Der Fluch des Rubicon - Tanja Rast - E-Book

Der Fluch des Rubicon E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Gefangen im ewigen Kreis aus Rache und Tod

Seit Lucius im alten Rom durch Marius' Hand den Tod fand und seinen Widersacher mit seinem letzten Atemzug verfluchte, wiederholt sich die Geschichte. Durch die Zeiten und viele Leben hindurch begegnen die beiden Männer einander wieder, und jedes Mal endet es wie damals in Rom: Einer tötet den anderen und findet nur wenig später selbst den Tod.

Bis Lucius beschließt, dass es so nicht weitergehen kann. Er will alles daransetzen, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen, und versucht, mit Marius zu sprechen. Als ihm das endlich gelingt, müssen beide Männer erkennen, dass es nicht nur der von Lucius ausgesprochene Rachefluch ist, der sie dazu bringt, sich immer wiederzubegegnen und gegenseitig umzubringen. Eine dritte Macht ist im Spiel ...

Kann ihre Allianz dieser Belastung standhalten? Und was mit jedem gemeinsam verbrachten Augenblick wichtiger scheint: Kann ihre langsam wachsende Liebe dem Fluch widerstehen?

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Der Fluch des

Rubicon

 

 

Tanja Rast

 

 

 

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

Inhaltsverzeichnis
1. Vulkanausbruch
2. Sturmflut
3. Zusammentreffen
4. Colchester
5. Cui bono?
6. Strategien
7. Ave
8. Tiefgarage
9. Heimkehr
10. Nachtwache
11. Kriegsrat
12. Vorbereitungen
13. Konfrontation
14. Nachklang
15. Rom, zwei Monate später

 

Die Autorin
Eine kleine Bitte

1. Vulkanausbruch

 

 

Lucius

 

Die Welt stand kopf. Schlagartig und so heftig, dass Lucius Sorge hatte, er würde sich wegen der Bilderflut in seinem Kopf übergeben müssen. Oder dass er gerade den Verstand verlor und live, stereo und in Farbe Zeuge wurde, wie sein Gehirn explodierte.

Vulkanausbruch im Kopf, nur dass dieser Feuerberg keine Lava spuckte, sondern Bilder, Erinnerungen, Namen und Tod. Erinnerungen, die nicht Lucius gehören konnten, die sich aber so echt und vertraut anfühlten. Inmitten dieser Funkenflut tauchte immer wieder ein markantes Gesicht mit sturmgrauen Augen auf. Und ein Name: Marius.

Er kauerte auf dem Sofa, hatte die Beine angezogen, die Arme um sie geschlungen und den armen, armen Kopf auf die Knie gestützt. Marius. Der Soldat vor dem Tempel.

Das konnte doch alles nicht sein!

Aber der Vulkan in seinem Hirn kam langsam zur Ruhe, und Lucius wusste wieder alles.

Oder er war verrückt geworden, so beschissen das auch klang.

Ganz vorsichtig hob er den Kopf und sah sich in dem vertrauten Zimmer um. Da lehnte sein Rennrad, weil er das um nichts in der Welt im Hof anschließen oder im bunkerartigen Keller abstellen wollte. Laptop auf dem kleinen Tisch vor der stillgelegten Doppeltür zu Pascals Zimmer. Couchtisch, auf dem noch die leere Pizzapackung vom Lieferservice gestern Abend stand. Daneben das benutzte Glas. Sein Hochbett, unter dem der Kleiderschrank stand. Altbau mit hohen Decken sei Dank. Alles vertraut, doch in seinem Kopf benannte er die Dinge anders. In mehreren Sprachen. Eine davon war Schwedisch, das er nicht beherrschte. Und jetzt doch. Das Schlimmste war, dass sein Hirn mit lateinischen Worten um sich warf! Latein! Hatte er nie in der Schule gehabt und war sehr erleichtert deswegen gewesen. Leute aus einer Parallelklasse, die diese Sprache belegt hatten, fluchten über sechs Fälle, von denen einer wohl nur dazu diente, Nicht-Römern das Erlernen der Sprache unmöglich zu machen. Aber Lucius verstand den Ablativ jetzt.

Götter! Konnte er jetzt lateinisch sprechen? Und wieso Götter? Verdammte Axt, er drehte gerade wirklich durch.

Oder eben nicht.

Wiedergeburt, das war die Erklärung. Immer wieder geboren, um Marius zu treffen, damit Lucius Rache nehmen konnte.

Noch etwas wurde ihm klar: Die Erinnerungen warteten in jedem Leben, bis eine Konfrontation kurz bevorstand. Dann tauchten sie aus der Versenkung auf. Er musste also Marius finden, denn dieser musste irgendwo in der Nähe sein.

Er schnappte nach Luft. Auch Marius erinnerte sich wohl gerade jetzt. Und machte sich auf die Suche nach Lucius.

Es ging immer tödlich aus, daran erinnerte er sich. Wie damals vor dem Tempel des Jupiters. In Rom. Nachdem Lucius im Gefolge des Feldherrn Gaius Julius den Rubicon überquert hatte. Caesar.

Oh, Fuck! Was machte er jetzt? In der Wohnung verbarrikadieren? Ging aus so vielen Gründen nicht. Vor allem nicht für den Rest seines Lebens.

Er sprang auf und rannte dreimal um den Couchtisch herum. Marius. Götter, wären sie sich unter anderen Umständen begegnet … Waren sie aber nicht. Wie über zweitausend Jahre Wiedergeburt, Zusammenprall, Tod und erneute Wiedergeburt bewiesen hatten. Ein blutiger Kreislauf.

Das kam davon, wenn man auf den Stufen des Tempels abgestochen wurde und den anderen Mann verfluchte.

Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. Marius musste in der Nähe sein! Jetzt!

Lucius stürzte zum Fenster und starrte nach draußen, suchte nach der leider allzu vertrauten hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt, nach dunklen Haaren, vielleicht einem Bart. Marius hatte oftmals zumindest einen Dreitagebart getragen, wenn sie sich begegnet waren. Außerdem … wenn die Flutwelle aus Erinnerungen den Kerl mitten auf der Straße erwischt hatte, musste ihm das noch anzumerken sein.

Er wagte nicht, das Fenster zu öffnen, um auf dem Bürgersteig vor dem alten Haus nachzusehen. Denn er kannte doch Marius, der garantiert gerade die Fassaden aller umstehenden Gebäude musterte, ob Lucius genau diese Dummheit begehen würde.

Aber er hatte freien Blick auf den Fußweg auf der anderen Seite, auf den Verkehrsübungsplatz hinter grünem Zaun und Büschen. Rechts lag der kleine Parkplatz im Schatten des grauen Klotzes, der das Milchforschungsinstitut beherbergte. Da gab es einen ganz schmalen Fußweg zwischen dem Zaun, vereinzelten Bäumen und den parkenden Autos.

Und da stand Marius.

Oh, fein, den hatte der Vulkanausbruch richtig gebeutelt. Klar, er hatte sich nicht aufs Sofa werfen und sich an sich selbst festhalten können, sondern hatte versuchen müssen, sich nicht wirklich etwas anmerken zu lassen. Sonst rief noch jemand einen Krankenwagen. Oder die Polizei.

Marius auf jeden Fall stützte sich mit einer Hand an einem der Bäume ab, stand ein wenig vornübergeneigt und schien rasch zu atmen. Aber er hatte den Kopf schon wieder gehoben und musterte mit seinem sturmgrauen Raubtierblick hellwach alles ringsum.

Er sucht mich. Natürlich. So, wie ich ihn suchte. Hallo, Marius. Er grinste humorlos und lachte in der Sicherheit seiner Wohnung trocken auf. Was jetzt?

Für einen schmerzhaften Moment hatte er das Gefühl, dass ihre Blicke sich trafen!

Nein, Unsinn. Die Gardinen waren blickdicht genug, dass Marius nicht einmal erkennen konnte, dass hier jemand stand. Alles gut. Er konnte nicht … Unmöglich.

Der große Mann richtete sich langsam vollständig auf, straffte sich sichtlich und sah noch einmal suchend um sich.

Natürlich. Er wusste, dass Lucius ganz in der Nähe sein musste. Sie wussten alles übereinander, erinnerten sich offenbar auf die gleiche Art, im gleichen Augenblick.

Lucius spürte das dringende Verlangen, die Wohnungstür zu verbarrikadieren. Würden seine WG-Mitbewohner aber dumm gucken, wenn sie heimkamen und nicht in die Wohnung gelangen konnten, weil er Kommoden vor die Tür gerückt hatte.

Statt diesem Impuls nachzugeben, behielt er lieber Marius im Blick. Sie waren beide gediente Soldaten, und Marius hatte schon früher bewiesen, dass er außerdem ein verdammter Bluthund war und sich trotz seiner eindrucksvollen Körpergröße sehr schnell bewegen konnte.

Gegenüber im Eckhaus befand sich das Geschäft für Berufskleidung, aber an den Parkplatz grenzte auch ein Wohnhaus. Ohne die Milchzentrale auch nur eines Blickes zu würdigen, marschierte Marius zu jenem Haus.

Lucius atmete flach und beobachtete den großen Mann. Offenbar überprüfte Marius die Namen an den Klingelschildern. Ha! Das brachte ihn nicht weiter. Immerhin wusste Lucius, dass er jedes Mal einen anderen Nachnamen gehabt hatte. Nur der Vorname war gleich geblieben.

Wieder so ein elektrischer Schlag! Stand sein Vorname an der Klingel? Oder nur der Anfangsbuchstabe? Er wusste es nicht! Oh, Fuck! Er wusste es wirklich nicht. Pascal hatte das Namensschild ausgedruckt und in den kleinen Halter gefummelt.

War die Tür unten richtig zu? Irgendjemand von den anderen Mietern entriegelte sie gerne, weil dieser Jemand keine Lust hatte, seinen Schlüssel zu suchen, wenn er mit Einkäufen beladen heimkehrte. Und die Handwerker, die die Wohnung im ersten Stock renovierten, waren auch so schlüsselfaul. Drinnen im Hausflur hingen die Briefkästen, und an dem klebte ganz bestimmt Lucius vollständiger Vorname.

Wo war Marius jetzt? Da, ein Stück die Straße in Richtung Wilhelmplatz gegangen, um die beiden Nachbarhäuser des Geschäfts zu überprüfen. Systematisch und zielsicher! Sie wussten ja beide, wie nahe sie sich sein mussten, damit der Erinnerungsvulkan loslegte. Hatte es Leben gegeben, in denen sie sich nie ausreichend nahe gekommen waren? Leben, die sie einfach gelebt hatten, ohne sich zu erinnern? Leben, an die Lucius sich jetzt nicht erinnerte? Keine Ahnung!

Jetzt überquerte Marius die Straße. Einfach rüber, ohne den Umweg über die Ampel zu machen. Keinen Blick verschwendete er in Richtung der Stiftstraße, sondern nahm sich jetzt von dort aus beginnend die Häuser auf Lucius’ Straßenseite vor. Waren nicht viele bis zur großen Kreuzung und dem Exer.

Zumindest vermutete Lucius dieses Vorgehen, denn um Marius’ Fortschritt jetzt noch überprüfen zu können, müsste er wirklich das Fenster öffnen und sich hinauslehnen. Auf gar keinen Fall! Dann war es nämlich schietegal, ob sein Name auf dem Klingelschild stand!

»Okay, okay, denk nach. Was machst du jetzt?«, murmelte er angespannt und trat vom Fenster zurück.

Hatte er irgendetwas im Haus, was sich als Waffe verwenden ließ? Messer und Pfanne in der Küche. Vielleicht ein kleiner Hammer in Pascals Werkzeugkasten. Alles recht pathetisch in einer Konfrontation mit Marius, der überdurchschnittlich groß und – was Lucius so gesehen hatte und an was er sich erinnerte – gebaut war wie der Kriegsgott Mars persönlich.

Aber … Wie oft wollten sie einander noch umbringen?

Er wischte sich Haarsträhnen aus der Stirn.

Er hatte es versucht. Zweimal schon. War beides tödlich ausgegangen. Aber er hatte versucht, mit Marius zu sprechen. War bei beiden Treffen unbewaffnet gewesen und hatte auch gar nicht versucht, sich zu verteidigen.

Vielleicht war das nicht eben weise gewesen. Aber er hatte es zumindest versucht. War leider an Marius’ Dickschädel gescheitert. Oder an Gewohnheiten. Oder ihrer damaligen Ausbildung, die auch jetzt bei Lucius übernehmen wollte. Angriff war die beste Verteidigung und so.

Gefühlt ungezählte Male waren sie nun schon aufeinandergestoßen, jeweils frisch von Erinnerungen an all die Leben und Tode davor geflutet. Ganz bestimmt emotional instabil, weil das so verdammt viel war. Und sie waren sich nie etwas schuldig geblieben. Wer zuerst die Chance gesehen oder sich als Erster von den Erinnerungen erholt hatte, hatte zugeschlagen. Lucius vermutete, dass sie sich bei diesem Erstschlag in etwa die Waage hielten. Jeder von ihnen hatte den anderen etwa gleich oft umgebracht wie der andere ihn. Großartig.

Obendrein war es Lucius gewesen, der sterbend Rache geschworen und somit diesen ganzen Mist ausgelöst hatte. Das machte es für Marius natürlich auch nicht einfacher, ihm zuzuhören und nur für fünf Minuten sein Misstrauen abzulegen.

Er gab sich einen Ruck und trat in den langen Flur. Rechts das Badezimmer, geradeaus die Tür zu Thomas’ zwei kleineren Zimmern. Und links herum befanden sich rechts die Küche und dann die Haustür und hinter einem grünen Vorhang die Abseite mit Pascals Werkzeugkasten.

Lucius straffte sich und marschierte an der Küche vorbei zur altmodischen Wohnungstür. Das Haus stammte aus der Gründerzeit, hatte der Makler erzählt, und diese Tür tat das ebenfalls. Gewaltig, rechts und links von hölzernen Flächen mit Milchglasscheiben flankiert. Keinesfalls schalldicht oder auch nur geeignet, Zugluft ein wenig Widerstand entgegenzusetzen.

Vor der Tür blieb er stehen, atmete flach und lauschte.

Rumms. Jemand war unten ins Haus gekommen und hatte die Tür ins Schloss fallen lassen. Marius, kein Zweifel.

Angespannt lauschte Lucius auf das Knarren der Holztreppen, das Quietschen des Geländers. So dieser durchtrainierte Kerl überhaupt das Geländer anfasste, während er so lautlos wie möglich die Stufen heraufschlich.

Lucius fühlte Hitze in seine Muskeln sickern, als sein Körper sich auf die uralten Alternativen Flucht oder Kampf vorbereitete. Aber er war ein römischer Legionär, und er war zum Kampf gedrillt worden. Nein, er wollte nicht mehr kämpfen, nicht noch mehr Blut an den Händen haben. Scheiße, wenn Pascal oder Thomas heimkam und seine Leiche hier fand, weil Marius mal wieder nicht hatte zuhören wollen! Fuck!

Wären die Erinnerungen nur ein wenig früher gekommen, drei, vier Wochen nur, dann hätte er einen Selbstverteidigungskurs gemacht, damit er Marius für eine Weile gefahrlos ausschalten und irgendwo anbinden könnte, damit der Kerl ihm zuhören musste. Aber so lief diese Sache nicht, das wusste er. Keine Vorbereitungsmöglichkeit. Von Jetzt auf Gleich: Peng, du hast einen Todfeind, und ihr bringt euch dauernd um, weil die Götter das so lustig finden. Und weil du so blöd warst, Marius auf den Treppen des Tempels zu verfluchen. Selbst schuld.

Und dann erzitterte die Wohnungstür vor seiner Nase erneut, als die Haustür unten ins Schloss fiel.

Einen Augenblick stand Lucius nur da und starrte fassungslos die Milchglasscheibe an. Dann wirbelte er herum und rannte wieder in sein Zimmer und dort zum Fenster. Immer noch vorsichtig, die Gardinen nicht zu berühren, seinen genauen Standort nicht zu verraten.

Marius ging über die breite Straße, blieb kurz auf der Mittellinie stehen, um ein Auto passieren zu lassen, dann eilte er in lockerem Lauf zum Bürgersteig vor dem Verkehrsübungsplatz.

Es war echt nicht fair, dass sie sich vor dem Tempel begegnet waren, auf verschiedenen Seiten gestanden hatten. Der Mann war einfach eine Augenweide. Wie bislang in jedem Leben. Einmal nur wollte Lucius ein Lächeln in diesen sturmgrauen Augen sehen, ein einziges Mal nur!

Marius erreichte den Bürgersteig, ging noch zwei Schritte, dann blieb er stehen. Einen Augenblick schien er zu zögern, dann wandte er sich um und sah zu Lucius empor. Also, zumindest in die grobe Richtung. Er wusste ja jetzt dank Briefkasten, in welcher Etage Lucius wohnte. Er wusste, dass sein Widersacher zu Hause war, sonst wäre der Erinnerungsvulkan nicht ausgebrochen. Und er konnte sich ausrechnen, dass Lucius am Fenster stand und ihn beobachtete.

So nahe waren sie sich lange nicht gekommen, ohne einander an die Kehle zu gehen.

Marius hob die Hand zum Gruß, winkte kurz, dann wandte er sich um und eilte in die Stichstraße, aus der er vorhin gekommen war.

Mit einem leisen Zischen ließ Lucius den angehaltenen Atem entweichen. Seine Muskeln schienen sich alle auf einmal in Pudding zu verwandeln, so erleichtert war er. Auch wenn Marius’ jetziger Abgang wohl nur einen Aufschub bedeutete.

Er blieb am Fenster stehen, bis ein kleiner, schwarzer Kombi aus der Stichstraße kam. Unverkennbar Marius am Lenkrad, der noch einmal nach oben zu Lucius blickte, ehe er rechts auf die Straße bog, am Verkehrsübungsplatz vorbeifuhr und dann erneut nach rechts abbog, um auf dem Schützenwall in Richtung der Autobahn zu fahren.

Kieler Kennzeichen. Lucius notierte es sich im Smartphone. Rein zur Sicherheit.

Verdammt, er war so in den Modus Ich bin ein römischer Legionär gesprungen, dass er nicht auf die Idee gekommen war, Bilder von Marius zu machen. Einfach … einfach so, für sich.

Er steckte das Handy wieder in die Hosentasche, wischte sich mit beiden Händen Haare aus dem Gesicht und schnaufte durch. Okay. Was jetzt? Er hatte eine Gnadenfrist erhalten, aber Marius wusste jetzt, wo er wohnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der große Kerl wieder auftauchte.

Oder … Lucius gab sich einen Ruck, rannte zur Wohnungstür, schnappte sich seinen Schlüssel vom Haken, stopfte den Bund in eine Hosentasche und trat ins Treppenhaus. Dort blieb er erst einmal stehen, witternd wie ein Wildtier, ehe er die Treppen hinabeilte.

Es war ein schönes, altes Haus, das wie durch ein Wunder die Bomben des Zweiten Weltkrieges überstanden hatte. Nun, fast, denn im Terrazzofußboden der Küche war ein riesiger Betonfleck, wo wohl eine Fliegerbombe durchgesaust war, ohne zu explodieren. Das Loch war gestopft worden und lag auch jetzt wieder unter einer Schicht Vinylbodenbelag, wie auch die Vorgänger in der Wohnung schon so etwas ausgelegt hatten.

Die Wände im Treppenhaus waren im unteren Drittel dunkelrot mit einem glänzenden Lack gestrichen, darüber in matter Wandfarbe vanillegelb. Dazu kam die altehrwürdige, eichefarbene Treppe. Ganz unten, an der untersten Stufe hing ein altes Emailleschild Bitte Füße reinigen. Lucius musste beim Anblick dieses Hinweises immer grinsen, wenn er mit schmutzigen Schuhen ins Haus kam. Reichte es, dass er morgens unter der Dusche gewesen war? Seine schlammigen Schuhe störten offenbar nicht so sehr wie ungewaschene Füße.

Töricht, an all solche Dinge zu denken, aber sein Gehirn lief eindeutig immer noch auf Sparflamme, nachdem die Erinnerungen es geflutet und er Marius gesichtet hatte. Der im Haus gewesen war. Lucius’ Herzschlag fing prompt wieder an, sich zu beschleunigen. Allerdings keinesfalls wohlig.

Marius war im Haus gewesen und wusste, wo Lucius wohnte.

Er übersprang die letzte Stufe mit dem Emailleschild und hastete zu den Briefkästen, die in zwei Reihen neben der Nebeneingangstür zum Geschäft im Erdgeschoss des Hauses hingen.

Mit kalten Fingern fummelte Lucius den Schlüsselbund hervor und öffnete den Briefkasten der WG. Ja, auf diesem prangten ihre drei Vornamen und Nachnamen. Kinderspiel für Marius. Lucius konnte sich das triumphale Aufleuchten in den sturmgrauen Augen allzu gut vorstellen.

Ein einzelner Zettel lag im Briefkasten. Offenbar einem Terminkalender oder Notizbuch entrissen.

»Hu«, sagte Lucius leise, weil die Luft irgendwie raus musste. Seine Hand zitterte, als er den Zettel nahm und umdrehte.

Eine schlichte, aber eindrucksvolle Handschrift. Eine Adresse im Ortsteil Hammer, darunter stand eine Uhrzeit: 15.00. Noch einmal darunter: Marius

 

2. Sturmflut

 

Marius

 

Die automatische Zentralverriegelung des Autos klickte leise, als Marius vom Parkplatz und auf die vierspurige Straße fuhr. Er atmete auf, fühlte sich ein klein wenig sicherer. Rasch schoss er noch einen Blick zu den Fenstern im zweiten Stock des alten Hauses, ob er jetzt dort eine Bewegung ausmachen konnte. Nichts.

Seine Hände waren schweißnass, und auch das T-Shirt klebte an seinem Rücken. Wie eine Flutwelle waren die Erinnerungen in seinen Kopf gestürmt, hatten alles über den Haufen geworfen und zertrümmert, was Marius bislang als sein normales Leben angesehen hatte. Es hatte ihn alle verfügbare mentale und körperliche Kraft gekostet, auf den Beinen zu bleiben, nicht einfach in eines der Beete zu sinken und dort zusammengekauert zu warten, bis er hinter dem Tsunami aus etwas ruhigerer See auftauchen und nach Luft schnappen konnte. Die Gewissheit erlangen konnte, dass er nicht gerade wahnsinnig wurde.

Nein, wurde er nicht. Alles ergab Sinn, und er wusste, dass die Erinnerungen der Wahrheit entsprachen, so verrückt sich das auch für ihn selbst anhörte.

Lucius. Der Mann aus dem Heer, das Gaius Julius gegen Rom geführt hatte. Senatoren, Adelige und andere Befehlshaber wie Pompeius Magnus und Brutus Junius waren aus der Stadt geflohen, und nur Leute wie Marius und die einfache Bevölkerung waren zurückgeblieben.

Er erinnerte sich an den Fluch, den der tödlich verwundete Lucius ihm mit letzter Kraft entgegengespuckt hatte. Erinnerte sich an den Trupp, der gleich darauf auf den Platz vor dem Tempel gestürmt war, den toten Kameraden zu Marius’ Füßen entdeckt und die angekündigte Rache vollzogen hatte. Er war Lucius nur wenige Augenblicke später in die Unterwelt gefolgt. Hatte er gedacht.

Bis zu jenem Tag in Pompeji, als die Erinnerungen wie eben gerade über ihn hinweggerollt waren und er Lucius unter der Aschewolke des Vesuvs, während Bimsstein auf die Hausdächer geprasselt war, in einer Seitengasse wiedergesehen hatte.

Sie hatten sich sofort wiedererkannt.

Er biss die Zähne zusammen, bog vom Schützenwall in die Ringstraße und hielt sich rechts. Heimweg. Vertraut und sicher. Immer wieder sah er in den Rückspiegel, ob Lucius ihm folgte. Musste er gar nicht, denn Marius hatte seine Anschrift hinterlassen. Götter! Aber es ging nicht anders. Nicht nach dem Abend in Colchester, an dem er einfach nicht hatte klar denken können, erst begriffen hatte, als es zu spät gewesen war.

Jetzt musste er einfach hoffen, dass er damals in Colchester die Signale wirklich richtig verstanden hatte.

Er fuhr automatisch, blinkte, bog ab, nutzte seine geliebten Schleichwege. Er war nach Kiel reingefahren, weil er bei seinem liebsten Kaffeeröster hatte einkaufen wollen. Der Parkplatz beim Verkehrsübungsplatz war nicht nur kostenfrei, sondern auch ohne Zeitbegrenzung, und an schönen Tagen lief Marius gerne durch die Stadt an der Förde, genoss die Brise vom Wasser. Kaffee, Tee, ein paar überkandidelte Spezialitäten hatten auf seiner Wunschliste gestanden. Aber das Bedürfnis nach einem gemütlichen Einkauf war ihm gründlich vergangen.

Dann erschrak er, weil er so in Gedanken vertieft nahezu auf Automatik gefahren war, dass er schon den kleinen Gewerbepark mitten im Ort erreicht hatte, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Als wäre er die Strecke im Schlaf gefahren. Nicht gut. Er musste seine Sinne beisammen halten!

Hastig bog er auf den Parkplatz, fuhr nach hinten durch, wo immer viel Platz war, wo die Sonne auf den Beton schien und er mühelos einen Stellplatz ergatterte.

Er musste jetzt irgendwie unter Menschen sein, wachsam bleiben, sich unauffällig umsehen. Er hatte das Gefühl, fremden Atem im Nacken zu spüren.

Alleine dieser Gedanke heizte seine Muskeln auf, ließ Adrenalin in seine Adern fluten. Einmal Legionär – immer Legionär, so schien es. In diesem Augenblick vermisste er eine Rüstung, irgendeinen Schutzpanzer.

Langsam stieg er aus, blickte sich dabei um, ob er irgendein vertrautes Gesicht entdecken könnte, eine verstohlene Bewegung, dass jemand versuchte, ungesehen hinter einem Auto Deckung zu suchen.

Marius nahm alles wahr. Den Geruch nach Abgasen, den warmen Sonnenschein auf seinem Kopf, seinen Schultern und dem Rücken. Stimmen, das Geräusch von Schritten, das Rasseln der Einkaufswagen, Motorenlärm. Alles stürmte auf ihn ein, machte ihm klar, dass er sich bewusst beruhigen musste, wenn er sich nicht in einen Nervenzusammenbruch aufgrund Überreizung manövrieren wollte.

So war es noch nie gewesen, das war ihm klar. Er hatte Lucius so gut wie aufgestöbert gehabt, hätte die Wohnungstür eintreten können … Nein. Das musste enden. Und zwar nicht so wie sonst.

Doch sein Körper erinnerte sich auf eigene Art und bereitete sich auf eine gefährliche, möglicherweise tödliche Konfrontation vor, obwohl Lucius etliche Kilometer entfernt war. Und obwohl Marius beschlossen hatte, dass es dieses Mal nicht mit einem Tod enden durfte. Es gab da etwas, das er Lucius erzählen musste. So lächerlich das bei ihrer bisherigen Vorgeschichte klang: Er wollte ihn warnen. Auch, weil er diese Befürchtungen nicht alleine mit sich tragen konnte.

Er atmete tief durch, entspannte so gut wie möglich seine kampfbereiten Muskeln und hielt auf den Eingang des Supermarkts zu.

Normale Dinge tun, so wie er das zeit seines … zeit seines aktuellen Lebens getan hatte. Vielleicht … hätte er nicht Lucius’ Namen am Briefkasten im Hausflur gefunden, hätte er sich doch einreden können, einen Sonnenstich zu haben oder einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben. Auch, wenn er es eigentlich besser wusste.

Wann war Caesar über den Rubicon gekommen? Irgendetwas vor Christi Geburt, oder? Marius blieb bei dem Einkaufswagenhaus stehen und zückte das Handy. Das musste er jetzt nachsehen. Da, Handy. Auch etwas ganz Normales, was man im alten Rom nicht gehabt hatte.

49 vor Christus. Marius steckte das Gerät wieder ein. Das war … es war zu viel. Alles auf einmal. Noch einmal tief durchatmen. Er brauchte einen Kaffee. Bekam er beim Bäcker. Dazu irgendetwas Süßes, weil das angeblich gut für die Nerven war. Eine kühne Behauptung, die wahrscheinlich irgendein gewinnorientierter Zahnarzt in die Welt gesetzt hatte. Gleichgültig!

Der Schock, in gewisser Weise deutlich über zweitausend Jahre alt und in diesem Zeitraum zigfach wiedergeboren zu sein, nur damit er und Lucius sich gegenseitig so schnell wie möglich um die Ecke brachten, verlangte nach einem Mandelhörnchen. Oder einem Muffin. Irgendeine Leckerei, die er zusammen mit dem Kaffee draußen im Sonnenschein genießen konnte. Lässig an den kleinen Schwarzen gelehnt, während er seine Umgebung im Blick behielt und sich fragte, ob er im Begriff war, die größte Dummheit dieses Lebens zu begehen, weil er Lucius in sein Haus eingeladen hatte.

Energisch schob er diesen Gedanken beiseite, bestellte Kaffee, wählte ein Mandelhörnchen aus und zögerte kurz, während er die Auslage betrachtete. »Einen kleinen Maikringel, bitte.« Na, hoffentlich mochte Lucius Marzipan. So er überhaupt auftauchte. Und so er nicht die alte Feindschaft auf ihre uralte, erprobte Weise fortsetzen wollte.

Wieder biss Marius die Zähne kurz und hart zusammen, zwang sich dann zu einem Lächeln, während er zahlte und seine Sachen entgegennahm. Lucius wollte reden. Schon auf der Titanic, dessen bin ich mir heute sicher. Auf jeden Fall in Colchester. Da habe ich es begriffen. Leider zu spät. Aber immerhin habe ich es endlich kapiert.

Er schlenderte nach draußen, wich einem Einkaufswagen aus, der übereifrig geschoben auf Kollisionskurs mit ihm geriet.

Nach all den Erinnerungen, nach all den erneut gesehenen Attacken musste er sich nur immer wieder vorsagen, dass es dieses Mal anders sein musste. Dann ging es irgendwie.

Auf dem Weg zurück zum Auto behielt er seine Umgebung trotzdem scharf im Blick.

---ENDE DER LESEPROBE---