Maja Scoll - Ermittlerin in Ystad - Moa Graven - E-Book

Maja Scoll - Ermittlerin in Ystad E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

Maja Scoll ist Ermittlerin in Ystad. In diesem Sammelband ermittelt sie in zwei Fällen. "Maja Scoll - In einer besseren Welt" In einem kleinen Ort nahe Ystad bereiten sich die Bewohner auf ein friedliches Weihnachtsfest vor. Die Fenster sind geschmückt und überall duftet es nach Glühwein. In einer Schule wird traditionell ein Weihnachtsmärchen von den Kindern auf der kleinen Bühne aufgeführt. Die Stimmung könnte besser nicht sein. Bis dann plötzlich ein unerwartetes Ereignis die ganze Dorfgemeinde zutiefst erschüttert. Maja Scoll wird gerufen. Ein Bild des Grauens bietet sich ihr. "Maja Scoll - In einer klaren Winternacht" Eines Tages wird Maja zu einem Tatort in Sövestad im Haus von Stina Pettersson gerufen. Deren Mann Johan sitzt erschossen auf einem Stuhl in der Küche. Eine Kugel in seinem Kopf löschte sein Leben aus. Zunächst sieht alles danach aus, als ob es sich um eine Beziehungstat handeln könnte, denn die Ehe der Petterssons war nicht harmonisch und Stina ging ihren eigenen Weg als Künstlerin. Doch dann ereignet sich ein weiterer Mord, die Umstände sind ähnlich. Was hat diese beiden Männer verbunden und wer hat sie auf dem Gewissen?

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Schwedenkrimi von Moa Graven
Impressum
Zum Inhalt
Diffuse Gefühle
Am Morgen davor
Das Unfassbare sehen
Die traurige Bilanz
Alles ist so still
Gedanken ordnen
Nele Berg
Die Firma
Mal loslassen
Fynn
Jette
Im Büro
Stimmungsschwankungen
Recherche
Im Krankenhaus
Die dunkle Stunde
Das Verhör
Am Ende wird alles gut, oder?
In einer klaren Winternacht
Schwedenkrimi
von Moa Graven
Impressum
Zum Inhalt
Winterträume
Der tote Mann
Die schöne Künstlerin
Die Inszenierung
Freitag, der 14. Januar
Am Abend
Die Kinder von Johan
In Malmö
In Tomelilla
Im Wald
In der Dienststelle
Ausflüchte
In der Nacht
Das Schicksal der Frauen
In Haft genommen
Das Urteil
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Zur Autorin
Die Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
Meine Autobiografie
Leseprobe aus „Spuren in dunkler Nacht“, dem Schwedenkrimi, wo die Langeooger Ermittlerin Eva Sturm zusammen mit Maja Scoll einen Fall in Ystad löst!
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

 

Maja Scoll – Ermittlerin in Ystad

 

Sammelband mit

Maja Scoll – In einer besseren Welt

Maja Scoll – In einer klaren Winternacht

 

Schwedenkrimi von Moa Graven

 

Maja Scoll

In einer besseren Welt

Schwedenkrimi

 

von Moa Graven

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Mit über 70 Krimis, die sie über 600.000 Mal im Eigenverlag verkaufte, gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen in Deutschland.

Impressum

Maja Scoll – In einer besseren Welt

Schwedenkrimi von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn

Juni 2021

ISBN  9798575425885 (Taschenbuchausgabe)

Umschlaggestaltung: Moa Graven

 

Jeder Mensch braucht einen Sehnsuchtsort,

zu dem er sich in melancholischen Stunden hinwegträumen kann.

Bei mir heißt dieser Ort Schweden.

 

Moa Graven

Zum Inhalt

Maja Scoll ermittelt in Schweden bei der Polizei Ystad Bereits in den beiden Bänden mit der Langeooger Ermittlerin Eva Sturm "Das dritte Kind" und "Spuren in dunkler Nacht" haben wir Maja Scoll von der Polizei in Ystad kennengelernt. Nun ermittelt sie in ihrem ersten Fall "In einer besseren Welt" ohne Eva Sturm.

In einem kleinen Ort nahe Ystad bereiten sich die Bewohner auf ein friedliches Weihnachtsfest vor. Die Fenster sind geschmückt und überall duftet es nach Glühwein. In einer Schule wird traditionell ein Weihnachtsmärchen von den Kindern auf der kleinen Bühne aufgeführt. Die Stimmung könnte besser nicht sein. Bis dann plötzlich ein unerwartetes Ereignis die ganze Dorfgemeinde zutiefst erschüttert. Maja Scoll wird gerufen. Ein Bild des Grauens bietet sich ihr.

Diffuse Gefühle

Da war dieses dumpfe Gefühl, das man sich in der Regel nicht erklären konnte. Es befiel einen einfach so. Von einer Stunde auf die andere. Man empfand eine bleierne Schwere, die die einfachsten Dinge zu einer Qual werden lassen konnten.

Maja Scoll saß in dem blauen Sessel vor dem Fenster und sah in den Wald. Ich bin jetzt schon genauso wie Eva, dachte sie. Seit ein paar Monaten lebte sie im Haus der deutschen Ermittlerin, was sie anfangs für eine wirkliche Fügung des Schicksals gehalten hatte. Eva hatte mit ihr ermittelt, eher durch Zufall, als sie in Schweden war, um den Nachlass ihrer verstorbenen Mutter zu regeln. Und dieser bestand aus ebendiesem Haus, in dem Maja nun saß und in den Wald starrte.

Bestimmt liegt es an der Jahreszeit, dachte sie. Sie hatte den Winter noch nie gemocht. Kalt und rau der Wind, auch wenn der Schnee die Landschaft in Schonen dann immer in eine besondere Stimmung versetzte. Weites Land und wenig Menschen auf den Straßen. Und das Gefühl, was sie sonst in ihrer kleinen Wohnung in Ystad in viel zu viel Wodka ertränkt hatte, nahm ihr hier im Haus von Eva praktisch die Luft zum Atmen. Es war ein Fehler gewesen, hier einzuziehen. Evas Schatten spukte überall. Wie sollte sie so wieder zu ihrem normalen Alltag zurückfinden können?

Maja sah auf ihr Handy. Es war gleich sieben Uhr am Abend. Angerufen hatte niemand. Und nach Gesellschaft war ihr auch gar nicht zumute. Wieder der Blick aus dem Fenster. Ob sie noch einmal in den Wald gehen sollte? Im Herbst hatte sie es durchaus reizvoll gefunden, alleine durch die Wälder zu streifen. Aber nun? Nein, es war zu kalt. Also doch der Wodka? Ihr Blick wanderte zur Tür der Küche. Sie wusste, dass sie noch drei Flaschen im Kühlschrank hatte. Und da sie keinen Hunger verspürte, raffte sie sich schließlich auf, um sich ein Glas zu holen.

Da plötzlich klingelte ihr Handy, was sie vor Schreck fast fallen gelassen hätte. Ja, es war eindeutig zu still hier im Haus. Sie nahm ab.

„Maja hier ...“.

Es war ein Kollege in der Dienststelle in Ystad.

„Ein Drama“, sagte er und atmete schwer aus. „Du solltest kommen.“

„Drama?“, wiederholte sie, „kannst du das vielleicht konkretisieren?“

„Viele Tote, vor allem Kinder. Es ist so furchtbar ...“. Er schluckte hart. Es gab Dinge, die ließen selbst einen Polizisten nicht kalt. Dann schilderte er ihr von einem Unglück oder vielleicht auch Anschlag in der kleinen Schule in Sjöbo. Bei einer Aufführung der Weihnachtsgeschichte auf der kleinen Bühne im Gemeinschaftsraum hätte plötzlich ein lauter Knall alle zum Schweigen gebracht. Ob es sich um einen Bombenanschlag handele, sei im Moment noch unklar.

„Ich bin sofort da“, sagte Maja alarmiert. Terroristen waren in Schweden keine Seltenheit. Vielleicht gab es einen fanatischen Hintergrund für diese Tat. Alles war möglich. Schnell ging sie nach draußen und stieg in ihren neuen Wagen, den sie sich nun leisten konnte, da sie keine Miete mehr zu zahlen brauchte. Es war ein V70, der nicht einmal zehn Jahre alt war. Über einen Bekannten hatte sie den silbergrauen Wagen sogar einigermaßen günstig bekommen. Nun trat sie das Gaspedal durch. Wieder waren Kinder die Opfer, ging es ihr durch den Kopf, während die Landschaft wie in einem dichten Nebel an ihr vorbeizog. Es war Halbmond, doch man erahnte nur, wo er lauernd am Himmel hing.

Sie brauchte schließlich keine zwanzig Minuten, bis sie in Sjöbo bei der kleinen Dorfschule ankam, in dem sich das Unglück oder auch Verbrechen ereignet hatte. Die Spurensicherung war bereits damit beschäftigt, herauszufinden, ob es sich eventuell um eine Explosion infolge eines Gaslecks handelte, hatte der Kollege am Telefon vorhin noch gesagt.

Maja stieg aus und trat die Zigarette aus, die sie sich erst kurz vorher angesteckt hatte. Es war kalt. Der Frost zog weiter an. Überall leuchteten die blauen Lichter der Rettungswagen und Polizeiautos und erhellten den Ort des Grauens in bizarrer Weise. Noch einmal tief durchatmen, dachte Maja, dann ging sie hinein.

Lautes Stimmengewirr empfing sie und überall weinten Menschen in den Armen eines anderen. Maja blieb kurz stehen und verschaffte sich einen ersten Überblick der Situation. Dann ging sie weiter durch die dunkelbraune Doppeltür in die Aula der Schule. Ein Bild des Grauens bot sich ihr. Scheinwerfer hatten die Bühne bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Die in bunte Kostüme gehüllten toten Kinderkörper stapelten sich unnatürlich übereinander. Einigen fehlten Gliedmaßen, andere hatten blutüberströmte kleine Gesichter, die mit weit aufgerissenen Augen ins Leere starrten. Maja erkannte unter den in weiß gekleideten Kollegen die Gerichtsmedizinerin Signe Formans und ging zu ihr rüber.

„He“, sagte Signe Formans, als sie Maja erkannte.

„He“, erwiderte Maja. „Weißt du schon, wie viele Opfer es gibt?“

Signe Formans zog die Schultern hoch. „Noch schätzen wir“, sagte sie matt, „die Explosion war ziemlich gewaltig. Wir müssen die separaten Körperteile noch zuordnen, um Genaueres sagen zu können.“

„Verstehe“, entgegnete Maja, während ihr Blick sich an das Gesicht eines kleinen Mädchens heftete, mit dem Signe bis eben beschäftigt gewesen war.

„Sie ist noch ganz“, sagte die Gerichtsmedizinerin, „ihre Eltern saßen auch im Zuschauerraum, wurden aber nur leicht verletzt. Die Mutter hat einen Schock erlitten. Sie wird glaube ich in einem der Sanitätswagen behandelt.“

„Weißt du, wie sie heißt?“

„Ehrlich gesagt, für sowas habe ich keine Zeit“, sagte Signe und beugte sich wieder zu dem toten Mädchen herunter, deren langes blondes Haar hochgesteckt unter einer goldenen Krone aus Plastik steckte. Sie hat sicher eine Prinzessin in dem Stück gespielt, dachte Maja. Es wird das Letzte sein, an das sich ihre Eltern ihr Leben lang erinnern werden. Dass ihre Tochter eine Prinzessin war.

Maja entdeckte Jörn Krone, der neue junge Kollege aus der Abteilung für Terrorismusbekämpfung, der ihr von Anfang an sympathisch gewesen war. Nun nickte er ihr zu und sie ging zu ihm rüber. „Ich komme nachher nochmal bei dir in der Gerichtsmedizin vorbei“, sagte sie im Gehen noch einmal zu Signe zurückblickend. Diese hob nur kurz den Kopf und nickte.

„He Maja“, sagte Jörn Krone, als sie ihn erreichte. Auch er sah sich die ganze Sache aus der Distanz an.

„He Jörn“, grüßte sie zurück, „weißt du schon Näheres über die Ursache der Explosion?“

„Wir arbeiten dran“, gab er zurück und sah sie offen an. „Glaubt ihr an eine Mordsache?“

„Ich weiß es nicht. Noch ist alles offen.“

„Stimmt, es ist einfach noch zu früh, man kann nur spekulieren. Es gibt mindestens ein Dutzend toter Kinder und ein paar Erwachsene aus den ersten Reihen.“

„Bei so vielen Opfern geht man in der Regel ja von einem terroristischen Anschlag aus“, meinte Maja.

„Das ist sicher ein Ansatz“, meinte Jörn, der sich nicht festlegen wollte. „Aber du hast recht, wenn man eine bestimmte Person töten möchte, wählt man in der Regel keine Bombe, sondern eher eine kleinkalibrige Waffe.“

„Eben. Und diese Gemeinde ist stockkonservativ.“

„Du spielst auf ein rassistisches Motiv an?“

„Könnte doch sein. Hier ist man wenig ausländerfreundlich, das gefällt nicht jedem.“

„Das ergibt für mich aber keinen Sinn“, erwiderte Jörn und machte einem Kollegen Platz, der den Arm eines Kindes in einer Plastiktüte davontrug. Für einen Moment wurden sie so aus ihrer Unterhaltung gerissen.

„Es ist nie leicht, wenn es um Kinder geht“, murmelte Maja.

„Ich weiß, was du meinst“, bestätigte Jörn, „man wollte mich zunächst in die Abteilung für die Verfolgung von Kindesmissbrauch und Pornografie stecken.“

„Du hast abgelehnt?“, wunderte sich Maja, die bisher immer davon ausgegangen war, dass ein Ermittler sich mit allen noch so schrecklichen Auswüchsen menschlichen Verhaltens auseinanderzusetzen hatte.

Er nickte. „Vielleicht später, wenn ich älter bin.“

„Hm“, machte sie. Wie alt musste man werden, um sich mit solchen Dingen beschäftigen zu können? Sie hätte darauf keine Antwort gewusst. „Wo waren wir vorhin eigentlich stehengeblieben?“

„Wie?“ Auch Jörn hatte nun den Faden verloren. „Ich weiß nicht, ich denke, wir sprechen uns sicher nochmal, wenn alle Fakten vorliegen. Im Moment können wir hier eher wenig ausrichten und stehen nur im Weg.“ Schon wieder wurden sie von zwei Männern gebeten, etwas zur Seite zu gehen. Sie trugen einen Zinksarg, einen kleineren, den man für Kinder nutzte.

„Du hast recht“, bestätigte Maja, „ich denke, ich werde mich mal mit der Mutter unterhalten.“

„Und mit welcher?“

„Die, die im Sanitätswagen behandelt wird. Ihre Tochter ist das kleine blonde Mädchen mit der goldenen Krone.“ Sie zeigte zur Bühne. Im nächsten Moment griffen die beiden Männer von eben nach dem Kind und legten es in den Zinksarg.

„Okay“, sagte Jörn, „wir sehen uns dann später in der Dienststelle.“

„Ja, ist gut.“

„He.“

„He.“

Maja ging zum Ausgang, während Jörn noch einen Moment stehenblieb und den Männern mit dem Zinksarg zusah, wie sie den kleinen leblosen Körper verstauten.

Am Morgen davor

Nele Berg ermahnte ihre Tochter nicht gerne, doch nun wurde es wirklich langsam Zeit fürs Frühstück.

„Maria, du sollst nicht trödeln“, rief sie durch die offene Küchentür in den Flur.

„Ich komm ja schon, Mama“, kam es maulend zurück. Im nächsten Moment stand Maria in der Küche und hielt eine goldene Krone in die Höhe. „Die kann ich heute Abend doch tragen, Mama?“

Nele sah ihre Tochter skeptisch an. „Aber du gehst doch als Teufelchen“, meinte sie, „die tragen eigentlich keine Kronen, sondern eher Hörner.“

Maria lachte. „Das stimmt. Aber ich gehe jetzt doch lieber als Prinzessin.“

„Tatsächlich?“ Sofort gingen der Mutter tausend Sachen durch den Kopf. Wo auf die Schnelle noch ein anderes Kostüm für eine Prinzessin herbekommen? Wieso war Maria nur immer so flatterhaft? Im nächsten Jahr würde sie das Teufelchenkostüm nicht mehr tragen können, wenn sie weiter so in die Höhe wuchs.

„Prinzessinnen sind viel schöner und jeder mag sie“, meinte Maria keck blinzelnd und setzte sich an den Tisch, wo der Teller mit Müsli und frischem Obst bereits für sie bereitstand.

„Das ist sicher richtig“, murmelte Nele und fuhr sich über den Bauch. In ein paar Tagen, wenn sie sich wirklich sicher war, dann würde sie es ihrem Mann sagen, dass sie wieder schwanger war. Und vielleicht lag es ja auch einfach daran, dass sie sich im Moment durch den Wechsel vom Teufel zur Prinzessin so überfordert fühlte. Sie war mit ihren Gedanken eben ganz woanders. Und morgen war Weihnachten. Es wurde einfach alles zuviel auf einmal. „Weißt du was“, sagte sie nun und setzte sich zu ihrer Tochter an den Tisch, „wenn du fertig bist mit dem Frühstück, dann fahren wir einfach nochmal nach Lund und gucken, ob wir dort ein schönes Prinzessinnenkostüm für dich bekommen.“

„Das müssen wir nicht, Mama“, belehrte sie ihre Tochter, „ich tausche ja einfach mit Jonna. Sie will lieber mein Teufelchenkostüm haben. Dafür bekomme ich ihr rosa Spitzenkleid.“

„Aha“, sagte Nele erleichtert. Diese Fahrerei blieb ihr nun wenigstens erspart. Jonna, Marias Schulfreundin, wohnte nur ein paar hundert Meter weiter. Die Familien waren eng befreundet und trafen sich auch oft an den Wochenenden zu gemeinsamen Festen. „Aber woher hast du denn die Krone?“

„Die hat Jonna mir schon in der Schule gegeben. Aber das Kleid ist noch bei ihr zuhause, weil die Mama es noch bügeln muss.“

„Na gut, dann fahren wir gleich einfach rüber und holen das Kleid“, meinte Nele, „bügeln kann ich es ja auch, wenn du es trägst.“

„Ich fahre lieber alleine“, erwiderte Maria, „mit dem Fahrrad.“

Nele verstand und nickte. Sie hatten Maria das Fahrrad zu ihrem Geburtstag im November geschenkt. Und so viele Gelegenheiten, es auszuprobieren, hatte es bisher aufgrund der Witterungsverhältnisse nicht gegeben. Doch trotzdem gefiel es ihr nicht, auch wenn die Wege, auf denen Maria fahren würde, sicher frei vom Schnee geräumt waren. Es gab immer zu Eis gefrorenen Schnee hier und da, der das Mädchen mit dem Fahrrad stürzen lassen konnte. Doch sie wusste auch, dass sie Maria es kaum würde ausreden können. Sie war ein Skorpion. Ein wahrer Querkopf, wenn sie etwas wollte, dann ließ sie sich in der Regel nicht von ihren Plänen abbringen.

Und so brach Maria schließlich in eine dicke Jacke gepackt mit einem Schal und Handschuhen bekleidet mit ihrem Fahrrad auf.

„Zum Essen bist du aber bitte zurück“, rief Nele ihr noch nach, bevor sie wieder ins Haus ging. Wenigstens scheint die Sonne heute, dachte sie und legte sich kurz aufs Sofa. Auch bei der Schwangerschaft mit Maria waren die ersten Wochen eine wirkliche Qual gewesen. Ständig wurde ihr übel oder schwindelig. So auch jetzt. Es war gut, dass sie Berend bald Bescheid sagen würde, dass er wieder Vater wurde. Vielleicht hatte er an ihrer Reizbarkeit sowieso schon gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Er war ein guter Mann, der ihr nie viele Fragen stellte. Sich aber trotzdem immer um seine Frau sorgte. Bis zum Essen am späten Nachmittag war es noch weithin. Und Nele war sich sicher, dass Maria nicht vorher zurückkehren würde. Also stand sie noch einmal vom Sofa auf und legte sich direkt ins Bett, in der Hoffnung, dass es ihr nach einem tiefen Schlaf wirklich besser gehen würde. Denn am Abend gab es die Weihnachtsaufführung in der Schule. So war das immer in Sjöbo am letzten Schultag vor Weihnachten. Und den Auftritt ihrer kleinen Prinzessin, den wollte Nele auf keinen Fall versäumen.

Etwa zwei Stunden später wachte Nele etwas verwirrt aus einem etwas verstörenden Traum auf. Kopfschmerzen kündigten sich an. Sie hatte ja gewusst, dass es keine gute Idee gewesen war, sich am helllichten Tag ins Bett zu legen. Und Medikamente würde sie nicht nehmen, da sie ja davon ausging, schwanger zu sein. Also stand sie mit schweren Gliedern auf und ging ins Bad, um sich unter die Dusche zu stellen. Manchmal hatte das schon bei ihren Kopfschmerzen, die sie vorwiegend im Winter plagten, geholfen. Das warme Wasser tat ihr gut. Lange ließ sie es laufen und lehnte sich an die Kacheln, während es über ihren Rücken lief. Berend und sie, sie hatten schon länger mit dem Gedanken gespielt, noch ein Kind zu bekommen. Ein Geschwisterchen für Maria. Noch war es nicht zu spät. Sie konnten noch gemeinsam aufwachsen. Im nächsten Sommer, wenn das Kind kam, dann wäre Maria noch klein genug, um sich über ein Brüderchen oder ein Schwesterchen als Spielkameraden zu freuen. So jedenfalls hoffte Nele. Es lag ja nicht an ihr, dass es nicht früher geklappt hatte. Vor ein paar Jahren, als der Wunsch noch stärker war, da hatten sie sich untersuchen lassen. Es war einfach so, dass Berend kein guter Samenspender war. Seitdem rauchte er weniger. Hatte es sogar einmal ganz aufgegeben. Doch als sich abzeichnete, dass ihre Bemühungen wohl vergebens sein würden, da hatte er wieder mit dem Rauchen angefangen. Nele war davon nicht begeistert gewesen. Doch sie wollte ihm keine Vorwürfe machen. Sie war ja froh, dass sie wenigstens Maria hatte. Auch wenn sie sich schon als junge Frau immer eine ganze Fußballmannschaft vorgestellt hatte, die mit ihr in der Küche saß und lärmte. Doch wer dachte schon an so etwas, wenn er sich verliebte. In der Regel ging man davon aus, dass das Leben seinen Lauf nahm, wenn man es zuließ. Doch auch Maria kam erst, nachdem sie bereits fünf Jahre verheiratet waren. Nun war Nele siebenunddreißig. Oft fragte sie sich in den letzten Tagen, ob sie nicht doch schon zu alt sein würde, um noch einmal ein Baby zu bekommen. Und Berend war fünf Jahre älter als sie. Doch bei Männern spielte das Alter in der Regel keine Rolle. Wie er wohl reagieren wird?, fragte sie sich nun und stellte das Wasser ab. Das ganze Bad war vernebelt, weil sie so lange geduscht hatte. Sie rubbelte sich schnell mit dem Handtuch ab, zog sich etwas über und machte das Fenster auf. Gunnar mochte es nicht, wenn bei geschlossenem Fenster geduscht wurde. Das führe nur zur Schimmelbildung, argumentierte er immer, und das im ganzen Haus.

Am Schluss, als Nele das Bad verließ, war auch der Spiegel trockengerieben und sie eilte in die Küche, um die Vorbereitungen für das Essen zu treffen. Berend arbeitete in einem größeren Möbelhaus in Lund als Berater, wo er sich für heute, wo die Schulaufführung bevorstand, bereits am frühen Nachmittag freigenommen hatte, damit sie zusammen nach dem Essen zur Schule in Sjöbo fahren konnten.

Hoffentlich ist Maria bis dahin zurück, dachte Nele mit Blick zur Küchenuhr an der Wand. Bestimmt vergaßen die Mädchen die Zeit, aber sie musste sich doch noch um das Kostüm kümmern. Jonna und Maria waren von ähnlicher Statur, also würde es schon passen. Aber trotzdem wollte Nele nicht alles in letzter Minute erledigt wissen. Sie nahm gerade das Gemüse aus dem Kühlfach, als sie die Tür draußen hörte. Gott sei Dank, dachte sie. Im nächsten Moment kam Maria fröhlich in die Küche und präsentierte ihr stolz das Kleid.

„Jonnas Mama hat es noch gebügelt“, sagte sie, „soll ich es gleich mal anziehen?“

„Ja, mein Schatz“, erwiderte Nele und fuhr mit der Hand über den feinen Satin. „Du wirst bestimmt eine ganz wunderschöne Prinzessin.“

Maria nickte mit hochroten Wagen und rannte schon wieder aus der Küche, um sich in ihrem Zimmer, das im ersten Stock lag, umzuziehen.

Sie wird viel zu schnell groß, dachte Nele. Nur noch ein paar Jahre, dann wird sie sich für einen netten jungen Mann zurechtmachen. Sie wandte sich wieder der Anrichte zu und nahm den Gemüsemix aus der Schachtel und gab ihn in einen Topf, den sie mit ein wenig Wasser befüllte und auf den Herd stellte. Danach holte sie Kartoffeln aus dem Vorratsraum und setzte sich damit an den Küchentisch, um diese zu schälen.

Und dann traten ihr fast die Tränen in die Augen, als Maria wieder in die Küche kam. Das rosa Kleid, es passte perfekt. Es reichte dem Mädchen bis fast an die Knöchel und hatte eine wunderschöne mit glitzernden Perlen besetzte Kante. Die langen blonden Haare hatte Maria sich mit einem Gummiband hinten am Kopf zusammengebunden und einmal um den Kopf gelegt, so, wie sie es immer bei den herrschaftlichen Damen sah, die in den Magazinen abgebildet waren, die ihre Mutter gerne las. Die goldene Krone dazu macht Maria fast zu einer jungen Frau, dachte Nele nun und wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab. Sie stand auf, während Maria sich einmal um die eigene Achse drehte.

„Du bist so schön, mein Liebling“, sagte Nele und ging zu ihr. „Und die Haare, die stecke ich dir nachher mit meinen Klammeren hoch. Und dann bekommst du noch ein paar goldene Ohrringe von mir dazu, na, was sagst du?“ Sie strich dem Mädchen über den Kopf.

„Ich freue mich so auf heute Abend“, flüsterte Maria und drückte sich fest an den Bauch ihrer Mutter.

„Ich freue mich auch“, bestätigte Nele, „aber nun solltest du schnell alles wieder ausziehen, bevor wir essen. Nicht, dass noch ein Flecken darauf kommt.“

Das Mädchen lief tänzelnd aus der Küche und hob und senkte dabei ihre ausgestreckten Arme, als sei sie ein kleines Vögelchen, das gleich abzuheben beabsichtigte.

 

„Es schmeckt wieder ganz hervorragend“, lobte Berend, als sie dann bald darauf gemeinsam am Tisch saßen.

„Papa“, sagte Maria, „freust du dich schon auf heute Abend?“

„Aber ja, mein Schatz, und wie“, bestätigte der stolze Vater.

Nele beobachtete die beiden während der Unterhaltung und sie war sich sicher, dass es, wenn es überhaupt möglich wäre, nur einen Menschen gäbe, der Maria mehr liebte als sie selber. Berend. Er war der beste Vater, den sich ein kleines Mädchen wünschen konnte. Sie hatte es von Anfang an gewusst, als sie sich kennenlernten, dass sie für immer mit ihm zusammen sein wollte. Er hatte diese Art, sie anzusehen, die ihr das Gefühl gab, dass sie nun alles hatte, was sie zum Leben brauchte.

„Weißt du denn auch, als was ich mich verkleide?“, fragte Maria nun und warf ihrer Mutter dabei einen bedeutsamen Blick zu, der Nele sagte, dass sie nichts verraten durfte.

Berend nickte. „Natürlich weiß ich das, du kleines Teufelchen.“ Er strich ihr über die Wange.

„Ähäh“, machte Maria nun, „ich bin gar kein Teufel mehr.“

„Nicht?“ Berend sah fragend zu seiner Frau.

„Ich habe nichts damit zu tun“, wehrte Nele ab und grinste. „Du hast eben eine sehr eigensinnige Tochter. Mehr sage ich dazu nicht.“

„Rate“, forderte Maria ihren Vater nun auf.

„Hm“, machte dieser und fuhr sich mit einer theatralisch wirkenden Geste mit der Hand über die hohe Stirn. „Vielleicht doch als kleines Vögelchen?“

„Ganz falsch“, jauchzte Maria vor Freude. „Das errätst du sowieso nie.“

„Dann gebe ich wohl besser auf“, seufzte er, „ich bin eben nur ein Möbelverkäufer, der sowas niemals erraten kann.“

„So ist es“, mischte sich nun Nele wieder mit einem warnenden Blick zur Uhr ein, „wenn wir noch pünktlich zur Aufführung kommen wollen, dann sollten wir uns jetzt alle beeilen. Maria, du wirst dir nun ordentlich die Hände waschen und danach ziehen wir dich gemeinsam um und machen dir die Haare zurecht.“

„Ja, Mama“, sagte das Mädchen und legte das Besteck zur Seite.

Berend begann mit dem Abräumen, während Nele sich bereits um die Töpfe kümmerte. Es war noch genug da, um auch am nächsten Tag noch einmal davon zu essen. Und aufgewärmt schmeckte es manchmal sogar noch besser.

„Ich geh schon mal zu Maria und helfe ihr beim Anziehen“, sagte Nele nun zu ihrem Mann. Sie fand es schön, dass er ihr auch im Haushalt zur Hand ging. Er nickte ihr mit einem Lächeln zu.

Maria wartete bereits ungeduldig in ihrem Zimmer und hielt sich das Kleid vor die Brust und betrachtete sich damit im großen Spiegel an ihrem Kleiderschrank.

„Du wirst wunderschön aussehen“, sagte Nele mit einem dicken Kloß im Hals. Sie wusste nicht, warum sie solche Situationen emotional immer so mitnahmen. Doch ihr kleines Mädchen so glücklich zu sehen, das ergriff sie jedes Mal. Vielleicht lag es auch an der Schwangerschaft, dass sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatte. Auf jeden Fall schluckte sie nun kräftig ein paar Tränen herunter, weil sie Maria nicht verwirren wollte. Sie half ihrer Tochter in das Kleid und bürstete anschließend ihr langes dichtes Haar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Auch Nele trug ihre Haare noch immer lang und flocht es meistens aus praktischen Gründen zu einem dicken Zopf am Hinterkopf zusammen.

„Mama“, mahnte Maria, die spürte, dass ihre Mutter mit den Gedanken ganz woanders war. „Wir müssen uns beeilen.“

„Du hast recht, mein Kleines.“ Nele küsste ihre Tochter noch einmal auf den Kopf und dann drehte sie ihre Haare so hoch, so dass sie wie eine junge Dame aussah, und steckte sie mit Haarnadeln fest und schob hinterher die goldene Krone darauf. „Jetzt fehlen nur noch ein paar Ohrringe“, sagte sie, „warte, ich bin gleich zurück.“

Maria drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Sie freute sich so auf die Schulaufführung, auch, weil es wohl ihre letzte an dieser Schule sein würde. Denn sie wechselte bald in eine weiterführende Schule in Ystad. Genauso wie Jonna. Die beiden Mädchen waren wie Pech und Schwefel, wie man so schön sagte. Nichts konnte sie auseinanderbringen.

Nele kam mit den goldenen Ohrclips zurück und befestigte sie an den Ohrläppchen ihrer Tochter, die eigentlich noch viel zu klein dafür waren. „Du bist sehr hübsch“, sagte sie und sah mit ihrer Tochter gemeinsam in das Spiegelbild.

„Bin ich genauso schön wie du, Mama, wenn ich groß bin.“

„Ganz bestimmt wirst du noch viel schöner. So, jetzt müssen wir aber wirklich los. Lass uns nachsehen, wieweit Papa ist.“

Bald machte sich die kleine Familie in dicke Jacken und Mützen gehüllt auf den Weg nach Sjöbo.

 

Trine Holm, die Musiklehrerin, die das Stück mit den Kindern eingeübt hatte und die Musik am Klavier dazu spielen würde, lief mit hochrotem Kopf zwischen den Kindern, die aufgeregt hinter der Bühne auf ihren Auftritt warteten, hin und her und gab letzte Anweisungen. Alle hatten Lampenfieber, auch Trine Holm, obwohl sie mit ihren achtundfünfzig Jahren gewiss schon mehr als zwei Dutzend solcher Aufführungen zu Weihnachten für die Eltern organisiert hatte. Trotzdem war es immer wieder eine große Herausforderung für sie. Denn sie wurde älter und die Kinder mit den Jahren immer unkontrollierbarer, so hatte sie den Eindruck in der letzten Zeit gewonnen. Hin und wieder überlegte sie schon, frühzeitig in Pension zu gehen, denn ihre Gelenkschmerzen, die sie seit einigen Jahren plagten, waren schlimmer geworden. Besonders im Winter. Draußen hörte sie, wie die Aula sich mit den Gästen, vorwiegend Eltern der Schüler, füllte. Sie waren stolz auf ihre Kinder. Das war Lohn genug für die ganzen Mühen, dachte Trine Holm und lugte durch den Vorhang. Die meisten Eltern kannte sie, so war das in ihrer kleinen Gemeinde. Deshalb hatte sie auch nie den Wunsch gehabt, an eine Schule in Stockholm zu wechseln. Sie mochte das beschauliche Leben, wo man noch wusste, wer man war und wo man stand. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Dann wies sie die Kinder noch einmal an, jetzt ruhig zu sein und sich auf den Auftritt, der gleich folgen würde, zu konzentrieren.

 

„Wir hätten doch etwas früher losfahren sollen“, seufzte Nele, die mit ihrem Mann in der vorletzten Reihe noch einen Platz gefunden hatte.

„Aber von hier aus kann man doch alles sehen“, meinte Berend. „Ich finde, es ist ein schöner Platz. Wenn man zu weit vorne sitzt, dann sieht man doch gar nicht die ganze Bühne.“

„Ja, wahrscheinlich hast du recht.“ Nele begrüßte ein paar Eltern mit einem Kopfnicken und suchte in ihrer Handtasche nach Taschentüchern. Die brauchte sie immer bei solchen Gelegenheiten. Zum Glück hatte sie noch ein ganzes Paket dabei.

Dann trat Trine Holm hinter dem Vorhang hervor und augenblicklich wurden die Gespräche im Zuschauerraum immer leiser, bis sie schließlich ganz abebbten.

„Ich freue mich, dass ihr alle den Weg hierhergefunden habt“, sagte die Lehrerin und stand unbeholfen alleine mitten auf der Bühne. Sie mochte es nicht, so im Rampenlicht zu stehen und jeder wusste das. „So, nun ist es am besten“, fuhr sie fort, „wenn wir einfach mit der Aufführung beginnen, denn die Kinder sind wie immer ganz aufgeregt. Bevor sie noch auf dumme Gedanken da hinter dem Vorhang kommen“, sie wies hinter sich, „ihr wisst schon, was ich meine.“ Allgemeines Gelächter im Zuschauerraum. Dann stieg sie die schmalen Holzstufen herunter und ging zu ihrem Klavier, das zu diesem Zweck weiter hinten im Raum aufgestellt worden war wegen der Akustik und damit sie die Kinder während ihres Wortwechsels beim Spiel auf der Bühne nicht übertönte.

Dann schließlich wurde es mucksmäuschenstill, als Trine Holm sich auf ihren Stuhl gesetzt hatte und die Finger auf die Tastatur legte. Ein erster Ton signalisierte der Deutschlehrerin, die mit den Kindern hinter dem Vorhang wartete, dass es nun soweit war. Sie zog den Vorhang auf und hochrote kleine Gesichter blickten voller Stolz in die Menge der Eltern. Erster Applaus brandete auf. Trine Holm begann zu spielen.

„Oh Gott, ich glaube, ich muss jetzt schon weinen“, flüsterte Nele ihrem Mann zu und zog ein erstes Taschentuch aus der Packung. „Sie sieht so zauberhaft aus, unsere kleine Maus.“

„Ja“, bestätigte Berend mit einem Raunen und drückte ihre freie Hand.

Den anderen Eltern ging es sicher genauso, als die Aufführung schließlich begann und ein kleiner Junge, der als Räuber verkleidet war, über die Bühne eilte und nach einem verborgenen Schatz verlangte, der wohl ihm gehörte, so meinte er. Die anderen Kinder um ihn herum hielten sich noch zurück, bis ihr Auftritt kam. Immer mehr Kinder redeten und sangen, begleitet von Trine Holms Musik. Einige Eltern zogen ihre Handys hervor, was eigentlich nicht erlaubt war. Doch heutzutage ließ sich so etwas wohl nicht mehr eindämmen. Sie wollten diesen Moment festhalten. Unbedingt.

Und dann gab es einen fürchterlichen Knall. Niemand wusste, was geschehen war. Alle standen plötzlich unter Schock. Die Kinder auf der Bühne, sie wurden durch die Luft gewirbelt und fielen leblos zu Boden.

„Maria!“, schrie Nele auf. Dann brach sie zusammen. Berend versuchte noch, die Situation zu realisieren. Er sah Eltern aufspringen und panisch zur Bühne rennen. Er sah seine Tochter nicht. Und neben ihm seine Frau, die nicht mehr ansprechbar war. Eine Situation, die ihn zerriss. Alles lief plötzlich wild durcheinander. Worte wie Hilfe und Krankenwagen hallten durch den Raum. Dazu die Schreie verzweifelter Eltern.

Das Unfassbare sehen

Maja ging zu dem Sanitätswagen, in dem sie Nele Berg vermutete. Irgendwo musste sie ja anfangen zu ermitteln.

„Ist sie ansprechbar?“, fragte sie den Sanitäter, der draußen stand und eine Zigarette rauchte.

„Ich weiß nicht“, erwiderte er, „ob sie schon darüber sprechen kann. Physisch ist sie aber stabil.“

„Okay, danke.“ Maja öffnete die nur angelehnte Tür des Wagens und ging hinein. „He“, sagte sie, „ich bin Maja Scoll von der Polizei Ystad. Sind Sie Nele Berg?“

Die Frau, die auf der Pritsche saß, sah sie mit glasigen Augen an.

„Wo ist Berend?“, fragte sie dann.

„Ihr Mann?“

Die Frau nickte.

„Ich weiß nicht. Ich denke, er kümmert sich um die anderen.“

„Das ist gut.“

Sie verdrängt es, dachte Maja. Sie will nicht wahrhaben, dass ihre Tochter tot ist. Und das war nur allzu verständlich. Noch war bisher unklar, wie viele Kinder bei der Explosion gestorben waren. Es würde sich ein dunkler Schatten über Sjöbo legen. An Weihnachten dachte nun wohl niemand mehr.

„Können Sie mir sagen, was heute Abend passiert ist?“, fragte sie vorsichtig und setzte sich ans andere Ende der Pritsche.

Nele Berg sah sie offen an und sah doch durch sie hindurch. „Ich weiß es nicht“, sagte sie lakonisch. „Plötzlich war es so laut.“

Maja wusste nicht, was sie sich überhaupt von dieser Unterhaltung erhoffte. Was erwartete sie von einer traumatisierten Mutter für Hinweise? Vielleicht war es einfach so, dass sie selber geschockt war. Der Anblick der toten Kinder, der war ihr ziemlich an die Nieren gegangen. Und trotzdem war sie bestimmt nicht in der Lage, nachvollziehen zu können, was diese Frau hier vor ihr nun durchmachte, die praktisch gesehen hatte, wie ihre Tochter vor ihren eigenen Augen von einer Explosion getötet worden war. Das konnte sicher niemand, der es nicht erlebt hatte.

„Es tut mir leid“, sagte Maja, „ich meine ...“.

„Wo ist Maria jetzt?“

„Man wird sich um sie kümmern“, sagte Maja, weil sie das Wort Gerichtsmedizin jetzt nicht sagen wollte.

„Das ist gut. Ich muss jetzt mit Berend sprechen. Wo ist Berend?“

„Warten Sie hier, ich werde nach ihm suchen und ihn zu Ihnen schicken“, schlug Maja vor.

Nele Berg nickte und sah wieder auf ihre Hände.

Verfluchter Mist, dachte Maja und trat gegen einen Reifen, als sie wieder aus dem Wagen gestiegen war. Warum machte jemand so etwas Schreckliches? Es waren doch noch unschuldige Kinder gewesen.

„Alles okay?“, fragte der Sanitäter von eben.

Maja schüttelte mit dem Kopf und dachte, nichts ist okay. Dann ging sie wortlos davon. Der Zufall wollte es wohl so, dass ihr ein Mann entgegenkam, als sie gerade wieder in die Schule zurückgehen wollte.

„Wissen Sie, wo meine Frau ist?“, fragte er.

„Sind Sie Berend?“

Er nickte.

„Ihre Frau ist dort drüben im Sanitätswagen. Ich habe eben kurz mit ihr gesprochen. Sie scheint stabil zu sein. Aber es ist gut, wenn Sie jetzt zu ihr gehen.“

„Sind Sie von der Polizei?“

Maja nickte.

„Dann fassen Sie bitte den, der meine Tochter umgebracht hat. Ja?“

Maja wusste, dass sie nun nichts versprechen sollte, was sie vielleicht nicht halten konnte. Trotzdem nickte sie.

„Ich werde alles tun, damit wir die Sache aufklären, das verspreche ich Ihnen. Können Sie mir vielleicht noch kurz sagen, an was Sie sich erinnern können?“

„Hm ...“, er vergrub seine Hände in den Jackentaschen. „Was genau eigentlich passiert ist, weiß ich nicht. Es gab einen lauten Knall ... dann sah ich ... die Kinder.“

„Verstehe. Ist schon gut. Kümmern Sie sich ruhig um Ihre Frau, sie braucht Sie jetzt.“ Maja wusste, dass es sinnlos war und zudem quälend für ihn, wenn sie jetzt weiter nachbohrte. Von einem plötzlichen Knall hatte sie ja schon gehört. Was dahintersteckte, das würden die Techniker schon herausfinden.

Er nickte und ging davon.

Maja sah ihm noch einen Moment nach. Verbrechen wie diese waren etwas Schreckliches. Vermutlich machten sich die Täter gar nicht bewusst, was sie anderen damit antaten. Nein, ganz sicher taten sie das nicht.

Sie ging wieder in die Schule zurück und dann in die Aula, wo sich bereits eine tödliche Ruhe über allem ausgebreitet hatte. Die meisten Leichen waren bereits weggeschafft worden. Auch die Gerichtsmedizinerin war nicht mehr zu sehen. Viele Einsatzkräfte waren damit beschäftigt, Spuren zu sichern. Das war nun das Wichtigste, wenn man herausfinden wollte, was hier eigentlich passiert war.

Dann sah Maja eine ältere Frau an die Wand gelehnt stehen. Sie rauchte. Ja, fast wirkte sie unbeteiligt. Das war sicher der Schock. Sie ging zu ihr rüber und stellte sich vor. Dann erfuhr sie, dass es sich bei der Frau um Trine Holm, die Musiklehrerin handelte, die bis zur Explosion ein fröhliches Lied auf dem Klavier gespielt hatte.

„Sie haben also zur Bühne gesehen, als es geschah?“, fragte Maja.

Trine Holm nickte.

„An welche Einzelheiten können Sie sich erinnern? Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, bevor es zur Explosion kam? Hat sich jemand auffällig verhalten?“

„Auffällig?“, wiederholte Trine Holm. „Ich weiß nicht. Sie waren alle so fröhlich, die Kinder meine ich. Sie haben gesungen und gelacht. Die Eltern waren so stolz. Und dann war plötzlich alles vorbei. Einfach so.“

„Als es diesen Knall gab“, bekräftigte Maja.

Trine Holm nickte. „Ich habe gar nicht verstanden, was eigentlich passiert ist“, sagte sie und ließ ihre Zigarette einfach zu Boden fallen und trat darauf.

„Sie haben also niemanden gesehen, ich meine auf der Bühne, wo sie sich vielleicht gewundert hätten, dass er dort ist?“

Trine Holm dachte kurz nach. „Nein, eigentlich nicht. Es war alles normal.“

„Und unter den Zuschauern? Gab es dort jemanden unter den Eltern, wo Sie sich vielleicht gefragt hätten, wer es war? Den Sie nicht kannten oder bisher noch nie gesehen hatten?“

Wieder zog Trine Holm die Stirn in Falten, bevor sie antwortete. „Nein, daran könnte ich mich wohl erinnern. Ich meine, wir sind eine kleine Schule. Hier kennt jeder jeden. Und alle, die heute Abend hier waren, die kannte ich. Da war niemand, über den ich mich gewundert hätte.“

„Was werden Sie jetzt machen?“

„Ich?“

„Ja. Ich meine, holt Sie jemand ab?“

„Nein. Ich bin ja mit dem Wagen da.“

Maja war sich nicht sicher, ob sie es zulassen sollte, dass Trine Holm sich alleine auf den Weg machte. „Leben Sie alleine?“

Trine Holm nickte. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, sagte sie, „mein Bruder ist auch hier. Er kümmert sich gerade um die Eltern.“

„Ihr Bruder?“

„Ja. William Larsson. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört. Er möchte bei der nächsten Wahl zum Bürgermeister antreten.“

Nein, von ihm hatte Maja noch nicht gehört. Sjöbo war nicht so wichtig, als dass man in Ystad darüber sprach, wer hier die Geschicke der Gemeinde in die richtigen Bahnen lenkte. Trotzdem war es gut zu wissen, dass Trine Holm jemanden hatte, der sich in den nächsten Stunden um sie kümmerte.

So standen die beiden Frauen noch eine Weile wortlos nebeneinander und sahen zur Bühne, wo das Unfassbare geschehen war.

Gegen kurz nach ein Uhr in der Nacht kam Maja schließlich wieder in Ystad in der Dienststelle an. Es war nicht davon auszugehen, dass es schon Ergebnisse gab. Und die Liste mit den Kindern würde sie erst morgen von der Schule erhalten.

Dann würde man klarer sehen, wer noch da war.

Als sie sich einen Kaffee geholt hatte und ihre Füße auf den Schreibtisch legte, überkam sie ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit.

Die traurige Bilanz

Am nächsten Morgen trank Maja ihren Kaffee im Stehen und sah durchs Fenster zum Wald. Was würde Eva dazu sagen, wenn sie nun hier wäre? Bestimmt hatte sie schon von dem Attentat in den Onlinemedien gelesen. Das Unglück in der kleinen Schule in Sjöbo erschütterte die Menschen weit über die Grenzen Schwedens hinaus. Wo soll ich ansetzen?, fragte sich Maja und verfolgte mit ihrem Blick ein Wild, das in einiger Entfernung durch die Büsche streifte. Es dämmerte bereits, der Himmel war aber wieder von dicken Nebelschwaden verhangen. Ein weiterer trüber Tag mit noch trüberen Ereignissen.

Schließlich raffte Maja sich auf, um zur Dienststelle zu fahren. Außerdem wollte sie vorher noch bei Signe Formans in der Gerichtsmedizin vorbeisehen.

„He“, grüßte sie, als sie das Institut betrat.

Signe sah kurz auf. Sie war gerade mit der Obduktion eines toten Jungen beschäftigt, als Maja hereinkam.

Maja stellte sich neben den Tisch und sah der Gerichtsmedizinerin bei der Arbeit zu.

„Dieses Mal ist wohl alles ziemlich eindeutig“, sagte Signe und lehnte sich mit beiden Händen auf dem silberfarbenen Metalltisch auf. „So eine Explosion in direkter Nähe überlebt man im Prinzip nicht. Erst recht nicht so ein kleines Kind.“ Sie zeigte auf den Jungen. Er war nackt und wirkte unnatürlich blass, ja, fast durchscheinend, was sicher auch am Neonlicht lag. Seine Arme und sein Gesicht wiesen Verbrennungen auf. „Er muss sofort tot gewesen sein“, murmelte Signe und trat von einem Bein aufs andere, während sie sich abstützte. „Aber das ist wohl nur ein kleiner Trost.“

„Ist es wieder das Rheuma?“, fragte Maja, die von dem Leiden der Kollegin wusste.

„Ja, im Winter ist es besonders schlimm. Ich sollte irgendwo in den Süden ziehen, hat der Arzt gesagt, dann würde es mir besser gehen.“

„Aber das willst du nicht ...“.

„Nein. Die paar Jahre halte ich noch durch.“

„Du bist doch erst fünfzig.“

„Sechsundfünfzig, um genau zu sein. Ich bin hier geboren und werde auch hier sterben.“

„Aber zwischendurch könntest du noch etwas Sonne tanken und dich besser fühlen.“

„Ach, so ein Winter, der geht doch auch vorbei.“

Sie hatten diese Art der Gespräche schon öfter geführt und meistens war es Signe, die Maja gute Ratschläge gab. Sie beide wussten um die Sorgen der anderen. Und wenn sie sich diesen Moment der Vertrautheit gönnten, dann half ihnen das auch über die schlimmen Ereignisse in ihrem Beruf hinweg.

„Wie viele Kinder sind es?“, fragte Maja, um wieder zum Grund ihres Besuches zu kommen.“

„Elf.“

„Oh mein Gott. So viele. Das war mir gestern gar nicht klar.“

„Wie auch bei dem Chaos. Fünf Jungen und sechs Mädchen. Alle zwischen neun und zwölf Jahre alt. Möchtest du sie alle sehen?“

„Das wird mir auch nicht weiterhelfen“, sagte Maja, der tatsächlich nicht der Sinn danach stand. „Die Kollegen haben sicher Fotos gemacht, nehme ich an.“

„Sicher. Vermutlich liegen sie schon auf deinem Tisch. Mit all den Namen.“

„Unter den Opfern gibt es auch Erwachsene, richtig?“

„Ja. Drei. Zwei Frauen und einen Mann. Sie haben in der ersten Reihe direkt vor der Bühne gesessen, da hatten sie wohl keine Chance.“

„Vermutlich ist es ein Attentat gewesen.“

„Davon kann man wohl ausgehen. Menschen, die Bomben werfen, denen kann man auch sonst nicht über den Weg trauen.“

„Du spielst auf Ausländer an?“

„Hab ich das gesagt?“

„Nicht direkt.“

„Na also. Du weißt, dass ich nichts gegen Ausländer habe.“

„Schon. Aber du weißt auch, dass es in Sjöbo viele Menschen gibt, die keine Ausländer mögen. Erst recht keine Flüchtlinge.“

„Und? Was soll das bedeuten? Bringt man deshalb ein Dutzend Kinder um?“

„Ich weiß es nicht.“ Maja fühlte sich nicht gut bei dieser Unterhaltung. Irgendwie drängte Signe sie nun in eine Ecke, in der sie nicht sein wollte. Aber vielleicht war es auch umgekehrt gewesen.

„Siehst du.“

„Aber irgendjemand hat diese Bombe gelegt. Kurz vor dem Weihnachtsfest. Es könnte also sicher auch etwas mit religiösen Gründen zu tun haben.“

„Ich weiß nicht. Vielleicht hast du recht. Vielleicht auch nicht. Aber eines sage ich dir, Sjöbo ist nur ein kleines Dorf. Wenn sich jemand ein Ziel aussuchen will, um ein Zeichen zu setzen, dann legt er woanders seine Bomben ab.“

Diesen Punkt fand Maja durchaus einleuchtend. Natürlich sprach man weltweit über das Attentat. Doch es war auch klar, dass es schon bald wieder andere Themen gab, die wichtiger waren. Hier ging es nur um Kinder, die keiner außerhalb von Sjöbo kannte. Wie also sollten diese toten Kinder etwas Grundlegendes bewirken oder verändern können?

„Ich hab jetzt Frühstückspause“, sagte Signe, „möchtest du auch einen Kaffee?“

„Nein, danke, ich hatte gerade einen. Aber ich muss jetzt sowieso rüber ins Büro.“

 

Trine Holm machte gerade einen Kaffee für sich und ihren Bruder William, der gleich noch einmal nach ihr sehen wollte, als sie im Fernsehen in den Morgennachrichten erneut das ganze Trauma vom gestrigen Abend durchleben musste. Sie fand es immer erstaunlich, wie schnell die Presse von solchen Dingen erfuhr. Zum Glück hatten die Kameraleute darauf verzichtet, direkt in die Gesichter der toten Kinder zu leuchten. Mein Leben wird nie wieder wie vorher sein, dachte Trine bekümmert und holte Tassen aus dem Schrank. Da hörte sie auch schon die Tür, William war gekommen. Er hatte einen Schlüssel zu ihrem Haus, da sie alleine lebte.

„He, Trine“, sagte er, als er in die Küche kam.

„He, William. Der Kaffee läuft schon. Sie bringen es gerade in den Nachrichten.“ Sie zeigte auf den Fernseher.

„Ich hab’s auch gerade nochmal im Radio gehört. Wie gut, dass Helene gestern doch nicht mitgekommen ist.“

„Geht es ihr denn wieder besser?“

„Ja, die Kopfschmerzen sind weg. Sie hat gestern Abend ein heißes Bad genommen, danach fühlte sie sich besser.“

„So ist ihr wohl einiges erspart geblieben ...“. Trine schenkte Kaffee in die Tassen ein. Dann setzten sich beide an den Küchentisch.

„Ich werde gleich nochmal zur Schule fahren und nach dem Rechten sehen“, sagte William. „Willst du mitkommen?“

Trine dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete. „Was kann ich da schon ausrichten“, meinte sie dann.

„Es muss ja irgendwie weitergehen.“

„Ja, das muss es wohl. Aber ich denke nicht, dass ich in der Verfassung bin, dort noch einmal hinzugehen.“

„Na gut, dann gehe ich erst einmal alleine.“

„Du verstehst nicht“, fuhr sie fort, „ich glaube, ich kann nie wieder dorthin gehen.“

„Wie meinst du das?“

„So, wie ich es sage. Ich kann dort nicht mehr unterrichten. Nicht da, wo die Kinder, die mir so ans Herz gewachsen sind, gestorben sind. Auf so grausame sinnlose Art.“

Ungläubig sah William sie an. „Das kannst du nicht machen“, erwiderte er, „gerade jetzt nicht. Du weißt, was für mich dabei auf dem Spiel steht.“

„Ich bin mir sicher, dass sie dich zum Bürgermeister wählen werden, auch, ohne dass ich dort weiter an der Schule unterrichte. Das ganze Dorf spricht sicher von dir, weil du gestern Abend vor Ort warst. Es wird dir Stimmen bringen.“ Sie klang verbitterter als gewollt.

„Trine, du weißt, dass mir diese Tragödie genauso nahegeht wie dir“, wehrte er ab, „aber was soll ich denn machen?“

„Es tut mir leid“, lenkte Trine ein, „ich weiß ja, dass du nichts dafür kannst. Aber weißt du, es schmerzt so “, sie drückte ihre Faust auf ihre Brust, „es tut so verdammt weh da drin. Ich habe jedes dieser Kinder aufwachsen sehen. Ich habe mit ihnen gelacht und auch geweint. Es waren meine Kinder, die da gestern Abend gestorben sind.“

William griff nach der Hand seiner Schwester und nahm diese in seine. „Du bist ein guter Mensch, vielleicht der beste, den ich kenne. Ich werde den anderen bei der Schule sagen, dass es dir nicht gut geht. Sie werden es verstehen.“

Dankbar erwiderte sie seinen Blick.

 

„Was ist das nur für eine Welt?“, wurde Maja von Edda am Empfang begrüßt, als sie in die Dienststelle kam.

„Keine Gute“, erwiderte Maja mit vielsagendem Blick.

„So viele Kinder ...“. Edda klang regelrecht verzweifelt. „Ich habe die Fotos von den Kindern gesehen, sie liegen auf deinem Tisch.“

„Danke.“ Maja wusste nicht, wie sie Edda trösten sollte, da sie selber nur schwer mit dieser Tat zurechtkam. Die abgetrennten Körperteile auf der Bühne, wo bis vor wenigen Minuten noch Lachen und Glück vorherrschte, sie hatten sie bis in die Träume in der letzten Nacht verfolgt.

Als sie im Büro schließlich zu ihrem Schreibtisch kam, stapelten sich dort bereits die Berichte der Kollegen. Und auch die Mappe mit den Fotos der Opfer.

Maja setzte sich und schlug sie auf. Die Kollegen hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Es befand sich jeweils ein Bild des Kindes im Porträt mit dem dazugehörigen Namen sowie die Namen der Eltern und deren Anschrift, als auch mehrere Aufnahmen von den Folgen des Bombenanschlags. Es kam ihr vor, als betrachte sie diese wie Vorher-nachher Bilder. Vorher, als die Welt noch in Ordnung war und das Leben danach. Der Moment, wo alles in sich zusammenfiel. Und ihre Aufgabe bestand nun auch darin, diese Familien zu besuchen und zu den Vorgängen am Abend der Aufführung zu befragen.

Während sie die Seiten durchblätterte, stieß sie schließlich auch auf den Namen Maria Berg. Maja erinnerte sich an das Gespräch mit der Mutter im Sanitätswagen. Ob ihr noch etwas Wichtiges eingefallen war? Maja blätterte weiter bis zum Ende und dann blickte sie erstaunt auf die letzten Seiten. Jonna Lindsgard, neun Jahre alt. Sie hatte überlebt. Warum hatte ihr das denn niemand gesagt? Ob Edda nicht davon wusste? Vermutlich hatte sie nur die ersten Seiten gesehen und betrübt die Mappe wieder zugeschlagen. Sie traf nun wirklich keine Schuld. Aber irgendeiner von den anderen Kollegen, er hätte sie darüber informieren müssen, dass es eine Überlebende gab. Ein Mädchen, das mit der auf der Bühne gewesen war, als das Attentat geschah. Vielleicht hatte sie ja etwas gesehen, was wichtig war. Sowas durfte man doch nicht einfach ignorieren. Maja starrte zum Telefon. Wen sollte sie jetzt anrufen und ihrem Ärger Luft machen? Signe sicher nicht. Sie bekam nur die Toten in ihr Institut geliefert. Und Jonna Lindsgard war ganz sicher ins Krankenhaus gebracht worden. In dem Bericht stand, dass sie wie durch ein Wunder zwar verletzt war, doch sie hatte überlebt. Dann las Maja auch, in welchem Krankenhaus sie lag. In Ystad, ganz in der Nähe. Sofort machte sie sich auf den Weg dorthin.

Bald darauf klopfte sie bereits an die Zimmertür und trat unaufgefordert ein. Man hatte ihr am Empfang gesagt, dass die Eltern bei dem Mädchen am Bett saßen. Schon die ganze Nacht. Sie wollten einfach nicht nach Hause gehen.

Nun war Maja ein wenig erstaunt, denn es saßen drei Personen am Krankenbett. Eine Frau und zwei Männer.

„Maja Scoll, Polizei Ystad“, stellte sie sich vor.

Die Frau, die vermutlich die Mutter war, sah sie mit rotgeweinten Augen an.

„Darf ich fragen, wer die Eltern des Mädchens sind?“

„Das sind wir“, antwortete einer der Männer und er stellte sich und die Frau als Jette und Gunnar Lindsgard vor.

„Und wer sind Sie?“ Maja sah zu dem weiteren Mann, der deutlich älter war und keineswegs einen besonders traurigen Eindruck machte.

„Mein Name ist William Larsson“, sagte er, „ich kümmere mich um die Eltern.“

„Tatsächlich? Sind Sie Sozialarbeiter?“

Der Mann stand nun auf. „Nein, das bin ich nicht.“ Es schien ihm unangenehm zu sein, wie er nun im Mittelpunkt stand. „Aber ich wollte sowieso gerade gehen.“ Er wandte sich an den Vater und gab dann diesem und auch der Mutter die Hand. „Wenn etwas ist, können Sie sich immer an mich wenden. Ich bin für Sie da.“

„Danke“, sagte Gunnar Lindsgard stellvertretend für sich und seine Frau. „Wir wissen das sehr zu schätzen.“

Wortlos ging William Larsson dann an Maja vorbei und verließ das Krankenzimmer.

„Ist er ein guter Freund von Ihnen?“, fragte Maja nun das Elternpaar, das sich wieder dem schlafenden Mädchen zugewandt hatte.

„Kennen Sie ihn denn nicht?“, fragte Gunnar Lindsgard und drehte sich wieder zu ihr um. „Er ist unser Bürgermeisterkandidat von Sjöbo.“

Nun wurde Maja einiges klar. Es musste der Bruder von der Musiklehrerin Trine Holm sein. Sie hatte ihr gegenüber gestern etwas davon erwähnt, dass ihr Bruder, der Bürgermeister werden möchte, sich um sie kümmern würde. Er schien ein ziemlich umtriebiger Mann zu sein, der sich anscheinend um jeden kümmerte, um die nötigen Stimmen für die Wahl zu erhalten. Das machte ihn für sie nun bereits höchst unsympathisch. Es war in ihren Augen schändlich, das Leid der Menschen für die eigenen Zwecke auszunutzen. Doch es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, auch mit ihm würde sie noch sprechen müssen, da er ja auch bei der Aufführung anwesend gewesen war. Nun nicht weiter auf den Mann eingehend, stellte Maja sich ans Fußende des Bettes.

„Wie geht es ihr?“

„Die Ärzte sagen, sie wird sich wieder ganz erholen“, antwortete die Mutter nun von einem tiefen Seufzer begleitet.

„War sie bereits wach? Hat sie etwas gesagt?“

Die Mutter schüttelte mit dem Kopf.

„Man hat ihr ein Mittel gegeben, damit sie schläft“, sagte nun der Vater.

„Verstehe. Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie damit jetzt belästigen muss, aber für unsere Ermittlungen ist es wichtig, dass wir alle Zeugen des gestrigen Abends befragen.“

„Das verstehen wir doch ...“.

„Haben Sie beide etwas gesehen, dass uns helfen könnte? Eine Person, die nach ihrer Meinung dort nicht hätte sein sollen? Vor dem Auftritt auf der Bühne oder auch dahinter? Jemanden, den Sie nicht kannten?“

Die Eltern sahen einander fragend an. Dann schüttelte der Vater den Kopf. „Ich glaube nicht, dass etwas anders war.“

„Nein“, bestätigte nun auch die Mutter, „da war niemand, den wir nicht kannten. Die Schule in Sjöbo ist ja klein, es wäre uns aufgefallen, wenn da einer gewesen wäre, den wir nicht kannten.“

Maja nickte. „Es ist wichtig, dass ich auch Ihre Tochter befrage, sobald sie wieder aufwacht.“

„Natürlich“, sagte die Mutter.

„Könnten Sie mich dann bitte anrufen?“ Maja reichte ihr eine Visitenkarte. „Sie können mich jederzeit erreichen.“

Jette Lindsgard starrte auf die Karte, doch es war klar, dass sie gar nicht las, was dort stand. „Es ist so furchtbar, wir wissen gar nicht, wie wir Jonna erklären sollen, dass ihre beste Freundin nun tot ist.“

„Ein Mädchen, das auch gestern dort war?“

Jette Lindsgard nickte. „Maria. Sie war gestern Nachmittag doch noch bei uns, weil die Mädchen ihre Kostüme getauscht hatten.“

Maja runzelte die Stirn. War diese Information vielleicht wichtig? „Sie meinen Maria Berg?“

„Ja.“

Nun erschien es Maja doch sehr wichtig, als Nächstes zu Nele Berg zu gehen, um sie erneut zu befragen.

„Um welche Kostüme handelte es sich?“, fragte sie.

Die Mutter sah sie erstaunt an. „Ist das wichtig?“

„Alles kann wichtig sein.“

„Nun, eigentlich wollte Jonna als Prinzessin gehen. Und Maria als Teufelchen. Aber dann haben die beiden beschlossen, ihre Kostüme zu tauschen.“

„Warum?“

Die Mutter zog die Schultern hoch. „Wie Kinder eben so sind.“ Sie wurde von einem Schütteln erfasst und griff nach einem Taschentuch, das auf dem Bett lag. Während sie sich schnäuzte, fuhr ihr Mann sachte über ihren Rücken.

„Und gab es weitere Kinder an der Schule, mit denen Ihre Tochter besonders befreundet war?“

„Nein“, sagte Gunnar Lindsgard, „eigentlich nicht. Aber die beiden Mädchen, die waren wie Pech und Schwefel. Sie wollten im nächsten Sommer beide zur weiterführenden Schule nach Ystad wechseln.“

Wieder schniefte Jette Lindsgard. „Ich weiß gar nicht, wie wir es Jonna beibringen sollen, dass Maria tot ist. Sie hatte das Leben doch noch vor sich.“

Maja nickte mit verkniffenem Gesicht. Es war nicht sicher, dass Sjöbo sich jemals wieder von dieser Tragödie würde erholen können. Da würde auch der neue Bürgermeister, wenn er denn William Larsson hieße, mit seiner Hilfsbereitschaft nichts daran ändern können.

„Ich danke Ihnen erst einmal“, sagte sie, „und wie gesagt, rufen Sie mich bitte an, wenn Jonna aufwacht.“ Und auch, wenn sich ihr Zustand verschlechtern sollte, fügte sie in Gedanken hinzu. Behielt es aber lieber für sich.

Draußen vor der Tür zog Maja ihr Handy hervor und rief bei ihrem Kollegen Jörn Krone aus der Terrorismusabteilung an. Er nahm nach dem zweiten Klingeln bereits ab.

„He, hier ist Maja“, sagte sie.

„He. Was kann ich für dich tun?“

„Wisst ihr schon Näheres über die Ursachen der Explosion? Um welche Bombe es sich gehandelt hat? Irgendwas?“

„Ganz schön viele Fragen auf einmal“, stellte er trocken fest. „Aber ja, wir haben etwas gefunden. Es handelte sich bei dem Sprengsatz eher um einen etwas unprofessionell zusammengebauten Bausatz, den man im Internet bestellen kann.“

„Einfach so?“ Maja wusste ja, dass es alles im Netz gab. Trotzdem konnte sie es nicht glauben. „Du meinst, jeder, der Lust hat, seinen Nachbarn in die Luft zu jagen, macht ein paar Klicks und dann knallt es?“

„So ungefähr. Das Internet bringt eben nicht nur gute Dinge hervor.“

Sie stöhnte auf. „Das weiß ich ja. Es ist sicher müßig, nach Fingerabdrücken oder sonstigem zu fragen, oder?“

„Leider ja. Sag mal, wo bist du eigentlich gerade? Wir könnten doch auch einen Kaffee zusammen trinken.“

Bei solchen Angeboten schaltete Maja generell auf stur. Selbst in diesem Fall, wo sie Jörn Krone durchaus sympathisch fand. Es war da etwas, das unterbewusst bei ihr ablief. Nur ja niemanden zu nahe an sich herankommen lassen.

„Ich bin unterwegs“, antwortete sie deshalb ausweichend. „Befragungen ... du weißt ja, die übliche Polizeiarbeit.“

„Okay. Dann vielleicht ein andermal.“

„Sicher. So, ich leg dann mal auf.“ Sie fühlte sich unbeholfen.

„He“, sagte er und drückte sie weg.

Einen Moment stand sie vor der Klinik und sah auf ihr Handy. Es war eigentlich nicht wichtig, was Jörn Krone von ihr dachte. Doch irgendwie beschäftigte es sie doch und das gefiel ihr nicht. Mit schnellen Schritten ging sie zu ihrem Wagen, um nach Sjöbo zur Schule zu fahren.

Alles ist so still

An der Tür zur Schule traf Maja direkt auf den Mann, der ihr so langsam auf die Nerven ging.

„Sie hier?“, fragte sie und war gewillt, einfach an ihm vorbei in das Gebäude zu gehen.

„Ich möchte helfen, wo ich kann“, erwiderte William Larsson mit einer entschuldigenden Miene. Er wusste, dass sie ihm nicht ein Wort glaubte. Er hatte es in ihren Augen gesehen, als sie im Krankenhaus aufeinandertrafen. Sie verachtete ihn.

„Das habe ich mir gedacht“, presste Maja zwischen den Zähnen hervor. „Aber Sie wissen schon, dass das hier ein abgeriegelter Tatort ist, an dem nur ich und meine Kollegen von der Polizei etwas zu suchen haben.“

„Natürlich“, gab er sich devot einsichtig. „Ich wollte ja auch nur nachsehen, ob überhaupt jemand hier ist, dem ich behilflich sein kann.“

„Nun, hier bin ich.“ Maja baute sich nun vor ihm auf und stemmte ihre Hände in die Seiten. „Was können Sie zur Aufklärung des Attentats am gestrigen Abend beitragen? Ich bin ganz Ohr.“

William Larsson wich einen Schritt zurück. Sie war größer als er. Das behagte ihm nicht. „Ich war wie alle anderen gestern Abend hier, um einer schönen Aufführung der Schulkinder beizuwohnen“, sagte er und steckte seine Hände in die Taschen seines grauen Wollmantels.

„Und dabei ging es sicher gar nicht darum, dass Sie als Bürgermeister kandidieren“, entgegnete Maja abfällig klingend.

„Sie mögen mich nicht“, stellte er fest.

„Muss ich das denn?“ Sie wusste, dass sie hier etwas provozierte, das überhaupt nicht notwendig war. Und seine Gründe, warum er gestern hier war, waren legitim, auch wenn sie es verwerflich fand. So funktionierte Politik nun einmal.

„Nein, das müssen Sie natürlich nicht“, erwiderte er pikiert. „Vielleicht kann ich zu meiner Verteidigung noch vorbringen, dass meine Schwester mich sogar erst auf die Idee gebracht hat.“

„Trine Holm.“

„Richtig. Sie haben Sie ja bereits gestern kennen gelernt, wie sie mir erzählt hat.“

Maja nickte und lockerte ihre Haltung ein wenig. Trine Holm hatte gestern auf sie gewirkt, wie ein Mensch, dem Werte noch wichtig waren. Und wenn selbst sie auf solche absurden Ideen kam, ihren Bruder hierher einzuladen, damit er sich unters Wahlvolk mischte, dann sollte sie ihre Abneigung sicher besser im Zaum halten.

„Nun gut, trotz alledem haben Sie hier zu diesem Zeitpunkt nichts in dieser Schule verloren, bis wir unsere Untersuchungen abgeschlossen haben.“

Sie wandte sich von ihm ab und ging unter dem Absperrband hindurch, um die Tür zu öffnen, die sie, nachdem sie eingetreten war, wieder hinter sich zuzog.

Es roch nach kalter Asche. Und die Stille in der Aula war schier unerträglich, wenn man wusste, dass hier so viele Kinder ums Leben gekommen waren.

Maja stand vor der Bühne und dachte an die Bilder vom gestrigen Abend zurück. Es gab noch Blutflecken, die irgendjemand sicher bald entfernen würde. Doch das würde auch nicht helfen, um dieses Unglück ungeschehen zu machen.