EVA STURM Bundle VIII - Fälle 22 - 24 - Moa Graven - E-Book

EVA STURM Bundle VIII - Fälle 22 - 24 E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

In diesem Sammelband lesen Sie die Ostfrieslandkrimis: Verlorenes Vertrauen Gestrandete Träume Inselflüstern mit Eva Sturm auf Langeoog. Dieses Mal hat Eva einen privaten Schicksalsschlag zu verarbeiten, der sie kurzzeitig auch beruflich aus der Bahn wirft. Doch zum Glück hat sie gute Freunde wie den Journalisten Sven Bittner, der ihr über die schlimmsten Hürden des Lebens hinweghilft.

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EVA STURM Verlorenes Vertrauen
Impressum
Zum Inhalt
Auf Langeoog
Drei Wochen später
In Tannenhausen
Am nächsten Morgen
Es ist alles anders
In Tannenhausen
In Bremen
Auf Langeoog
Es muss irgendwie weitergehen
Der Abschied
Die Suche nach Beweisen
In Bremen
In Ostfriesland
Schichtwechsel
Das Indiz
Das Verhör
Einige Tage später
Einige Monate später
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
EVA STURM Gestrandete Träume
Impressum
Zum Inhalt
Die Zeit steht still
Nur ein Versehen
Schlechte Nachrichten
Ein erstes Treffen
Auf Langeoog
Der erste Kuss
In Aurich
Der böse Streit
In Aurich
Am Tatort
Nina
Die Nadel im Heuhaufen
Margret
In Aurich
Zurück nach Langeoog
In der Dienststelle Aurich
In Angst
Auf Langeoog
In Tannenhausen
Im Wald
Einige Wochen später
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
EVA STURM Inselflüstern
Ostfrieslandkrimi
von Moa Graven
Impressum
Zum Inhalt
Herbststimmung
Auf Reisen
Begegnungen
Bittner
Britta
In der Dienststelle
Edith
Weihnachten
Ein grauer Tag
In Duisburg
Wieder auf Langeoog
Silvester
Das Geständnis
Der Streit
Die ganze Wahrheit
Wieder auf Langeoog
Entscheidungen
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Zur Autorin
Die Reihe mit Eva Sturm auf Langeoog
Die Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
LESEPROBE
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

 

 

EVA STURM ermittelt auf Langeoog

Sammelband VIII

von Moa Graven

 

Verlorenes Vertrauen

 

Gestrandete Träume

 

Inselflüstern

EVA STURM Verlorenes Vertrauen

Ostfrieslandkrimi

von Moa Graven

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann.

Impressum

Eva Sturm – Verlorenes Vertrauen aus der Reihe Eva Sturm ermittelt Band 22

Ostfrieslandkrimi von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

DAS KRIMIHAUS – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn

Mai 2022

ISBN  9798487328472 (Taschenbuchausgabe)

Umschlaggestaltung: Moa Graven

Der Mensch wird nicht geprägt

durch das, was er erlebt.

Sondern durch das,

was er erdulden muss.

 

Moa Graven

Zum Inhalt

Verlorenes Vertrauen - Eva Sturm ermittelt in ihrem 22. Fall auf Langeoog

Als hätte Eva mit der Erkrankung von Robert nicht schon längst genug Sorgen, wir eines Tages am Strand von Langeoog ein kleiner toter Junge gefunden und durchkreuzt ihre Pläne, ihn auf dem Festland zu besuchen. Natürlich nimmt Eva die Ermittlungen auf. Wer war dieser kleine Junge, den niemand zu vermissen scheint? Die erste Spur führt sie nach Bremen zur Familie Schiffner.

 

Zur Person Eva Sturm

Eva Sturm ist bereits Ende vierzig, als sie von Braunschweig von ihrem Chef nach Langeoog versetzt wird. Sie selber fühlt sich abgeschoben und weiß nicht so recht, was sie auf so einer kleinen Insel machen soll. Sie ist ledig, war auch noch nie verheiratet, hat keine Kinder und lebt eher für sich und freundet sich nur mit Jürgen von der Touristinfo an, weil dieser nicht lockerlässt. Er hat vom ersten Tag an ein Auge auf sie geworfen. Doch Eva hat noch andere Sorgen. Sie plagen die Geister der Vergangenheit. Sie wurde als kleines Kind von ihrer Mutter weggegeben und wuchs in Pflegefamilien auf. Das hat sie geprägt. Deshalb findet sie nur schlecht Vertrauen zu anderen. Ihre Fälle löst sie auf ihre ganz eigene Art. Ziemlich unkonventionell und überhaupt nicht nach Polizeilehrbuch!

Auf Langeoog

Der Frühling hatte seine Arme über die Insel ausgestreckt und ließ die Blüten ihr betörendes Spiel mit dem Licht andeuten. Eva ging am Strand entlang. Die Sonne wärmte ihr Gesicht. Es war eine schwere Zeit gewesen, die nun hinter ihr lag. Doch so ganz verlor man die Angst ja nie. Das Gefühl, dass alles zu Ende sein konnte. Mit einem Schlag. Es zehrte an ihr, doch sie behielt es für sich und beklagte sich nicht bei Robert, der ja auch nichts für sein Schicksal konnte. Solange es dauerte, solange wollte sie bewusst die Zeit genießen.

Heute hatte sie nichts weiter zu tun, als hier zu sein. Am kommenden Wochenende würde Enno Kleen vom Festland rüberkommen und sie wieder für ein paar Tage vertreten, damit sie zu Robert fahren konnte. Er mochte nicht verreisen, er wollte in seinem Haus bleiben. Sie konnte ihn verstehen.

Nach einer Weile kehrte Eva um und ging zur Dienststelle zurück, um nachzusehen, ob etwas eingegangen war. Außerdem hatte sie Lust, einen Tee zu trinken. Deshalb nahm sie sich unterwegs noch ein Stück Obsttorte mit.

Es gab nicht viel, als sie die Mails checkte. Angerufen hatte niemand. Also machte sie es sich gemütlich, nachdem sie zunächst überlegt hatte, doch einfach in ihre Wohnung zu gehen. Aber auf der anderen Seite fiel ihr dort immer öfter die Decke auf den Kopf. Also blieb sie im Büro, stellte die Tür auf und genoss die Ruhe im Inneren, während draußen Stimmengewirr aus weiter Ferne zu ihr drang.

Fast wäre sie schläfrig geworden. Doch dann schlug sie die Augen wieder auf, als eine schrille Frauenstimme ihre Aufmerksamkeit erregte.

„Hallo?“, sagte Eva und stand auf und ging zur Tür. Nun stand sie der Frau direkt gegenüber.

„Na Gott sei Dank“, rief diese aus, „ich hatte schon Angst, hier niemanden anzutreffen.“

Eva verkniff sich eine Gegenfrage, da die Tür doch offenstand. „Was ist denn passiert?“

„Mein Sohn“, stieß die Frau, die nur ein leichtes rotes Kleid mit einer dunkelblauen Strickjacke trug, aus, „er ist verschwunden.“

Das klang ernst. Also bat Eva die Frau, doch hereinzukommen. Dann schloss sie die Tür. „Bitte, setzen Sie sich doch. Und dann erzählen Sie mir in aller Ruhe, was sich zugetragen hat.“

„Wir waren am Strand“, erzählte die Frau, „es war viel los. So, wie immer. Wir mögen das ja. Und ich habe Thorben gesagt, dass er zwar ans Wasser gehen darf, aber nicht zu weit weg, so dass ich ihn immer noch sehen kann.“

„Und wo waren Sie genau?“

„Am Hundestrand, gar nicht weit vom Abstieg entfernt. Ich hatte mich ein wenig weiter weg vom Wasser in den Sand gesetzt.“ Sie sah auf ihre nackten Füße in den schwarzen Sandalen, an denen noch immer weißer Sand hing.

„Verstehe“, sagte Eva, „und Ihr Sohn ging also alleine zum Wasser. Wie alt ist er denn?“

„Acht Jahre“, sagte die Frau. „Ich heiße übrigens Renate Schiffner, das müssen Sie sicher auch wissen. Und mein Junge heißt Thorben Schiffner. Wir kommen aus Bremen.“

Eva machte sich Notizen. „Und der Vater?“

„Klaus-Dieter ist natürlich auch hier auf der Insel.“

„Aber er war nicht mit am Strand?“

„Nein, er wollte sich am Hafen umsehen.“

„Sicher hat er ein Handy“, meinte Eva, „Sie sollten ihn anrufen, damit er hierherkommt und sich um Sie kümmert.“

„Wir haben keine Handys“, widersprach sie, „wir mögen sowas nicht. Man muss ja nicht jede Mode mitmachen.“

„Nein, natürlich nicht“, stimmte Eva zu und doch fand sie es eigenartig. „Waren Sie schon im Hotel? Es wäre ja möglich, dass Ihr Sohn dorthin zurückgelaufen ist, nachdem er Sie am Strand verloren hatte.“

Renate Schiffner nickte und machte ein betrübtes Gesicht. „Da ist er nicht. Bitte, Sie müssen Thorben finden. Ich mache mir solche Sorgen.“

„Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht“, erwiderte Eva. „Geben Sie mir bitte eine Beschreibung von Thorben. Und haben Sie auch ein Foto dabei?“

„Ein Foto habe ich leider nicht hier“, antwortete sie und auch das fand Eva seltsam. Sie wusste von Müttern, die ihre Handys mit Aufnahmen ihrer Kinder füllten. Ein Handy hatte Renate Schiffner nicht. Aber dann hätte doch zumindest eine Aufnahme in ihrem Portemonnaie sein müssen. „Aber ich kann Ihnen natürlich sagen, wie er aussieht.“ Sie schniefte kurz. „Er ist etwa einen Meter vierzig groß und hat blonde Haare und blaue Augen. Heute hat er einen dunkelblauen Trainingsanzug an mit weißen Streifen an der Seite. Ein gelbes Shirt und weiße Turnschuhe mit schwarzen Streifen.“

Eva notierte sich auch das. „Gut“, sagte sie, „dann schlage ich vor, dass Sie nun zurück zum Hotel gehen. Möglicherweise findet sich Thorben doch noch dort ein, Sie sollten zuversichtlich bleiben. Und auch Ihr Mann kehrt sicher bald zurück, dann wird er Ihnen beistehen. Ich werde jetzt alles Nötige für eine Suche nach Thorben veranlassen und melde mich dann später bei Ihnen im Hotel.“

Renate Schiffner nannte ihr den Namen der Unterkunft, dann ging sie schweren Herzens wieder los. „Bitte“, sagte sie noch einmal, als sie sich an der Tür umdrehte, „Sie müssen Thorben finden.“

Keine Frage, sie tat Eva leid. Selbst, wenn man keine Kinder hatte, so konnte man sich vorstellen, wie es sich anfühlen musste, wenn das eigene plötzlich verschwand. Sie hoffte, dass es wirklich so einfach war, und er sich nur verlaufen hatte, als er seine Mutter in der Menschenmenge aus den Augen verloren hatte. Ja, sie hoffte es inständig. Für die Mutter.

Der Junge war noch keine zwei Stunden fort, also schaltete Eva zunächst einmal Langeoognews ein, damit über die Seite eine Suchmeldung rausgegeben wurde. Ebenso den Radiosender setzte sie ins Bild. Danach ging sie selber zum Hundestrand, um nach dem Jungen zu suchen.

 

Die Mutter hatte recht gehabt. Es war wirklich voll hier und vor allem spielten viele Kinder im Sand. Die erste Feriensaison wurde immer gerne von den Eltern genutzt, um sich zu entspannen und den Kindern am Strand zuzusehen, wie sie sich vergnügten. Das bunte Treiben war wirklich schön anzusehen. Die glücklichen Gesichter der Kinder, Jungen und Mädchen. Sie schleckten Eis, wühlten im Sand oder steckten ihre kleinen Zehen ins kühle Wasser und hielten sich an den Händen ihrer Mütter fest, damit ihnen nichts passierte.

Doch einen Jungen, auf den die Beschreibung von Thorben Schiffner gepasst hätte, den sah Eva nirgends. Sie sprach verschiedentlich Mütter an, ob sie Thorben vielleicht gesehen hätten. Doch keine konnte etwas dazu sagen. Nur, dass es ihnen leidtat, dass sie nicht helfen konnten, das sagten sie schon, während sie ihre Kinder noch fester an sich rückten.

Als Eva zurück in den Ortskern kam, hatte sich die Nachricht, dass ein achtjähriger Junge vermisst wurde, schon wie ein Lauffeuer über der Insel verbreitet. Alle wollten mithelfen, ihn zu finden.

 

Im Hotel saß Renate Schiffner auf ihrem Bett und weinte. Klaus-Dieter war immer noch nicht zurück. Wieso musste er sich denn auch für diese blöden Boote mehr interessieren als für seine Familie, dachte sie verzweifelt. Nach einem Handy hatte die Polizistin gefragt. Tja, nun hätte die Mutter wirklich gerne eines gehabt, um ihrem Mann die Meinung zu sagen. Doch er lehnte diesen modernen Quatsch, bei dem man überhaupt nicht mehr zur Ruhe kam, wie er es umschrieb, kategorisch ab. Alle anderen hatten Handys. In ihrer ganzen Familie gab es nicht einen einzigen Menschen außer ihr, der nur mit dem Festnetztelefon kommunizierte. Lass dir das doch nicht von ihm gefallen, hatte eine Verwandte ihr geraten. Ja, das war leicht gesagt. Doch Renate wollte eben keinen unnötigen Streit. Sie gerieten auch so schon mehr als genug aneinander.

Sie wischte sich gerade erneut übers Gesicht, um die Tränen zu trocknen, als die Tür zum Hotelzimmer aufgestoßen wurde. Klaus-Dieter war endlich wieder zurück. Und er war wütend und schimpfte mit ihr.

 

Eva war wieder in ihrem Büro angekommen. Es ging jetzt schon auf die Mittagszeit zu. Noch hoffte sie darauf, dass bald die Nachricht einging, dass man Thorben Schiffner unversehrt aufgefunden hatte. Auf einem Spielplatz vielleicht, wo er die Zeit vergessen hatte. Sie waren auf einer Insel. Irgendwo musste der Junge ja schließlich sein. Den Gedanken, dass er im Meer ertrunken sein könnte, versuchte sie im Moment noch zu verdrängen. Aber unmöglich war es natürlich nicht. Wenn er bis zum Abend nicht gefunden wird, dachte sie, dann werde ich die Kollegen vom Festland mit einschalten müssen. Dann wird es ernst.

Sie wandte sich ihrem Computer zu, als plötzlich die Tür zur Dienststelle aufgeschlagen wurde. Erschrocken sah sie dorthin. Ein Mann stand im Türrahmen.

„Oh“, sagte er betroffen, „entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht so grob sein. Mein Name ist Klaus-Dieter Schiffner.“

Sie wusste natürlich sofort, um wen es sich bei ihm handelte. Der Vater von Thorben. Sicher war er genauso wie seine Frau am Boden zerstört.

„Kommen Sie doch herein, Herr Schiffner“, sagte sie und wies auf den freien Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Wie geht es Ihrer Frau?“

Klaus-Dieter Schiffner setzte sich nicht, sondern er kam nur näher an ihren Schreibtisch heran. „Renate hat sich hingelegt“, druckste er herum, „und ich möchte Ihnen sagen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen.“

Nun wurde Eva wirklich neugierig. „Was genau meinen Sie damit?“

„Nun ja, überall auf der Insel wird nach unserem Sohn Thorben gesucht“, fuhr er fort und sie nickte dazu. „Aber ich möchte, dass Sie dafür sorgen, dass man damit aufhört.“

„Hm? Ich verstehe glaube ich nicht ganz. Haben Sie Thorben denn gefunden?“

Er schüttelte mit dem Kopf. „Thorben ist nicht verschwunden“, sagte er lakonisch, „er ist schon vor über drei Jahren gestorben.“

Nun musste Eva schlucken. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. „Aber Ihre Frau ...“.

„Ich weiß, was meine Frau zu Ihnen gesagt hat. Deshalb bin ich ja hier. Es tut mir wirklich leid, dass sie Ihnen solche Umstände gemacht hat. Wissen Sie, sie kommt einfach nicht über den Verlust von Thorben hinweg.“

Langsam wurde es Eva klar, dass sie vorhin mit einer zutiefst verletzten und zudem verstörten Frau gesprochen haben musste. „Das tut mir sehr leid für Sie und Ihre Frau“, sagte sie, „ich meine, dass Sie ihren Sohn verloren haben.“

„Danke“, sagte er und nun setzte er sich doch auf den Stuhl. Er schien es nicht leicht im Leben zu haben.

„Es ist nicht schlimm, dass alle mit gesucht haben“, sagte sie, „machen Sie sich deshalb bitte keine Sorgen. Es wird keine Konsequenzen für Ihre Frau haben.“

„Sie bildet es sich manchmal ein, dass er immer noch da ist“, erklärte Klaus-Dieter Schiffner, „sie nimmt auch Medikamente und spricht mit Psychologen. Aber alles hilft einfach nichts. Sie kommt nicht über den Tod ihres Kindes hinweg.“

„Das kann ich sehr gut verstehen“, sagte Eva und dachte in dem Moment an Robert. Was würde das mit ihr machen, wenn er nicht mehr da war. Sie mochte gar nicht daran denken. Bestimmt konnte man diesen Schmerz auch gar nicht mit dem vergleichen, wenn man sein eigenes Kind verlor. „Es ist sicher besser, wenn Sie jetzt wieder zu ihr gehen, und sich um sie kümmern. Richten Sie ihr von mir bitte aus, dass es mir sehr leidtut, was mit ihrem Sohn geschehen ist.“

Klaus-Dieter Schiffner erhob sich vom Stuhl und schob ihn zurück an seinen Platz. Dann nickte er Eva noch einmal zu, bevor er die Dienststelle verließ.

Eva setzte sich daran, nun alle darüber zu informieren, dass man die Suche nach Thorben Schiffner wieder einstellen konnte, da es sich als Fehlalarm herausgestellt hatte. Sie behielt für sich, dass der Junge schon lange nicht mehr lebte.

Drei Wochen später

Es war fast Mai und die Stimmung auf der Insel hätte nicht schöner sein können. Die Ferienzeit war vorbei, so dass sich nun ganz andere Urlauber auf Langeoog aufhielten. Ehepaare mit Hunden, Alleinreisende oder auch Gesellschaften. Zudem viele Kurgäste. Den ganzen Tag über herrschte reges Treiben auf den Straßen, am Strand und in den Geschäften, was sich am Abend in den vielen schönen Restaurants und Weinstuben fortsetzte.

Auch Eva hatte wieder einmal Lust, am Abend auswärts zu essen. Endlich wieder einmal nach langer Zeit. Robert wollte tatsächlich am Nachmittag rüber auf die Insel kommen. Sie hatte es gar nicht glauben können, als er ihr gestern am Telefon von seinen Plänen erzählte. Es ginge ihm gut, hatte er mit einem Lächeln in der Stimme in ihr Ohr geflüstert, und er vermisse sie und die Insel. Nein, schöner hätte ein Wochenende wirklich nicht beginnen können, dachte Eva und suchte sich im Geschäft ein neues Sommerkleid in Knallrot aus. Es war gerade geschnitten und mittlerweile konnte sie so etwas sehr gut tragen, weil sie an markanten Stellen ein paar Pfunde verloren hatte. Die Verkäuferin empfahl ihr dazu einen etwas längeren dunklen Blazer aus Samt, in den sie sich auf Anhieb verliebte und gleich mit einpacken ließ.

Danach setzte sie sich in ein Eiscafé, um dem regen Treiben ein wenig zuzusehen. Es dauerte ja noch ein paar Stunden, bis Robert endlich kam.

Sie sah einem jungen Pärchen dabei zu, das sich kaum für die Eisbecher, die es bestellt hatte, interessierte. Sie hatten nur Augen füreinander und hielten sich ständig bei der Hand und küssten sich immer wieder. Eva beneidete sie um ihre Jugendlichkeit und dass sie das Leben noch vor sich hatten. Der Kummer kam viel zu früh über einen, das merkte man aber erst, wenn erste bedrohliche Wolken alles verdunkelten.

Nun bestellte sie sich einen Früchtebecher mit viel Sahne und ein Kännchen Kaffee dazu. Rund um sie herum waren alle Tische besetzt. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie hier mit einer Person vier Plätze einnahm, wobei ein Stuhl ihre Einkäufe beherbergte. Und als gäbe es das Schicksal, da beugte sich bald darauf ein Mann zu ihr herunter.

„Ist hier noch frei?“, fragte er und lächelte sie an.

Im ersten Moment glaubte Eva, Robert sei schon da und würde sie ein wenig auf den Arm nehmen. Doch dem war nicht so. Der Mann war groß und schlank. Er war gepflegt und trug einen sommerlichen Anzug mit braunen Lederschuhen. Sie schätzte, dass er um die fünfzig Jahre alt war.

„Hm“, machte sie, denn eigentlich hatte sie kein Interesse an Gesellschaft. Doch da sie nicht zickig erscheinen wollte, stimmte sie doch zu. „Natürlich. Ich kann auch gerne meine Einkäufe auf den Boden stellen.“

„Oh“, sagte er, „danke. Aber das wird nicht nötig sein. Ich bin alleine hier. Es reicht mir ein freier Stuhl und ein Eckchen von Ihrem Tisch.“ Er rückte einen Stuhl ab und setzte sich ihr gegenüber.

Auf Eva wirkte er durch seine Art sehr sympathisch. Und anstatt hier ihren Gedanken nachzuhängen, da konnte sie sich ruhig mal ein wenig offener für die Inselgäste zeigen, dachte sie bei sich. Sie war schon auf alles gefasst und dachte über Themen nach, die sie anschneiden konnte, da zog er ein kleines Taschenbuch aus der Innentasche seines Blazers, den er über die Stuhllehne gehängt hatte. Sie erkannte das Buch nicht, dafür las sie viel zu selten. Na, dann ist es auch gut, dachte sie und sah wieder in die Menge. Eine Bedienung kam an den Tisch und erkundigte sich nach den Wünschen des Herrn. Er bestellte eine heiße Schokolade und einen Apfelkuchen. Na, dachte sie, das ist mal ein Mann, der sich sein Leben zu versüßen weiß. Sie schmunzelte in sich hinein.

„Lesen Sie auch?“, fragte er plötzlich, weil er wohl gespürt hatte, dass sie ihn heimlich beobachtete.

„Oh, eher selten“, sagte sie schnell, „mir bleibt leider zu wenig Zeit dafür.“

„Tatsächlich? Dann sind Sie beruflich wohl sehr eingespannt.“

„Ich bin Polizistin hier auf der Insel“, erklärte sie, „Eva Sturm.“

„Na, dann bin ich ja in guten Händen“, lachte er, „Viktor Schneider.“

Er reichte ihr die Hand.

„Freut mich“, sagte sie.

Dann wurde seine Bestellung an den Tisch gebracht.

„Sind Sie schon lange hier auf der Insel?“, fragte er interessiert, als er mit einer Gabel in seinen Kuchen stach.

„Sieben Jahre“, antwortete sie und blickte gedanklich dabei zurück zu dem Tag, als sie hier völlig frustriert angekommen war. Sie hatte sich gefühlt, als habe man sie ans Ende der Welt verbannt. Nun allerdings bereute sie nichts mehr. Sie liebte Langeoog, als wäre es ihr Zuhause. Sie erzählte ihm von einigen Fällen, die sie gelöst hatte. Dass Jürgen von der Touristinfo ihr damals tatkräftig unter die Arme gegriffen hatte, behielt sie für sich. Das waren noch Zeiten gewesen, dachte sie nun. Alles hatte sich verändert. Sie hatte ihre Leichtigkeit, an die Dinge heranzugehen, verloren. Ihr Leben war ernster geworden. Er schilderte ihr in knappen Worten, dass er Inhaber einer Kaffeerösterei in Bremen sei.

„Ah“, sagte sie, „deshalb trinken Sie hier lieber eine heiße Schokolade.“

„Nein“, widersprach er, „das ist es wirklich nicht. Aber ich trinke grundsätzlich nur am Morgen meine Kanne Kaffee. Das Hotel, in dem ich abgestiegen bin, hat übrigens einen ganz Vorzüglichen zur Wahl, er stammt aus meinem Haus. Deshalb bin ich eigentlich auch hier auf der Insel, es geht um Nachverhandlungen, da das Hotel noch weitere Sorten ordern möchte.“

„Dann sind Sie also auf Geschäftsreise“, stellte Eva fest. Sie sah zur Uhr. „Oh, ich denke, ich muss mich gleich auf den Weg machen. Mein Mann kommt heute auf die Insel.“ Sie wollte gerade nach der Kellnerin winken, die am Nachbartisch abkassierte, als ihr Handy klingelte. Da es auf dem Tisch lag, sah sie, dass es Robert war. „Da sollte ich rangehen“, entschuldigte sie sich und nahm das Gespräch an, indem sie sich ein wenig zur Seite drehte. „Robert? Bist du schon auf der Insel?“

Sie hörte eine Weile zu und Viktor Schneider sah, wie sich ihr Gesicht verdunkelte. Sicher keine guten Nachrichten dachte er und kam sich wie ein Eindringling in ihre Privatsphäre vor. Deshalb blickte er nun wieder in sein Buch.

„Es ist wirklich schade“, hörte er sie sagen, „aber dann komme ich eben zu dir. Ich gehe in meine Wohnung und packe ein paar Sachen zusammen. Ich nehme die nächste Fähre und dann machen wir uns eben bei dir einen schönen Abend. Ich liebe dich ...“. Sie legte ihr Handy wieder auf den Tisch und sah ins Nichts. Robert hatte gesagt, dass er Gleichgewichtsstörungen hätte und sich doch lieber aufs Sofa legen würde. Zu gerne wäre er zu ihr gekommen, es täte ihm leid. Ach, dachte sie, das musste es wirklich nicht.

„Schlechte Nachrichten?“, fragte ihr Tischnachbar, weil er nicht so tun wollte, als wäre er taub. Er mochte diese Frau mit den traurigen Augen, in denen sich nun Tränen sammelten.

„Mein Mann“, sagte Eva und schluckte einmal, „er kann leider doch nicht auf die Insel kommen. Es geht ihm nicht so gut.“

„Das tut mir leid für Sie.“

„Schon gut. Ich werde zahlen und zu ihm aufs Festland fahren.“ Wieder hielt sie nach einer Bedienung Ausschau. Doch in dem Gedränge war niemand zu sehen.

„Gehen Sie nur“, sagte er, „ich übernehme das.“

„Oh, das kann ich wirklich nicht annehmen. Aber leider habe ich nur einen großen Geldschein bei mir.“

„Wie gesagt, es macht mir nichts aus. Ich bin noch eine Woche hier. Das nächste Mal laden Sie mich einfach ein.“

Flirtet er etwa mir, fragte sich Eva. Es war ihr nicht unangenehm. Sie fühlte sich sogar geschmeichelt. Das tat ihrer Seele gut. „Na dann“, sagte sie und erhob sich vom Stuhl. „Vielen Dank und bis zum nächsten Mal.“

Dann eilte sie zu ihrer Wohnung.

 

Sie hatte ein paar Sachen gepackt und legte den Rucksack gerade über ihre Schulter, als ihr Handy erneut klingelte. Es war dieses Mal nicht Robert, sondern eine unterdrückte Nummer. Für einen Moment hatte sie vorgehabt, einfach nicht ranzugehen. Es konnte unmöglich etwas Dienstliches sein, denn sie hatte das Telefon in der Dienststelle auf ihr Handy umgeleitet, so dass sie sofort erkannt hätte, wenn jemand die Polizei rief. Sie wollte morgen schon zurück auf die Insel kommen, also machte es keinen Sinn, einen Kollegen für diesen einen Tag auf die Insel zur Vertretung für sie zu bitten. Sie wollte einfach nur für ein paar Stunden Roberts Nähe spüren. Und trotzdem ging sie dann ran. Es hatten ja nicht viele ihre Handynummer.

„Hallo?“

„Na, Gott sei Dank. Ist dort Eva Sturm?“

„Ja, das bin ich. Wer ist denn da?“

„Ich bin Magda von der Rezeption im Hotel. Es ist etwas ganz Furchtbares passiert. Man hat einen toten Jungen am Strand gefunden.“

„Oh mein Gott“, stieß Eva aus. Ihr Bedauern galt sowohl dem Opfer als auch der Tatsache, dass sie die Insel nun nicht würde verlassen können. Aus den schönen Stunden mit Robert würde nun nichts mehr werden. Das zehrte an ihr und fast hätte sie angefangen zu weinen. „Ich bin gleich da“, druckste sie hervor. Dann legte sie auf. Nun hätte sie eigentlich sofort bei Robert anrufen müssen. Doch ihr zitterten plötzlich die Finger. Sicher wäre er dann furchtbar enttäuscht. Also verschob sie es auf später, wenn sie wieder zuhause war.

 

Eine gute Stunde verging und dann war auf der Insel von dem ausgelassenen Flair, der bis vor kurzem noch hier geherrscht hatte, nichts mehr zu spüren. Ein totes Kind fasste jeden an. Einige Frauen standen in einigem Abstand zur Fundstelle am Strand und weinten.

Eva sah auf das Kind, das im weißen Sand lag. Ein zarter blonder Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Vielleicht sogar etwas zu dünn. Die Kollegen hatten den Fundort großzügig abgesperrt und der Gerichtsmediziner war auch schon vor Ort. Sie kannte den Mann nicht. Sie sah ihm dabei zu, wie er an den Händen des Jungen herumdrehte. Sie von innen und außen besah. Dann in den Mund und in die Augen.

„Äußerlich ist nichts zu sehen“, knurrte er und kam aus der Hocke hoch.

„Eva Sturm“, sagte sie, „Inselpolizei. Sie sind wohl neu.“

„Klaas Pieper“, sagte er und nickte. „Von Ihnen habe ich schon einiges gehört.“

Sie sah ihn nur an, dann wieder zu dem Jungen.

„Wer hat den Jungen gefunden?“

„Soweit ich gehört habe, war es ein Mann, der es gemeldet hat. Mehr weiß ich dazu leider auch nicht.“

„Ich werde es herausfinden und ihn dann befragen“, sagte sie, „wie sieht es mit der Todesursache aus? Haben Sie eine erste Einschätzung für mich?“

„Hm. Ein Laie würde sicher sagen, der Junge ist ertrunken. Aber da ich kein Laie bin, sage ich dazu erst mal nichts.“

„Verstehe.“

Sie rückten etwas vom Opfer ab, weil nun ein Kollege von der Spurensicherung seine Arbeit machte. Ein anderer schoss Fotos aus allen erdenklichen Positionen heraus von dem Kind, das durch die aufhellenden Blitzlichter kalkweiß wirkte.

Eva musste plötzlich an die Frau denken, die vor einigen Wochen ihren Sohn bei ihr als vermisst gemeldet hatte. Thorben Schiffner. Aber er war ja längst tot. Und nun dieser tote kleine Junge am Strand. Es schien die Zeit der toten Kinder zu sein, dachte sie. Und das im Frühling. Sie wusste selber nicht, warum sie so desillusionierend empfand. Etwas in ihr wehrte sich, das Leben als etwas Schönes anzunehmen, wenn Kinder starben.

„Ich denke“, sagte der Gerichtsmediziner und riss sie aus ihren Gedanken, „ich werde jetzt mit dem Leichnam nach Oldenburg fahren. Es sei denn ...“.

„Ja, machen Sie das“, erwiderte Eva und sah ihn wie durch einen Dunstschleier vor sich stehen. „Ich habe genug gesehen.“ Sie wendete sich ab und lief zurück Richtung Dünenaufgang.

Merkwürdige Frau, dachte der Gerichtsmediziner bei sich. Doch sie sieht nicht übel aus. Immerhin mal ein Lichtblick zwischen all diesen feisten Ermittlern, mit denen er es sonst so zu tun gehabt hatte.

 

Eva ging zum Hotel und erkundigte sich an der Rezeption nach einer Magda, die sie angerufen hatte. Man führte sie in einen Pausenraum, wo besagte Zeugin sich immer noch die Augen ausweinte. Sie muss auch zum Fundort gegangen sein, dachte Eva. Das war so typisch. Dieser Voyeurismus. Und hinterher jammerten sie, weil sie den Anblick eines toten Kindes nicht ertrugen. Aber wer konnte das schon.

„Hallo“, sagte sie, „ich bin von der Polizei. Sie haben mich vorhin angerufen wegen des toten Jungen am Strand.“

Magda rieb sich über die Augen. Dann nickte sie. „Es ist so schrecklich. Wäre ich doch nur nicht zum Strand gegangen.“

„Und warum sind Sie?“

Sie zog die Schultern hoch. „Ich weiß nicht. Irgendwie konnte ich es gar nicht glauben.“

Tja, nun wirst du diesen Moment für immer in dein Hirn eingebrannt haben, dachte Eva und schämte sich gleichzeitig über ihre Schadenfreude. Das war hier völlig deplatziert. Und sie musste vorankommen, schließlich wollte sie Robert noch anrufen.

„Ich habe gehört, dass ein Mann Sie darüber informiert hat“, fuhr Eva fort, „ich meine über das tote Kind am Strand.“

„Das ist richtig“, bestätigte Magda, „er ist Gast unseres Hauses und wollte doch nur einen kleinen Nachmittagsspaziergang unternehmen.“

„Wo finde ich ihn? Ich müsste ihm ein paar Fragen stellen.“

„Er ist bestimmt noch auf seinem Zimmer. Er hat sich von mir ein Aspirin geben lassen und ist dann rauf.“

„Könnten Sie bitte dort anrufen und nachfragen, ob er da ist.“

„Natürlich.“

Magda ging nach vorne in den Empfangsraum und Eva folgte ihr. Es herrschte eine unheimliche Stille hier, fand sie. Alle sprachen nur noch im Flüsterton miteinander, sicher deshalb, weil sie über den grausamen Tod sprachen.

„Er ist oben“, sagte Magda, als sie wieder aufgelegt hatte. Sie nannte Eva die Zimmernummer und diese ging zum Fahrstuhl.

Eva klopfte und sofort wurde ihr geöffnet. Für einen Moment war sie ziemlich perplex. Denn vor ihr stand Viktor Schneider, der nette Mann aus dem Café.

„Sie?“

Er rieb sich über die Stirn. „Ich hätte mir auch gewünscht, dass wir uns unter anderen Umständen wiedergesehen hätten“, sagte er.

„Sie haben Kopfschmerzen?“

„Ja, allerdings. Es hört nicht mehr auf zu pochen. Ich kenne das. Immer, wenn ich mich besonders aufrege, passierte es. Meistens dauert es dann bis zu zwei Tage, bis es wieder aufhört.“

„Das tut mir leid. Dürfte ich Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen?“

„Aber sicher. Entschuldigen Sie, kommen Sie doch herein.“

Es war ein modern eingerichtetes Appartement mit hellen Ledermöbeln mit bodentiefen Fenstern mit Blick in die Natur.

„Nehmen Sie gerne Platz“, bot er an, „ich gehe nochmal ins Bad und schlage mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht.“

Eva ging zum Fenster und sah nach draußen. Die Sonne warf Schatten ins Gebüsch und einige Vögel gaben sich ein Stelldichein, indem sie auf und nieder und wieder durcheinanderflogen.

Viktor Schneider kam zurück. Nun setzten sich beide in die Sessel.

„Sie haben den Jungen also entdeckt“, sagte sie und er nickte.

„Da trieb er noch im Wasser“, erzählte er, „ich bin natürlich sofort hineingesprungen. Da denkt man nicht lange nach.“

„Wie weit ungefähr trieb er dort draußen? Und haben ihn auch andere Gäste am Strand gesehen?“

„Ganz sicher“, bestätigte er, „ich war nicht der erste.“

„Aber sie sprangen ins Wasser, um dem Jungen zu helfen. Und es war niemand dort, der nach dem Kind rief? Eine Mutter vielleicht?“

„Nein, da war niemand. Ich denke nicht, dass es ein Unfall war, der sich direkt am Strand abgespielt hat. Der Junge fühlte sich an, als sei er schon länger tot, als ich ihn in meinen Armen durchs Wasser an den Strand zog.“

„Der Gerichtsmediziner arbeitet im Moment noch an den Einzelheiten“, sagte sie.

„Sicher“, meinte er, „es ist so schrecklich. Das werde ich nie wieder im Leben vergessen können. Ich dachte doch, dass ich ihm helfen könnte ...“. Sein Blick ging ins Leere.

Was hätte er ihr jetzt noch sagen können. Und doch wurde Eva durch eine unbekannte Macht an ihrem Sitz gehalten. So, als könnte sie ihn nun unmöglich alleine lassen. Robert. Und plötzlich hatte sie die Kraft, sich zu erheben.

„Ich weiß ja, wo ich Sie finde“, sagte sie, „falls ich noch Fragen habe. Zunächst einmal vielen Dank. Auch, dass Sie noch versucht haben, den Jungen zu retten. Sowas ist ja nicht selbstverständlich.“

„Für mich schon“, sagte er und sah sie offen an.

Sie nickte und dann verließ sie sein Zimmer.

 

Als Eva endlich in der Dienststelle ankam, versuchte sie, bei Robert anzurufen. Doch es nahm niemand ab. So ein Mist, dachte sie noch. Sie konnte jetzt unmöglich die Insel verlassen. Schließlich hatten sie hier einen Fall, vielleicht sogar einen Mord.

Immer wieder sah sie zur Uhr. Es tat sich nichts. Niemand rief an und keiner schrieb eine Mail. Sie hielt es einfach nicht mehr hier aus. Egal, was man hinterher von ihr dachte, und selbst, wenn man sie rauswarf. Sie musste jetzt rüber aufs Festland. Sie musste zu Robert. Sie spürte es einfach.

In Tannenhausen

Immer wieder war Eva auf der Fähre hin und her gelaufen. An Deck gegangen, dann wieder nach unten. Sie schaffte es nicht, sich hinzusetzen und ruhig zu bleiben. Warum, das wusste sie eigentlich gar nicht. Eigentlich hätte sie sich doch auch freuen können, schließlich fuhr sie zu Robert nach Tannenhausen. Doch anstatt der Vorfreude schlich sich ein Gefühl der Beklemmung ein, das immer quälender wurde mit jedem Meter, den die Motoren gegen das Meer ankämpften und sie weiter in Richtung Bensersiel brachten.

Endlich ging sie dann an Land. Nur mit dem Rucksack auf dem Rücken konnte sie sich schneller fortbewegen als andere Fahrgäste, die große Koffer hinter sich herschleppten. Von unterwegs hatte sie bereits in Wittmund angerufen und darum gebeten, dass man ihr einen Wagen zur Verfügung stellte. Es ginge um den toten Jungen, hatte sie gesagt und gelogen. Sie erklärte in knappen Worten, dass es um ein Ehepaar Schiffner aus Bremen ginge, das vor einiger Zeit auf Langeoog nach einem Kind gesucht hätte. Möglicherweise gäbe es da einen Zusammenhang, sagte sie, auch wenn der Sohn, Thorben Schiffner, ja längst tot war und unmöglich etwas mit dem toten Jungen am Strand zu tun haben konnte. Sie ahnte, dass es bei dem Kollegen, der ihr geduldig zuhörte, etwas verwirrt klingen musste. Doch so hatte sie nun auch einen plausiblen Grund, aufs Festland zu fahren. Und im Moment war es einfach wichtig, dass sie schnell vorankam.

Dann schließlich saß sie im Wagen und fuhr die schmalen Landstraßen entlang. Ein wenig konnte sie nun durchatmen. Weit war es ja nicht mehr. Dann konnte sie Robert endlich in die Arme schließen.

Als sie in Tannenhausen ankam, wunderte sie sich zunächst darüber, dass gar kein Licht im Haus brannte. Es war zwar noch nicht richtig dunkel, aber Robert mochte das goldgelbe Licht um sich herum. Er las viel und gerne. Außerdem warfen die hohen Tannen gerade in den späten Nachmittagsstunden immer dichte Schatten in sein Wohnzimmer. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Ungewissheit und Angst sie plagten, stieg sie schließlich aus dem Wagen.

Sie ging zur Tür und schloss auf.

„Robert?“, rief sie in die vorherrschende Stille hinein. Es kam keine Antwort zurück. Sie schloss die Tür hinter sich und ging praktisch auf Zehenspitzen weiter, bis sie beim Wohnzimmer ankam. Sie sah hinein. Es war niemand da.

Sie stellte ihren Rucksack ab. In ihrem Mund sammelte sich ein schaler Geschmack. Sie hatte lange nichts mehr getrunken. Eigentlich gar nicht mehr, seitdem sie am frühen Nachmittag in dem Eiscafé den Kaffee gehabt hatte. Plötzlich fühlte sie sich wie eine Verdurstende. Ihre Stimme war dünn, als sie noch einmal rief: „Robert!“ Dann versagten ihr fast die Knie, als sie weiter zum Schlafzimmer ging. Die Tür war nur angelehnt. Sie lugte hinein. Er lag im Bett. Mit spitzem Finger schob sie die Tür weiter auf. Dann sah sie ihn. Doch sie konnte nicht erkennen, ob er noch atmete. Ihr Herz blieb ihr fast stehen, als er plötzlich hustete.

„Robert“, rief sie freudig aus. Dann kam sie ums Bett herum und warf sich praktisch darauf, um ihn zu küssen. Immer wieder küsste sie ihn auf die Stirn, ins Gesicht und dann seine Hände.

„Eva“, sagte er etwas irritiert, weil er tatsächlich fester als geplant eingeschlafen war. Er hatte sich nicht gut gefühlt. „Was ist denn los? Was machst du hier?“

Diese Frage ließ sie schmunzeln. „Hast du etwa vergessen, dass ich rüberkommen wollte?“, fragte sie und schmollte, indem sie die Lippen vorschob.

„Nein“, sagte er und setzte sich auf und rieb sich übers Gesicht. „Ich war plötzlich so furchtbar müde, dass ich mich hinlegen musste.“

„Schon okay“, sagte sie. Eva war einfach nur froh, dass es ihm gut ging und sie bei ihm war. „Ich könnte uns etwas zu essen machen. Hast du Hunger?“

„Hm, eigentlich gar nicht so sehr ...“.

„Das macht nichts. Ich habe eigentlich auch gar keinen Appetit.“ Sollte sie ihm von dem toten Jungen erzählen. Sein Leben war doch auch so schon traurig genug. „Ich hatte vorhin einen großen Eisbecher mit viel Sahne“, sagte sie stattdessen, „irgendwie liegt mir das noch schwer im Magen.“

Nun schob Robert die Bettdecke beiseite. „Am besten, ich gehe nochmal unter die Dusche“, meinte er nachdenklich klingend.

Es geht ihm nicht gut, dachte Eva, doch er scheut sich, es mir gegenüber zuzugeben, weil er mir die Stimmung nicht verderben möchte. Eigentlich sind wir doch längst über solche Momente hinweg. „Was kann ich für dich tun?“, fragte sie und sah ihn offen an. „Du musst es mir sagen, wenn du dich schlecht fühlst, bitte.“

Sein Gesicht bekam einen befremdlichen Ausdruck. So, als fragte er sich gerade selber, wer er war und wie es ihm ging. Er schien so unendlich weit weg. Er räusperte sich. „Es ist sicher gleich besser“, sagte er mit belegter Stimme, „ich muss nur duschen.“ Umständlich stieg er aus dem Bett.

Eva sah ihm mit gemischten Gefühlen nach, als er das Schlafzimmer verließ. Kurz darauf lief das Wasser im Badezimmer. Also raffte sie sich auf und ging in die Küche, um einen Tee zu kochen.

Am nächsten Morgen

Ja, es war interessant und aufregend gewesen, mal bei einer großen Tageszeitung in einer Stadt mit mehr als dreißigtausend Einwohnern zu arbeiten. Doch schlussendlich hatte es Sven Bittner dann doch zurück nach Ostfriesland, seine Heimat, gezogen, als er davon gelesen hatte, dass bei der Emder Zeitung ein Posten als stellvertretender Chefredakteur ausgeschrieben geworden war.

Gerade war die Meldung hereingekommen, dass man einen toten Jungen auf Langeoog gefunden hatte. Er sollte darüber schreiben. Und so schloss sich der Kreis und er konnte wieder Kontakt zu Eva Sturm aufnehmen, mit der er kurze Zeit gerne und intensiv zusammengearbeitet hatte. Motiviert griff er zum Telefonhörer und rief in der Dienststelle auf der Insel an. Er sah auf dem Display, dass das Gespräch weitergeleitet wurde auf ein Handy. Vermutlich ihres, doch es nahm niemand ab. Bestimmt ist sie noch mit der Befragung von Zeugen beschäftigt, dachte er und sah sie förmlich vor sich, wie sie die Stirn in Falten zog, weil sie Menschen grundsätzlich nicht traute. Ja, die Zeit mit Eva war für ihn in guter Erinnerung geblieben. Er freute sich schon darauf, sie wiederzusehen.

Er packte ein paar Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Fähranleger in Bensersiel, um nach Langeoog rüber zu fahren. Vorher allerdings machte er noch einen Abstecher in der Dienststelle in Wittmund. Das erwies sich im Nachhinein als sinnvoll, weil er dort nämlich von einem Beamten erfuhr, dass Eva Sturm auf dem Festland war, um eine Spur in Bremen zu verfolgen.

Als er wieder im Wagen saß, rief Bittner noch einmal bei Eva an. Doch sie ging immer noch nicht ans Telefon. Das fand er nun allerdings merkwürdig, weil er ja wusste, dass sie gar nicht auf der Insel beschäftigt war. Wieso nahm sie nicht ab. Er machte es wirklich nicht gerne, aber seit einiger Zeit, da hatte er sich so ein Programm auf sein Handy geladen, mit dem er andere Empfänger orten konnte, wenn sie entsprechende Einstellungen an ihrem Handy nicht geändert hatten. Und da er wusste, dass Eva sich nicht um die Technik ihres Mobiltelefons scherte, hatte er schon nach kurzer Zeit ein Signal. Und es kam nicht aus Bremen. Nein, vielmehr war es sogar vergleichsweise nah zu seinem eigenen Standort. Er vergrößerte die Karte und sah dann, dass sie in Tannenhausen war. Er erinnerte sich vage daran, dass dort ein Ermittler wohnte, der in Aurich arbeitete. Ob sie dort war. Und schließlich erinnerte er sich auch daran, dass Eva damals einen Freund hatte, der ebenfalls dort wohnte. Das machte Sinn, dass sie sich dort aufhielt. Aber warum, wenn es doch eine Menge zu tun gab, wegen des Mordfalls auf Langeoog.

Bittner drehte sich eine Zigarette und legte dann den ersten Gang ein, um nach Tannenhausen zu fahren. Sein Instinkt sagte ihm, dass er das Richtige tat.

Vor dem Haus standen zwei Wagen. Er ging davon aus, dass Eva mit dem einen hierher gefahren war. Nun würde sich alles aufklären. Allerdings würde er ihr auch einen Grund dafür nennen müssen, wie er sie hier gefunden hatte. Dass er ihr nachspionierte, wenn man so wollte. Und sie war nicht der Typ, der über solche Eingriffe in die Privatsphäre erfreut sein würde. Trotzdem nahm er nun allen Mut zusammen und stieg aus dem Wagen. Sie hatte ihn und vor allem seinen Spürsinn, mit dem er ihr bei den Fällen geholfen hatte, immer gemocht, darauf setzt er nun.

Er klopfte ein paar Mal gegen die Tür, doch es tat sich nichts. Es war fast elf Uhr, also ging er nicht davon aus, dass die beiden noch schliefen. Unsicher ging er neben das Haus und sah zum Wald. Ja, dachte er, vielleicht machen sie einen Spaziergang. Doch war Eva so etwas wirklich zuzutrauen, dass sie ihre Arbeit dermaßen vernachlässigte. Eigentlich nicht. Also musste etwas anderes dahinterstecken.

Da er hier im Moment wohl nicht viel ausrichten konnte, außer zu warten, bis sie zurückkämen, ging er wieder zum Wagen und drehte sich eine weitere Zigarette. Er rauchte immer mehr, wenn er nervös war. Und das hier war so eine Situation.

Ein letztes Mal versuchte er nun, während er den Rauch in die Luft blies, noch einmal bei Eva anzurufen. Wieder nahm sie nicht ab. Er hätte nicht sagen können warum, doch nun machte er sich zum ersten Mal Sorgen um sie.

Das wiederum veranlasste ihn, noch einmal zum Haus zu laufen, darum herum zu gehen und in die Fenster zu sehen. Er fühlte sich wie ein Eindringling. Doch dann sah er ein Handy auf dem großen dunklen Tisch liegen. Er wählte erneut ihre Nummer, um sich zu vergewissern, dass es ihres war. Es blinkte auf und ruckelte über den Tisch. Doch im Haus tat sich nichts. Es muss etwas passiert sein, war nun sein nächster Gedanke. Er mahnte sich, ruhig zu bleiben, und ging weiter um das Haus herum, bis er vor der Hintertür stand. Er drückte auf die Klinke. Sie gab tatsächlich nach. Er schob die Tür weiter auf. Das kann ich doch nicht machen, dachte er, einfach hier reingehen.

„Hallo!“, rief er mit gedämpfter Stimme, „ist jemand da? Frau Sturm?“

Er hörte nur sich, es kam nichts zurück. Nun ging er entschlossener in das Haus. Seine Augen gewöhnten sich an das fahle Licht, das durch ein kleines Fenster ins Innere schien.

„Frau Sturm!“, rief er noch einmal, „ich bin’s, Bittner.“ Sie hatte ihn immer nur beim Nachnamen genannt. Deshalb musste sie doch wissen, wer er war. Sie vergaß nichts. Aber wieder erhielt er keine Antwort.

Er hielt es nun wirklich für unwahrscheinlich, dass sie einfach mit ihrem Freund im Wald herumspazierte, während es einen Mord auf Langeoog gab. So etwas passte einfach nicht zu ihr. Entschlossen drang er weiter ins Haus vor. Die Stille, die ihn nun umgab, wirkte erdrückend auf ihn. Nirgendwo ein Geräusch. Einfach nichts.

Er orientierte sich, wo er war. Links lag das Wohnzimmer, wo er das Handy gesehen hatte. Die Tür stand offen. Er ging hinein. Es war niemand hier. Er drückte auf eine Taste und sah zahlreiche verpasste Anrufe auf ihrem Handy, auch seine Versuche, sie zu kontaktieren. Sie musste sich also schon seit Stunden nicht mehr darum gekümmert haben. Das sah ihr ganz und gar nicht ähnlich. Bittner atmete tief ein und aus. Dann ging er weiter ins nächste Zimmer, die Küche. Jemand hatte Kaffee gekocht, doch er war wohl kalt geworden, ohne, dass man ihn trank. Die Kanne war halb voll. Daneben standen zwei vorbereitete Tassen, die nicht benutzt worden waren. Die Maschine hatte sich zum Glück wieder ausgeschaltet. Eine gute Erfindung, dachte er unsinnigerweise. Hier ging es doch um etwas ganz anderes.

Er ging wieder auf den Flur. Die nächste Tür, die er öffnete, führte ins Badezimmer. Ein Handtuch lag vor der Dusche. Und Sachen zum Anziehen, die nicht Eva gehören konnten. Hatten es die beiden eilig gehabt, von hier wegzukommen, ging es ihm durch den Kopf. Aber die Wagen standen doch noch vor dem Haus. Er schloss die Tür wieder und dann stand er vor einer weiteren Tür, die er kaum noch wagte, zu öffnen. Er vermutete das Schlafzimmer dahinter. Da ging man nicht einfach so hinein. Ein Schlafzimmer war etwas sehr Privates. Was war, wenn sie sich gerade geliebt hatten und eingeschlafen waren. Wenn er nun aufmachte, lagen sie vielleicht nackt ineinander verschlungen. Das würde sie ihm niemals verzeihen, wenn er sie so sah.

Trotzdem legte er seine Hand nun auf die Klinke, nachdem er kurz geklopft hatte, ihm niemand antwortete, und drückte sie herunter. Vorsichtig schob er die Tür auf und sah durch den schmalen Spalt hinein. Da lagen zwei Menschen im Bett. Ja, da hatte er richtig vermutet. Doch es sah nicht nach erotischen Spielen aus. Bittner hielt den Atem an. Der Mann neben Eva, er wirkte so blass und irgendwie schien es ihm nicht gut zu gehen. Das war die harmlosere Variante, die ihm durch den Kopf ging. Doch irgendwie wusste er, dass der Mann tot sein musste. Sein Gesicht war kalkweiß, der Mund stand leicht offen. Er atmete nicht mehr. Bittner konzentrierte seinen Blick auf die Bettdecke. Dann zwang er sich, zu Eva, die neben dem Mann lag, zu sehen. Er hatte Angst, dass auch sie tot war. Doch im Gegensatz zu dem Mann neben ihr, wirkte ihr Gesicht rosiger. Auch ihr Mund war leicht geöffnet, doch es war deutlich zu sehen, dass sie atmete, wenn auch schwach. Jemand hat die beiden ermordet, ging es durch seinen Kopf. Anders ließ sich das hier doch gar nicht erklären. Und sie hatte überlebt. Ich muss ihr helfen, dachte Bittner. Doch sein Körper wehrte sich, sich zu bewegen. Los jetzt. Doch alles in ihm hatte sich verkrampft. Sein Blick fiel auf ein Glas, das auf Evas Nachttisch stand. Und dann ahnte er vage, was sie gemacht haben könnte.

„Frau Sturm“, sagte er mit trockener Kehle. Und nun schaffte er es auch endlich, sich zu bewegen. Mit vorsichtigen Schritten trat er neben das Bett und beugte sich zu ihr herunter. „Frau Sturm, sagen Sie doch etwas?“

Eva atmete nur einfach weiter. Sie reagierte nicht auf diese Ansprache. Also griff er nach ihrer Schulter und schüttelte sie sanft.

„Frau Sturm, wachen Sie auf, bitte!“, rief er aus. Sie reagierte auch darauf nicht. Er sah zum Glas. Weiße Schlieren waren zurück zum Boden gelaufen, nachdem sie es leer getrunken hatte. Sie hatte Tabletten genommen. Sie wollte sich umbringen.

Nun endlich nahm er all seinen Mut zusammen und rüttelte heftig an ihr herum. So heftig, dass sogar die Bettdecke zu Boden glitt. Eva war komplett angezogen.

„Eva!“, rief Bittner aus, „bitte, Sie müssen aufwachen.“ Er griff nun unter ihre Arme und zog sie aus dem Bett. Ein Mensch war sehr schwer, wenn er willenlos war. Davon hatte er gehört und nun kämpfte er in der Realität damit. Sie muss sich übergeben, ging es ihm durch den Kopf. Jetzt sofort. Mit aller Kraft schleifte er sie aus dem Schlafzimmer und stieß mit dem Fuß gegen die Badezimmertür, die zum Glück nicht ganz zugegangen war, als er vorhin dort drin gewesen war.

Eva lag nun gekrümmt auf den Fliesen, während Bittner das Wasser im Waschbecken anstellte. Eiskalt. Er griff mit den Händen in den Wasserstrahl und schüttete Wasser in ihr Gesicht. Sie zuckte kurz zusammen. Er war also auf dem richtigen Weg.

Dann zog er sie weiter und setzte sie halbwegs auf, lehnte sie nach vorne, nachdem er sich neben sie gekniet hatte, und hielt ihr seinen Zeigefinger in den Rachen. So weit, dass er sich schämte, es zu tun. Sie fing an zu würgen. Wedelte kurz darauf hilflos mit den Armen. Schließlich übergab sie sich in seinen Schoß.

Danach wischte sie sich mit letzter Kraft über den Mund und sah ihn zum ersten Mal an. „Bittner?“ Ihre Stimme klang brüchig. „Was machen Sie hier?“

Ja, wo fing man da an. Bittner wich ihrem Blick kurz aus, dann sah er zurück. „Sie müssen jetzt unter die Dusche gehen“, sagte er energisch klingend. „Und danach müssen wir uns unterhalten.“

Sie verstand, dass es ihm ernst war. Und so langsam kam alles, was sich am gestrigen Abend ereignet hatte, wieder in ihr hoch. Sie fing an zu weinen. „Gehen Sie ...“, brachte sie mit verzerrter Stimme hervor. „Ich will alleine sein.“

 

Noch Stunden zuvor hatte Eva gut gelaunt in der Küche gesessen und darauf gewartet, dass Robert aus dem Bad kam. Sie würden einen Kaffee zusammen trinken und überlegen, wie sie den gemeinsamen Abend gestalteten. Vielleicht gingen sie noch kurz raus in den Wald, lasen oder schwiegen anschließend gemeinsam im Wohnzimmer, in das der Mond immer so schön hereinschien, wenn es dunkler wurde. Ihr war alles recht, Hauptsache, sie war mit ihrem Mann zusammen. Und am nächsten Tag sah sicher alles schon wieder ganz anders aus. Er würde sich wieder erholen. Es musste einfach so sein.

Es dauerte dann fast zwanzig Minuten, bis Eva zum ersten Mal unruhig wurde, weil Robert immer noch nicht fertig zu sein schien. Sicher, er fühlte sich nicht gut und war schwach auf den Beinen. Aber so eine lange Zeit im Bad zu verbringen, das sah ihm nun wirklich nicht ähnlich. Der Kaffee war längst durchgelaufen und wurde warmgehalten. In wenigen Minuten würde sich die Maschine abschalten. Aber darum ging es ihr ja gar nicht. Sie hätte auch gerne Neuen gemacht, wenn er nur endlich in die Küche kam. Sie ging auf den Flur und horchte an der Badezimmertür. Da lief weder Wasser, noch deutete etwas darauf hin, dass er mit dem Anziehen beschäftigt war. Es kam überhaupt kein Geräusch aus dem Badezimmer.

„Robert“, sagte sie und klopfte sachte an die Tür. „Alles in Ordnung?“

Sie bekam keine Antwort. Dann drückte sie die Klinke herunter, weil sie vereinbart hatten, sich nicht mehr einzuschließen, falls etwas passierte. Und dann sah sie ihn dort auf dem Boden liegen. Gekrümmt vor Schmerz mit leerem Blick.

„Robert“, stieß sie aus und glitt sofort neben ihm zu Boden. „Was ist los? Soll ich einen Arzt rufen?“

„Nein“, stöhnte er, „bitte nicht. Ich muss mich nur ausruhen.“

Das stimmte nicht, das wusste sie. Sein Gesicht sagte etwas ganz anderes. Er hatte starke Schmerzen, wollte es aber partout nicht zugeben vor ihr.

„Komm“, sagte sie und griff unter seinen Arm, um ihm aufzuhelfen. „Du legst dich jetzt am besten ins Bett und ruhst dich aus.“

Er nickte dankbar und half so gut es ging dabei, wieder auf die Beine zu kommen. Sie musste ihn stützen, als sie zum Schlafzimmer hinüber gingen. Robert legte sich ins Bett, sie legte eine Bettdecke über ihn. Er war aschfahl im Gesicht.

„Soll ich nicht doch lieber einen Arzt rufen?“, versuchte sie noch einmal, ihn dazu zu überreden. Er sah schlecht aus. So schlecht wie noch nie zuvor, seitdem er krank geworden war. Sie hatte Angst.

„Nein“, wehrte er erneut ab und sie sah, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Die Schmerzen, die er zu verstecken suchte, sie mussten unermesslich sein. Aber hatte sie das Recht dazu, entgegen seinem Wunsch, keinen Arzt zu wollen, zu handeln. Denn natürlich hätte er nun einen gebraucht. Ganz dringend sogar. Alleine schon deshalb, damit er ein Schmerzmittel bekam und nicht mehr so zu leiden brauchte.

„Robert“, sagte sie mit sanfter Stimme und strich ihm über die Wange, „wir müssen dich ja nicht ins Krankenhaus bringen lassen, aber ein Arzt, der könnte dir doch ein Schmerzmittel geben, damit ...“.

Er sah sie mit glasigen Augen an und wiegte seinen Kopf hin und her. „Ich will keinen Arzt“, war das Letzte, was er sagte, bevor er die Augen schloss und sich zurücklegte.

Vielleicht hilft es ihm ja, wenn er jetzt ein bisschen schläft, hatte Eva da noch gedacht. Sie hatte ihn gut zugedeckt und war auf die andere Seite des Bettes gegangen, um sich neben ihn zu legen. Wenn er wieder aufwachte, dann wollte sie bei ihm sein. Doch Robert wachte nicht wieder auf. Er starb nur eine Stunde später in ihren Armen. Sie hatte gespürt, wie das Leben aus seinem Körper wich. Es fühlte sich friedlich an, als er zur Ruhe kam, kein leichtes Zittern mehr, das ihn durchzog. Ein letzter Atemzug, den er in ihr Gesicht blies, während sie ihn küsste. Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf seine Wangen. Sie küsste sie wieder fort. Immer wieder strich sie ihm über den Kopf. Es war schwer, ihn gehen zu lassen. Doch nun hatte er wenigstens keine Schmerzen mehr. Nur ihr Herz, das riss entzwei. Sie wollte, nein, sie konnte nicht ohne ihn sein.

Nach einer halben Stunde schließlich stieg sie aus dem Bett und ging wieder in die Küche. Sie suchte in einer Schublade nach irgendwelchen Tabletten. Davon gab es hier im Haus wirklich genug. Robert bekam so viel verschrieben, nahm davon aber kaum ein Drittel ein. So entstand nach kurzer Zeit ein giftiger Cocktail in einem großen Wasserglas, das Eva mit ins Schlafzimmer nahm. Sie war ganz ruhig, als sie sich auf die Bettkante setzte und das Glas leer trank. Sie würde mit ihm gehen. Darüber hatte sie in der Vergangenheit schon so oft nachgedacht, dass es ihr überhaupt nichts mehr ausmachte, dass es nun soweit war. Ihr Leben war sinnlos ohne Robert.

 

Bittner hatte in der Küche einen Kaffee gekocht und Eva war mürrisch blickend dazugekommen, als sie im Bad fertiggewesen war.

Sie saßen zusammen am Tisch. Sein Blick fragte, warum sie es getan hatte. Sie hatte keine Lust, es ihm zu erklären.

„Darüber dürfen Sie mit niemandem sprechen“, sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit in die Stille hinein, „das darf keiner jemals erfahren.“ Sie sah ihn eindringlich an. Er wich ihrem Blick nicht aus.

„Ich verspreche es“, sagte er. Und damit war es besiegelt.

„Warum sind Sie überhaupt hier?“ Sie rieb sich übers Gesicht, weil schon wieder ein paar Tränen gelaufen waren.

Nun war es an ihm, ihr seine Geschichte zu erzählen. Er ließ auch nicht unerwähnt, dass er sie geortet hatte. Ihr Blick verriet nicht, ob sie es ihm übelnahm oder doch ein wenig dankbar dafür war, dass sie noch am Leben war.

„Wir müssen einen Arzt rufen“, sagte er nun pragmatisch.

„Ich weiß ...“, flüsterte Eva. „Aber sie werden Fragen stellen, oder?“

„Kommt darauf an“, meinte Bittner, „im Grunde waren Sie doch gar nicht hier, oder?“

Sie kräuselte die Stirn. Natürlich verstand sie, was er damit andeutete. Doch war sie wirklich so kalt, dass sie einfach über Roberts Todesumstände lügen würde.

„Sie können in Ruhe darüber nachdenken“, fuhr Bittner fort, bei dem sich im Kopf schon alles zusammengefügt hatte. „Sie wollten nach Bremen fahren, so, wie es die Kollegen in Wittmund ja auch zu mir gesagt haben. Auf halbem Wege habe ich Sie dann angerufen, weil ich über den Mordfall auf der Insel berichten möchte. So beschlossen Sie, zurückzukommen. Wir wollten uns hier treffen und dann ...“.

Ungläubig sah sie ihn an. War das wirklich der nette junge Mann von damals. Etwas musste in der Großstadt mit ihm passiert sein. Früher hätte er so etwas niemals gemacht, war sie sich sicher. „Dann haben wir ihn gefunden ...“, vollendete sie mit einem Seufzer.

Er griff nach ihrer Hand und sie ließ ihn gewähren. „Es könnte doch so gewesen sein“, meinte er und ließ sie wieder los. „Wem bringt es denn was, wenn Sie die Wahrheit sagen?“

„Niemandem“, stimmte sie lakonisch zu.

„Okay“, sagte Bittner, „wenn Sie einverstanden sind, dann rufe ich jetzt an.“

Sie nickte. Dann trank sie ihren Kaffee zu Ende. Er hatte ja Recht, dachte sie, und doch fühlte es sich wie ein Verrat gegenüber Robert an, was sie nun vorhatten. Wäre Bittner doch nur in seiner Großstadt geblieben. Dann wäre sie jetzt tot und mit Robert zusammen. Das war doch alles, was sie wollte. Einfach diesen unendlichen Schmerz, den er in ihrer Brust hinterlassen hatte, nicht mehr spüren müssen.

 

Nach gut zwei Stunden war dann alles vorbei. Der herbeigerufene Notarzt hatte den natürlichen Tod von Robert dokumentiert. Man brachte ihn ein einem Zinksarg fort. Die Polizei aus Aurich hatte sich angemeldet. Lisa Berthold kam ins Haus und sprach Eva ihr tiefes Mitgefühl aus. Auch im Namen von Jan.

Bittner erzählte immer wieder in stoischer Gelassenheit seine Geschichte, die nun auch zu Evas Geschichte wurde. Als sie beim Haus von Robert eingetroffen seien, da hätten sie ihn tot aufgefunden. Er habe sich um Eva gekümmert, die natürlich zusammengebrochen war. Und so weiter und so fort.

Für Eva lief alles wie in einem schlechten Film ab. Es mochten die Nachwirkungen des Tablettencocktails gewesen sein, warum sie bei allem so ruhig geblieben war. Sicher dachten alle, sie stünde unter Schock. Und irgendwie war es ja auch so.

Dann endlich waren wieder alle weg.

Bittner war unsicher, was er nun tun sollte. Doch irgendwie mochte er Eva auch nicht alleine lassen. Er war sich nicht sicher, ob sie es nicht erneut versuchen würde, sich umzubringen. Doch er sprach seine Angst nicht aus.

Eva wusste, warum er sie während der ganzen Zeit über, wo so ein Trubel im Haus herrschte, nicht aus den Augen gelassen hatte. Er sorgte sich um sie.

„Sie müssen sich keine Gedanken machen“, sagte sie nun, „ich werde mir nichts mehr antun.“

Ja, vielleicht hatte er das wirklich aus ihrem Munde hören müssen, um es glauben zu können. „Okay ...“, sagte er, mehr nicht.

„Ich werde mich jetzt hinlegen“, sagte Eva. „Und morgen kümmern wir uns gemeinsam um den Fall und Sie bekommen Ihre Story.“ Sie stand auf, nahm sich ein Weinglas aus dem Schrank und eine Flasche dazu. „Es wäre nett, wenn Sie hierbleiben könnten, wenigstens heute.“

„Aber sicher“, stimmte er sofort zu, denn das war auch sein Plan, doch er hatte sich nicht getraut, sie zu fragen.

„Bettzeug finden Sie im Schrank im Flur.“

Dann ging sie und kurz darauf hört Bittner, wie die Schlafzimmertür sich hinter ihr Schloss. Was er nicht sah, war, wie Eva sich auf Roberts Seite ins Bett legte, sein Kissen in den Arm nahm und bitterlich weinte. Nach einer Weile setzte sie sich auf und goss sich ein Glas Rotwein ein. Nach einer guten Stunde hatte sie die Flasche geleert und schlief erschöpft auf ihrer eigenen Seite des Bettes ein.

Es ist alles anders

Als Eva am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich verkatert. Und leer. Irgendwie am Leben und doch innerlich wie tot. Ihre Hand fuhr zur leeren Seite des Bettes, wo Robert in ihren Armen gestorben war. Nun war er für immer weg. Sie hatten sich ewige Liebe geschworen, bevor er gegangen war. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie an den Moment zurückdachte, als er sie verließ. Vielleicht hätte es noch viele Dinge zu sagen gegeben. Doch im Grunde genommen waren Worte nicht wichtig. Sie war bei ihm gewesen. Das war, was zählte. Er war nicht allein. Alleine war nur sie jetzt. Irgendwie musste sie damit zurechtkommen.

Ihre Beine fühlten sich schwer an, als sie aus dem Bett stieg. Sie hätte nun vieles tun müssen. Sich um den Fall kümmern, die Beerdigung von Robert organisieren und Bittner sagen, dass er gehen sollte. Es war ein Fehler gewesen, ihn hier ans Haus zu binden. Sicher war es ihm mittlerweile unangenehm, hier bei ihr zu sein.

---ENDE DER LESEPROBE---