit es nicht ganz so offensichtlich war, wechselte er zurück zur Organisation. »Wie lange kannst du hierbleiben? Du machst doch die Buchhaltung für deine Eltern?«

Dominiks Eltern betrieben eine Tischlerei, und nach Geros letztem Wissensstand dank Mama kümmerte Dominik sich nicht nur um Buchhaltung, Steuern und Rechnungen, sondern machte auch die Lohnabrechnung und Urlaubsplanung für die Angestellten.

Dominik hatte gerade den Mund voll Käsekuchen, kaute, schluckte, nahm einen Schluck von der Teerbrühe, die er Kaffee nannte, und antwortete: »Ticktackoma hat gutes Internet, dafür habe ich gesorgt. Videotelefonate und so, das macht ihr Spaß. Ich bin also nicht auf das Büro zu Hause angewiesen. Notfalls mache ich die Nacht durch, falls etwas Wichtiges anliegen sollte. Ich habe alles dabei, was ich brauche. Also: Ich bleibe, bis das hier erledigt ist. Selbst, falls es Wochen dauert. Wie sieht es bei dir aus? Krankgeschrieben?«

»Bis auf Weiteres.« Keine Proben, und an Vorstellungen war ja nicht einmal entfernt zu denken. Scheiße.

»Dann haben wir einen groben Plan«, sagte Dominik und nahm den nächsten Happen Käsekuchen.

Wir. Ach, du heilige Zweisamkeit, Batman. Dominik und ich.

Aber so sah es aus. Und immerhin war der abgebrochene Giftzwerg kräftig und konnte anpacken und vor allem tragen, was Gero nur noch begrenzt möglich war.

2. Mit vereinten Kräften

 

Dominik

Er hatte nicht mit Hilfe gerechnet, so einfach war das. Die meisten seiner Cousins und Cousinen ließen sich hier oben selten blicken. Zwischen Weihnachten und Neujahr, so keine Schneeflocke drohte. Mitunter zu Ticktackomas Geburtstag, eine Feierlichkeit, die sie auf mehrere Tage ausdehnte, um Nachbarin, Freundinnen und Familie in Etappen bei sich zu Gast zu haben.

Sie liebte ihre Nachkommenschar von Herzen, und Dominik ärgerte sich über alle, die sich nicht regelmäßig bei ihr sehen ließen. Nicht umsonst hatte er sich um einen vernünftigen Internetanschluss gekümmert, sein älteres Tablet als Geschenk mitgebracht und Ticktackoma geduldig in dessen Wunder eingeweiht. Und noch wochenlang verzweifelte Anrufe entgegengenommen, weil sie Probleme mit dem Gerät hatte. Machte überhaupt nichts, er half ihr gerne, schrieb ihr eine Schritt-für-Schritt-Anleitung und demonstrierte die einzelnen Funktionen mehrfach. Darüber konnte sie die Besuchsfaulen erreichen, und sie freute sich so zauberhaft darüber.

Er hatte das Pflegebett im Wohnzimmer aufgebaut und den Rest des Zimmers so wohnlich wie möglich hergerichtet. Dass er sich nicht ganz alleine um Ticktackoma kümmerte, wusste er. Sie erzählte hin und wieder von ihrer lieben Nachbarin, die so viel für sie erledigte und immer für sie da war. Einmal hatte Dominik diese Frau auch im Hintergrund bei einem Videocall gesehen und ihr freundlich zugewunken, was sie mit einem scheuen Lächeln und der Flucht nach außerhalb der Reichweite der Kamera beantwortet hatte. Moderne Technik und ältere Leute. Er verstand das. Außerdem war da auch noch die Pastorin aus Klaxdonnersbüll, und eine andere ältere Frau namens Edith erledigte die Einkäufe. Aber da gab es noch mehr. Der Rasen wurde gemäht, der Garten generell gepflegt, jemand räumte auf, wischte die Regale ab und hatte Ticktackoma einen niedlichen Staubsaugerroboter mit aufgeklebten Wackelaugen und Katzenplüschohren gekauft und programmiert. Diese Person wartete das kleine Ding auch regelmäßig und schnitt lange Haare von der Walze.

Und dieser Jemand war Gero, wie Dominik von Ticktackoma wusste. Gero hatte von Kiel eine deutlich längere Anfahrt als Dominik, der binnen einer knappen Stunde hier sein konnte. Deswegen verbrachte Gero meistens den Großteil des Wochenendes hier, übernachtete auch, und Dominik hatte in Anbetracht dieser Regelung seine eigenen Besuche auf mitten in der Woche gelegt, damit er Gero nicht über den Weg lief. Außerdem war das für Ticktackoma besser, weil sie dann fast jeden Tag Unterstützung erhielt. Genau.

Es verblüffte ihn, dass sie jetzt hier friedlich an Ticktackomas Tisch aus Mooreiche zusammensitzen, Käsekuchen essen und gemeinsam einen Schlachtplan erdenken konnten. Normalerweise gerieten sie sich schon nach zwei Minuten in die Haare. Wahrscheinlich hatte Dominik die derzeitige Friedfertigkeit seines Cousins dessen Mutter oder Tante Anke zu verdanken. Die Frau war ein Feldwebel! Trotzdem war er gespannt, wie lange das gut ging.

Nein, das ständige Kriegsgeschehen war ganz bestimmt nicht alleine Dominiks Schuld! Gero hatte eine verdammt scharfe Zunge, so lieb und sanft er allgemein auch tat.

Aber jetzt … vier Fäuste für Ticktackoma. Oder so. Das konnte eine Weile klappen, hoffte Dominik, möglicherweise lange genug, um die Arbeit zu bewältigen. Er hatte vor, sich gewaltig ins Zeug zu legen, damit er hier wegkam, ehe Gero die ungewohnte Freundlichkeit von sich warf. Ein paar Tage lang könnte das klappen, aber länger als eine Woche – keinesfalls! Es gab nur so viel zu tun! Das schafften sie nicht an einem Wochenende, verflixt.

Vielleicht hätte er mit Geros Auftauchen gerechnet, hätte Ticktackoma ihm nicht von einem Unfall und einer Operation erzählt. Außerdem hatte sie erwähnt, dass Gero momentan nicht Autofahren konnte. Dominik mutmaßte, dass das ihm unbekannte Fahrzeug auf der Auffahrt einer Automatikschaltung geschuldet war, damit Gero wieder mobil sein konnte. In dem neuen Wagen benötigte er den linken Fuß ja nicht.

»Ich habe Umzugskartons im Auto«, sagte er, als sie beide mit dem Käsekuchen fertig waren. »Die würde ich gleich holen. In der Diele ist ja genug Platz, um sie dort zwischenzulagern.« Konstruktiv konnte er wirklich sein!

»Mein Auto ist mit Faltkisten beladen. Die sind auch gut stapelbar«, antwortete Gero ebenso produktiv.

Heute war Mittwoch. Falls alles gut lief, waren sie spätestens am Wochenende mit dem Sortieren und Packen der Pflegeheimsachen fertig, ohne sich zwischendurch gegenseitig zu erdrosseln. Arbeitsteilung, getrennte Etagen. Und sie kannten beide Ticktackoma gut genug, um zu wissen, worauf sie Wert legte. Das war gut. Besser, als würde er mit jemand anders die Sachen durchgehen müssen. Obwohl das ansonsten natürlich in jeder Hinsicht besser wäre. Den Gedanken an die finale Haushaltsauflösung schob Dominik noch ein wenig vor sich her, aber auch die würde er wohl gemeinsam mit Gero bestreiten müssen, oder? Ach, verflixt! Am liebsten wäre es ihm ja, ein paar der Männer aus der elterlichen Firma für ein Wochenende nach Prillsande zu verschleppen, um das Haus im Hauruckverfahren zu leeren, nachdem Ticktackomas Schätze ja nun von Gero und ihm geborgen wurden.

Sie räumten gemeinsam die restlichen Lebensmittel und das Geschirr auf das Tablett, das Dominik in die Küche trug, ehe es Scherben geben könnte, weil Gero das einhändig erledigen müsste.

»Gibst du mir deinen Wagenschlüssel? Dann hole ich jetzt die Kartons und deine Kisten«, schlug er vor.

Gero folgte dieser Aufforderung umgehend. »Ich gehe als Erstes den Kühlschrank durch. Vielleicht muss ich schon einiges entsorgen, aber ich möchte auch eine Übersicht haben. Weißt du, ob es den Dorfladen in Klaxdonnersbüll noch gibt?«

Dominik nickte. »Ja, immer noch vorhanden. Außerdem gibt es ein Stück weiter einen Hofladen und in Prillsande selbst ein Bistro. Ich bin kein guter Koch, möchte ich anmerken. Das Bistro erscheint mir also als Rettung in der Not.«

»Ich kann kochen«, versicherte Gero.

Zum Kuckuck, war das etwa ein Angebot, dass Gero für sie beide kochen würde? Dominik hatte sich auf belegte Brote und einmal am Tag das Bistro eingestellt. Er wollte bei dem Versuch, Spiegeleier zu braten, ja nicht die Küche abfackeln. Rauchmelder hin oder her! Aber war ja klar, dass Gero kochen konnte: alleinerziehende Mutter seit dem Tod des Vaters, eine ältere Schwester und ein jüngerer Bruder im Haus. Dominik vermutete, dass Gero mehr von Haushaltsführung verstand als er. Immerhin war er ohne mütterlichen Fresskorb hier erschienen. Nun, wahrscheinlich achtete er auch besonders auf seine Figur. Fettröllchen ließen sich in Balletttrikots schlecht verbergen, und Dominik konnte sich vorstellen, dass jedes Gramm zu viel auch die Leistung beeinträchtigte.

Aber so … Gero war natürlich schlichtweg traumhaft gebaut. Wie jeder Balletttänzer. Schlank, aber auf drahtige Art muskulös. Leider neigte er zu exaltierter Gestik, das brachte die Tanzausbildung wohl mit sich. Jede Handbewegung schien Dominik leicht überzeichnet. Auch wenn er das auf der Bühne absolut verstand, damit auch die Leute in der letzten Reihe noch erkennen konnten, was da vorne in weiter Ferne geschah. Schade, dass Gero es aber auch in seinen normalen Umgang übernommen hatte. Seit wann tanzte er? So lange Dominik sich erinnern konnte!

Er stellte das Tablett auf die Arbeitsplatte und überließ die Küche Gero, um selbst nach draußen zu gehen, um beide Autos zu entladen. Ob der kleine Rucksack Geros gesamtes Gepäck enthielt? Sie wollten ja nur ein paar Tage bleiben, deswegen war es gut möglich.

Zuerst holte Dominik seinen praktischen Klappwagen aus seinem Auto, um diesen mit Geros Faltkisten zu beladen. Dabei entdeckte er auf der Rückbank eine Kühlbox und stand nun vor dem Dilemma, ob er diese einfach ebenfalls auflud. Nein. Er würde Gero fragen. Erst einmal rollte er die Klappboxen ins Haus und stapelte sie in der Diele.

Einmal tief durchatmen, dann öffnete der Küchentür und fragte: »Was ist mit der Kühlbox auf deiner Rückbank?«

»Gemüse. Ich hole sie nachher«, lautete die knappe Antwort halb aus dem Kühlschrank.

»Ich kann sie jetzt auch gleich mit reinbringen. Ich habe ein Wägelchen.« War das zu viel des Guten gewesen? Echt, Tanz am Rande des Vulkans und absolut nicht lustig.

Gero nahm den Kopf aus dem Kühlschrank. »Dann gerne. Danke.«

Hui! Höflich! Dominik zog sich zurück und holte seine Pappkartons und die Kühlbox, verriegelte beide Autos und ließ vor seiner Rückkehr ins Haus den Blick über die vormalige Hofstelle und die Umgebung schweifen.

Der Garten sah ordentlich aus. Wahrscheinlich hatte die Nachbarin gemäht, oder die Pastorin hatte jemand aufgetrieben, der das erledigte. Die Rosen blühten üppig, sie waren Ticktackomas ganzer Stolz, wie er wusste. Bis zuletzt hatte sie diese eigenhändig gepflegt und beschnitten und nur einmal, als es ihr nicht gut ging, jemand mit dieser Aufgabe betraut, wobei sie dieser Person garantiert die ganze Zeit auf die Finger geguckt hatte.

Sie hatte hier wirklich seit ewig gelebt, seit ihrer Heirat mit dem Dominik unbekannten Urgroßvater. Der Mann war sehr früh gestorben, ein Autounfall, soweit Dominik wusste, und Ticktackoma saß alleine mit sechs Kindern und einem kleinen Bauernhof da. Kühe, Schweine, Hühner und bestimmt auch noch Ackerland.

Er wusste von alten Fotos in Ticktackomas Alben, dass früher direkt ans Haus angebaut Stallungen und eine Scheune gestanden hatten. Die waren dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, erklärten aber auch die leichte Asymmetrie des Hauses. Die Eingangstür unter dem kleinen Portikus lag nicht genau mittig, das Treppenhaus am linken Ende des Hauses, statt mittendrin. Dort hatten sich die Hofgebäude angeschlossen. Auch heute noch war das Grundstück größer, als eine einzelne Person, zumal auch noch eine alte Frau, alleine bewirtschaften konnte. Ticktackoma hatte bis vor ein paar Jahren einen großen Gemüsegarten gehabt, und ihr Obstbaumbestand war einfach nur eindrucksvoll zu nennen. Einen Teil des Landes hatte sie verpachtet, wusste er, denn er kümmerte sich natürlich auch um ihre Steuern.

Möglicherweise wuchs ihr das hier auch alles über den Kopf, und sie würde froh sein, in etwas kleineren Verhältnissen und mit ständig einsatzbereiter Betreuung zu leben. Sie nutzte jetzt ja nur noch einen Bruchteil des Hauses, und alleine der Weg zum Badezimmer war für sie eine kleine Weltreise und musste sie ermüden. Ja, sie war sehr alt, aber als hinfällig würde er sie nicht bezeichnen. Vor allem war sie geistig absolut klar.

Er lud seine Umzugskartons auf den Transportwagen, rollte auch diese zweite Fuhre ins Haus und stapelte die Pappkartons ordentlich auf der Truhe. Dann betrat er mit der Kühlbox die Küche, um Gero Vollzugsmeldung zu geben, dass er sich jetzt bei Bedarf eine Faltkiste oder einen Karton nehmen könnte. Kooperativ hoch drei war er, damit das hier alles reibungslos über die Bühne ging. Und danach würde er nach oben gehen und dort seinen Anteil der Arbeit leisten. Bis zum Abendessen musste er Gero nicht wiedersehen.

Dieser stand auf einem Bein vor dem Kühlschrank. Die Krücke lehnte in Reichweite. Wie lange konnte der Kerl so stehen? Dominik würde nach kürzester Zeit ins Kippeln geraten! Aber bei Gero sah es natürlich mühelos aus, ganz als wäre es Absicht, als würde er irgendeine Übung mit der Durchsicht des Kühlschranks verbinden.

»Kisten und Kartons sind alle in der Diele«, sagte er, während er den Blick anerkennend über Geros Rückansicht schweifen ließ. Selbst in schlabbriger Jeans und einem weiten T-Shirt ließ sich die gute Figur nicht verbergen. Und der knackige Hintern schon mal gar nicht. Zu blöd, dass all das einer Giftschlange gehörte, die seit Jahren mit Dominik in Fehde lag. Wobei er keine Ahnung mehr hatte, wann und warum das genau angefangen hatte. Sie konnten sich nicht ausstehen, das war das Einzige, das sicher und geklärt war. Mehr brauchten sie ja auch nicht zu wissen, nicht wahr?

»Ich glaube, der Kühlschrank ist schon aufgeräumt worden. Ich bin auf keinerlei Horror gestoßen, dafür sind hier aber Vorratsbehälter aus Glas mit Auflauf und Hackbraten. Große Portionen, an denen Ticktackoma mindestens drei Tage zu futtern hätte. Ich habe eine Liste mit den frischen Vorräten erstellt. Die Trockenvorräte und Konserven gehe ich auch gleich durch.« Elegant und wie auf der Bühne drehte Gero sich auf dem rechten Fuß und schloss die Tür des Kühlschranks, ehe er nach der Krücke griff.

»Ungewöhnlich. Sie wird ja kaum gewusst haben, dass sie die Treppe hinabstürzt.«

»Wie heißen die beiden, die sie unterstützen?«

»Edith. Die andere weiß ich nicht.«

»Dann war es wohl eine von den beiden. Tante Anke sagte mir, dass ich auf ausdrücklichen Wunsch von Ticktackoma hier bin. Das sieht bei dir wohl ähnlich aus?«

»Nicht ähnlich. Identisch.« Er merkte, wie er die Federn aufstellte. Er war ebenso berechtigt, in diesem Haus zu sein wie Gero. Er hatte den gleichen Auftrag, weil Ticktackoma ihm ihr Haus und ihre Sachen anvertraute und wusste, dass er alles nach ihren Wünschen regeln würde.

Gero nickte nur knapp. »Dann wird sie ihre beiden Bekannten wohl darüber informiert haben, dass wir zu zweit hier räumen, und eine von beiden hat sich in die Küche gestellt, damit wir nicht verhungern.«

»Und hat obendrein den schimmeligen Quark aussortiert«, ergänzte Dominik.

Wieder das knappe Nicken. »Ticktackoma wird ihr rotes Geschirr haben wollen. Ich wette, das stammt noch aus den Siebzigerjahren.«

Ah, hier war der erste Punkt, an dem er vorübergehend Widerspruch einlegen musste. Der Burgfrieden hatte nicht lange gehalten, verflixt. Dominik räusperte sich leise. »Das hängt wohl auch von der Art ihrer Unterbringung ab. Eigene Wohnung im betreuten Wohnen? Dann geht es. Aber nicht, wenn sie nur ein Zimmer mit Rundum-Service beziehen soll.« Da, er hatte das doch vollkommen vernünftig und sachlich vorgebracht!

Gero starrte auf das Tablett von ihrem gemeinsamen Begrüßungsimbiss. Die Vorratsdosen hatte er schon in den Kühlschrank verräumt, aber die dicken Tassen standen noch da. »Das sollten wir in Erfahrung bringen, damit wir überhaupt wissen, was wir einpacken sollen.«

»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Tante Anke das derzeit schon weiß. Pflegeplätze sind rar gesät. Kannst du gut mit Tante Anke?«

»Geht so. Aber ich rufe sie an, was sie geplant hat.«

Dominik nickte dankbar. Er konnte mit Tante Anke nämlich gar nicht umgehen. Es trieb ihn die Wände hoch, wenn sie ihn herumzukommandieren versuchte. »Wir sind ja ein wenig beschäftigt, denke ich. Bis zum Wochenende benötigen wir mindestens. Weißt du, wo Ticktackoma derzeit liegt?«

»Flensburg. Aber ich denke, da gibt es mehrere Krankenhäuser.« Gero zog sein Smartphone hervor. »Ich schreibe mir eine Notiz, was ich Tante Anke alles fragen will. Welcher Art die Pflegeheimunterbringung sein soll und wo genau wir Ticktackoma finden.«

Wir. Na, großartig. Nun, immerhin hatten sie jeder ein Auto, würden also nicht eine halbe Stunde oder so in einem Fahrzeug hocken. Das würde tödlich ausgehen, weil sie garantiert vor lauter Zank im Graben landeten. Hier im Haus konnten sie sich aus dem Weg gehen, um Zusammenstöße zu minimieren. Und hoffentlich konnte er vom Hof fahren, ehe es wirklich knallte, weil sie alle Kräfte für Höflichkeit verbraucht hatten. Er gab sich wieder Mühe, etwas Konstruktives beizusteuern. »Dann könnten wir ihr auch gleich Kleinkram ins Krankenhaus bringen, finde ich. Bücher zum Beispiel, damit sie sich nicht langweilt.«

»Und ihren Morgenmantel mit den Schmetterlingen, den liebt sie.«

Den hatte Dominik ihr zu Weihnachten geschenkt. Nicht, dass er das jetzt hervorheben wollte, aber es machte ihn glücklich, dass Ticktackoma den flauschigen Mantel mochte und das sogar Gero gegenüber erwähnt hatte. Da war es gleichgültig, ob dieser wusste, woher das Kleidungsstück stammte. »Falls Tante Anke ihn noch nicht eingepackt hat, sollte er im Wohnzimmer oder im Bad sein. Ticktackoma muss ja eine Tasche mit Kulturbeutel und zumindest Unterhosen haben.«

»Das hat sie«, bestätigte Gero. »Die Tasche mit den Rosen stand nicht mehr in der Diele. Darin hat sie genug für ein paar Tage. Aber nicht den Morgenmantel, und ich bezweifle, dass Tante Anke ihr den vorbeigebracht hat«, sagte Gero. »Sie rührt sich doch kaum noch aus ihrem Haus. Ich halte nach dem Morgenmantel Ausschau«, versprach er. »Sobald ich hier mit einer Bestandsaufnahme fertig bin.«

Das klang nach dem Ende der Audienz bei Herrn von und zu Ballettratte. Dominik war es recht. Sie hatten ja die wichtigen Punkte besprochen, und er würde froh sein, in die friedliche Abgeschiedenheit des ersten Stocks zu gelangen. Ein Hoch auf kaputten Knöchel und Treppe! »Dann fange ich jetzt oben an.« Und er würde seinen Trolley mitnehmen, seinen Laptop aufstellen und zwei Umzugskartons zusammenbauen. Er erwartete nicht, oben viel zum Einpacken zu finden – außer der von Gero erwähnten Winterbekleidung, von der Ticktackoma bestimmt nicht mehr alles benötigte. Die ganzen letzten Jahre war das Obergeschoss eher für die Verwandtschaft benutzt worden, wenn jemand übernachten wollte. Doch bestimmt fand er trotzdem noch Einiges.

Gero nickte nur und wandte sich den Vorratsschränken zu. Dort würde er eine wahre Batterie Einmachgläser finden, wusste Dominik.

Er selbst trat zurück in die Diele und atmete dort einmal tief durch. Sie konnten das wirklich alles schaffen, ohne sich allzu sehr in die Haare zu geraten, hoffte er. Immerhin zogen sie gemeinsam an einem Strang – sogar in die gleiche Richtung! Weil sie es für Ticktackoma taten, die Gero offenkundig ebenso lieb hatte wie Dominik. Wow, das war ja eine Gemeinsamkeit! Fürchterlich, etwas mit Gero gemein zu haben, aber in der jetzigen Lage wirklich nützlich.

Er wanderte den langen Flur entlang, stieg die Treppe empor und empfand jetzt doch leichte Missgunst, dass er oben arbeiten würde, während Gero sich um das Erdgeschoss kümmerte. Einfach, weil Ticktackoma die letzten Jahre meistens unten verbracht hatte. Dort würden die meisten Dinge sein, an denen ihr Herz hing. Aber ging nun einmal nicht anders, und Dominik hatte sich vorgenommen, dass nicht er es sein würde, der Krach begann, seitdem er Gero auf dem Hof entdeckt hatte.

Außerdem – seine Lebensgeister hoben sich bei der Aussicht ein wenig – würde er im Obergeschoss bestimmt schneller fertig sein und konnte dann unten helfen. Die Lebensgeister purzelten zurück auf den harten Boden der Tatsachen. Zusammen mit Gero, und dann – Seite an Seite, und sei es auch dreimal für Ticktackoma – würden sie bestimmt doch wieder Anlass zum Streiten finden. Das war doch zum Mäusemelken!

Aber erst einmal richtete er sich im Gästezimmer ein, packte seine Klamotten in den Kleiderschrank, steckte den Laptop ans Stromnetz und ließ das Gerät hochfahren, während er den Trolley oben auf dem Schrank verstaute, das Fenster aufriss und warme, weiche Sommerluft einließ. Er schüttelte die Bettwäsche auf und sah dann nach, ob der Laptop WLAN-Zugriff hatte. Danach checkte er seine E-Mails, ob aus der elterlichen Firma etwas Dringliches anlag. Nein, Stille im Wald, hervorragend. Mama und Papa würden sich bestimmt bemühen, dass es so blieb, sie wussten ja, dass er hier vollauf beschäftigt sein würde.

Er sah sich noch einmal in dem großen Zimmer unter der Dachschräge um. Doch es war wirklich nur ein Gästezimmer. Ein paar Bücher in einem Regal, die alle aussahen, als hätte sie seit Ewigkeiten niemand gelesen. Dominik liebte Bücher, obwohl er die meisten Romane, die er abends vor dem Schlafengehen verschlang, auf einem handlichen E-Reader hatte. Der war beleuchtet und fasste mehr Geschichten als das ganze Regal da.

Er zögerte. Nein, jetzt würde er nicht nachsehen, welche Bücher Ticktackoma für Übernachtungsbesuch aufgestellt hatte. Erst einmal stürzte er sich auf die Arbeit. Hier oben gab es die beiden großen und zwei kleine Schlafzimmer, ein Badezimmer und dann das riesige Wohnzimmer mit einem weiteren angrenzenden Zimmer. Eine Zeit lang hatte Ticktackoma wohl mit dem Gedanken gespielt, das Obergeschoss zu vermieten oder als Wohnraum für eine Haushaltshilfe und Pflegekraft anzubieten. Es war dann doch dabei geblieben, dass nur Angehörige die Räumlichkeiten genutzt hatten. Nicht nur Haushaltshelfer wie Gero und er, sondern auch Besuch nach Familienfeiern.

Er trat auf den Flur und ging ins Wohnzimmer. Hell, sonnig, das sichtbare Gebälk dunkel und die Wände in einem ganz hellen Zitronengelb gestrichen, Holzfußboden, nordische Möbel, sodass es sich fast wie in einem dänischen Ferienhaus anfühlte. Dazwischen alte Möbel, zwei Vitrinen, die voll mit Nippes und Teddybären standen. Darunter befanden sich doch garantiert Schätze, auf die Ticktackoma auch in einer kleinen Wohnung nicht verzichten wollte.

Kurzerhand machte er Fotos vom Inhalt der Vitrinen. Die konnte er Ticktackoma zeigen, dann konnte sie selbst entscheiden. Sobald sie überhaupt wussten, wohin die Reise für den alten Liebling ging. Denn sie mussten natürlich je nach Größe der neuen Bleibe die Menge der geliebten Dinge berechnen.

Wenn er ehrlich war, hatte er diese Arbeit des Sortierens und Aufräumens irgendwann einmal vor sich gesehen. Umringt von raffgierigen Verwandten, die auf Kostbarkeiten hofften, obwohl sie sich seit Jahren kaum hier hatten blicken lassen.

Er blieb vor einer Vitrine stehen und musterte die Teddybären, die ihn aus dunklen Knopfaugen neugierig betrachteten. Die fotografierte er auch, obwohl sie allesamt so aussahen, als würden sie schon eine ganze Weile hier herumsitzen. Doch was aus ihnen werden sollte, musste Ticktackoma entscheiden.

3. Gedanken über einen Griesgram

 

Gero

Abgesehen davon, dass Dominik Kisten schleppen würde, war das Arrangement einfach die fürchterlichste anzunehmende Option.

Dominik hielt das im Leben nicht lange durch. Spätestens morgen würde er Muskelkater vom Freundlichsein haben. Gut, den Muskelkater gönnte Gero ihm natürlich. Doch der nächste große Nachteil lag darin, dass er selbst keine Schwäche zugeben wollte – außer der offensichtlichen, die er nicht verbergen konnte. Doch solange er von oben Geräusche vernahm, die bewiesen, dass Dominik nicht faul auf dem Sofa lag, sondern sortierte, packte und schleppte, würde Gero ebenfalls durchhalten.

Er hing immer noch in der Küche fest, weil es verblüffend war, wie viele Vorräte Ticktackoma besaß. Nichts war überlagert, das erstaunte ihn. Er hatte – wie bei seinen Großeltern, als er deren Küche einmal zusammen mit Mama durchgeforstet hatte, weil die Schränke kaum noch zu schließen waren – mit seit zehn Jahren abgelaufenen Backmischungen gerechnet. Nun, Ticktackoma besaß überhaupt gar keine Backmischung. Dafür fand er ihre Rezeptsammlung in einem sehr abgegriffenen Ordner im Format A5.

Lächelnd blätterte Gero die ersten Seiten durch. Sütterlin, natürlich, aber er konnte das lesen, weil sie auch Geburtstagskarten und solche zu Weihnachten in dieser Schrift verfasste und er es dementsprechend von Kindesbeinen an gelernt hatte. Zwischen den handgeschriebenen Rezepten auf Karopapier fand er aufgeklebte, vergilbte Backideen aus Illustrierten, mehrere andere in fremder, immerhin moderner Handschrift, wenn eines ihrer Kinder oder Enkelkinder ihr ein Rezept aufgeschrieben hatte. Er blätterte weiter und fand noch eine Handschrift in Sütterlin, die sich von Ticktackomas allerdings unterschied. Wohl von einer Freundin, vermutete er. Oder gar von ihrer eigenen Mutter?

Eines stand fest, sagte Gero sich, als er den Ordner vorerst zurück in dessen Fach stellte: Diese Rezepte mussten eingescannt werden und für die Familie erhalten bleiben. Und er würde sich redlich Mühe geben, die Sammlung vor Tante Anke zu verteidigen, die diesen Schatz nämlich sonst sofort für sich reklamieren und ihn nie zum Kopieren herausrücken würde. Feldwebel und Raffzahn!

Er grinste. Vielleicht sollte er das Käsekuchenrezept sogar gerahmt an die Wand hängen! Familienschatz, der es war.

Getreu dem Ratschlag seiner Mama sah er dann durch, welche Küchengeräte Ticktackoma besaß. Im Pflegeheim würde sie keines davon benötigen, und in Geros und Dominiks Generation gab es viele, die bald ausziehen und einen eigenen Hausstand gründen würden oder die gerade frisch die erste Wohnung bezogen hatten. Die meisten würden sich über eine gute Küchenmaschine, einen Handmixer oder Ähnliches freuen, hatte Mama weise gesagt. Gero suchte also alles zusammen und trug die Gerätschaften in eine Liste ein. Einige gehörten ins Museum, eines – ein Waffeleisen – in den Müll, da die Isolierung am Kabel brüchig war. Gero wurde ganz flau im Magen, wenn er sich vorstellte, dass Ticktackoma noch mit diesem Gerät hantierte! Er sortierte es umgehend aus.

Vielleicht sollte er eine seiner Faltkisten nur für solche Dinge bestimmen? Wo befand sich der nächste Recyclinghof? Wahrscheinlich Niebüll oder Flensburg, falls nicht einer der etwas größeren Örtchen in der näheren Umgebung mit einem aufwartete. Er machte sich eine Handynotiz, dass er das heute Abend in Ruhe heraussuchen würde. Weit war es auf jeden Fall nicht, vermutete er. Man wollte es den Leuten ja einfach machen, damit sie nicht aus Bequemlichkeit ihren Müll in den nächsten Straßengraben kippten. Taten einige Mistkerle natürlich trotzdem.

Über sich vernahm er immer noch Dominiks Schritte. Verdammt, wollte der Kerl denn nie müde werden?

Das Haus war hellhörig, kein Wunder mit hölzernen Zwischendecken, altem Dielenboden, und obwohl er das wusste, fühlte Gero sich von dem Knarren und den Schritten langsam wirklich genervt. Die beiden Badezimmer lagen übereinander, sein Schlafzimmer direkt Wand an Wand mit seinem Bad. Jede Wette, er bekam das nachts mit, wenn Dominik auf den Pott ging? Oh, verflixt, der große Raum, den Dominik oben bezogen hatte, lag auch genau über Geros Schlafzimmer! Na, ganz besonders großartig! Der alte Griesgram hatte doch angekündigt, notfalls nachts für die elterliche Firma zu arbeiten!

Gero fluchte unterdrückt. Er kannte Ticktackomas Haus nur als friedlichen Ort, wo das Lauteste der morgendliche Vogelgesang war – außer der Treckerrallye während der Erntezeit, klar. Aber natürlich hatte er keine Ohrstöpsel eingepackt.

Er sandte ein Stoßgebet an Tante Martina und Onkel Thomas, dass sie bis zur Rückkehr ihres Kükens mal ohne Dominik auskommen würden. Bitte! Er wollte doch nur friedlich schlafen. Das war doch wirklich nicht zu viel verlangt, oder? Wenn er schon den ganzen Tag Dominiks Gewittermiene ertragen musste, sollte er doch zumindest nachts seine Ruhe finden können!

Er wanderte in die Diele, holte eine Faltkiste und kam zu dem Schluss, dass er in jeder anderen Lage, ginge es also nicht um Ticktackoma, gleich nach Entdeckung von Dominiks Auto umgedreht hätte. Zum Kuckuck mit Tante Anke und ihren Anordnungen. Aber … es ging um Ticktackoma, und das änderte einfach alles.

Die Klappkiste wanderte auf die Arbeitsfläche, und mit allem angemessenen Pomp entsorgte Gero das Waffeleisen des Todes. Im wahrsten Sinne des Wortes! Sie hatte das verdammte Ding vielleicht in diesem beschädigten Zustand noch benutzt! Das ging überhaupt nicht! Und jetzt würde er das verflixte Kabel an jedem Elektrogerät doppelt und dreifach prüfen.

Er zögerte. Aber ja, es ging nicht um Dominik oder ihn, sondern um Ticktackoma. Also würde er den abgebrochenen Giftzwerg informieren, was er hier gefunden hatte, damit dieser ebenfalls gründlich alle Elektrogeräte in Augenschein nahm. Sicher war sicher.

Als er gleich zwei Standmixer fand, wurde ihm klar, dass die liebe Ticktackoma ein wenig gehortet hatte. Wahrscheinlich Geschenke. Beide Geräte waren auf den ersten Blick in Ordnung, also trug er sie in seine Liste ein. Dann lauschte er auf Geräusche von oben. Er hatte die meiste Zeit natürlich ohne Krücke gearbeitet, damit er beide Hände frei hatte, und der Knöchel stellte ihm dafür gerade eine Rechnung mit bösen Mahngebühren aus. Eine Pause käme Gero wirklich recht.

Und er hörte tatsächlich keinen Mucks von oben. Erleichtert wollte er sich an die Küchenarbeitsplatte anlehnen und nach seiner Krücke angeln, als Dominik deutlich vernehmbar hinter ihm fragte: »Wie siehst du mit Essen aus?«

Gero schnappte erschrocken nach Luft und stieß gegen die Krücke, die die Gunst der Stunde natürlich nutzte, um sich theatralisch zu Boden zu werfen. Heilige Bühnenshow! War das erste Mal heute, immerhin.

Wie ein Greifvogel stürzte Dominik herbei, tauchte nach der Krücke und überreichte sie, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Und? Wie siehst du mit Essen aus?«

Sein Magen knurrte. Nicht nur vor Hunger, sondern auch, weil Dominik diese Wendung ebenso selbstverständlich nutzte, wie er selbst das tat. Klar, die Quelle dieses Familienschnacks war Ticktackoma. Trotzdem wurmte es Gero irgendwie. Genau wie die ach so heldenhafte Bergung seiner dramatischen Krücke.

Er nahm sie mit Haltung entgegen und würgte sogar einen Dank hervor, obwohl das vollkommen unnötig gewesen war. Ramponierter Knöchel, nicht mehr. Er hätte sich selbst bücken können. Mühelos übrigens!

Und jetzt stand Dominik genau vor ihm und sah ihn an wie eine besorgte Gewitterwolke, was mal etwas Neues war.

Wie rein seine Haut war! Als wäre Akne an seiner Sturheit abgeprallt oder hätte die Flucht ergriffen, nachdem sie sich vor einem düsteren Blick erschreckt hatte.

Gero haschte nach zerfasernden Gedanken, weil Dominik einfach zu nahe stand. Weil selbst die übliche Gewittermiene nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass dieser Mann attraktiv war. Oder sein könnte, wenn er nur mal anders als mürrisch dreinblicken würde.

Was? Vollkommener Unfug, den er sich da zusammendachte. Wie siehst du mit Essen aus? Ein Spruch, den Ticktackoma dauernd verwendete, der dementsprechend in der ganzen Familie kursierte, was leider auch Dominik das Recht gab, diese Frage so zu formulieren.

Dass der Schnack außerhalb der weitverzweigten Familie unbekannt war, hatte Gero erkannt, als er eine Freundin vor dem gemeinsamen Kochen gefragt hatte, wie sie mit Mehl aussähe. Verwirrter Blick und die zögerliche Antwort »Weiß?« hatten ihn gezwungen, auf allgemein gebräuchlichere Art nachzufragen, ob sie genügend Mehl im Haus hätte.

Essen. Zurück zu Dominik, der nun als Verstärkung seiner mittlerweile zweifach gestellten Frage die Braue hob.

Gero riss sich zusammen. »Ich bin die Vorräte durchgegangen und könnte Gemüse mit Tomatensauce für uns kochen. Und wir haben den Hackbraten im Kühlschrank, falls du lieber etwas Handfesteres haben möchtest.«

Dominik konnte ja nicht kochen, weil seine Mama ihn umsorgte und wahrscheinlich Sorge hatte, dass er ihre Küche in ein Schlachtfeld verwandelte. Dazu neigte Gero selbst auch und putzte nach dem Kochen immer alles, weil Tomatenspritzer an den Wandkacheln einfach unvermeidlich waren.

Dominik zückte einen bunten Flyer. »Ich sagte doch, dass in Prillsande ein Bistro ist. Die Speisekarte habe ich vorhin auf dem Hinweg dort mitgenommen. Ich war einmal mit Ticktackoma da, weil sie unglaublichen Appetit auf Donuts hatte. Machen die da selbst. Zum Abendessen bieten sie Pizza, Burger, Lasagne und noch viel mehr. Ich habe den Fehler gemacht, mir eben oben die Speisekarte anzusehen. Seitdem hängt mein Magen in den Kniekehlen und brüllt nach Pizza mit viel Käse.«

Dann fahr doch. Und während Dominik in Pizza schwelgte, würde Gero sich einen Salat anrichten oder eine Scheibe Brot mit Käse belegen und ganz in Ruhe und Frieden zu Abend essen. Er könnte seinen schmerzenden Fuß hochlegen, leise oder auch lauter jammern, ohne Sorge haben zu müssen, dass sein widerwärtiger Cousin diese Schwäche wahrnahm. Einfach eine halbe oder gar eine ganze Stunde durchatmen. Wundervolle Vorstellung!

»Kommst du mit? Arbeitsessen, denn ich habe ein paar Sachen oben gefunden, bei denen ich mir nicht sicher bin. Ehe ich sie in Kartons stopfe oder einzeln zu deiner Begutachtung anschleppe und hier unten alles voll räume, habe ich sie geknipst.«

Vom Flyer winkte die Pizza mit Spinat, Frischkäse und Mandelblättchen unter goldener Käsekruste. Also, die Mandelblättchen befanden sich auf dem Käse. Sah verlockend aus. Er sollte sich einen Salat machen. Immerhin hatte er vorhin schon ein Stück Käsekuchen verputzt. Aber … wenigstens war Spinat auf der Pizza, er konnte sich also einreden, dass sie salatartig war. Und morgen kürzertreten.

Und … er war noch nie alleine in diesem Haus gewesen. Mit einem Mal fühlte sich der Gedanke ein wenig unheimlich an. Der Hof lag am Hintern der Welt. Irgendwo ein Stück weiter die schmale Straße hinauf wohnte die nette Nachbarin, sonst ringsum nur Felder, Knicks, Wald und … und Wildschweine, oder? Bislang hatte er oben Dominiks Schritte vernommen, die Geräusche von bewegten Kisten, das Knarren von Schranktüren. Aber was, wenn Dominik weg war, und oben knarrte etwas? Gruselig! Außerdem fühlte das Haus sich ohne Ticktackoma anders an. Nicht so heimelig, sondern irgendwie … na, anders eben. Obendrein sah die Pizza göttlich aus, und Dominiks Vorschlag klang durchaus vernünftig.

Er gab sich einen Ruck. »Unter einer Bedingung?«

Wieder wölbte sich die dunkle Braue nach oben.

»Bitte behandle mich nicht, als wäre ich komplett hilflos. Das bin ich nicht. Es wird heilen, ich werde wieder tanzen.« Das hoffte er so sehr. Er musste einfach wieder tanzen können! Seine Ärzte konnten unmöglich recht haben. Übung und Beharrlichkeit. Das wurde wieder!

Und dann – es war unglaublich und komplett unerwartet – grinste Dominik auf eine jungenhafte, total entwaffnende Art, die für einen Augenblick alle Gewitterwolken wegblies. »Ich wusste, dass du das mit der Krücke übel nehmen würdest, während ich gerade nach ihr tauchte. Aber dann abzubrechen, wäre noch unhöflicher gewesen. Ich versuche, daran zu denken. Ich bin es nur gewohnt, Ticktackoma zu helfen, wenn ihr etwas herunterfällt. Irgendwie … steckt das drin.«

Das klang offener und ungewohnt ehrlich und nahm Gero ein wenig seine Verärgerung über die Aktion gerade. Er nickte. »Wie kann ich dich davon abhalten, ohne grob zu werden?« Denn sie gerieten sich immer in die Haare, was mit dem Auftrag, hier klar Schiff zu machen, sauber kollidieren würde. Dann wäre es erst ungemütlich! Und obwohl Gero nicht davor zurückschreckte, klare Worte zu finden, was er wollte und was ganz und gar nicht, wäre es ihm leicht peinlich, Dominik womöglich in einem proppevollen Bistro anzuranzen, weil dieser ihm einen Stuhl zurechtrücken wollte.

»Sag einfach Nein, falls ich zu viel machen will. Ich verspreche, dass ich darauf achten werde. Und falls du doch Unterstützung benötigst und ich mich nicht traue, sagst du es mir. Ich denke, wir kriegen das hin wie zivilisierte Menschen, oder?«

Heiliger Alienklon, Batman! Da war er wieder, eindeutig. Wie vom Donner erschlagen nickte Gero nur.

»Ist es dir recht, wenn ich fahre?«, fragte Dominik.

Das war Gero sogar sehr recht, auch wenn er das nicht allzu deutlich zeigen wollte. Es war für ihn günstiger, auf der Beifahrerseite auszusteigen, weil dann zuerst der gesunde Fuß auf dem Boden aufsetzte, sodass er sich einfacher hochstemmen konnte. Und Dominik hatte gefragt, statt einfach zu sagen: Wir nehmen mein Auto.

»Klingt gut. Oh, eins noch, ehe wir losfahren: Ich habe eben ein tödliches Waffeleisen entdeckt. Das Kabel bröselt.«

»Wir hatten letzte Woche Waffeln, verflixt. Hätte ich das geahnt!«

»Ich habe dort«, erklärte Gero und wies auf die Faltkiste, »eine Sammelbox für Elektroschrott eröffnet, falls du auch noch etwas findest. Ich sehe nachher nach, wo der nächste Recyclinghof ist.«

»Manchmal gibt es auch Recyclingboxen für Elektrokleinmüll, damit Dörfler nicht kilometerweit mit einem verreckten Toaster durch die Gegend fahren müssen oder das Ding im Gebüsch entsorgen.«

Gero nickte. Klang vernünftig. »Ich sehe während der Fahrt nach, ob ich hier in der Ecke etwas in der Art finde.«

Sie führten gerade ein vollkommen normales Gespräch, zielorientiert, unterstützend – und das irritierte ihn die Hölle! Das war Dominik!

»Ich würde mich rasch frisch machen«, sagte dieser gerade.

Wieder war es nur vernünftig, ihm zuzustimmen, denn das verschaffte Gero natürlich auch die Gelegenheit, sich die Hände zu waschen, den Sitz seiner Haare zu optimieren, vielleicht ein frisches Shirt anzuziehen und Deo zu verwenden, ehe er sich im Bistro präsentierte.

Mister Gewitterwolke nickte und dampfte ab, und Gero atmete auf. Es war anstrengend, weil er die ganze Zeit so auf der Hut war, jeden Augenblick eine Attacke erwartete und sein Erstaunen, dass Dominik zu einer zivilisierten Unterhaltung fähig war, verbergen musste. Alleine schon, damit die Aliens auf ihrem Mutterschiff im Orbit nicht bemerkten, dass Gero sie und ihr Klonexperiment schon lange durchschaut hatte.

Aua. Jeder Schritt tat weh. Er hatte sich überanstrengt. Morgen musste er es langsamer angehen lassen, heute vor dem Schlafengehen auf jeden Fall noch ein paar Dehnübungen machen. Er wusste, dass er wegen des Knöchels eine Schonhaltung einnahm, die ihn komplett aus der Balance brachte, andere Muskeln und Gelenke stärker beanspruchte und ihm auf Dauer Rückenschmerzen bereitete. Zu Hause hatte er besser auf sein Gleichgewicht und eine ausgewogene Haltung achten können, doch hier gab es viel zu tun, und dafür bezahlte er gerade.

Langsamer und vorsichtiger, als ihm lieb war, trat er in die Diele und ging dann den Flur entlang zu seinem Schlafzimmer, um seinen Kulturbeutel, das dunkelgraue T-Shirt mit einem Hauch Seide im Textilmix und Handtücher zu holen, dann stakste er ins Badezimmer.

Über sich hörte er Wasserrauschen und Schritte, als er in den Spiegel sah und sich im Geiste als wild gewordenen Handfeger titulierte. Er brachte seine Haare in Ordnung, wusch sich die Hände, putzte sicherheitshalber die Zähne und verwendete Deo, nachdem er sich das alte T-Shirt ausgezogen hatte. Dabei stand er auf einem Bein, wie der Leadsänger von Jethro Tull das bei den Flötensolos immer machte. Funktionierte immer erstaunlich gut, und der linke Knöchel schien erleichtert aufzuseufzen, dass er jetzt Pause hatte.

Gero streifte sich das dunkelgraue T-Shirt über und musterte sich kritisch im Spiegel. Er wusste natürlich, wie hervorragend ihm dieses Kleidungsstück stand, weil es so weich und anschmiegsam war und seine schlanke Figur besonders gut betonte. War das vielleicht gar schon overdressed? Kam die Landbevölkerung in grünen Latzhosen und mit schlammigen Gummistiefeln ins Bistro?

Ein zweiter Gedanke tauchte ungebeten auf, und Gero stopfte ihn rasch in die Tiefen seines Selbst, wo auch die nagende Sorge um den Knöchel und seine Tanzkarriere schon im Finsteren hockte: Wem wollte er mit dem edlen Shirt und seinem guten Körperbau wirklich imponieren?

Garantiert nicht dem Stinkstiefel über sich, der – den Geräuschen nach zu urteilen – gerade das Badezimmer verließ. Nur weil Dominik zur Begrüßung ein weißes T-Shirt getragen hatte, das seine Muskelprotzigkeit betonte … Nein, Unfug! Ab in die dunkle Kammer mit solchen Gedanken. Er fühlte sich gut angezogen einfach wohl, so! Und sauber und frisch, genau!

Liebevoll strich er den weichen Stoff glatt. Fühlte sich gut an. Ein letzter Blick in den Spiegel, und Gero schnappte sich die Krücke und verließ das Badezimmer.