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„Mama, kann ich mir ein Wunder wünschen?“
Mit dem letzten Glockenschlag beginnen die magischen Nächte. Marie weiß, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um ihr Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie wird die Tradition der Rauhnächte zelebrieren, wie sie es sonst mit Oma Irmi getan hat. Doch Irmi ist tot. Und auch Daniel, ihr Noch-Ehemann, hat sich aus dem Staub gemacht. Bleibt nur ihr kleiner Sohn Tommi, dem sie in dieser schwierigen Zeit zu gern jeden Wunsch erfüllen möchte.
Zudem macht ihr der griesgrämige Nachbar Kurt das Leben schwer. Als dann auch noch der Hühnerstall nebst Kurts Gartenzaun in die Luft fliegt, ist es ganz aus mit dem nachbarschaftlichen Frieden. Erst als Kurts Sohn Hannes eintrifft, beginnen sich die Wogen zu glätten.
Wird sich der Zauber der Rauhnächte nun doch noch entfalten können? Kann aus Groll und Streit neue Hoffnung erwachsen? Und was hat das alles mit der Katze Mimi zu tun?
Der erste gemeinsame Roman der Autorinnen Sylke Hörhold und Frida Luise Sommerkorn.
Bisherige Veröffentlichungen von Sylke Höhold
Emmelie - Der erste Fall
Hexenbrennen - Der zweite Fall
Recht wie Wasser - Der dritte Fall
Was dir den Atem nimmt - der vierte Fall
Bisherige Veröffentlichungen von Frida Luise Sommerkorn
Nordseeglückreihe:
Insel wider Willen: Teil 1
Träume sind wie Wellen: Teil 2
Liebe dank Turbulenzen: Teil 3
Ostseeliebereihe:
Kaffeeduft und Meeresluft: Teil 1
Sanddornpunsch und Herzenswunsch: Teil 2
Himbeerschaum und Dünentraum: Teil 3
Sehnsuchtstrilogie:
Immer wieder im Juni: Teil 1
Manchmal ist das Glück ganz nah: Teil 2
Endlich schwingt die Liebe mit: Teil 3
Fernwehromane:
Ferien Küste Kuckucksmänner: Ein Ostseeroman
Kiwi gesucht: Ein Neuseelandroman
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Ein Rauhnachtswunder
Beginn der Heiligen Zeit
Heiligabend
1. Rauhnacht 24./25. Dezember (Basis, Grundlage)
2. Rauhnacht 25./26. Dezember (Höheres Selbst, Innere Führung)
3. Rauhnacht 26./27. Dezember (Wunder, Herzöffnung)
4. Rauhnacht 27./28. Dezember (Auflösung)
5. Rauhnacht 28./29. Dezember (Freundschaft)
6. Rauhnacht 29./30. Dezember (Bereinigung)
7. Rauhnacht Silvester 30./31. Dezember (Vorbereitung auf das Kommende)
8. Rauhnacht 31. Dezember/1. Januar (Geburt des neuen Jahres)
9. Rauhnacht 1./2. Januar (Segenslicht, Arbeit)
10. Rauhnacht 2./3. Januar (Verbindung mit dem Göttlichen)
11. Rauhnacht 3./4. Januar (Abschied)
12. Rauhnacht 4./5. Januar (Räuchern und bereinigen)
Die Nacht der Wunder
Das Wunder der Rauhnächte
Die Autorinnen und ein Ausblick
Unsere Familienrezepte
Danksagung
Impressum
Sylke Hörhold
Frida Luise Sommerkorn
Die Glocken der letzten Christmette waren verklungen und die Menschen zurück in ihre Weihnachtsstuben geeilt. Stille kehrte ein in das lang gezogene Bergdorf. Die Schneereste, die das Tauwetter übriggelassen hatte, säumten die dunklen Straßen wie weiße Girlanden. Lichterglanz der festlich geschmückten Häuser spiegelte sich in den Pfützen.
Auch in den Gärten der kleinen Nachbarschaft im Waldbachtal, ganz am Ende der Ortschaft, türmte sich der zusammengeschobene Altschnee. Im Garten, der zu einem kargen, düsteren Haus gehörte, war er entlang der Einfahrt akkurat zu einer Reihe über die Rabatte zum Schutz für die Rosen geschaufelt worden. Das Tor zum Grundstück gähnte weit offen. Bereit zum Empfang für einen Besuch, der noch nicht eingetroffen war, denn im Haus war es unwirtlich dunkel. Aus dem Schornstein kringelte sich verloren ein dünner Rauchfaden in den Nachthimmel.
Wie heimelig und freundlich einladend war dagegen das Nachbarhaus zum Fest geschmückt. Hier war ein Schneemann aus dem Schneehaufen gewachsen und grüßte mit verschmitztem Grinsen, über liegengebliebenes Spielzeug hinweg, zum traurigen Nachbarn hinüber. Sogar am Vogelhaus baumelte ein geschmückter Tannenzweig mit Meisenkugeln daran. Ein riesiger Herrnhuter Stern überstrahlte die Stufen zur Haustür mit seinem warmen Licht.
Vom Wald her kam mit federnden Schritten eine schwarz-weiße Katze gelaufen. Am alten Hühnerstall hielt sie inne. Eine Tatze erhoben, in Aufmerksamkeit erstarrt. Nur ihre Ohren spielten. Vom dunklen Haus her drangen die tiefen Töne einer Tuba an ihr Katzenohr. „Stille Nacht. Heilige Nacht.“ Wehmütig und schwer. Schon setzte sie die Pfote ab, um sich zum Sprung über den Gartenzaun bereit zu machen. Da bemerkte sie, dass die Bewohner zurückgekehrt waren und sie beschloss, erst einmal ihrem Zuhause einen Besuch abzustatten.
„Oh, Mimi wartet schon auf uns. Vielleicht brauchen wir doch eine Katzenklappe!“ Mit dicker Bommelmütze auf dem Kopf, einem Schal um den Hals, aber offener Jacke rannte Tommi in Richtung Haustür. Dabei übersprang er einen Schneehaufen, der sich neben dem Gartentor auftürmte. Matsch spritzte bei seiner Landung hoch, doch das interessierte ihn nicht. „Wartest du schon lange auf uns?“ Er hockte sich neben Mimi und streichelte ihr schwarz-weißes Fell. Leise schnurrend drückte sie sich eng an Tommis Beine. „Heute ist Heiligabend, weißt du. Du bekommst auch gleich noch was. Das hat das Christkind für dich gebracht. Und für mich ein Kranauto, bei dem ich den Lastarm ganz weit ausfahren kann.“ Zur Verdeutlichung breitete er seine Arme aus.
„Tommi, mach mal ein bisschen Platz, sonst kann ich nicht aufschließen.“ Marie ächzte unter der Last, die sie trug. Eine Einkaufskiste voller Spielsachen, dazu ein Karton mit Bunzlauer Geschirr, das sie von ihren Eltern zum Fest bekommen hatte. Obenauf hatte sie ihren Mantel gelegt.
Es war nicht nur das schwere Gepäck, das sie seufzen ließ. Sie war froh, endlich wieder zuhause zu sein. An keinem Ort der Welt wäre sie jetzt lieber gewesen.
„Mama, wo ist das Geschenk für Mimi?“, rief Tommi, sobald sie das kleine Umgebindehaus betreten hatten.
„Zieh erst die Schuhe aus, mein Schatz, dann schauen wir mal.“ Sie gingen gemeinsam in die Küche und Marie stellte die Kiste auf den Küchentisch. Sofort begann Tommi damit, alles auszuräumen und bereitzulegen. Lächelnd schaute sie ihrem achtjährigen Sohn dabei zu. Sie war froh, dass er nicht mehr so viel nach seinem Vater fragte. Auch bei ihren Eltern war er ausgelassen und fröhlich gewesen. Ganz im Gegensatz zu ihr.
Während Tommi Mimis Geschenk, einen kleinen roten Ball, auspackte und begann, mit der Katze durchs Haus zu toben, füllte Marie den Wasserkocher. Ein heißer Tee würde jetzt sicher gut tun. Mit der dampfenden Tasse ging sie ins Wohnzimmer. Sie brachte nach und nach alle Lichter zum Leuchten. Kleine Herrnhuter Sterne und Schwibbögen aus dem Erzgebirge zierten jedes Fenster. Zum Schluss erhellte der Weihnachtsbaum den Raum.
„Oh, schön!“, rief Tommi, als er ins Wohnzimmer gerannt kam. Seine Augen strahlten mit den Lichtern um die Wette. Doch Katze Mimi brauchte jetzt seine Aufmerksamkeit, also schickte er seiner Mutter einen Handkuss und verschwand wieder.
Lächelnd legte Marie die alte Weihnachts-Schallplatte ihrer Großmutter auf. Begleitet von kratzigen Tönen erklang „Stille Nacht, heilige Nacht“. Sie kuschelte sich aufs Sofa, nahm die Teetasse in beide Hände und pustete den heißen Wasserdampf weg.
Eine Träne bahnte sich ihren Weg über die Wange hinunter. Warum nur mussten alle schrecklichen Dinge auf einmal passieren? Im Sommer war Oma Irmi ganz plötzlich von ihnen gegangen und später ihr Mann, wenn auch auf andere Weise. An ihn wollte sie nicht denken. Aber Oma Irmi fehlte ihr so sehr, dass es überall schmerzte. Sie hatte sich nicht vorstellen können, das Weihnachtsfest ohne sie zu überstehen. Doch nun hatte es begonnen. Und als sie heute Morgen aufgewacht war, hatte es nur einen Weg für sie geben können. Sie würde einfach so tun, als wäre Oma Irmi noch da. Sie wollte alles so machen, wie sie es in den letzten Jahren gemeinsam gemacht hatten. Allerdings hatte sie schon beim traditionellen Aufräumen und Räuchern die Tränen nicht aufhalten können. Auch weil nicht alles so gut gelang, wie es Oma Irmi gemacht hatte. Obwohl sie über den Sommer hin Kräuter im Garten und im Wald gesammelt hatte, roch ihre Mischung anders als sonst. Und als sie mit Tommi das Futter für die Tiere hinausgestellt hatte, war eine Ladung Restschnee vom Dach gerutscht und hatte alles abgedeckt. Tommi hatte es lustig gefunden und sofort ein Spiel daraus gemacht, das Obst und Gemüse wieder auszubuddeln. Wenigstens das tröstete sie. Ihr Sohn war ein Sonnenschein. Nur wenn er an seinen Papa dachte, schoben sich ein paar Wolken über sein Gemüt.
Marie stellte die leere Teetasse ab. Schluss jetzt! Es war schließlich Heiligabend. Und für Tommi musste sie stark sein.
„Tommi, wollen wir das Feuer anmachen?“, rief sie nach oben, wo sie ihn im Kinderzimmer spielen hörte. Mimi lag zusammengerollt in ihrem Körbchen im Flur und schlief.
„Ich komme!“, rief er.
Marie ging in die Küche. Die meisten Spielsachen hatte Tommi liegen gelassen, nur das Kranauto war weg. Sie sammelte alles ein und legte es unter den Weihnachtsbaum. Wie immer hatten ihre Eltern sich nicht zurückhalten können. So oft schon hatte sie sie gebeten, nicht immer zu übertreiben. Die Kinder freuten sich auch über wenige Dinge. Wahrscheinlich hätte der Kran gereicht. Es mussten nicht auch noch Fahrzeuge zum Zusammenbauen in drei verschiedenen Ausführungen sein. Malstifte und -hefte hatte er noch genug.
Sie selbst hatte ihm ein Schnitzmesser für Kinder und ein paar Holzfiguren geschenkt, die er nun noch bearbeiten und dabei das Schnitzen üben konnte. Tommi war begeistert gewesen, im Gegensatz zu ihren Eltern. Warum sie ihm immer solche gefährlichen Sachen schenken müsse! Sie hörten nicht mal richtig zu, als sie ihnen versucht hatte zu erklären, dass das Messer vorn abgerundet war und sie ihm natürlich zeigen würde, dass er immer vom Körper weg schnitzen sollte. Aber so waren sie nun mal, mischten sich in alles ein und ließen kein anderes Argument zu. Das war bei ihrer beruflichen Entscheidung doch nicht anders gewesen.
„Bin da“, hörte sie Tommi aus dem Flur rufen.
Marie schüttelte den Kopf. Weg mit den miesen Gedanken. Sie schnappte sich eine Zeitung und das Feuerzeug mit der langen Spitze und zog sich Stiefel und Mantel an. Im Garten hatten sie schon tagsüber den Feuerkorb mit Holz befüllt und kleine Reste zum Anzünden zurechtgelegt.
Wenig später saßen sie auf der Bank neben dem Feuer. Tommi hatte sich in ihren Arm gekuschelt.
„Gleich beginnen die Rauhnächte, mein Schatz!“, sagte Marie leise und drückte Tommi an sich. „Mit dem Feuer denken wir an die Geburt des Lichts.“ Sie seufzte. „Und hoffen auf ein Wunder“, legte sie flüsternd nach.
„Kann ich mir auch ein Wunder wünschen?“, fragte Tommi und gähnte gleich darauf.
Marie lächelte. „Das kannst du! Und ich wünsche es mir auch.“ Sie schaute in die Flammen.
Eine Decke wärmte sie. Doch die Wärme war nur äußerlich. Tief in ihrem Innern spürte sie eine traurige Leere. Dieses Ritual hatte sie so oft mit Oma Irmi genießen können. Sie hatten auf eben jener Bank gesessen, heißen Punsch getrunken und sich für die Ankunft des neuen Lichts bereitgemacht. Oma Irmi hatte sie ermutigt, auf das alte Jahr zurückzuschauen, sich für das Gute zu bedanken und die schönen Erinnerungen zu feiern.
Heute fielen ihr nur schlimme Dinge ein. Wie konnte sie etwas Gutes daran finden, dass Oma Irmi gestorben war? Und wo sollte sie mit ihrer Wut hin, die sie überfiel, wenn sie an ihren Mann dachte? Das einzige Glück in ihrem Leben war Tommi. Für ihn würde sie versuchen, stark zu sein.
In der Ferne hörte sie die Glocken schlagen. Die Rauhnächte begannen. Sie schaute vom Feuer auf. Der rötliche Lichtschein ließ die Bäume, den Hühnerstall und auch das Haus wabern, als zöge Leben in sie ein. Marie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, so groß war die Last auf ihrem Herzen. Sie schluckte, wollte nicht weinen. Und doch konnte sie nichts dagegen tun. Sie drückte Tommi, der in ihren Armen eingeschlafen war, fest an sich und roch den Duft seiner Haut. Die Tränen rannen über ihre Wangen und weiter auf Tommis Mütze. Wie gut, dass dieser Schatz bei ihr geblieben war. Dafür wollte sie dankbar sein.
Etwas raschelte. Vielleicht Mimi? Marie wollte sich nicht rühren, wollte für immer mit ihrem Sohn im Arm am warmen Feuer sitzen. Plötzlich schien sich etwas Tröstliches über sie zu legen. Wie etwas, das sie beschützte. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand eine Decke über die Schultern gelegt. Erschrocken schaute sie sich um. Aber da war niemand. Ihr Atem beschleunigte sich. Sie hatte doch eindeutig etwas gespürt, jemanden gespürt. Sollte es wahr sein, was Oma Irmi immer erzählt hatte? Dass sich in den Rauhnächten die Tore zur Anderswelt öffneten? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Gleichzeitig wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Kontakt zu Oma Irmi aufnehmen zu können. Ging das überhaupt?
Eine Erinnerung schoss in ihr Gedächtnis. Sie zog ihre Arme unter der wärmenden Decke hervor und formte mit den Händen eine Schale. Oma Irmis Stimme erklang. Sie ermutigte ihre Enkelin, die Geschenke der Lichtwelten anzunehmen. Sie sollte die Gedanken, Gefühle oder Bilder kommen lassen.
Marie atmete tief ein und aus. Sie spürte die Wärme ihres Sohnes, die Gluthitze des Feuers, die Nähe des Lichts. Dann schloss sie die Augen und war bereit zu empfangen.
Stumm vor Ärger blickte Kurt in den Feuerschein aus Nachbars Garten. Die Dunkelheit, in der er stand, gab ihm Schutz. Seine Finger schmerzten und seine Ohrmuschel brannte, so fest presste er das Telefon an sein Ohr.
„Ich kann wirklich nichts dafür, Vater“, sagte sein erbärmlicher Sohn im über tausend Kilometer entfernten Oslo. „Der Sturm hat die Straßen verweht und ehe wir uns durchgekämpft hatten, war der Flieger weg.“
‚Dann hättest du eher losfahren müssen‘, wollte er Hannes vorhalten, doch dafür hätte der nur eine neue Ausrede zu erwidern gehabt. Die Firma hätte ihn nicht eher losgelassen, oder ein Telefonat mit einer seiner Verflossenen hätte ihn aufgehalten.
„Hallo, bist du noch da?“
Kurt räusperte sich zur Bestätigung. Er benutzte seine Stimme nicht mehr so oft. Nur wenn er mit Käthe redete. Das war nur ein Monolog, doch immerhin verlernte er so nicht ganz das Sprechen.
„Ich versuche, einen der nächsten Flüge nach Deutschland zu bekommen“, sagte Hannes. „Egal welchen. Dann nehme ich einen Mietwagen.“
Immerhin klang er angemessen schuldbewusst. Würde seine Mutter noch leben, wäre Hannes pünktlich zum Fest erschienen, argwöhnte Kurt, egal wie und mit welchen Mitteln. Er wäre einen ganzen Tag eher angereist, um ja all die Köstlichkeiten zu genießen, die Käthe immer zum Christfest bereitet hatte. Und er hätte mit ihm im Posaunenchor die alten und die neuen Weihnachtslieder gespielt.
„Dann schaffst du es morgen nicht pünktlich zum Festgottesdienst“, sagte er nur. „Wir hatten mit dir gerechnet.“
„Tut mir leid, Vater“, sagte Hannes zerknirscht. „Ich komme, sobald ich kann.“ Die Pause dehnte sich in die Winternacht. „Frohe Weihnachten!“
Kurt machte ein verächtliches Geräusch und legte auf. Was sollte daran schon froh sein?
„Dein Herr Sohn kommt nicht!“, sagte er zu Käthes Bild auf dem Sims.
Für einen Moment schien es ihm, sie zwinkerte ihm zu und meinte spöttisch: „Du hast auch noch nicht einmal das Haus geschmückt, Kurt.“
Recht hatte sie. Wie immer hatte seine Käthe recht. Bisher war ihm nicht danach gewesen. Auch war das immer ihre Sache gewesen. Er hatte sich nur um den Christbaum zu kümmern. Das immerhin hatte er getan. Eine kleine Fichte stand in der Ecke der guten Stube, mit Spielzeug behangen aus Hannes‘ Kindertagen und mit den roten Kugeln, die Käthe wie ihre Augäpfel gehütet hatte. Wie alle ihre Weihnachtstraditionen und Rezepte stammten die von ihrer Muhme, so hatte Käthe ihre Ziehmutter liebevoll genannt. Bis zu Käthes Tod vor zwei Jahren war in keinem Jahr an der genauen Abfolge ihrer Traditionen gerüttelt worden. Im letzten Jahr hatten sie es ihr zuliebe noch versucht so zu halten, wie es ihr recht gewesen wäre. Doch nun in diesem verflixten zweiten Jahr fand Kurt einfach nicht die Kraft dafür. Immerhin fütterte er brav die Vögel und hatte auch den Teller für den Igel bereit gestellt. Käthe meinte immer, das sei für die Geister der Natur. Aber das war natürlich abergläubischer Humbug.
Mit der Taschenlampe in der Hand stieg Kurt die Stiege zum Boden hinauf. Der Schmerz in seinen Eingeweiden nahm ihm kurz die Luft, doch tapfer nahm er Stufe für Stufe.
Er wuchtete die Kisten hinunter, die Käthes Kostbarkeiten enthielten, und trug alles in die Küche.
Obenauf lagen der Adventskranz aus rot bemaltem Holz mit dem Stern in der Mitte und die Kerzen. Beschämt beeilte er sich, die Kerzen zu entzünden. Das Warten hatte mit der Heiligen Nacht schließlich ein Ende. Es begann die Heilige Zeit, die Zeit zwischen den Jahren. Rauhnächte, hatte Käthe sie genannt, die Zeit der Wunder.
Wunder! Vielleicht brauchte er genau das, ein Wunder.
Kurt fand das alte Räuchermännchen, das Hannes seiner Mutter in Kindertagen einmal geschenkt hatte. Sogar eine Räucherkerze entdeckte er noch. Er brannte sie in der Fackel der Kerze an und blies in den Kegel, um die Glut anzufachen. Im Schein der vier Kerzen des Adventskranzes stellte Kurt andächtig die Krippe auf. Maria und Josef daneben und das kleine Jesuskind. Ochs und Esel. Die Hirten. Und einen ganzen Chor pausbäckiger Engel mit grünen Flügeln. Jedes Jahr hatten sie Käthe mit neuen Figuren beschenkt und jedes Jahr war die Freude bei ihr gleich groß gewesen.
Jetzt wurden ihm doch die Augen feucht. Er sah zu ihr auf. „Du warst eine glückliche Frau, Käthe.“ Durch den Tränenschleier hindurch glaubte er, sie zärtlich lächeln zu sehen.
Dann nahm er sich auch noch den großen Herrnhuter Stern vor. Stück für Stück setzte er ihn zusammen. In der peniblen Ordnung seiner Werkstatt fand er mühelos Draht und Aufhängung für die Eingangstür.
Es war weit nach Mitternacht, als der Stern endlich erstrahlte.
Mit enger Brust stand Kurt davor und vermisste seine Käthe so sehr, dass es ihm fast den Atem verschlug. Selbst den treulosen Hannes wünschte er sich herbei. Er merkte kaum, dass ihm eine Träne über die faltige Wange rann.
Die schwarz-weiße Katze seiner Nachbarin umschmeichelte seine Beine. Er beugte sich hinab, um ihr über den Kopf zu streicheln. Mimi schmiegte ihr Köpfchen in seine raue Hand.
„Du vermisst auch deine Irmi, was?“ Seine Stimme war brüchig. „Die sitzt nun mit meiner Käthe zusammen bei unserem Herrgott und schaut herab auf uns, Mimi.“
Käthe hatte immer behauptet, dass die Tiere in der Heiligen Nacht sprechen könnten. Kurt vernahm zwar keine Worte von Mimi, doch er verstand tatsächlich genau, was sie zu ihm sagte: „Komm ins Warme, alter Zausel, und gib mir endlich was zu fressen!“
„Warum hast du deinem Vater nicht gesagt, dass du wegen mir zu spät gekommen bist“, fragte Greta, ohne aus ihrem Buch aufzusehen. In ihren bestickten Mantel gehüllt thronte sie auf ihrem Gepäck wie eine alte Sagenfee.
Hannes steckte sein Telefon weg. „Das hätte nichts geändert. Glaube mir. Wenn Vater zornig sein will, kann nichts ihn davon abbringen, bis der Groll verraucht ist.“
„Bist du nicht sehr hart zu deinem Vater?“ Greta klappte das Buch zu und packte es sorgsam weg. Die aufgestickten Katzen auf ihrem bunten Mantel zogen Grimassen bei ihren Bewegungen. Hannes schien es, als zwinkerten sie ihm hin und wieder zu. Seine Müdigkeit spielte ihm wohl Streiche.
Greta hatte inzwischen das Buch in ihrer unförmigen Reisetasche verstaut. Nun saß diese drahtige, kleine Person ihm aufrecht gegenüber und betrachtete ihn mit wachen Augen, die wie Sterne in ihrem alten Gesicht leuchteten. Er würde um eine Antwort nicht herumkommen. „Es ist eher umgekehrt, Greta“, versicherte er müde. „Hart war Vater schon immer. Seit Mutter unter der Erde ist, wird er immer grantiger.“
„Wirst du deshalb immer langsamer, Hannes?“, fragte Greta.
„Langsamer?“
„Du darfst mich nicht für undankbar halten, aber ich habe schon bemerkt, dass du keine Eile hattest, als du mich da aus der Schneewehe gezogen hast vorhin. Ich dachte mir, vielleicht willst du gar nicht zum Weihnachtsfest zu Hause sein?“
Hannes lächelte ertappt. „Kannst du hellsehen?“
„Lebenserfahrung“, gab sie schelmisch zurück. „Also: was hält dich zurück?“
„Gute Frage“, murmelte Hannes. Hilfesuchend sah er zur Anzeigetafel mit den Flugstornierungen. Lautsprecheransagen quakten in den verschiedensten Sprachen das Bedauern der Flughafengesellschaft und den trostlosen Wetterbericht durch die übervolle Halle. Dazwischen dudelte die Kakofonie entstellter Weihnachtslieder aus der Ladenstraße. Es roch nach Fast Food und dem aufdringlichen Parfüm der Frau hinter ihnen. Neben ihm biss ein Junge herzhaft in seinen Hamburger. Ein Stück Käse davon fiel zu Boden und streifte dabei den Trompetenkasten. „He, pass auf!“, sagte Hannes. Er wischte den Käserest ab und rückte den Kasten näher an sich heran. Der Junge stierte ihn wortlos kauend an. Seine Mutter schimpfte mit ihm, doch ein giftiger Blick traf Hannes, so als habe der sich tätlich an ihrem Kind vergriffen. Der Essensrest blieb unbeachtet liegen.
„Vielleicht ist es die Trostlosigkeit, die mich abschreckt“, sagte Hannes bei der Betrachtung des Käserestes auf dem Boden. „Weihnachten war für uns immer das größte Fest im Jahr. So lange Mutter noch lebte, wurden die alten Rituale bis ins Kleinste zelebriert.“ Hannes sah auf. „Es war ihr Fest. Die Hochzeit der vorchristlichen Bräuche mit ihrem Glauben.“
Greta nickte ihm aufmunternd zu.
„Doch ohne Mutter“, fuhr er seufzend fort, „ist das Fest wie tot, alle Rituale sinnentleert, kalt und unerfreulich.