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Der neue Fall für JAN KRÖMER - Packend - Verstörend - Emotional Jan lebt immer noch in seiner Einsamkeit gefangen in seinem Haus in Tannenhausen. Da erhält er überraschenden Besuch von seinem Sohn Jonar aus Norwegen. Jan ist hocherfreut, seinen Sohn wieder bei sich zu haben. Er blüht ein wenig auf. Ganz anders geht es da dem Busfahrer Eduard Schmidt, denn auf seiner Linie 419 ereignen sich mysteriöse Todesfälle. Und irgendwie gerät auch Jan in die Sache hinein, weil er weiß, dass sein Sohn abends mit diesem Bus fährt. Er macht sich Sorgen und sieht sich die Sache mal näher an. Dabei gerät er ins Visier der Ermittlerin Tatjana Kornel.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Thriller Ostfriesland mit Jan Krömer
von
Moa Graven
Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis, die sie in ihrem eigenen Verlag herausbringt. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann.
WAS BÖSE MENSCHEN TUN Thriller aus der Reihe Jan Krömer Ostfrieslandkrimis Band 17
Ostfrieslandkrimi von Moa Graven
Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin
Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland
Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn
Januar 2025
ISBN 9798877730830 (Taschenbuchausgabe)
Umschlaggestaltung: Moa Graven
WAS BÖSE MENSCHEN TUN – Ostfrieslandthriller mit Jan Krömer
Jan lebt immer noch in seiner Einsamkeit gefangen in seinem Haus in Tannenhausen. Da erhält er überraschenden Besuch von seinem Sohn Jonar aus Norwegen. Jan ist hocherfreut, seinen Sohn wieder bei sich zu haben. Er blüht ein wenig auf. Ganz anders geht es da dem Busfahrer Eduard Schmidt, denn auf seiner Linie 419 ereignen sich mysteriöse Todesfälle. Und irgendwie gerät auch Jan in die Sache hinein, weil er weiß, dass sein Sohn abends mit diesem Bus fährt. Er macht sich Sorgen und sieht sich die Sache mal näher an. Dabei gerät er ins Visier der Ermittlerin Tatjana Kornel.
Wir alle fürchten den Tod.
Aber das Leben manchmal noch mehr,
weil wir das bereits kennen.
Moa Graven
Liebe Leserin, lieber Leser, kennen Sie einen bösen Menschen? Desto länger Sie darüber nachdenken müssen, umso mehr beneide ich Sie um Ihren Bekanntenkreis. Aber mal Spaß beiseite. Es gibt sie, diese bösen Menschen. Ich habe sie bereits in meiner frühesten Kindheit getroffen. Leider. Kinder im ähnlichen Alter, die Tiere gequält haben vor den Augen anderer und daran ihren Spaß hatten. Einmal wurden kleine Katzenbabys solange an einen Baum geworfen, bis sie tot waren. Ein anderes Mal auf dem Pausenhof in meiner Schule verletzte Vögel gegen die Wand. Schon damals musste ich weinen über das Leid der Tiere. Aber was hätten wir Kinder dagegen tun sollen. Lässt es sich überhaupt definieren, was böse ist?
Wenn man das Wort hört, dann macht sich sofort ein unangenehmes Gefühl breit. Man hat schon früh gelernt, dass man nicht mit fremden Menschen mitgehen soll, weil sie vielleicht böse sind. Sie könnten einem etwas antun.
Die meisten Menschen, denen wir im Alltag begegnen, wirken entweder zurückhaltend freundlich oder offen zugewandt und mitteilsam. Keiner wird sich da gleich als böse präsentieren und einem die übelsten Sachen ins Gesicht schleudern.
Nur im stillen Kämmerlein, so scheint es, wird das Böse im Erwachsenenleben weiter ausgelebt. Weil es etwas ist, womit man nicht unbedingt hausieren geht. Denn dafür bekommt man keinen Zuspruch.
Eines steht für mich fest, man wird nicht böse geboren. Das gibt mir die Hoffnung, dass das Böse weniger wird, wenn wir Menschen uns gut um unsere Kinder kümmern.
Und nun wünsche ich Ihnen spannende Unterhaltung mit „Was böse Menschen tun“.
Ihre Moa Graven aus dem Krimihaus
Er hatte viel zu lange gedauert, der Winter. Und er war hässlich gewesen. Schon, als es im November angefangen hatte, zu schneien, da war Jan klar gewesen, auf was er sich einstellen musste. Also hatte er sich bevorratet, weil er nicht gerne nach draußen ging, wenn es fror und kalt war.
In den Monaten, die dann folgten, hatte er gespürt, was es hieß, wirklich einsam zu sein. Sicher, er hatte Ashes, seinen Hund. Auch sie ging bei bitterer Kälte nur noch für die notwendigen Übel vor die Tür. Sie kam in die Jahre. Und so hatte Jan viel Zeit mit ihr auf dem großen Sofa in der Küche verbracht. Das war schön gewesen, wenn der Hund sich an ihn kuschelte oder langsam einschlief in seinem Arm. Und doch war da noch ein anderes Gefühl gewesen, dass ihm sehr zu schaffen gemacht hatte. Er kannte seine Stimme kaum noch. Lisa fehlte ihm. Immer noch. Seit ihrem Tod sprach er nicht mehr mit vielen Menschen. Hin und wieder fuhr er zu seinem Trödlerfreund, mit dem er sich gut verstand. Oder Eva Sturm schneite einfach herein, wie es ihre Art war, wenn sie andere brauchte. Ansonsten ließ sie sich auch nicht blicken.
Und da war es ihm aufgefallen auf schmerzlichste Art, wie groß die Lücke war, die Lisa hinterlassen hatte. Mit ihr wäre der Winter nur halb so schlimm gewesen. Und sie war es auch immer gewesen, die ihn dazu ermuntert hatte, einfach mal vor die Tür zu gehen, um frische Luft zu schnappen.
Er hatte angefangen, bei einem guten Glas Rotwein darüber zu grübeln, wie es mit seinem Leben eigentlich weitergehen sollte. Er hatte keinen Job mehr und keine wichtigen Kontakte. Würde er als Eremit irgendwann in seinem Haus sterben und keiner würde es bemerken. Doch für den Tod fühlte er sich noch zu jung. Viele Menschen vergeudeten ihr Leben, hatte er immer gedacht. Aber was war mit ihm selber. Er hatte gemerkt, dass ihn die einsamen Grübeleien nicht weiterbrachten. Also hatte er sich online ein paar Bücher bestellt. Über ferne Länder und deren Menschen. Was machten eigentlich andere, um dem Leben einen Sinn zu geben.
Er erfuhr viel über die Weisheit der Urvölker, über das Leben mit Entbehrungen und wie es einen bereichern konnte. Das gefiel ihm. Auf Dinge zu verzichten, um sich reicher zu fühlen. Das Materielle war ihm ja auch noch nie wichtig gewesen. Auf seinem Bankkonto hatte sich eine stolze Summe angesammelt, weil er kaum etwas ausgab. Imme wieder kamen Briefe von seiner Bank, die ihm anboten, bei der Geldanlage behilflich zu sein. Doch darum kümmerte er sich nicht.
Er hätte sein Geld einfach abheben können und irgendwo hinreisen, wo es schöner war. Den ganzen Tag Sonne, Strand und Wind genießen. Doch der Urlaubertyp war er einfach noch nie gewesen. Wenn er ging, dann für immer. Und das auch erst, wenn Ashes nicht mehr da war. Niemals hätte er den Hund in ein Tierheim abschieben können. Und lange Reisen und Umzüge wollte er ihr auch nicht zumuten. Sie liebte den Wald beim Haus einfach zu sehr. Also blieb erst einmal alles beim Alten. Doch mit dem Lesen und dem offenen Blick für neue Perspektiven verging die Zeit viel schneller.
Nun war es Ende Februar und er musste wieder einkaufen gehen, hatte er mit Blick in die Schränke festgestellt. An diesem Tag, als er sich auf den Weg machte, hatte er Glück. Die Sonne stand hoch am Himmel und der Schnee war größtenteils schon geschmolzen. Es hatte schon etwas Frühlingshaftes, als er mit seinem Volvo losfuhr.
Das Einkaufszentrum in der Auricher Innenstadt war gut besucht und so dauerte es auch eine Weile, bis er mit dem Einkauf fertig war. Wieder hatte er seinen Wagen so vollgepackt, dass er Wochen mit den Lebensmitteln hinkam. Als er die zwanzig Flaschen Rotwein aufs Band legte, sah ihn eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm von der Seite merkwürdig an. Doch das interessierte Jan nicht im Geringsten. Und sonst hätte er es auch einfach ignoriert. Aber sie sah trotz ihres bösen Blickes immer noch nett aus, fand er. Und nun fing auch noch das Baby an zu quengeln. Bestimmt kein einfacher Job, Mutter sein und einkaufen gehen. Deshalb lächelte er sie nun an. Verschämt sah sie schnell zur Seite und kümmerte sich um ihr Kind.
Als Jan dann alles wieder in seinen Einkaufswagen gelegt hatte, bezahlte er über dreihundert Euro. Die Weine waren eben gut. Das war wichtig, um keine Kopfschmerzen zu bekommen. Und ansonsten hatte er viel Pizza, Toast und Käsescheiben gekauft. Und natürlich Futter für Ashes. Die Kassiererin ahnte wohl durch ihren geschulten Blick für das Leben der Menschen und dem, was sie einkauften, dass er Single war. Sie sah ihn besonders lange an, als er mit Karte zahlte und die Geheimnummer eingab. Auch ihr schenkte Jan ein Lächeln. Dann schob er mit seinem Einkaufswagen weiter. Das kleine Baby der nächsten Kundin schrie nun aus vollem Hals. Das tat ihm leid. Man sollte keine Säuglinge mit in diesen Laden nehmen, dachte er. Der Lärm, das grelle Licht, die vielen Menschen. Das musste auf die kleinen Seelen wie eine Geisterbahn wirken. Doch heutzutage wurden Kinder ja überall hin mitgeschleppt.
Als er alles im Wagen verstaut hatte, überkam Jan die Lust auf eine Unterhaltung. Also steuerte er seinen Wagen raus aus Aurich hin zu seinem Trödler. Bestimmt hatte der auch wieder einen Schnaps kaltgestellt.
Es war schon dunkel geworden und auch ziemlich spät, als Jan wieder Richtung Tannenhausen fuhr. Er hatte es nicht geplant, doch beim Trödler war es so unterhaltsam gewesen, dass er sich nur schwer dazu durchringen konnte, wieder nach Hause zu fahren. Dorthin, wo eigentlich nichts auf ihn wartete. Außer Ashes natürlich. Und das war Grund genug für ihn gewesen, das Angebot seines Freundes, doch einfach bei ihm zu übernachten, dann könnten sie durchzechen, abzulehnen.
Als er schließlich in den Waldweg einbog, der zu seinem Haus führte, da bangte es ihn schon ein wenig vor dem langen Abend, der nun vor ihm lag. Wieder die vielen quälenden Gedanken, die ihn nicht zur Ruhe kommen lassen würden. Vielleicht brauchte er doch einen Fernseher.
Kurz, bevor er sein Haus erreichte, nahm er den Fuß vom Gaspedal und ließ den Wagen ausrollen. Er hatte etwas gesehen. Nur kurz. Eine kleine Lichtquelle. Er schaltete den Scheinwerfer aus, um mehr sehen zu können. Vielleicht irrte er sich auch, aber er hatte das Gefühl, dass sich jemand dort bei seinem Haus herumtrieb. Und ein Wagen war nicht zu sehen. Also konnte es nicht Eva Sturm, diese alte Nervensäge sein. Da war es wieder, dieses Licht. Und jetzt bewegte es sich. Ein Handy, dachte Jan. Jemand schleicht da mit einem Handy um mein Haus herum. Na, dem werde ich helfen. Lautlos öffnete er die Fahrertür, ohne, dass das Innenlicht anging. Das hatte er schon lange so eingestellt für alle Fälle. Er nahm die Waffe aus dem Handschuhfach und stieg aus.
Desto näher er zum Haus kam, umso mehr Kontur bekam die Gestalt. Der Eindringling trug ein Kapuzenshirt und hatte die Mütze weiter ins Gesicht gezogen. Das konnte erklären, warum er noch nichts von Jans Anwesenheit mitbekommen hatte. Wieder das Licht vom Handy.
„Wer sind Sie?“, rief Jan, „ich bin bewaffnet. Also geben Sie sich zu erkennen.“
Nichts geschah. Der Eindringling reagierte nicht.
„Hey!“, versuchte Jan es nun etwas lauter, „was machen Sie hier?“
Plötzlich riss der Eindringling die Kapuze vom Kopf und sah in seine Richtung.
„Dad?“
„Jonar? Bist du es?“
„Klar, wen hast du denn erwartet.“
Der junge Mann kam in großen Schritten auf Jan zu und Jan steckte schnell seine Waffe im Rücken in den Hosenbund.
Jans Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und nun erkannte er seinen Sohn. Jonar fiel ihm praktisch um den Hals, als er ihn erreicht hatte. Sie drückten sich fest aneinander. Jonar erschrak. Was er fühlte, waren nur Haut und Knochen. Sein Vater, fast leicht wie eine Feder, wog nichts mehr in seinen Armen. Alle Kraft schien aus ihm gewichen zu sein. Und Jonar selbst, der seine Muskeln in vielen Stunden in Oslos Fitnessstudios gestählt hatte, er hatte Angst, seinen Vater zu erdrücken. Deshalb ließ er ihn nun wieder los.
„Was machst du hier?“, fragte Jan, als sie sich wieder gegenüberstanden. „Hast du denn meinen Wagen nicht gehört?“
„Ich hatte die Dinger im Ohr“, erwiderte Jonar. Er zeigte auf seine Ohrstöpsel. „Hab Musik gehört, um mir die Zeit zu vertreiben.“
„Du hättest hinten ins Haus gehen können“, sagte Jan. Doch dann fiel ihm ein, dass er die Tür ja schon lange nicht mehr offenließ, wenn er nicht da war. Und wenn er zuhause war, dann auch nur, bis es dunkel wurde. Sein neues Leben brachte Gefahren mit sich, auf die er nur zu gerne verzichtet hätte.
„Das habe ich versucht“, sagte Jonar, „aber es war abgeschlossen.“
„Tut mir leid.“ Jan musterte seinen Sohn. Er war nicht mehr der kleine Junge oder der Student, der er gewesen war, als er beschlossen hatte, zu seinen Großeltern nach Norwegen zu ziehen. Er war jetzt ein junger Mann. Das machte ihn stolz und gleichzeitig fühlte er sich dadurch alt. „Komm, wir gehen rein. Ich war einkaufen, ich habe Pizza und gute Weine für uns.“
Er öffnete das Tor, dann fuhr er seinen Volvo hinters Haus. Gemeinsam trugen sie die Einkäufe hinten ins Haus und verstauten alles an seinen Platz.
Jan zeigte Jonar das neue Gästezimmer. Das Zimmer von Lisa, dass er vor einiger Zeit das erste Mal wieder betreten hatte, seitdem sie tot war. Es hatte ihn geschmerzt, ihr Bett zu sehen. Die Dinge, die sie gemocht hatte. Er ertrug es einfach nicht mehr. Deshalb hatte er beschlossen, alles an den Trödler wegzugeben. Dieser war mit seinem Anhänger gekommen und hatte schweigend alles mit Jan aus dem Haus getragen. Nur zum Schluss meinte er, dass die Sachen bestimmt einen Platz bei einem Menschen fänden, der sie verdient hatte. Danach hatte Jan die Wände neu gestrichen und den Boden neu ausgelegt. Die Möbel wiederum ließ er sich von seinem Trödler liefern. Ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Regal und einen Schreibtisch sowie einen Stuhl. Es passte alles ungefähr zusammen, sah aber zum Schluss ganz gemütlich aus, als das Bett bezogen und eine kuschelige Decke darüber gelegt worden war.
Jonar wusste natürlich, wessen Zimmer es gewesen war, doch er war klug genug, um das Thema nicht weiter zu vertiefen. Stattdessen räumte er seinen Rucksack aus und sprang unter die Dusche im Bad.
Jan stellte den Backofen für die Pizza an. Ein paar Mal ging er hinten aus dem Haus und rief nach Ashes. Doch sie kam nicht. Das bereitete ihm ein schlechtes Gewissen, weil er so lange weg gewesen war. Bestimmt war sie schon im Haus gewesen und hatte ihn gesucht. Sie kann ja jederzeit durch die Hundeklappe reinkommen, dachte Jan, als er erneut ohne Erfolg in den Wald gerufen hatte. Und komisch war es eigentlich auch, dass sie nicht auf Jonar gestoßen war. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen.
Jan deckte den Tisch in der Küche und öffnete einen Rotwein. In zwei Gläser goss er etwas ein. Er stand am Küchentresen und sah auf das Bild, das wie aus einer anderen Zeit wirkte. Zwei Teller, zwei Gläser. Wie lange war es her, dass er hier nicht alleine direkt aus einem Wasserglas den Rotwein getrunken und die Pizza aus der flachen Hand gegessen hatte. Einfach, weil es sich nicht lohnte, das Geschirr zu vergeuden, das man hinterher wieder würde abwaschen müssen. Er schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, dass Lisa gleich aus dem Bad kommen würde. Sie würde sagen, dass es gut rieche wegen der Pizza im Ofen. Dann würde sie einen ersten Schluck Rotwein trinken und von dem aktuellen Fall sprechen. Ach, sie fehlte ihm so sehr.
Ein Geräusch auf dem Flur riss ihn aus seinen Gedanken. Dann ein Bellen. Gott sei Dank, dachte Jan und er eilte aus der Küche. Dann sah er sie. Ashes und Jonar. Sie tanzten umeinander herum und der Hund bellte vor lauter Freude, seinen alten Freund wieder bei sich zu haben. Jonar ging in die Knie und drückte und küsste den Hund. Das war ein Bild, das Jan gerne eingefroren hätte. In Gedanken würde es immer bei ihm sein. Vergessen war die Sorge um Ashes. Jonar kam wieder hoch und schüttelte sich die nassen Haare, genauso, wie der Hund es jetzt machte.
„Die Pizza ist gleich fertig“, sagte Jan.
„Ich habe einen Mordshunger“, entgegnete Jonar.
Alle drei gingen in die Küche. Jan machte das Futter für Ashes bereit und sie sog es förmlich ein. Warum war sie nur so lange weg, dachte Jan wieder.
Jonar hatte sich aufs Sofa gesetzt und er spielte wieder an seinem Handy herum. Die Zeit für die Pizza war rum und Jan lugte in den Backofen. Es sah perfekt aus. Also schob er die Pizzen auf zwei Teller und brachte sie zum Tisch. Dann setzte er sich selber in den Sessel, weil Ashes sich den Platz neben Jonar auf dem Sofa genommen hatte. Zufrieden rollte sie sich ein und lugte nur noch mit halbgeöffneten Augen von einem zum anderen, als die beiden die Pizza aßen und Wein tranken.
Jonar erzählte von Norwegen, dem Land, mit dem er sich verwurzelt fühlte. Die Weite und die Freundlichkeit der Menschen. Dort war alles so anders. Nicht dieser Neid, wie bei den Menschen in Deutschland. Hoch im Norden, da waren die Menschen noch füreinander da und achteten aufeinander.
Jan war natürlich froh, dass sein Sohn wieder hier bei ihm war, deshalb traute er sich gar nicht zu fragen, warum er nicht einfach dort geblieben war.
Die Antwort erhielt er auch so ganz bald.
„Erst die Oma“, sagte Jonar, „dann bald darauf ist auch der Opa gestorben. Sie konnten wohl nicht ohne einander sein.“
„Das tut mir sehr leid für dich“, sagte Jan. Er wusste, wie sehr der Junge an seinen Großeltern gehangen hatte. Deshalb war er ja auch zurückgegangen in das Land, aus dem auch seine Mutter stammte.
„Danke, Dad. Es wurde so einsam ohne die beiden. Mir gehört jetzt das Haus in Oslo. Aber ich musste da erst einmal für eine Weile weg.“
„Das kann ich verstehen. Die ganzen Erinnerungen.“ Genau das, was Jan ja auch gedacht hatte, als er die ganzen Bücher gelesen hatte. Man musste auch mal gehen, wenn man die Erinnerungen nicht mehr kompensieren konnte und sich zu sehr in der Vergangenheit verlor. „Was machst du jetzt denn so? Ich meine, beruflich?“
„Zuletzt habe ich in einer großen Werbeagentur in Oslo gearbeitet. Doch als es Opa immer schlechter ging, da bin ich zuhause geblieben, um ihn zu versorgen. Und irgendwann, da konnte er kaum noch laufen, da habe ich ihn gepflegt. Weißt du Dad, ich hätte niemals gedacht, dass ich so etwas kann. Jemandem den Hintern abwischen, wenn er Durchfall hat. Aber es geht.“
Jan musste kurz schlucken. Er hatte gerade von seiner Pizza abgebissen.
„Ups“, machte Jonar, „das hätte ich jetzt wohl nicht sagen sollen.“
Jan winkte ab. „Schon gut.“ Der Brocken war von seinem Mund weiter in die Speiseröhre gerutscht und er konnte wieder atmen. „Ich finde das wirklich großartig, was du gemacht hast. Nicht jeder junge Mensch würde das für seinen Großvater tun.“
„Oma und Opa haben ja auch so viel für mich getan“, sagte Jonar, „da war das für mich ganz selbstverständlich.“
„Du bist eben ein echter Norweger“, sagte Jan.
„Ja, das bin ich.“
„Du kannst hier natürlich bleiben, solange du willst“, meinte Jan. Nun fiel es ihm auch wieder leichter, das nächste Stück Pizza zu essen.
„Danke, Dad.“
Ich danke dir, dachte Jan. Es ist so schön, nicht mehr alleine hier zu sitzen und ins Nichts zu starren.
Eduard Schmidt war müde und er freute sich, dass es nun nur noch vier Stationen waren, die er anfahren musste. Heute am Morgen, da war er schon um fünf Uhr aufgestanden. Wegen Mariechen, seiner Frau. Sie hatte nämlich einen Termin im Krankenhaus gehabt, da ließ er sie nicht alleine hingehen.
„Na, Ede, bald Feierabend.“
„Jo, Gott sei Dank. War anstrengend heute.“
Edith Blank ging es ähnlich. Sie putzte an mehreren Stellen in der Auricher Innenstadt, um irgendwie über die Runden zu kommen. Oft unterhielten sie und Ede sich während der Fahrt, doch heute war wohl beiden nicht danach. Dann stand sie auf, weil sie an der nächsten Haltestelle aussteigen würde. Ein kleines Dorf zwischen Tannenhausen und Plaggenburg, das nicht weiter erwähnenswert war. Doch für Edith war es ihr Zuhause. Der Bus hielt und mit dem üblichen Zischen ging die Tür auf.
„Dann bis morgen“, sagte Edith und sie drehte sich noch einmal zu Ede um. Er schenkte ihr ein müdes Lächeln. Sie stieg aus und die Türen gingen wieder zu.
Als Ede wieder losfuhr, sah er in den Rückspiegel. Nur noch zwei Fahrgäste, dann konnte er endlich Feierabend machen. Ein junger Mann stieg vier Haltestellen weiter aus. Und eigentlich hätte Ede erwartet, dass auch die Frau, die ganz hinten auf der Rückbank saß, nun Anstalten machte, nach vorne zu kommen. Doch das machte sie nicht. Stattdessen saß sie da mit gesenktem Haupt, als ob sie eingeschlafen wäre. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Es war ja nicht so, dass nicht hin und wieder jemand im Bus einnickte. Aber spätestens dann, wenn der Bus hielt, wurden sie in der Regel wieder wach.
„Hallo!“ Ede war aufgestanden und rief nach hinten. Keine Reaktion. Er versuchte, sich an ihr Gesicht zu erinnern, als sie eingestiegen war. Doch da kam nichts. Nicht mit jedem verstand er sich so gut wie mit Edith. „Hallo?“, wiederholte er. Und als sie sich wieder nicht rührte, da ging er weiter nach hinten, um sie zu wecken. Nun stand er zwei Reihen von ihrem Platz entfernt. Jetzt musste sie ihn einfach hören. Und sowieso, wie konnte man so tief schlafen. Das war schon eine Unverschämtheit, ärgerte er sich. Irgendwann wollte er ja auch mal Feierabend haben. Alleine, weil Mariechen mit dem Ergebnis aus dem Krankenhaus auf ihn wartete. Eine Nachbarin hatte sie zur Mittagszeit wieder abgeholt, weil Ede da schon fahren musste.
„Hallo, gute Frau, hier ist Endstation“, versuchte Ede es in freundlichem Tonfall, „Sie müssen jetzt leider aussteigen.“
Wieder reagierte die Frau nicht und so langsam wurde Ede wütend. Gleich war es schon nach neun. Bestimmt machte sich Mariechen schon Sorgen, wo er blieb. Er mochte es nicht, bei Fahrgästen handgreiflich zu werden. Doch nun hatte er wohl keine andere Wahl. Also ging er näher an die Frau heran, beugte sich leicht herunter und rüttelte an ihrer Schulter.
„Aufwachen, hier ist Endstation.“
Er erschrak darüber, dass sie überhaupt keine Gegenwehr leistete. Sie war komplett reglos. Dann fiel ihr Kopf nach hinten in den Nacken. Da sah er ihr Gesicht. Sie war leichenblass. Verdammt, dachte er, die schläft nicht nur. Ihre Gesichtszüge sahen seltsam teilnahmslos aus. Und nun erinnerte er sich auch wieder, wo sie eingestiegen war. In der Handwerkerstraße. Noch wollte sein Verstand nicht zugeben, was sein Gehirn längst realisiert hatte. Diese Frau war eindeutig tot. Vorsichtig legte er ihr einen Finger in die Halsbeuge, so, wie er das erst kürzlich beim Auffrischen des Erste-Hilfe-Kurses bei einem Kollegen gemacht hatte. Dann die Gewissheit, dass hier wirklich nichts mehr zu machen war.
Ede wich zurück. Sah auf die tote Frau. Dann sah er nach vorne zu seinem Fahrersitz. Er würde die Polizei rufen müssen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Es wurde ihm klar, dass es noch viele Stunden dauern würde, bis er zu Mariechen kam. Also musste er auch sie anrufen, damit sie Bescheid wusste. Mit weichen Knien, leicht schwankend durchquerte er den Bus, bis er sich wieder auf seinen Sitz sinken ließ. Auf der Ablage lag sein Handy, das er nun an sich nahm. Zuerst die Polizei, dachte er. Dann konnte er danach länger mit Mariechen sprechen.
In der Notrufzentrale war seit achtzehn Uhr eine ganze Menge los gewesen. Und als die Mitarbeiterin sich nun gegen einundzwanzig Uhr fünfzehn mit ihrem üblichen Spruch meldete, da hörte sie eine leicht verstört klingende Stimme.
„Notrufzentrale, bleiben Sie bitte ganz ruhig und sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann?“
„Ja, also“, erwiderte Ede und fing von vorne an, zu berichten, „ich bin Busfahrer, und so, wie es aussieht, habe ich wohl eine Tote in meinem Bus.“ Er atmete schwer aus.
„Eine Tote?“, wiederholte sie, „sind Sie sich sicher?“
„Ja, schon ziemlich. Sie hat keinen Puls mehr.“
„Wo befinden Sie sich jetzt?“
„Noch im Bus. An der letzten Haltestelle nach Plaggenburg an der Esenser Straße, bevor ich auf den Hof fahren kann, so wie sonst auch. Aber da saß noch diese Frau in der letzten Reihe auf der langen Bank. Ich habe sie angesprochen, doch sie reagierte nicht. Als ich sie an ihrer Schulter berührte, da wurde mir langsam klar, dass sie nicht mehr lebt.“
„Gut, bleiben Sie bitte dort. Ich werde die Kollegen informieren. Die Polizei wird gleich vor Ort sein.“
„Ich bleibe hier“, sagte Ede, dann legte er auf.
Es wurde still. Ede atmete einen Moment tief durch, bevor er dann auch bei Mariechen anrief. Es war so, wie er vermutet hatte. Sie fing sofort an zu weinen. Eine Tote in seinem Bus. Nein, das könne doch nicht möglich sein. Was denn passiert sei und so weiter und so fort. Er hörte sich alles in Ruhe an, dann erklärte er ihr, dass er noch eine Weile im Bus bleiben müsste. Gleich käme die Polizei. Aber sie müsse sich keine Sorgen machen. Bald wäre er zuhause. Und wie es mit ihrer Untersuchung gelaufen sei, fragte er noch, bevor sie auflegten. Sie meinte, das würde sie ihm lieber später erzählen.
Dann war Ede wieder alleine mit der Toten. Er sah in den großen Rückspiegel. Ihr weißes Gesicht war hoch gegen die Decke gereckt. Das war kein schöner Anblick. Bestimmt hatte sie einen Herzinfarkt erlitten. Ausgerechnet auf seiner Tour. Und nun erinnerte er sich auch, dass sie dreimal die Woche um die Zeit mit seinem Bus fuhr. Von Mittwoch bis Freitag. Und heute war Donnerstag. Mit ihr gesprochen hatte er noch nie. Sie ging immer schnell vorbei, wenn sie ihre Dauerfahrkarte vorgezeigt hatte. Meistens saß sie alleine irgendwo am Fenster auf den mittleren Bänken. Aber wieso hatte sie sich heute ganz nach hinten gesetzt. War sie mit jemandem verabredet gewesen und dieser jemand war nicht gekommen. Aber deshalb erlitt man ja noch keinen Herzinfarkt.
Auch wenn er vorhin, als er sie das erste Mal gerufen hatte, hundemüde gewesen war, nun fühlte Ede sich wieder hellwach. Gleich käme die Polizei und er würde Rede und Antwort stehen müssen. Deshalb war es gut, dass er nun noch einmal alles durchging im Kopf, bevor sie ihn mit Fragen löcherten. Er sah auf seine Hand. Die, mit der er die Schulter der Frau berührt hatte. Und dann auf seinen Daumen, der an ihrem Hals nach einem Puls gesucht hatte. Noch nie zuvor hatte er einen toten Menschen angefasst gehabt. Und hätte er gewusst, dass sie tot war, dann hätte er sich gehütet, die Finger nach ihr auszustrecken. Es war seine Großmutter gewesen, die ihm schon als kleinen Jungen eingebläut hatte, dass man sich vor dem Tod zu hüten hätte. In ihrer großen Scheune in dem alten Bauernhaus, in dem sie viele Jahre alleine gewohnt hatte, da gab es einen großen Bottich, in den sie viel Wasser und noch mehr tote Tiere hineingegeben hatte, um diese dann aufzukochen, damit das Böse ihrem Hause fernblieb. Daran muste Ede nun denken, als er auf seine Hand sah. Natürlich lebte seine Großmutter schon lange nicht mehr. Doch sie hatte ihm auch gesagt, dass sie, selbst, wenn sie gestorben sei, immer ein waches Auge über ihm halten würde, damit ihm nichts geschehe. Offenbar war ihr Licht nun wohl verloschen. Wieso sonst wohl ließe sich nun eine Tote in seinem Bus erklären.
Er zog mit der anderen Hand ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, um die böse Hand damit sauber zu wischen. Der Tod an den Händen, er fühlte sich nicht gut für ihn an.
Dann sah er die ersten Blaulichter herannahen. Die Polizei und der Notarzt, der gleich feststellen würde, dass die Frau hinten im Bus tot war.
Der Streifenwagen hielt direkt neben seinem Bus. Ede blieb sitzen. Er erlebte so eine Situation zum ersten Mal und wusste nicht, wie man sich entsprechend verhielt. Also sah er einfach nur dabei zu, wie eine junge Polizistin in Uniform ausstieg und auf ihn zukam. Aus dem Rettungswagen stieg ein weiß gekleideter Mann, der eine Tasche bei sich trug.
„N’abend“, sagte die Polizistin, als sie in den Bus sah. „Sie haben in der Notrufzentrale angerufen wegen einer Toten in Ihrem Bus?“
Ede nickte. „Ja, das ist richtig.“
Nun stieg sie ein und setzte sich auf die Bank hinter ihm.
„Sie ist dort hinten“, erklärte Ede, indem er sich umwandte und zur letzten Bank zeigte.
Der Notarzt, der ebenfalls in den Bus gestiegen war, nickte der Polizistin zu, dann ging er nach hinten.
„Woran haben Sie gemerkt, dass die Frau tot ist?“, fragte die Polizistin.
„Nun ja, ich habe sie mehrfach angesprochen, weil hier Endstation ist. Sie sollte eigentlich aussteigen. Doch sie reagierte nicht auf mein Rufen. Also bin ich nach hinten gegangen. Da reagierte sie immer noch nicht. Da habe ich nach ihrer Schulter gegriffen, um sie zu wecken. Da fiel ihr Kopf nach hinten. Ihr Gesicht war kalkweiß. Ich habe an ihrem Hals nach einem Puls gesucht. Da war nichts.“
„Okay“, sagte sie, „bleiben Sie bitte hier sitzen. Ich werde kurz zum Notarzt gehen.“
Sie stand auf und ging nach hinten. Ede sah, wie die beiden sich unterhielten, nachdem der Arzt den Kopf geschüttelt hatte. Die Frau war tot. Nun war es amtlich. Sie unterhielten sich noch einen Moment, dann nahm der Arzt seine Tasche und kam wieder nach vorne. Ohne Ede weiter zu beachten, verließ er den Bus.
Auch die Polizistin kam zu Ede zurück. Sie setzte sich wieder auf die Bank hinter ihm.
„Sie hatten Recht“, bestätigte sie, „die Frau ist eindeutig tot. Kennen Sie sie?“
„Nein“, sagte Ede.
„Also fuhr sie zum ersten Mal mit diesem Bus?“
„Nein, das nicht. Sie fährt dreimal die Woche abends mit meiner Linie.“
„Also kannten Sie sie doch?“
„Nein, das sagte ich ja schon. Nur, weil jemand regelmäßig in meinen Bus steigt, deshalb tauscht man noch lange keine Telefonnummern aus.“
„Verstehe“, sagte sie. „Aber man kann schon sagen, dass sie Ihnen bekannt war.“
„Ja, so kann man das sagen. Allerdings hat sie noch nie in der letzten Reihe gesessen.“
„Nicht?“
„Nein. Das war heute das erste Mal. Und es ist mir auch nur aufgefallen, als ich in den Rückspiegel sah, weil ich Feierabend machen wollte. Hier ist nämlich Endstation. Und da habe ich sie gesehen, hinten auf der langen Bank. Sie sah aus, als ob sie schlafen würde. Es kommt hin und wieder schon vor, dass Fahrgäste kurz einnicken. Viele haben einen langen Arbeitstag hinter sich. Da fallen einem schon mal die Augen zu.“
„Doch dann stellten Sie nach einer Weile fest, dass sie tot war.“
Ede nickte.
„Vielleicht hatte sie einen Herzinfarkt“, sagte er.
„Das wäre denkbar“, antwortete die Polizistin. „Vermutlich wird sie in der Gerichtsmedizin untersucht. Dann wissen wir mehr.“
Er merkte, dass auch sie einen langen Tag hinter sich hatte. Vielleicht war sie sogar schon auf dem Weg in den Feierabend gewesen, als sein Notruf eingegangen war. Das tat ihm leid, dass er sie nun aufhielt.
Sie ließ sich von ihm noch seine Personalien geben, dann machte sie sich wieder auf den Weg.
Und Ede fuhr seinen nun leeren Bus auf das Firmengelände. Dann stieg er in seinen Wagen, um nach Hause zu fahren.
Mariechen kam an die Tür gerannt, als sie seinen Wagen hörte.
„Oh mein Gott“, stieß sie aus, als er hereinkam. „Geht es dir gut, Eduard?“
Er sah, dass sie wieder geweint hatte. Das war bestimmt nicht wegen der Toten im Bus gewesen. Also beeilte er sich, aus seinen Schuhen zu kommen. Dann gingen sie rüber ins Wohnzimmer, wo Mariechen bereits einen Kräutertee für sie beide hergerichtet hatte. Den tranken sie immer abends vor dem Zubettgehen. Einfach, weil es gesund war. Da es so spät geworden war, hatte sie ihm nur zwei Scheiben Schwarzbrot mit Salami geschmiert.
„Die Polizei hat alles geregelt“, sagte er, als er nach seinem Becher griff. „Aber nun sag du mir bitte, wie es im Krankenhaus gelaufen ist.“
Mariechen senkte ihren Blick auf ihre Hände. Den ganzen Tag hatte sie sich Worte zurechtgelegt, wie sie es ihrem Mann schonend beibringen konnte.
„Ich habe Krebs“, sagte sie dann tonlos.
Ede schluckte hart. Er hatte gehofft, doch er hatte schon mit so einer schlimmen Sache gerechnet. Es ging Mariechen in letzter Zeit immer schlechter. Sie war müde, lag nachmittags teilnahmslos auf dem Sofa. Sowas kannte er von seiner sonst so agilen Frau überhaupt nicht. Deshalb hatte er sie auch zum Arzt geschickt.
„Wie schlimm ist es?“, fragte er in die bedrückende Stille hinein.
„Mir werden die Haare ausfallen“, sagte sie und griff nach ihrem Becher mit dem Kräutertee.
„Es hätte schlimmer kommen können“, entgegnete er. Er nippte noch einmal an seinem Kräutertee und dachte, geholfen hat der eigentlich auch nicht.
Jan deckte gerade den Frühstückstisch für sich und seinen Sohn, als er Jonar und Ashes aus dem Wald zurückkehren sah. Die beiden streiften viel in der Kälte herum. Und Ashes schien es zu gefallen.
Jan freute sich auf das Frühstück mit Jonar. Die letzten Wochen hatte es für ihn immer nur schwarzen Kaffee gegeben. Ihm war mit der Zeit der Appetit vergangen. Wozu sollte man essen, wenn man überhaupt keinen Hunger verspürte. Doch jetzt, wo Jonar da war, war alles anders. Er freute sich auf den Tag. Das hätte er vor einigen Monaten wirklich nicht für möglich gehalten.
Er hörte, wie Jonar und Ashes hinten ins Haus hereinkamen.
„Ich geh noch duschen“, rief Jonar.
„Nimm Ashes am besten gleich mit“, rief Jan zurück und lachte. Dann stellte er den Kaffee an.
Ashes kam in die Küche und schüttelte sich ausgiebig das nasse Laub aus dem Fell. Jan sah es, doch es machte ihm nichts aus.
Er setzte sich an den Tisch und klappte seinen Laptop auf. Er hatte es sich angewöhnt, am Morgen die neuesten Regionalnachrichten zu lesen. Einfach, um nicht zu vergessen, wo er war. Eine Nachricht fiel ihm dabei besonders ins Auge. Man hatte vorgestern Abend eine Tote in der Buslinie 419 gefunden. Sie war ermordet worden, hieß es. Doch vom Täter fehle nach wie vor jede Spur, so dass die Polizei auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen wäre. Bei der Toten handele es sich um die sechsundvierzigjährige Karola Friese aus Middels-Westerloog. Jeder, der sie gekannt hatte, sollte sich bitte bei der Polizei in Aurich melden. Und auch bitte die Fahrgäste, die am selben Abend zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr mit dem Bus Richtung Tannenhausen-Plaggenburg-Middels gefahren seien.
„Was gibt es Neues, Dad?“
Jonar war in die Küche gekommen, ohne, dass Jan es bemerkt hätte. Jan klappte den Laptop zu.
„Man hat eine Tote in einem Bus gefunden“, antwortete er.
„In einem Bus?“, fragte Jonar.
„Ja, wieso?“
„Ach, nur so.“
Jonar setzte sich an den Tisch und Jan schenkte für beide Kaffee ein. Dann setzte er sich dazu.
„Vorgestern Abend, Buslinie 419 von Aurich, die auch hier in Tannenhausen vorbeiführt“, sagte Jan.
„Wow, mit dem Bus bin ich auch gekommen“, sagte Jonar. „Vielleicht habe ich die Tote ja gesehen.“
„Du warst in dem Bus?“
Jonar nickte.
Jan klappte den Laptop wieder auf. Der Artikel stand noch immer auf dem Bildschirm. Er las Jonar noch einmal alles vor.
„Dann muss ich mich wohl bei der Polizei in Aurich melden“, stellte Jonar fest. „Schließlich bin ich ein Zeuge, oder?“
„Auf jeden Fall warst du ein Fahrgast“, meinte Jan nachdenklich. Es gefiel ihm nicht, dass sein Sohn direkt in eine Mordermittlung hineingezogen wurde. Trotzdem war es natürlich richtig, dass Jonar sich bei der Polizei melden würde.
Die Sache lag für Tatjana Kornel jetzt, wo es sich um Mord handelte, natürlich ganz anders. Und seitdem der Artikel heute Morgen in der Zeitung gestanden hatte, standen die Telefone in der Dienststelle gar nicht mehr still. Plötzlich konnten alle etwas zu dem Opfer Karola Friese sagen. Einige riefen auch an, um zu erfahren, ob man den Täter schon geschnappt hätte. Das waren überwiegend Kunden der Zahnarztpraxis, in der sie Teilzeit gearbeitet hatte. Als man sie gestern in der Gerichtsmedizin untersucht hatte, da ging man noch von einem gewöhnlichen Herzinfarkt aus. Doch in ihrem Blut wurde eine giftige Substanz gefunden, die zu ihrem Herzstillstand geführt haben musste. In Minuten war es mit ihr vorbei gewesen, hatte der Gerichtsmediziner erklärt.
Und niemand im Bus hat etwas gemerkt, dachte Tatjana Kornel jetzt, als sie auf das Bild des Opfers sah, das man im Bus von ihr gemacht hatte. Wie sie das tödliche Gift zu sich genommen hatte, war noch unklar. Eine Injektionsstelle war am Körper nicht gefunden worden. Auch war noch nicht ganz klar, um welches Gift es sich konkret gehandelt hatte. Daran wurde im Labor noch gearbeitet.
Es klopfte an ihre Bürotür und sie sah auf.
„Herein“, sagte sie. Da wurde schon aufgemacht. Es war ein Kollege, der ihr erklärte, dass es einen Zeugen gäbe, der gerne eine Aussage machen möchte. „Okay“, sagte sie und Jonar kam herein. „Bitte, setzen Sie sich doch.“ Sie wies auf den freien Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
So sieht das also hier aus, dachte Jonar, als er Platz nahm. Er hatte seinen Vater, als er noch in Aurich bei der Polizei gearbeitet hatte, nie hier besucht gehabt.
„Sie möchten also eine Aussage machen“, sagte Tatjana Kornel und sie sah ihn offen an.
„Ja“, sagte Jonar, nachdem er sich vorgestellt hatte, „ich bin in dem Bus gewesen, wo man die Tote gefunden hat.“
„Sie waren also Fahrgast an dem Abend“, stellte Tatjana Kornel fest. Er nickte und sie machte sich weitere Notizen. „Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen, während Sie im Bus waren? Und wo stiegen Sie ein beziehungsweise wieder aus?“
„Also, ich bin in Aurich eingestiegen und bis zur Haltestelle Tannenhausen mitgefahren. Aber ehrlich gesagt, etwas Besonderes ist mir nicht aufgefallen bei den anderen Fahrgästen. Ich hatte meine Kopfhörer im Ohr und habe Musik gehört.“
„Verstehe“, sagte sie und lächelte. Auch sie war noch jung und wenn sie joggte, hörte sie auch Musik. „Ist Ihnen das Opfer überhaupt aufgefallen? Ich meine, habe Sie sie bewusst wahrgenommen?“
Jonar zog die Schultern hoch. Sie hielt ihm das Foto, das sie eben noch begutachtet hatte, hin. Er sah darauf, dann schüttelte er mit dem Kopf.
„Nein, sie ist mir nicht aufgefallen. Tut mir leid.“
„Schon gut. In der Regel achtet man im Bus nicht auf die anderen. Und es war ja auch schon recht spät. Wieso sind Sie um die Zeit noch nach Tannenhausen gefahren? Wohnen Sie dort?“
„Mein Vater wohnt dort“, gab er Auskunft. „Ich war vorgestern aus Oslo angereist, um ihn zu besuchen.“
„Sie wohnen in Norwegen?“ Ihre Neugier wuchs mit jedem Wort, das er sagte. Außerdem sah er ziemlich gut aus. War vielleicht fünf Jahre jünger als sie.
„Ja. Bei meinen Großeltern“, sagte er, „meine Mutter war Norwegerin, aber sie ist schon lange tot. Ich habe mich um meine Großeltern gekümmert. Aber jetzt sind auch sie beide tot.“
„Oh, das tut mir wirklich leid“, sagte sie betroffen. „Dann ist es ja gut, dass Sie wenigstens noch Ihren Vater haben. Er wohnt also in Tannenhausen.“
„Ja.“
„Verraten Sie mir seinen Namen?“
„Hm“, das hatte er befürchtet. Doch er wusste, dass es Jan nicht recht sein würde, wenn er hier über ihn sprach. „Muss ich das.“
„Nein, nicht unbedingt. Jedenfalls im Moment nicht. Es sei denn, Sie geraten in den Kreis der Verdächtigen, dann werde ich Ihre Aussage natürlich von Ihrem Vater bestätigen lassen müssen.“ Wieder machte sie sich Notizen.
„Ich habe ganz bestimmt nichts mit dem Mord zu tun“, sagte Jonar.
„Das glaube ich Ihnen gerne“, sagte sie. Es war ja nett, dass er extra hierhergekommen war, aber hilfreich war es nicht unbedingt gewesen. „Also, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, dann rufen Sie mich gerne an.“ Sie reichte ihm eine Visitenkarte von ihrem Schreibtisch.
„Dann kann ich jetzt gehen?“ Er nahm die Karte an sich und stand auf.
Sie nickte. Als er zur Tür ging, fiel ihr erst richtig auf, wie groß er war. Und kräftig. Das konnte man selbst durch seinen Parka sehen. Und er wirkte geheimnisvoll. Ein Norweger, der einen Vater in Aurich hatte, über dessen Namen er aber nicht sprechen wollte. Na, sie würde schon noch herauskriegen, um wen es sich dabei handelte.
Jonar war froh, als er wieder draußen an der frischen Luft war. Sie war schon nett gewesen, keine Frage. Und sie sah verdammt gut aus. War ein bisschen älter als er, schätzte er. Aber das war heutzutage auch kein Drama mehr. Er hatte in Oslo mal eine Freundin gehabt, die zehn Jahre älter als er gewesen war. Er kam damit zurecht, doch sie konnte die Blicke der Menschen irgendwann nicht mehr ertragen. Da war er ja auch gerade um die zwanzig herum gewesen. Das war schon etwas anderes, als ob man Mitte zwanzig und erst recht Anfang dreißig war.
Er schloss den Reißverschluss seines Parkas, weil es nasskalt war. Dann schlug er die Richtung zur Innenstadt ein, weil er noch ein paar Dinge kaufen wollte.
Jan hatte zuhause alles auf Vordermann gebracht, nachdem Jonar gegangen war. Er hätte ihn auch mit dem Wagen gefahren, doch sein Sohn fuhr gerne mit dem Bus, hatte er gemeint und war zu Fuß zur Haltestelle gegangen.
Ich kann ihn ja nicht vor allem beschützen, dachte Jan, als er nun auf dem Sofa saß. Doch dass er nun ausgerechnet weiter mit der Buslinie fuhr, wo man eine Frau ermordet hatte, das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Die Sorge um Jonar machte ihn unruhig. Und dann wurde es auch immer später. Als es dunkel wurde, war Jonar immer noch nicht zurück.
Ede hatte vom Chef ein paar freie Tage verordnet bekommen, um den Schock zu überwinden. Er fand das zwar überflüssig, doch so konnte er nun wenigstens die Dinge erledigen, die sonst wegen seines engen Dienstplans immer liegenblieben. Da war zunächst die kaputte Klospülung auf der Gästetoilette. Wochenlang hatte Mariechen darüber geklagt gehabt. Doch jetzt, wo er sein Werkzeug aus dem Schuppen holte, da fragte sie ihn, was er vorhätte. Und als er die Gästetoilette ansprach, da murmelte sie nur, dass es bestimmt wichtigere Dinge im Leben geben würde.
Versteh einer die Frauen, dachte er. Vielleicht lag es auch an ihrer wirklich schlimmen Diagnose, dass ihr nun alles andere egal wurde. Also brachte er das Werkzeug wieder weg und er setzte sich stattdessen zu ihr ins Wohnzimmer aufs Sofa. Sie hatte Tee gemacht. Vermutlich macht sie das immer um diese Zeit, dachte er, als er nur eine Tasse sah. Ich bin ja sonst gar nicht da. Als sie seinen Blick sah, eilte sie schnell in die Küche, um auch für ihn eine Tasse zu holen.
Das Telefon auf dem Flur schrillte und Ede kam vom Sofa hoch. Als er auf den Flur kam, da hatte Mariechen schon abgenommen.