Ostfriesische Inselkrimis - Moa Graven - E-Book

Ostfriesische Inselkrimis E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

Ostfriesische Inselkrimis auf Norderney und Baltrum von Moa Graven. Tauchen Sie ein in das Inselleben an der norddeutschen Küste voller Spannung und Emotionen. Eine grausam zugerichtete Leiche wird am Strand von Norderney gefunden. Deshalb wird Profiler und Ermittler Jan Krömer aus Aurich zu dem Fall hinzugezogen. Kein leichter Fall für ihn, kommen doch gerade auf dieser ostfriesischen Insel alte quälende Erinnerungen in ihm hoch. Denn auf Norderney löste er seinen ersten Fall, als er nach Ostfriesland kam. Baltrum - Ausgerechnet ein Klassentreffen. Für den Ermittler Kommissar Guntram aus Leer keine verlockende Idee. Doch seine Frau Katrin überredet ihn, an dem Treffen auf Baltrum teilzunehmen. Und als die Fähre dann schließlich mit ihm an Bord in Neßmersiel ablegt, gibt es kein Zurück mehr. Der erste Abend mit den alten Schulkollegen verläuft entspannt und Guntram trifft auch auf seine Jugendliebe Angelika. Doch dann durchkreuzt der Mord an Günter Eisner die gute Stimmung auf der Insel.

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Das Lied der toten Kinder von Norderney
Zum Inhalt
Die Insel Norderney
Ausgerechnet Norderney
Zwei Wochen zuvor
Angekommen
Jan
Oldenburg
Auf Norderney
Die Zeugin
Freya Klingel
Gitte Kopp
Am Strand
In Düsseldorf
Die Suche
Im Büro
Das Haus Christ
Jennifer, Lilith, Freya und der Tod
In der Dienststelle
Theresa und Viktor
Zuhause
Baltrumer Glückskekse
Zum Inhalt
Die Insel Baltrum
Die Einladung
März
Das Begrüßungsfest
Der Morgen danach
Der Schock
Die offenen Fragen
Ermittlungen
Baltrumer Glückskekse
Auf dem Festland
Auf Baltrum
Doro Eisner
Tatsachen
Die Befragung
Abschied und Wiedersehen
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Glückskekse backen
Zur Autorin
Die Reihe Ostfriesische Inselkrimis
Die weiteren Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
Leseprobe aus dem aktuellen Fall mit Eva Sturm auf Langeoog „Inselflüstern“
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

Wortzähler: 64106

 

 

 

 

Ostfriesische Inselkrimis

 

Das Lied der toten Kinder von Norderney

 

Baltrumer Glückskekse

 

Ostfrieslandkrimis von

Moa Graven

 

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Mit über 70 Krimis, die sie über 600.000 Mal im Eigenverlag verkaufte, gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen in Deutschland.

Impressum

Ostfriesische Inselkrimis – Doppelband mit „Das Lied der toten Kinder von Norderney“ und „Baltrumer Glückskekse“

Ostfrieslandkrimi von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

3. Südwieke 128a, 26817 Rhauderfehn

Januar 2023

Covergestaltung: Moa Graven

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn.

Das Lied der toten Kinder von Norderney

Zum Inhalt

„Das Lied der toten Kinder von Norderney“ ist der fünfte Band aus der Krimi-Reihe Ostfriesische Inselkrimis von Moa Graven.

 

Eine übel zugerichtete Leiche wird am Strand von Norderney gefunden. Deshalb wird Profiler und Ermittler Jan Krömer aus Aurich zu dem Fall hinzugezogen. Kein leichter Fall für ihn, kommen doch gerade auf dieser ostfriesischen Insel alte quälende Erinnerungen in ihm hoch. Denn auf Norderney löste er seinen ersten Fall, als er nach Ostfriesland kam. Ebenso bei den Ermittlungen dabei ist die junge Nachwuchspolizistin Levke Schüür aus Wittmund.

 

Bei diesem Krimi handelt es sich um einen Solokrimi und trotzdem kennen Sie die beiden Ermittler bereits. Jan Krömer ist Leiter der Dienststelle in Aurich und hat mit seiner Kollegin Lisa Berthold schon zahlreiche Fälle gelöst.

Levke Schüür lernten Sie im 21. Band mit Eva Sturm mit dem Titel „Ganz in der deiner Nähe“ bereits kennen. Auch sie wird weiter in Ostfriesland ermitteln.

Die Insel Norderney

Norderney vor vielen Jahren

war ein Muss in jungen Jahren.

Freundin Karin und ich, wir Wilden,

hatten in den Kneipen unsere Filden.

Der Klabautermann hat es uns angetan.

Bierchen und Schnäpschen ließen wir gerne an uns ran.

Am anderen Tag, das war doch klar,

brachte die Meeresbrise uns wieder nah.

Die Nacht war vorbei mit all den Sünden.

40 Jahre Freundschaft, die muss man erst mal finden!

Liebe Karin, Freundin forever!

 

Brigitte Habermann aus Bergkamen

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

mit diesem Gedicht hat Brigitte Habermann ihre Liebe zu Norderney und ihrer Freundin in Worte gefasst. Dafür danke ich ihr ganz herzlich.

Norderney ist in der Tat ein Sehnsuchtsort, den man nie wieder vergisst, war man einmal dort. Diese Insel gehört zu den Ostfriesischen Inseln an unserer Küste. Was aber fasziniert die Menschen an einem Sandhaufen im Meer, könnte man fragen. Ich habe mir schon sehr oft Gedanken darüber gemacht. Ich denke, es ist dieses gewisse Gefühl von Freiheit, das einen überkommt, wenn man am Strand entlanggeht und aufs Wasser sieht. Dieser nie enden wollende Horizont übt eine wahnsinnige Faszination auf uns aus. Wir blicken immer weiter und schlussendlich auf uns selbst zurück. Es ist dieser ganz besondere Geruch des Meeres, der uns innehalten lässt.

Generell ist das Leben auf der Insel, auch wenn wir nur einen Urlaub dort verbringen, ein ganz anderes als auf dem Festland. Alles, was wir erkunden können, erstreckt sich auf überschaubare Kilometer. So ist Norderney mit rund 26,3 Quadratkilometern, wobei der größte Teil nicht bewohnt ist, eine recht große Insel im Vergleich zu Baltrum mit 6,5 Quadratkilometern. Entsprechend belebt ist Norderney mit einem umfangreichen Angebot für die Gäste, die etwas mehr Trubel mögen. Jede der Ostfriesischen Insel hat eben ihren ganz eigenen Charme.

Wenn ich Sie nun neugierig auf Ostfriesland und seine Inseln gemacht habe, Ihre Lust auf einen Besuch bei uns in Ostfriesland geweckt wurde, dann freut mich das sehr. Sie werden merken, schon bei der Überfahrt auf der Fähre fängt das Inselleben an.

Und nun wünsche ich Ihnen viel Spaß mit meinem Krimi!

 

Ihre Moa Graven

Es sind immer die Erinnerungen,

die einem im Leben in die Quere kommen.

Moa Graven

Ausgerechnet Norderney

Jan war im Schlafzimmer und packte ein paar Sachen in eine Tasche. Er wusste nicht, wie lange er weg sein würde. Doch er konnte ja immer wieder zurückkehren, wenn er etwas vergessen hatte oder brauchte.

Ausgerechnet Norderney. Seitdem er davon erfahren hatte, dass man ihn dort in einer Mordermittlung brauchte, spielte sein Magen verrückt. Sowas kannte er eigentlich gar nicht. Doch mit dieser Insel, da war einfach alles anders.

Lisa hielt, so lange er weg war, alleine die Stellung in Aurich, das hatte er mit ihr abgeklärt. Und es war gut, dass sie noch in seinem Haus wohnte, denn so konnte sie sich auch um Ashes kümmern, seinen Hund.

Schließlich stieg er dann mit gemischten Gefühlen in seinen alten Volvo und fuhr nach Norddeich, um auf die Fähre zu gehen.

Die Frühjahrssaison hatte schon begonnen und es herrschte ein ziemliches Getümmel am Fahrkartenschalter. Daher war er froh, dass er sich kein Ticket holen musste. Er zeigte dem Kontrolleur nur seinen Dienstausweis, schulterte seinen Rucksack und ging an Bord.

Es ließ sich nicht verhindern und in seinem Unterbewusstsein war sie ja immer irgendwie vorhanden. Virginia. Sie war Polizistin auf Norderney gewesen. Er hatte sie dort kennengelernt, als er vor einigen Jahren seinen ersten Fall in Ostfriesland übernahm. All das war schon so lange her. Doch plötzlich fühlte er förmlich ihren Atem in seinem Gesicht. Dabei war es nur die leichte Brise, die um seine Nase spielte, weil er sich einen Platz auf dem Oberdeck gesucht hatte.

Es ginge um einen ziemlich üblen Fall, hatte man ihm am Telefon gesagt. Einer jungen Frau Ende zwanzig hatte man am Strand mehrmals mit einem harten Gegenstand auf den Kopf geschlagen, was schlussendlich zum Tod geführt haben musste. Des Weiteren wies ihr Rumpf zahlreiche blaue Flecke auf, was darauf hinwies, dass es auch zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen war oder der Mörder sie brutal getreten hatte, als sie bereits am Boden lag. Man hatte ihm vorab Fotos vom Fundort der Leiche geschickt. Für ihn hatte es schon da so ausgesehen, dass der Täter eine große Wut auf das Opfer gehabt haben musste. Er hatte mit enormer Brutalität agiert. Das hatte nichts mit einem Vergewaltigungsversuch zu tun. Die Leiche befand sich immer noch in der Gerichtsmedizin Oldenburg. Jan hatte es sich offengehalten, sie sich auch selber noch einmal direkt anzusehen. Der Mord war nun gut eine Woche her. Die zuständigen Kollegen aus Norddeich, natürlich unterbesetzt, hatten in Osnabrück um Unterstützung gebeten. Der Krankenstand war hoch und mit Beginn der Urlaubssaison gab es immer mehr zu tun, weil mehr Menschen auch mehr potenzielle Delikte bedeuteten.

Und so hatte man ihn schließlich in Aurich angerufen und gebeten, auf die Insel zu kommen.

Natürlich hatte ihn der Fall auch gereizt. Die Vorgehensweise des Täters war eine Herausforderung für ihn, weil mehr dahintersteckte. Das lag förmlich in der Luft.

Die anderen Fahrgäste um ihn herum waren guter Stimmung. Es wurde geredet gelacht und natürlich machten sie zahlreiche Fotos von sich und dem Meer. Wer konnte es ihnen verdenken.

Dann, nach ungefähr einer Stunde, legte die Fähre im Hafen von Norderney an. Jan ging praktisch als letzter von Bord und nahm sich dann ein Taxi, um zur Dienststelle zu fahren. Es war gar nicht so schlimm gewesen, wie er befürchtet hatte, wieder einen Fuß auf diese Insel zu setzen.

Auch das Polizeigebäude hatte sich nicht großartig verändert. Er zahlte das Taxi und ging hinein.

Er sah am Schreibtisch eine ziemlich junge Frau sitzen, die den Kopf hob, als sie ihn hörte.

„He“, sagte sie, „du musst Jan Krömer sein.“

„Stimmt“, erwiderte er.

Sie kam um den Schreibtisch herum. „Ich bin Levke, Levke Schüür, um genau zu sein. Man hat mich vor einem Monat von Wittmund vorübergehend hierher auf die Insel versetzt. Gar nicht schlecht, da zu arbeiten, wo andere Urlaub machen.“

Sie sprühte nur so vor Energie, dachte Jan. Und ihre Art gefiel ihm. Sie stand noch ganz am Anfang ihrer Laufbahn. Und ja, da wunderte es ihn dann auch gar nicht mehr, dass man ihn für diesen Fall hinzugezogen hatte.

„Wir arbeiten alleine an dem Mordfall?“, fragte er ungläubig.

„Im Moment schon“, gab sie zu. „Eigentlich sollte noch ein weiterer Kollege aus Norden dazukommen. Doch darauf warte ich schon seit zwei Tagen.“

„Hm.“ Jan sah sich um. „Ist der Schreibtisch da frei?“

„Ja, den kannst du dir einrichten. Aber wenn dir der Platz von mir besser gefällt, dann tausche ich auch.“ Sie hoffte, dass man es ihr nicht anmerkte, aber sie war schwer beeindruckt. Sie hatte ja hin und wieder schon den Namen Jan Krömer bei der ein oder anderen Gelegenheit fallen hören. Doch dass er so ein toller Typ war, damit hätte sie nicht gerechnet.

„Nein“, winkte er ab, „der da drüben ist schon in Ordnung.“ Es gefiel ihm, dass dieser ganz in der Ecke stand und er die Tür im Auge behalten konnte. Er ging rüber und stellte seine Tasche neben dem Schreibtisch ab. Es stand ein ziemlich alter Bildschirm auf dem Tisch und er fragte sich, ob der Rechner überhaupt noch funktionierte.

Sie schien seinen Blick richtig zu deuten. „Ja“, lachte sie, „so habe ich auch das erste Mal geguckt, als ich hierherkam. Ein bisschen veraltet, die Technik. Aber sie funktioniert.“ Sie setzte sich auch wieder an ihren Platz.

„Das ist doch die Hauptsache“, sagte Jan und drückte den großen runden Knopf am PC-Turm. Es begann ein Rasseln und Piepsen, doch tatsächlich erschien das typische Symbol bald auf dem Bildschirm und er loggte sich in den Polizeicomputer ein.

„Ich könnte dir alles ausdrucken, was ich schon habe“, bot Levke an.

„Nicht nötig, ich lese mir das mal am Bildschirm durch“, sagte er.

Sie spürte, dass er jetzt erst mal seine Ruhe haben wollte. Na, das fing ja gut an. Doch auf keinen Fall wollte sie ihm auf die Nerven gehen. Deshalb verhielt sie sich ruhig und beobachtete ihn heimlich aus dem Augenwinkel heraus.

Zwei Wochen zuvor

Gitte Kopp war total aufgeregt, als es endlich auf die Fähre ging. Ostfriesland war einfach atemberaubend. Sie war noch nie hier gewesen, doch das würde sich von nun an wirklich ändern, hatte sie zu ihrer Freundin Freya Klingel gesagt.

Die beiden Frauen fuhren das erste Mal zusammen in Urlaub. Sie waren beide Single und hatten sich im Job angefreundet, als Freya bei dem gleichen Unternehmen als Verkäuferin anfing, in dem Gitte schon zur Abteilungsleiterin aufgestiegen war. Irgendwie stimmte die Chemie zwischen den beiden vom ersten Tag an. Sie feierten mit Freunden zusammen Silvester in einem Club in Wiesbaden, wo sie dann auch die Pläne für den gemeinsamen Urlaub im Frühling schmiedeten.

Freya kannte Ostfriesland, deshalb schlug sie vor, doch mal auf eine der ostfriesischen Inseln zu fahren. Sich mal richtig den Wind um die Nase wehen lassen, hatte sie vieldeutig gesagt. Denn auch etwas anderes wollten die Frauen erleben. Sich mal so richtig verlieben, hatte Gitte gesagt, das wär mal was. Und wo ging das schon besser als im Urlaub. Die Wahl war dann auf Norderney gefallen, weil da für junge Leute am meisten los zu sein schien, wie Freya herausgefunden hatte.

Sie buchten die Hotelzimmer und träumten sich schon auf die Insel.

Und dann war es endlich soweit.

Die beiden Frauen machten es sich kurz darauf auf dem Sonnendeck gemütlich und sahen sich schon mal nach jungen Männern um. Es gab da eine Gruppe, die offensichtlich zusammen reiste. Da gefiel Freya der mit dem schlaksigen Körper am besten, während Gitte schon total verliebt in die blauen Augen eines anderen war. Die Stimmung war so, als wäre plötzlich alles möglich.

Nach der Überfahrt gingen sie in der Menge der von der Fähre gehenden Gäste unter und auch die Gruppe mit den sportlichen Männern verloren sie aus den Augen.

Sie fuhren mit dem Taxi zu ihrem Hotel, das in der Ortsmitte einiges an Vergnügungen für zwei lebenslustige Frauen um die Dreißig versprach.

Auf dem Zimmer zog Gitte sich sofort einen Bikini an. Sie war sonnenhungrig auf der Fähre geworden, hatte sie lachend zum jungen Mann am Empfang gesagt, als sie eingecheckt hatten. Freya fand, sie war dann doch etwas zu aufdringlich gewesen, aber das sagte sie nicht. Sie ging darauf ein, gleich nach dem Auspacken der Koffer an den Strand zu gehen. Wobei Freya einen eher biederen Badeanzug wählte. Gitte hatte eben eindeutig die bessere Figur von ihnen beiden. Nein, dachte Freya dann, als sie eher missmutig in den Spiegel an der Kleiderschranktür sah, mit ihrem Körper würde sie niemanden überzeugen können. Doch sie hatte ein großes Herz. Vielleicht zählte das ja auch etwas.

Und so verbrachten Gitte und Freya ein paar wirklich schöne unbeschwerte Tage. Tagsüber lagen sie im weißen Sand und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Nur unterbrochen von einem kleinen Spaziergang gegen die frühe Nachmittagszeit, wo sie sich immer ein Eis und einen Kaffee gönnten. Das Leben konnte so schön sein. Es war nicht nur einmal, dass Gitte das sagte.

Und abends gingen sie natürlich aus. In engen Jeans oder Kleidern, geschminkt und zu allem bereit. Sie flirteten auf der Tanzfläche und hin und wieder kam es auch zu engeren Kontakten. Gitte wollte alles mitnehmen, hatte sie gesagt, deshalb brach sie nun auch ihre eiserne Regel, nie mit einem Mann ins Bett zu gehen, den man gerade erst kennen gelernt hatte. Dann blieb Freya immer alleine zurück in der Disco, weil sie das eben niemals tun würde. Doch flirten, das machte sie schon. Es gab nette Gespräche, während Gitte in den Betten tobte.

Es war eine wirklich schöne Zeit, wo beide Frauen auf ihre Kosten kamen. Bis zu dem einen Abend, wo die Stimmung plötzlich kippte. Es kam von einem Moment auf den anderen zu einem hässlichen Streit. Keine der beiden Frauen hatte es kommen sehen. Es artete dermaßen aus, dass Gitte Hals über Kopf die Insel am Tag darauf verließ. Freya schob es darauf, dass sie wohl schlechte Erfahrungen mit einem Mann gemacht hatte, dass sie dermaßen überreagierte. Sie selber blieb auf der Insel, weil sie nicht einsah, so viel Geld für ein Hotelzimmer zu verschwenden, das man dann gar nicht mehr nutzte, hatte sie Gitte nachgerufen. Das war Gitte völlig egal. Sie hatte die Nase voll, und zwar gestrichen, und fuhr ab, ohne, dass die Freundinnen sich noch einmal ausgesprochen oder versöhnt hätten.

Einige Tage später lag Freya tot am Strand. Sie wurde von einem älteren Ehepaar entdeckt, das sich auf den Weg zum Morgenspaziergang gemacht hatte. Völlig entsetzt hatten sie die Polizei alarmiert.

Angekommen

Es war tatsächlich sehr ruhig im Büro geworden. Levke ging genauso wie Jan noch einmal alles durch, damit sie gleich sprachfähig wäre. Sie wollte auf jeden Fall verhindern, dass er von ihr dachte, sie sei zu jung für diesen Job. In Wahrheit hielt Jan indes die Vorgesetzten von ihr für Flachpfeifen, weil sie sie hier alleine mit so einem extremen Mordfall sitzen ließen. Dafür hatte sie sich wirklich gut alleine durchgeschlagen bis jetzt. Doch dass er so dachte, das konnte sie ja nicht wissen.

„Hier steht“, sagte Jan plötzlich und sie erschrak regelrecht, „dass die Freundin des Opfers einige Tage vor dem Mord abgereist ist. Es soll einen Streit gegeben haben, aber hier steht nicht, worum es dabei ging.“

„Hm“, machte Levke, „ja, das stimmt.“

„Du hast sie befragt?“

„Ja, am Telefon. Mit einem Kollegen aus Norden zusammen.“

„Und sie konnte sich nicht erinnern, warum sie mit ihrer Freundin derart in Streit geraten war, dass sie sogar abreiste?“ Er lehnte sich nun auf seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch. So, wie er es von Aurich her gewöhnt war. Er sah Levke kurz schmunzeln, dann wurde sie wieder ernst.

„Ich konnte sie ja nicht bitten, etwas anderes auszusagen“, meinte sie dann lakonisch.

„Nein, sicher nicht. Aber da hakt man doch so lange nach, bis man ...“. Ja, er war etwas irritiert über diesen Vorgang. Allerdings konnte man das ganz sicher nicht ihr alleine anlasten. Stindt hieß der Kollege vom Festland. Er leitete die Dienststelle in Norden ebenso wie Norddeich. Ein erfahrener Mann also, der sich im Normalfall doch nicht mit so einer billigen Ausrede abspeisen ließ. Es mussten wirklich alle sehr überarbeitet sein.

„Tut mir leid“, sagte Levke. „Aber ich könnte ja noch einmal mit ihr sprechen.“

„Schon gut“, lenkte er ein, „es war wohl eher das Versäumnis von diesem Stindt. Unfassbar, wie schlampig die Sache bisher angegangen wurde. Und ich sage ausdrücklich, dass dich da keine Schuld trifft, Levke.“

Oh, wie er ihren Namen sagte, das klang wie eine Ballade. Sie hätte ihm sowieso stundenlang zuhören können. Er hatte so eine schöne männliche Stimme und auch der Mund war schön geformt.

„Danke“, sagte sie, „aber trotzdem denke ich, es ist auch meine Schuld.“

„Naja, es bringt nichts, sich jetzt noch länger darüber zu unterhalten. Ich schlage vor, dass ich mal bei ihr anrufe. Und gegebenenfalls wird sie noch einmal hier auf die Insel kommen müssen. Mal sehen.“

Er griff zum Telefonhörer, nachdem er die Füße wieder vom Tisch gezogen hatte. Schon nach dem zweiten Klingeln nahm jemand ab. Jan erklärte, warum er anrief. Und Gitte Kopp fand seine Stimme äußerst sympathisch. Deshalb erzählte sie ihm auf sein Nachfragen nach dem Grund des Streits mit ihrer Freundin Freya auch sehr bereitwillig, dass es wohl daran gelegen hätte, dass sie, Gitte, sich doch etwas zu freizügig einigen Männern gegenüber verhalten habe. Freya hatte sie dafür getadelt. So hatte dann ein Wort das andere gegeben.

„Und deshalb sind Sie also abgereist und haben das Geld für das Hotel in den Sand gesetzt“, stellte Jan fest.

„Ich wünschte, ich wäre geblieben“, hauchte Gitte in sein Ohr, „dann wäre das alles nicht passiert.“

„Sie denken, dann hätte man Freya Klingel nicht ermordet?“

„Das weiß ich natürlich nicht“, gab sie zu, „aber wenn wir weiterhin zu zweit auf der Insel unterwegs gewesen wären, dann ...“.

„War es nur in den Abendstunden, dass Sie sich wegen Ihrer Männerbekanntschaften von gemeinsamen Unternehmungen mit dem Opfer distanziert haben oder auch tagsüber?“

„Hm, nein, eigentlich nur abends. Und dann auch erst, wenn ich wieder eine Bekanntschaft geschlossen hatte“, gab Gitte ihren losen Lebenswandel zu. „Ich meine, das muss doch nun wirklich jeder selber wissen. Und am Anfang, da hat Freya auch gar nicht so komisch darauf reagiert.“

„Worauf genau?“, hakte Jan nach.

„Na, dass ich ständig neue Männer kennengelernt habe. Ich erinnere mich noch genau, dass sie am Anfang sogar ihre Scherze darüber gemacht hat. Und dann plötzlich diese Gratwendung, ehrlich, ich habe überhaupt nicht verstanden, was eigentlich mit ihr los war.“

Sonderbar, dachte Jan. Wenn diese Freya ein anderer Typ war, warum hätte es ihr denn plötzlich etwas ausmachen sollen, was Gitte trieb. Sie kannte sie schließlich. Sie würde sich in Düsseldorf sicher auch nicht anders verhalten. Naja, zumindest ähnlich. Im Urlaub war ja immer alles anders.

„Wie lange waren sie beide schon miteinander befreundet?“, fragte er.

„Ein paar Jahre. Freya ist in dem Laden eingestellt worden, in dem ich arbeitete. Wir mochten uns auf Anhieb.“ Nun schluchzte sie kurz.

„Es heißt ja, Gegensätze ziehen sich an“, stellte Jan fest. „War das so? Ich meine, Sie scheinen ja ein etwas lockerer Typ zu sein. War Freya besonders zurückhaltend? Zugeknöpft? Wie sind Sie denn in so engen Kontakt zu ihr gekommen?“

„Puh ... so viele Fragen.“

„Sagen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, noch einmal auf die Insel zu kommen? Ich bin als neuer Ermittler in den Fall gekommen und muss mir jetzt ein Bild von allem machen. Das würde mir leichter fallen, wenn wir uns direkt unterhalten könnten anstatt durchs Telefon.“

Bei dem Gedanken, diesen Typen mit der coolen Stimme kennenzulernen, frohlockte Gitte schon wieder. Und noch einmal nach Norderney zu fahren, machte ihr nun wirklich nichts aus. Im Gegenteil. Sie hatte es nämlich geschafft, von dem Hotel, aus dem sie Hals über Kopf abgereist war, einen Gutschein zu ergattern, weil sie ein wenig geflunkert hatte. Angeblich war ihre Großmutter plötzlich verstorben. Doch diese erfreute sich in Bayern noch bester Gesundheit. „Gerne“, sagte sie, „ich habe bei der Arbeit sowieso noch ein paar Tage gut. Ich könnte übermorgen da sein. Wäre das okay?“

„Sicher“, sagte Jan, „kommen Sie dann bitte in die Dienststelle, wenn Sie eintreffen.“

Sie verabschiedeten sich.

„So“, sagte er und schob ein paar Ausdrucke, die er sich gemacht hatte, zusammen, „du hast es ja gehört, übermorgen kommt sie. Und ich werde jetzt erst mal in mein Hotelzimmer einchecken.“

„Sollen wir zusammen was essen gehen danach?“, fragte Levke, die ihm bewundernd bei dem Gespräch mit der Zeugin zugehört hatte.

„Nein“, sagte er nur. „Wir sehen uns dann morgen Nachmittag. Ich werde heute Abend alles nochmal durcharbeiten und morgen früh fliege ich rüber aufs Festland, um mir die Leiche in Oldenburg noch einmal anzusehen.“

„Oh“, sagte Levke enttäuscht, „nach Oldenburg könnte ich doch mitkommen.“

„Ich gehe lieber alleine“, sagte Jan, „du hast die Tote doch schon gesehen.“

Er nickte ihr noch einmal aufmunternd zu, bevor er ging.

Und so saß Levke wieder alleine da. Dieser Jan war zwar ein cooler Typ, aber irgendwie auch sonderbar, dachte sie.

Jan

Es waren immer die Erinnerungen, die einem im Leben in die Quere kamen. So war es auch bei Jan. Schon bald, nachdem er die Dienststelle verlassen hatte, kam er an Cafés und Restaurants vorbei, in denen er mit Virginia zusammen gewesen war. Es fühlte sich wie gestern an. Er meinte, ihren betörenden Geruch in der Nase zu spüren. Sie war die Frau in seinem Leben gewesen, mit der er wieder Hoffnung sah. Stark und verletzbar zugleich. Dabei unwahrscheinlich sinnlich. Sie hatte ihm den Verstand geraubt. Er hätte mit ihr leben können. Doch das dachte man wohl immer, wenn die Zeit einen süßlichen Schleier über alles gelegt hatte. Ja, der Schmerz, den er damals gespürt hatte, als er sie tot am Strand aufgefunden hatte, er saß noch ganz tief in seinem Herzen. Er wusste, dass er auch ans Meer gehen musste. Doch heute nicht mehr. Das wäre wirklich zu viel für ihn gewesen.

Er senkte den Blick und eilte weiter zu seinem Hotel. Erleichtert schloss er kurz darauf die Tür hinter sich und warf sich anschließend aufs Bett. Er hatte Levke vor den Kopf gestoßen und ärgerte sich nun darüber. Die junge Frau konnte nun wirklich nichts dafür, dass sein Leben so verkorkst war. Vielleicht nahm er sie doch mit nach Oldenburg am nächsten Tag. Dann schlief er tatsächlich für eine kurze Weile ein.

Er fühlte sich etwas besser, als er wieder erwachte und realisierte, wo er eigentlich war. Er stellte seine Tasche neben den Schreibtisch, er packte seine Sachen in Hotelzimmern niemals aus. Dann stellte er sich unter die Dusche.

Als er fertig war, ging es schon auf den späten Nachmittag zu. Er legte sich aufs Bett und ging alle Informationen zum Fall noch einmal durch.

Freya Klingel war Ende zwanzig gewesen und in einem Warenhaus beschäftigt. Sie lebte in Düsseldorf als Single in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Nach Auskunft ihrer Freundin Gitte Kopp war sie eher ein introvertierter Typ gewesen, der nur schwer Kontakt zu Fremden fand, wenn sie unterwegs waren. Es hatte zwei echte Beziehungen zu Männern in ihrem Leben gegeben, doch das war schon eine Weile her. Gitte Kopp wusste nicht, woran die Beziehungen gescheitert waren, las er. Doch das war eine wichtige Frage, die er noch einmal mit ihr erörtern würde, wenn sie auf die Insel kam. Es war zwar im Moment etwas abwegig, aber der Mord an Freya Klingel konnte auch eine Beziehungstat sein. Wenn sie nämlich wirklich so verschlossen gewesen war, warum hätte sie ihrer Freundin denn davon erzählen sollen, wenn sie wieder jemanden kennen gelernt hatte. Gerade dann, wenn die Freundin so ein männermordender Vamp war. Da hätte Freya Klingel vielleicht sogar Angst haben müssen, dass Gitte Kopp ihr den Mann im Handumdrehen wieder ausspannte. Er stellte sich vor, wie Gitte Kopp aussah. Groß, schlank, langbeinig. Eine schöne Oberweite und lange Haare. Naja, dachte Jan, wenn Frauen so perfekt waren, dann konnten sie wirklich jeden haben. Er selber fand solche Frauen in der Regel langweilig. Er brauchte etwas, was ihn herausforderte. Irgendeinen Haken, an dem er sich festbeißen konnte. Doch die meisten Männer waren einfältig und vor allem kurzsichtig, wenn es um Frauen ging. Die richtigen Attribute, und schon ließen sie sich einwickeln.

Als er seinen Laptop hochfuhr und in der Datenbank nach Freya Klingel suchte, fand er keine konkreten Angaben zu ihrem Geburtsort. Das fand er merkwürdig. Das war ihm schon bei der Durchsicht der Unterlagen aufgefallen, dass nirgendwo vermerkt war, woher sie ursprünglich kam. Sie lebte schon fast zehn Jahre in der Wohnung in Düsseldorf und hielt sich mit ihrem Job ganz gut über Wasser. Aber welche Schulbildung hatte sie. Wo war sie zur Schule gegangen. Darüber gab es nichts.

Ob vielleicht ihr Name nicht stimmte. Ihrem Ausweis hatte man weder am Tatort noch im Hotel gefunden. Aber über jeden Menschen gab es doch irgendetwas im Internet zu finden. Sei es über Sportvereine oder die Schullaufbahn. Irgendwie gab es da eine Lücke, notierte sich Jan im Hinterkopf.

Im Grunde ärgerte er sich nun, dass er nicht doch nach Oldenburg gefahren war, bevor er auf die Insel kam. Er wusste doch, dass er sich viel besser in einen Fall hineinfinden konnte, wenn er das Opfer gesehen hatte.

Er bestellte sich eine Kleinigkeit aus dem Restaurant aufs Zimmer und sah während des Essens aus dem Fenster. Und eigentlich sah er nur den Himmel, denn er hatte absichtlich ein Zimmer im weiter oben gelegenen Stockwerk genommen. Er wollte niemanden sehen oder hören. Eigentlich wollte er ja auch gar nicht hier sein.

Das Handy auf dem Bett klingelte. Es war Lisa. Er nahm ab.

„He“, sagte er.

„Selber he“, erwiderte sie und er hörte, dass sie lächelte. „Ich wollte einfach mal anrufen, mehr nicht.“ Sie wusste, dass er nicht gerne telefonierte. „Ashes geht es gut.“

„Hm, das ist gut.“

„Wie läuft es da auf Norderney?“

Langweilt sie sich, dachte Jan. „Ich bin ja heute erst angekommen.“

„Ich weiß.“

„Morgen fahre ich nach Oldenburg zur Gerichtsmedizin, um mir die Tote doch nochmal anzusehen.“

„Sicher bereust du es, dass du nicht gleich dorthin gefahren bist.“

„Das stimmt.“

„Naja, dann einen schönen Abend für dich.“

„Für euch auch.“

„Ich leg jetzt auf.“

„Ist gut ... ach Lisa.“

„Ja?“

„Ich komme damit zurecht, dass ich hier bin, ehrlich. Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“

„Okay“, sagte sie und ihre Stimme zitterte ein wenig. „Bis bald dann ...“.

„Bis bald.“

Sie legten auf.

Er stellte sich vor, wie sie jetzt mit Ashes in seinem Haus auf dem Sofa lag und in den Wald sah. Das hätte er nun auch lieber getan.

Und plötzlich wurde es ihm zu eng im Hotelzimmer. Er brauchte frische Luft.

Die Straße war belebt, als er nach draußen kam. Überall gut gelaunte Menschen, die sich unterhielten, lachten, beim anderen eingehakt. Irgendwie eine Traumwelt, dachte Jan. Doch Menschen brauchten so etwas, um den Alltag zu überstehen.

Er ging die Straße entlang und kehrte dann in einen Pub ein, aus dem Stimmengewirr und Gelächter ertönte, als er die Tür öffnete. Eigentlich war es ihm zu voll. Doch er hatte Durst. Er hatte Lust, einen roten Wein zu trinken und sich mit Virginia zu unterhalten. Dass sie nicht wirklich hier war, spielte in dem Moment für ihn keine Rolle. Er bahnte sich einen Weg zum Tresen und spürte den Blick einer jungen Frau, die jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgte. Da musste er an Gitte Kopp denken. Es gab viele von dieser Sorte, die nach Abenteuern mit Männern Ausschau hielten. Warum auch nicht. Doch er war nicht interessiert, signalisierte er sofort, indem er sich abwandte, als er gespürt hatte, dass ihr Blick doch etwas zu lange auf seinem Gesicht geruht hatte.

Endlich hatte er es geschafft und bestellte sich gleich eine ganze Flasche. Dazu zwei Gläser, damit niemand auf die Idee käme, sich zu ihm zu setzen. Er war nicht einsam. Nur traurig. Er hatte Glück. Ein kleiner Katzentisch am Fenster wurde frei und er beeilte sich, ihn zu besetzen. Die meisten hier waren in Gruppen unterwegs, so dass für sie dieser Platz nicht infrage kam. Für ihn war er genau richtig. Er setzte sich so hin, dass er direkt aus dem Fenster sah und die Menschen um sich herum nur als eine sich immer weiter entfernende Kulisse hinter sich wahrnahm. Er schenkte in beide Gläser ein und nippte mal hieran, mal daran. Ja, Virginia war irgendwann bei ihm. Sie lächelte ihn an mit ihrem umwerfenden Blick. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so eine fast diabolische Ausstrahlung haben wie sie. Sie musste gar nichts sagen, das Zucken eines Mundwinkels, ein hingehauchter Augenaufschlag. Virginia war Verführung pur. Von hier aus konnte er nun auch das Meer sehen. Und den Strand. Die Dinge, wovor er so eine undefinierbare Angst gehabt hatte. Doch nun, wo er hier saß, Virginia neben sich, da machte es ihm plötzlich nichts mehr aus. Sie sah mit ihm nach draußen. Die Wellen hoben sachte an, türmten sich auf, bevor sie im Sand verliefen. Ich vermisse dich, Jan, sagte sie. Er sagte, ihm ginge es genauso.

Er wusste nicht, dass die junge Frau, die ihn gleich nach Betreten des Lokals ins Visier genommen hatte, ihn immer noch beobachtete. Zunächst war sie enttäuscht gewesen, als er mit einer Flasche und zwei Gläsern zu dem Tisch gegangen war. Na, hatte sie gedacht, dann eben nicht. Doch da gerade kein anderer Mann in ihr Beuteschema passte und wenn ja, nicht alleine war, so blieb sie doch an Jan dran. Er war so anders als die anderen. Er sah durch jeden hindurch, als seien sie alle hier gar nicht da. Dann schenkte er in beide Gläser ein. Und trotzdem blieb er alleine am Tisch. Das machte sie neugierig. Wer war die schöne Unbekannte, für die es sich lohnte, so lange zu warten. Und dann irgendwann trank er auch aus ihrem Glas. Das machte die junge Frau dann stutzig, was darin gipfelte, dass er sogar irgendwann mit jemandem sprach. Doch eigentlich war ja niemand da. Er ist verrückt, hakte sie ihn dann für sich ab. Natürlich mochte sie außergewöhnliche Männer, aber alles hatte eben seine Grenze.

Als ein Kellner vorbeikam, bestellte Jan sich bei ihm noch eine Flasche Rotwein derselben Sorte und lobte das samtige Bouquet. Der Angestellte fragte, ob er eines der Gläser mitnehmen sollte. Er hatte den Tisch von Jan schon ein paar Mal passiert, so dass er wusste, dass dieser dort alleine saß. Doch Jan hatte nur mit Kopf geschüttelt und danke gesagt.

Es waren Stunden, die Jan dort am Fenster verbrachte. Und er langweilte sich keine einzige Sekunde. Es war schon nach Mitternacht, als er dann den Pub wieder verließ und hinunter zum Strand ging. Er hielt Virginia bei der Hand und streichelte sie. Ihre Haut war so weich. Sie roch so gut. Er stand am Wasser und sah mit ihr aufs Meer. Als seine Beine schwer wurden, setzte er sich in den weißen Sand. Sie lehnte sich an ihn. Er schloss die Augen und weinte.

Oldenburg

Am nächsten Morgen wurde Jan von seinem Handy geweckt. Er fühlte sich verkatert und blinzelte zum Fenster. Im Moment war ihm nicht ganz klar, wie er hier ins Hotelzimmer gekommen war. Irgendwie ein Filmriss. Und der schale Geschmack in seinem Mund machte ihm klar, dass es kein guter Abend gewesen war.

Er stieg aus dem Bett und ging ins Bad. Dass er heute vorhatte, nach Oldenburg zu fahren, daran erinnerte er sich sehr wohl noch. Er wollte das Opfer in der Gerichtsmedizin begutachten. Vielleicht half ihm das irgendwie weiter. Auf jeden Fall konnte er darüber den Kontakt zum Fall intensivieren. Nach der Dusche, die ihm wirklich gutgetan hatte, ging er in den Frühstücksraum. Nur ein Kaffee, viel mehr Zeit blieb ihm eigentlich nicht. Und Levke würde er nicht mitnehmen, auch wenn er versprochen hatte, darüber nachzudenken. Sie war wirklich nett und sehr engagiert. Aber deshalb wollte er nicht ständig alles mit ihr zusammen machen.

Bald darauf stieg er in den Flieger. Er ließ sich in Norddeich absetzen, um von dort mit seinem Wagen weiterzufahren. Er hatte vor, auf dem Rückweg auch noch bei seinem Haus vorbeizusehen. Eine Anwandlung, die ihm bisher fremd gewesen war, doch er hatte schon nach so kurzer Zeit das Bedürfnis danach. Einfach mal nach Ashes sehen. Und vielleicht war ja auch Lisa dort.

Keine Stunde später kam er schließlich in Oldenburg an. Der Gerichtsmediziner wusste von seinem Besuch und hatte die Leiche entsprechend bereitgestellt für ihn.

Freya Klingel war hübsch gewesen, dachte Jan, als er in ihr bleiches Gesicht sah. Es war richtig gewesen, hierherzukommen. Ein Foto sagte längst nicht so viel über einen Toten aus. Sie hatte eine schmale Nase und hohe Wangenknochen. Ihr dunkles Haar fiel in leichten Wellen um ihren Kopf herum. Sie war schlank, ja, fast schmal und nicht besonders groß gewesen. Bestimmt war es für den Täter leicht gewesen, sie zu überwältigen. In dem Bericht hatte gestanden, dass es keine Abwehrspuren ihrerseits gegeben hatte. Wieso hat sie sich eigentlich nicht gewehrt, fragte er sich, selbst, wenn es aussichtslos gewesen wäre, man kämpfte doch um sein Leben. Man hatte ihr den Schädel eingeschlagen, vielleicht mit einer Flasche. Und zwar von vorne, hatte der Gerichtsmediziner ermittelt. Aber mit wem hatte sich Freya Klingel am Strand unterhalten. In ihrem Magen war Wein und Antipasti gefunden worden. Hatte sie mit dem Täter noch zusammen zu Abend gegessen. Waren sie dann in guter Stimmung gemeinsam an den Strand gegangen, hatten weiter getrunken und irgendwann hatte er zugeschlagen. Im Moment sah es tatsächlich danach aus. Es musste für Freya Klingel aus heiterem Himmel gekommen sein. Anders ließ es sich einfach nicht erklären. Einen vorhergehenden Kampf, der auf eine Auseinandersetzung hingedeutet hätte, gab es wohl nicht. Und noch eines ging Jan durch den Kopf. Wenn es ein Urlauber gewesen war, den sie zufällig kennen gelernt hatte, dann könnte der schon längst über alle Berge sein und sie würden ihn niemals finden. Wer achtete schon auf andere Pärchen, wenn er selber in Urlaubsstimmung in einem Lokal saß. Das fiel ja sogar dem Bedienungspersonal schwer, denn auf Norderney war immer Hochbetrieb. Und wenn das alles so aussichtslos war, wieso hatte man dann ausgerechnet ihn nach Norderney geholt. Natürlich, das Opfer war auch getreten worden, nachdem es schon am Boden lag. Dem Täter war es nicht genug gewesen, sie einfach nur zu erschlagen. Da war noch etwas anderes im Spiel gewesen. Und genau darum ging es wohl. Sie brauchten seinen Spürsinn für solche unterschwelligen Hinweise. Nun sah Jan auf ihre Fingernägel, nicht besonders lang und mit einem rosa schimmernden Lack überzogen. Nein, Freya Klingel war keine Frau gewesen, die so wie ihre Freundin auf Männerjagd gewesen war. Und trotzdem sah es danach aus, als ob sie eine Bekanntschaft geschlossen hatte, die ihr zum Verhängnis geworden war.

„Na, wie ist es?“ Der Gerichtsmediziner war wieder zurückgekehrt.

„Hm“, machte Jan, „vielen Dank.“

Dann verließ er das Gebäude und ging wieder zu seinem Wagen.

 

Schon, als er in den schmalen Waldweg, der zu seinem Haus führte, einbog, fühlte er sich besser. Zuhause. Ja, es war eigentlich das erste Mal, dass er überhaupt länger von hier weg war. Dass er einmal so geerdet sein würde, sich verbunden fühlen mit einem bestimmten Ort, er hätte es nicht geglaubt.

Doch nun, wo er aus dem Wagen stieg, als er vor dem Haus geparkt hatte, die frische Luft des Waldes einatmete, da wusste er es. Diesen Ort, er würde ihn nie wieder für immer verlassen. Er schloss auf und ging hinein.

„Ashes?“, sagte er, als er zum Wohnzimmer kam und hineinsah. Keine Reaktion. Er ging weiter zur Küche. Und da sah er schon das leichte auf- und abfedern des buschigen Hundeschwanzes. Ashes lag auf dem Küchensofa und konnte ihr Glück, dass das Herrchen wieder da war, wohl noch gar nicht richtig fassen. „Ashes“, wiederholte Jan und ging vor dem Hund in die Knie. Er umarmte das Tier, das nun eifrig durch sein Gesicht leckte, und legte seinen Kopf in den Nacken des Hundes. „Du hast mir auch gefehlt“, sagte er und kam sich in dem Moment ziemlich albern vor. Er war ja noch nicht einmal zwei Tage weg gewesen. Nur gut, dass Lisa nicht hier war und ihn dabei beobachtete. Er kam wieder hoch und auch Ashes sprang vom Sofa. Also ging Jan zum Schrank, wo die Leckerlies für den Hund aufbewahrt wurden, und zog etwas für Ashes heraus. Freudig nahm der Hund das Geschenk entgegen und verzog sich damit unter den Küchentisch.

Jan stand einfach nur da und sah zum Fenster. Warum er schlussendlich eigentlich hierhergefahren war, blieb ihm ein Rätsel. Wollte er sich vergewissern, dass er ein Zuhause hatte. Hatte ihm Ashes wirklich gefehlt. Als er unter den Tisch sah, da wusste er, dass es stimmte. Hier in Tannenhausen war er im Reinen mit sich. Er kochte sich einen Kaffee, der auch die restliche Katerstimmung, die noch in ihm vorherrschte, vertreiben sollte. Er setzte sich nach draußen hinters Haus und sah zum Wald. Irgendwann kam auch Ashes hinter ihm her und trottete ins Gebüsch, bis Jan sie nicht mehr sehen konnte.

Es fiel ihm schwer, doch er musste jetzt zurück nach Norderney. Desto eher er den Fall aufklärte, umso eher wäre er schließlich wieder hier. Als er seinen Kaffee getrunken hatte, wusch er den Becher in der Küche noch aus und stellte ihn in den Schrank zurück. Lisa musste ja nichts von seinen sentimentalen Anwandlungen erfahren, dass er überhaupt hier gewesen war. Sie würde sich nur wieder Sorgen um ihn machen.

Auf Norderney

Levke hatte schon ein paar Mal zur Uhr gesehen. Und dann ging die Bürotür endlich auf. Jan kam herein.

„Hey“, sagte sie, „schon zurück.“

„Ja.“ Er ging zu seinem Platz und setzte sich an den Schreibtisch.

„Hat es was gebracht? Ich meine, in der Gerichtsmedizin?“

„Ja, schon“, blieb er einsilbig. „Es ist eben immer besser, die Tote direkt zu begutachten.“

„Also“, seufzte sie, „hier gibt es leider nichts Neues.“

Er merkte, dass er ungerecht zu ihr war. Auch sie hatte es sich ja nicht freiwillig ausgesucht, hier auf Norderney mit ihm zu arbeiten. Deshalb beschloss er, nun nicht mehr so reserviert zu ihr zu sein. Zu seinem Hund war er schließlich auch nett.

„Es gibt etwas“, sagte er, „über das ich mich ein wenig wundere.“ Er hängte seine Jacke über seinen Stuhl, weil es im Büro recht warm war.

„Worüber denn?“, fragte Levke sofort, weil sie froh war, dass er sie ansprach.

„Nirgendwo steht, wo sie geboren wurde“, sagte er. „Ich meine, es mag nicht wichtig sein, aber bisher habe ich das nicht finden können, woher sie eigentlich kommt.“

„Hm“, machte Levke und dachte einen Moment angestrengt nach. Dann blätterte sie in ihren Papieren herum. „Du hast recht, das steht hier nicht. Und ihr Ausweis ist nicht gefunden worden. Ich meine, da steht der Geburtsort in der Regel drin.“

„Stimmt“, bestätigte Jan, „aber wieso hat man ihren Ausweis eigentlich nicht gefunden? Den trägt man in der Regel in seinem Portemonnaie bei sich. Und wenn man verreist, dann doch erst recht.“

„Tja“, sagte Levke, „man müsste dann nochmal in ihrer Wohnung nachsehen, ob er dort ist. Oder gegebenenfalls weitere Hinweise auf ihre Herkunft.“

„Es war noch niemand in ihrer Wohnung in Düsseldorf?“ Jan konnte es kaum fassen. Wie sollte man da denn einen Mord aufklären.

„Bisher gab es dafür keine Zeit, denke ich. Aber jetzt, wo wir hier zu zweit sind, könnte ich ja mal runterfahren, wenn du willst“, schlug sie vor.

Das hätte Jan dann doch lieber selber gemacht. Und auf der anderen Seite könnte er dann auch bei Gitte Kopp vorbeifahren, ohne, dass sie hier auf die Insel kommen musste. Das machte irgendwie Sinn. Am besten, er versuchte mal, die Freundin des Opfers zu erreichen, dachte er, als sie ihn stirnrunzelnd ansah, als er zum Telefonhörer griff. Er lauschte, doch es nahm niemand ab. So ein Mist, dachte er. Wenn er sie nicht mehr erreichte, würde sie hier morgen früh in der Dienststelle sitzen. Da konnte er unmöglich nach Düsseldorf fahren und Levke mit ihr alleine lassen. Er wusste instinktiv, dass er mehr aus der Zeugin würde herausholen können. Nämlich, weil sie auf Männer stand. Und das nicht nur im üblichen Sinne. Also gab er sich geschlagen. Dieses eine Mal. „Okay, wenn du willst, dann fahr bitte nach Düsseldorf“, sagte er, „desto eher wir wissen, wie es da aussieht, umso besser. Du solltest viele Fotos machen. Wichtig ist, wie sie gelebt hat, was sie für ein Mensch war. Ich kann leider nicht mitkommen, da morgen früh ja die Zeugin, oder besser gesagt, die Freundin des Opfers hier auftaucht.“

„Sicher“, sagte Levke, „du hast wohl eben versucht, sie noch zu erreichen, stimmt‘s?“

Er nickte.

Sie verstand, was es für ihn bedeutete. Nie im Leben hätte er sie da alleine hinfahren lassen. Nein, vielmehr wäre er ohne sie gefahren. Er war ein echter Eigenbrötler. Doch eben ein netter und vor allem sehr gut aussehender, weshalb sie nicht weiter darüber grübeln wollte, dass er sie im Grunde nicht ganz für voll nahm. „Dann sollte ich am besten gleich losgehen“, sagte sie stattdessen und sah auf die Uhr. „Die nächste Fähre schaffe ich noch. Dann komme ich sicher morgen gegen Abend zurück.“

„Mache bitte viele Fotos“, bat er noch einmal, bevor sie weg war.

Und jetzt, fragte er sich. Er hatte nun noch den Rest des Tages vor sich und wusste nicht, was er tun sollte. Zuhause wäre das überhaupt kein Problem gewesen. Er und Lisa hätten sich eine Kleinigkeit zu essen gemacht und Wein getrunken. Wie sehr er diese Zweisamkeit mit ihr mochte, verstand er erst jetzt. Bei ihr konnte er loslassen, ganz er selbst sein. Entspannt. Mit anderen Menschen hielt er es kaum länger aus. Im Grunde interessierten sie ihn auch nicht. Lustlos hob er die Beine auf den Schreibtisch, legte den Kopf in den Nacken und verschränkte die Arme hinter sich. Er kam sich hier nutzlos vor. Um wenigstens irgendetwas zu tun, rief er sich die Bilder aus der Gerichtsmedizin in Erinnerung. Mit wem hast du dich getroffen, Freya Klingel, dachte er bei sich. Wer war dir so vertraut, dass du ohne weitere Zweifel mit ihm an den Strand gegangen bist. Doch du hast dich geirrt. Du kanntest ihn dann doch nicht so gut. Er hat dir eine Flasche über den Kopf gezogen und dich getreten und geschlagen. Wie konntest du dich so in dem Menschen täuschen. Ja, dachte er und richtete sich wieder auf und sah auf seinen PC-Bildschirm. Wie war das mit flüchtigen Bekanntschaften. Vertraute man ihnen blind. Nun, bei Gitte Kopp mochte das sogar zutreffen. Aber nie und nimmer auf Freya Klingel, nach allem, was er über sie wusste. Sie war kein Mensch, der anderen blind vertraute. Sie ging nicht mit einem wildfremden Mann, den sie erst seit einigen Stunden kannte, alleine an den Strand. Also musste es ganz anders sein. Sie kannte ihn. Deshalb hatte sie auch keinerlei Bedenken, als er sie nach einem netten Abend dazu einlud, mit ihm noch alleine irgendwohin zu gehen. Sie kannte ihn vielleicht schon ein paar Tage, oder sogar Wochen. Monate. Ein alter Bekannter, dachte Jan. Jemand, den sie hier zufällig auf der Insel getroffen hatte. Vielleicht ein Schulfreund aus früheren Tagen. Was ihn wiederum zu der Frage führte, wo sie eigentlich geboren worden war. Denn wenn man das wusste, dann konnte man auch nach früheren Bekannten zum Beispiel aus der Schulzeit forschen. Eine vage Möglichkeit, einen Täter aus der Gegenwart zu finden. Das war ihm sehr wohl bewusst. Doch er musste es wenigstens versuchen.

Jan sah auf die Uhr an der Wand. Erst nun wurde ihm bewusst, dass sie tickte. Dezent zwar, doch, wenn man hinhörte, dann nervte es ihn. Es war kurz nach vier. Er hatte nun keine Lust mehr, hier im Büro herumzusitzen. Also nahm er seine Jacke und ging nach draußen. Und wieder führte ihn sein Weg zum Strand. Doch heute tat es schon nicht mehr so weh. Er war in der Lage, mit einigem Abstand an Virginia zu denken. Es war ja auch schon ein paar Jahre her, dass er sie gekannt hatte. Er musste loslassen.

Er war ein Stück gegangen, das Meer rauschte und trug seine Gedanken davon. Dann kam die Sonne so richtig durch und er setzte sich in den Sand. Die vielen Menschen um ihn herum, die ebenso hier ihren Traum vom echten Leben erfüllt sahen, blendete er einfach aus. Er war einer unter vielen. Und niemand beachtete ihn. Jan sah aufs Meer. In weiter Ferne glitt ein Schiff über die Wellen. Hatte Freya Klingel auch aufs Meer gesehen. Und was hatte sie dabei gedacht oder empfunden. Sehnte sie sich nach Freiheit oder eher nach Beständigkeit. Einen Partner, auf den sie sich verlassen konnte. Es gab so viele offene Fragen zu ihr, die er hoffte, morgen mit Hilfe der Zeugin klären zu können. Man fand den Mörder immer nur, wenn man wusste, was das Opfer für ein Mensch gewesen war. Erst dann konnte man ein Täterprofil entwickeln, das hin und wieder zum Erfolg führte. Nicht alleine. Aber es war ein Baustein, ein Puzzleteil.

Irgendwann machte Jan sich wieder auf den Weg und ging ins Hotel. Er legte sich aufs Bett und schlief alsbald ein.

 

Levke merkte auf dem Weg nach Düsseldorf, dass sie sich vielleicht doch etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Verstärkt wurde dieses Gefühl noch dadurch, als sie sich den Schlüssel für die Wohnung von Freya Klingel von den dortigen Kollegen abholte. Der Blick des übergewichtigen Mannes um die fünfzig sagte alles. Hast du deine Ausbildung denn überhaupt schon abgeschlossen, Kindchen. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, doch sie fühlte sich unsicher, als er sie unverhohlen musterte und sein Blick auch über ihre Oberweite glitt. Sowas machte Jan nicht, dachte sie. Das rechnete sie ihm hoch an. Sie versprach, den Schlüssel spätestens am nächsten Tag zurückzubringen. Sie hatte vor, sich in Düsseldorf ein Hotelzimmer zu nehmen.

In der Wohnung von Freya Klingel roch es muffig. Die Post stapelte sich vor der Tür, als Levke diese aufschob. Und dabei, so dachte Levke, konnte man heutzutage die Post für die Dauer des Urlaubs lagern lassen. Sie schloss die Wohnungstür wieder hinter sich und lauschte. Warum sie das tat, das wusste sie eigentlich gar nicht. Denn Freya Klingel hatte alleine gelebt und nicht einmal Haustiere gehabt. Vielleicht war es einfach deshalb, weil Levke das erste Mal alleine und zuerst in die Wohnung eines Opfers kam. Worauf musste sie sich hier einstellen. Nach ein paar Minuten fühlte sie sich schon sicherer und ging zunächst in die Küche. Hier war alles aufgeräumt. So machte man das wohl, wenn man in Urlaub fuhr, um nicht in ein Chaos zurückzukehren. Freya Klingel wollte hierher zurückkommen, sonst wäre es ihr vielleicht egal gewesen. Levke hielt den Geruch nun einfach nicht mehr aus und öffnete ein Fenster. Endlich wieder durchatmen können. Es mochte auch daran liegen, dass sie einfach gute Landluft gewöhnt war. Hier kam ihr alles ziemlich stickig vor. Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Es war mit einem großen Sofa und zwei bequemen Sesseln in Naturfarben ausgestattet, die in Richtung des Fernsehers ausgerichtet waren. Bestimmt hatte Freya Klingel viele gemütliche Abende auf der Couch mit ihren Lieblingsserien verbracht. Dazu Wein getrunken und vielleicht Chips gegessen. So machte Levke das ja selber auch gerne. Und Freya war ja nicht viel älter gewesen als sie. Insofern konnte sie sich ganz gut in das Opfer hineindenken, dachte sie. Als sie Freya Klingel allerdings tot am Strand gesehen hatte, war das noch nicht so leicht für sie gewesen.

Auf einer Borte im Raumteiler stand ein Foto, auf dem Freya Klingel verträumt in die Kamera sah. Sie saß auf einer Bank in einem Park mit hohen Bäumen. Sicher war sie sehr romantisch veranlagt gewesen. Levke konnte sich so ein Bild von sich selber kaum vorstellen. Eher eines mit einem flotten Motorrad oder so.

Levke ging weiter zum Schlafzimmer. Die Bettwäsche war in Rosatönen gehalten. Sowas konnte man auch wirklich nur machen, wenn man alleine lebte. Levke selber dachte bis jetzt noch nicht über eine ernsthafte Beziehung nach. Erst einmal wollte sie beruflich vorankommen. Doch wie sagte ihre Mutter immer, wenn du den richtigen triffst, dann wird dir alles andere egal sein. Nun, das mochte stimmen. Und auch bei Freya Klingel war der Richtige wohl noch nicht in ihr Leben gekommen. Nun war es sowieso zu spät. Ich träume hier vor mich hin, dachte Levke nun. Dabei sollte sie doch noch einem Ausweis suchen und Hinweisen dazu, woher das Opfer eigentlich kam. Sie rief sich nun zur Ordnung und ging in ein eher kleines Zimmer, in dem ein Schreibtisch und ein Bürostuhl standen. An der Wand lehnte ein Bügelbrett. Es stand ein PC auf dem Schreibtisch und Levke drückte auf den Knopf und ließ ihn hochfahren. Dann sah sie in die Schubladen. Rechnungen, lose Blätter und Zeitungsartikel, die Freya Klingel vermutlich interessant gefunden hatte. Es ging da um die Gestaltung von Blumengärten. Vielleicht hatte sie vorgehabt, umzuziehen. Vielleicht sogar aufs Land. Denn eines war für Levke sicher, auch wenn sie das erste Mal in Düsseldorf war. Sich hier ein Haus zu kaufen, das hätte sowohl Freyas als auch ihr eigenes finanzielles Budget bei weitem überstiegen. In Städten zu leben war für die meisten Menschen unerschwinglich geworden. Es gab einen Trend, wieder aufs Land zu ziehen. Und Levke fühlte sich in Wittmund eigentlich noch recht wohl.

Nachdem sie alle Schubladen gesichtet hatte, war sie immer noch nicht weiter. Hier jedenfalls war der Ausweis nicht. Ebenso wenig persönliche Papiere oder eine Geburtsurkunde. Diese Dinge musste Freya wohl woanders aufbewahrt haben. Vielleicht in einem Schuhkarton im Kleiderschrank. Doch weder im Schlafzimmer noch im Wohnzimmer gab es so einen Karton. Levkes Papiere waren natürlich noch im Haus ihrer Eltern. Sie müsste dazu ihre Mutter befragen. Aber wieso hatte Freya Klingel nichts bei sich in der Wohnung. Das fand Levke seltsam. Wenn man auszog, dann nahm man so etwas doch mit, oder. Sie jedenfalls würde es so machen.

Da hatte Jan wohl schon den richtigen Riecher gehabt. Die Herkunft von Freya Klingel schien in gewisser Weise nebulös zu sein.

Als Levke meinte, wirklich in jeden Schrank und in jede Schublade gesehen zu haben, verließ sie die Wohnung, um sich ein Hotelzimmer zu nehmen. Doch so einfach, wie sie das vom platten Land her gewöhnt war, schien es hier nicht zu funktionieren. Überall, wo sie nachfragte, hieß es, leider alles vergeben. Entweder wegen Kongressen, Konzerten oder Urlaubern, die einmal das Stadtleben auskosten wollten. Tja, dachte Levke, dann eben nicht. Sie brachte den Schlüssel zurück in die Dienststelle und war froh, dass der feiste Typ von vorhin schon Feierabend gemacht hatte. Dieses Mal traf sie auf eine Kollegin, mit der sie sich sogar kurz ganz nett unterhielt. Dann ging ein Notruf ein und sie verließ das Gebäude, sie wollte ja nicht stören. Schließlich setzte Levke sich wieder hinters Steuer und fuhr zur Autobahn. Wenn man sie in Düsseldorf nicht haben wollte, dann eben nicht.

Die Zeugin

Jan war am gestrigen Abend nicht wieder aus dem Bett aufgestanden und wachte nun voll bekleidet auf. Er fühlte sich erholt. Es schien, als sei eine Last von ihm gefallen. Und er hatte Hunger. Schnell stellte er sich unter die Dusche, zog sich etwas Neues an und ging nach unten in den Frühstücksraum und suchte sich einen Platz am Fenster. Es lag eine Zeitung auf seinem Platz, aber er wollte jetzt nichts lesen. Eine junge Frau begrüßte ihn freundlich und stellte eine Kanne Kaffee auf den Tisch. Ob er ein Frühstücksei wolle. Jan nickte. Warum nicht. So oft kam es ja auch nicht vor, dass man ihn bediente. Vom Büffet holte er sich ein Brötchen, Butter und Käse. Dazu ein Müsli mit Obst und Joghurt.

Die meisten Gäste schienen mit dem Frühstück schon durch zu sein, so dass nur vereinzelt andere Tische besetzt waren. Unterschwellig summten die Gesprächsfetzen durch den Raum mit hohen Decken.

Als Jan fertig war, nickte er der Bedienung von vorhin noch einmal aufmunternd zu, was sonst gar nicht seine Art war. Sie erwiderte seinen Blick und lief rot an. So etwas hatte er allerdings gar nicht beabsichtigt. Er wollte nur freundlich sein. Ausnahmsweise mal. Und sie war auch nicht sein Typ. Hoffentlich machte sie sich nun keine falschen Hoffnungen auf ein Abenteuer mit einem attraktiven Gast. Als Jan dann draußen vor die Tür trat, da hatte er sie auch schon vergessen.

 

In der Dienststelle angekommen öffnete er zunächst einmal alle Fenster. Es war ein herrlich sonniger Tag heute und von draußen hörte er munteres Stimmengewirr. Inselleben eben. Etwas, an das er sich niemals würde gewöhnen können. Doch in diesem Moment, da verstand er, warum andere hierherkamen. Es war das mögliche Versprechen auf ein Stückchen vom Paradies. Wenn man ans Meer kam, was konnte einem da noch fehlen.

Nun, irgendjemandem hatte etwas gefehlt, als er auf Freya Klingel getroffen war, dachte Jan nun und kam wieder im Hier und Jetzt an. Sie hatte etwas falsch gemacht. Vielleicht etwas Falsches gesagt. Auf jeden Fall war etwas passiert, dass ihren Mörder soweit in Wut versetzt hatte, dass er sie tötete. Jan ging davon aus, dass es im Affekt geschehen war. Die Tatwaffe war bisher nicht gefunden worden. Vermutlich hatte er sie ernüchtert ins Meer geworfen, wo die Wellen sie immer weitertrugen wie eine Botschaft ohne Wiederkehr.

Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Zeugin eintraf, stellte er mit Blick zur Uhr, die immer noch tickte, fest. Er erhoffte sich von dieser Begegnung Erkenntnisse, die sie im Fall weiterbrachten. Irgendein Detail. Ein Wort, eine Bemerkung, die ihn Freya Klingel in einem anderen Licht erscheinen ließ. Es waren immer die kleinen Dinge, die in einem Mordfall wichtig waren. Um Gitte Kopp zu zeigen, wie froh er war, dass sie extra hier auf die Insel kam, setzte er nun sogar einen Kaffee für sie beide an. Ob er auch noch Kuchen besorgen sollte. Nun ja, dachte er, man musste es ja auch nicht übertreiben. Der Kaffee war gerade durchgelaufen, da klopfte es auch schon an die Bürotür.

„Ja“, sagte Jan und sie schien es gehört zu haben, denn die Tür ging auf.

„Bin ich hier richtig?“ Gitte Kopp zeigte ihm ein strahlendes Lächeln. „Sie sind doch Jan Krömer, oder?“

„Dann sind Sie vermutlich die Freundin von Freya Klingel“, erwiderte er, „bitte, nehmen Sie doch Platz. Kaffee?“

„Oh“, sagte sie, „eigentlich hatte ich gerade erst welchen im Hotel.“

„Sind Sie gestern schon angekommen?“, fragte er erstaunt, weil er damit eigentlich nicht gerechnet hatte. Er dachte, sie käme am Morgen und nähme spätestens am Nachmittag eine Fähre zurück.

„Ja“, bestätigte sie, „ich hatte noch ein paar Tage im Hotel gut.“

Deshalb ging sie also gestern nicht ans Telefon, als er in Düsseldorf anrief, dachte er bei sich. In dem Moment ärgerte es ihn, dass sie sich nicht schon gestern hier gemeldet hatte. Schließlich verloren sie wertvolle Zeit bei der Aufklärung, desto länger sich alles hinzog. Doch das schien dieser vergnügungssüchtigen Freundin wohl völlig gleichgültig zu sein.

Sie spürte, dass er verärgert war. „Es tut mir leid, sicher wäre es besser gewesen, ich hätte mich schon gestern gemeldet“, sagte sie kleinlaut.

„Schon gut“, wiegelte Jan ab. Er schenkte sich selber einen Becher Kaffee ein und dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, vor dem sie Platz genommen hatte. „Wenn Sie es sich noch anders überlegen“, er hielt seinen Becher hoch, „dann sagen Sie gerne Bescheid.“

Sie nickte artig. Wenn sie je auf ein amüsantes Abenteuer mit diesem coolen Ermittler gehofft hatte, so begrub sie diese Pläne jetzt.

„Kommen wir zu Ihrer Freundin Freya Klingel“, begann Jan mit der eigentlichen Befragung. Er bemerkte, dass sie ein trauriges Gesicht aufsetzte. „Vielleicht können Sie mir da bei einer wichtigen Frage weiterhelfen.“

„Wenn ich kann ...“, sagte sie und sah ihn offen an.

„Es geht darum, dass wir keinen Ausweis bei der Toten gefunden haben.“

Sie runzelte die Stirn.

„Das wäre vielleicht nebensächlich“, fuhr er fort, „denn sie wurde ja schnell als ein Gast des in Strandnähe gelegenen Hotels identifiziert, nachdem man sie tot aufgefunden hatte. Aber für uns wäre es schon wichtig, zu erfahren, wo Freya Klingel geboren worden ist. Wissen Sie da vielleicht Näheres?“

Gitte Kopp hatte wirklich mit interessanteren Fragen gerechnet. „Nein“, sagte sie, „natürlich weiß ich nicht, wo Freya geboren wurde. Sie war siebenundzwanzig, da ist sowas doch eigentlich gar nicht mehr wichtig.“

„Sie haben sie also nie danach gefragt?“

„Hm, nein, ich denke nicht. Fragen Sie ihre Freunde denn immer danach, wo sie geboren wurden?“

Ich habe keine Freunde, dachte Jan. Und fragen würde ich sie auch nicht. Insofern hatte Gitte Kopp wohl recht. „Nein, vermutlich nicht“, antwortete er ehrlich.

„Und ihr Ausweis war auch nicht im Hotelzimmer?“

Er schüttelte mit dem Kopf. „Und in der Wohnung hat meine Kollegin gestern nachgesehen. Sie rief mich vorhin an. Der Ausweis ist auch dort nicht auffindbar gewesen.“

„Komisch“, meinte die Zeugin. „Eigentlich gehe ich ja nie ohne Ausweis aus dem Haus. Ich habe alles in meinem Portemonnaie, Ausweis, Führerschein. Man weiß ja nie, wer einen danach fragt. Allerdings, oft kommt das wirklich nicht vor. Vielleicht war Freya in der Hinsicht irgendwie nachlässig.“

„Das wäre möglich“, stimmte Jan zu. Doch für ihn war das Thema noch lange nicht erledigt. Denn etwas schwebte ihm im Hinterkopf herum. Was war, wenn der Täter den Ausweis an sich genommen hatte, nachdem er Freya Klingel umgebracht hatte. Denn sie trug einen kleinen Lederbeutel bei sich, in dem der Hotelzimmerschlüssel und ein Portemonnaie gefunden worden waren. Möglicherweise hatte sie auch ihren Ausweis bei sich, der dann für den Täter so wichtig war, dass er ihn mitnahm. „Wir haben aber auch in der Datenbank nichts weiter dazu gefunden, wo Ihre Freundin gebürtig herstammt.“

„Das ist ja merkwürdig“, meinte Gitte Kopp nachdenklich. „Und jetzt, wo wir darüber reden, vielleicht war es wirklich sonderbar, dass sie mir nie etwas über ihre Vergangenheit erzählt hat.“

„Vielleicht hatte sie etwas zu verbergen“, schlug Jan vor.

„Hm. Etwas verschlossen war sie ja schon. Könnte ich nun vielleicht doch einen Kaffee haben?“

„Sicher.“ Jan stand auf und holte ihr einen Becher.

„Danke“, sagte sie und trank einen Schluck. „Vielleicht habe ich Freya gar nicht wirklich gekannt“, sagte sie dann versonnen und strich mit ihrem linken Zeigefinger über den Becher.

„Jeder Mensch hat seine Geheimnisse“, sagte Jan lakonisch. „Das ist auch völlig in Ordnung. Wichtig wird es ja im Grunde erst, wenn etwas passiert ist. Wenn wir den Täter finden wollen, dann müssen wir einfach mehr über Freya Klingel wissen.“

Sie nickte. „Das verstehe ich sehr gut. Deshalb tut es mir auch sehr leid, dass ich Ihnen gar nicht wirklich weiterhelfen kann.“

„Schildern Sie doch bitte noch einmal Ihren gemeinsamen Urlaub hier auf der Insel“, bat Jan, um ihr wieder aus dem Tief des Schuldbewusstseins herauszuhelfen. „Wenn Sie zusammen hierhergefahren sind, dann waren Sie doch schon ziemlich gut befreundet, nehme ich an. Wie war Freya Klingel? Was war sie für ein Mensch?“

Gitte Kopp stellte ihren Kaffeebecher nun auf dem Tisch ab und holte einmal tief Luft. „Tja, was war sie für ein Mensch ...“, wiederholte sie und sah zum Fenster. „Ich würde sagen, sie war eine Träumerin.“

„Eine Träumerin? Wie meinen Sie das?“