Die Anwältin in Schattenfeld und Mördergrenze - Moa Graven - E-Book

Die Anwältin in Schattenfeld und Mördergrenze E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

Paula Fenders ist "Die Anwältin" in Ostfriesland. In den beiden weiteren Kriminalromanen Schattenfeld und Mördergrenze ermittelt sie wieder mit Erik Frahn von der Polizei in Ostfriesland. In Schattenfeld klopfen dunkle Gestalten an die Tür von unbescholtenen Bürgern, um nach Hilfe zu fragen. So jedenfalls sieht es Wilhelm Reiners. Am nächsten Morgen sind sie tot. Man findet sie auf einem großen Acker. Eine komplette Familie ausgelöscht. Und niemand scheint zu wissen, wer sie sind und woher sie kamen. In Mördergrenze arbeitet Paula jetzt als Quereinsteigerin bei der Polizei in Ostfriesland. Erik Frahn ist hocherfreut darüber. Doch sie fühlt sich eingezwängt in ein Korsett aus Dienstplan und Vorschriften. Sie findet einen Weg der Kompensation, der bald zur tödlichen Falle zu drohen wird.

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Kriminalroman 1 Schattenfeld
Impressum
Zum Inhalt
So viel Leid
Die Fremden
Aufgepäppelt
Lethargie
Das Institut
Völlige Leere
Der letzte Abend
Das Verbrechen
Kekse zum Kaffee
Rita
Paula
Der Zeuge
Hella Brandner
Das Motiv
Fakten
Kinderland
Wilhelm Reiners
Unsicherheit
In der Dienststelle
Im Kinderland
Entlastet
Paula
Im Krankenhaus
Der lange Abend
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Kriminalroman 2 Mördergrenze
Impressum
Zum Inhalt
Der verlassene Hof
Nachtleben
Thon Fehnstra
Eine Woche später
Alexa
Paula
In der Dienststelle
In der Einsamkeit
Frahn
Der grausame Fund
In der Dienststelle
In Emmen
In Ostfriesland
Die längste Nacht
Der nächste Tag
LQ2
Einfach darüber schweigen
Sonntag
Die ganze Wahrheit
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Zur Autorin
Krimi-Reihe Die Anwältin Paula Fenders in Ostfriesland
Die Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
LESEPROBE
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

Die Anwältin in

Schattenfeld

und

Mördergrenze

 

Kriminalroman von Moa Graven

Kriminalroman 1 Schattenfeld

 

 

Schattenfeld

Kriminalroman von

Moa Graven

 

 

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und bringt ihre Bücher immer noch im Eigenverlag heraus.

 

Impressum

Schattenfeld – Die Anwältin Paula Fenders

Band 3

Kriminalroman von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn

April 2020

ISBN 978-3-946868-68-2 (Taschenbuchausgabe)

Umschlaggestaltung: Moa Graven

Zum Inhalt

 

Der neue Fall aus der Reihe „Die Anwältin Paula Fenders in Ostfriesland“.

Dunkle Gestalten klopfen an die Tür von unbescholtenen Bürgern, um nach Hilfe zu fragen. So jedenfalls sieht es Wilhelm Reiners. Am nächsten Morgen sind sie tot. Man findet sie auf einem großen Stück Grünland. Eine komplette Familie ausgelöscht. Und niemand scheint zu wissen, wer sie sind und woher sie kamen.

 

Paula Fenders ist durch den Verlust ihres Sohnes eine Frau mit gebrochenem Herzen. Ihre Ehe zerbricht, ihre Karriere als Anwältin wird plötzlich bedeutungslos.

Sie zieht sich zurück, leidet und lebt schließlich mit fünf Katzen zurückgezogen in einem alten Haus, das sie durch Zufall entdeckt. Der ideale Ort, um der Welt den Rücken zu kehren.

Sie arbeitet anonym auf einer Online-Seite als Anwältin und berät Klienten in Rechtsfragen.

 

Die Menschen,

die man nicht sieht,

um die trauert man nicht.

Moa Graven

 

 

So viel Leid

 

Es gab diese Tage, da schaffte er es nicht einmal, sich vernünftig die Schuhe zuzubinden. Es fehlte ihm die Kraft für die profanen Dinge im Leben.

Philipp war leise gestorben. Und Paula und er hatten ihm dabei zugesehen. Erik Frahn wusste nicht, was er sich in diesem Moment hätte mehr wünschen können, als einfach nicht mehr da zu sein und nichts mehr fühlen müssen.

Nachdem Paula so voller Hoffnung und Glück gewesen war, als sie ihren Sohn wieder in die Arme schließen konnte nach so vielen Jahren, sah zuerst alles sehr vielversprechend aus. Der Junge erholte sich gut und wurde ständig ärztlich kontrolliert. Sicher, er blieb weiterhin im Bett liegen. Doch das war ja egal, wenn er nur da war. So ging es ein paar Monate so richtig bergauf mit ihm, Paula lernte wieder zu lächeln. Bis Philipp dann eines Tages von einem starken Schütteln erfasst wurde, das sie alleine nicht mehr unter Kontrolle bekam. Sie rief einen Notarzt und dann Frahn an.

Es war die Rede von einem unvorhersehbaren Zwischenfall. Keiner der Ärzte konnte es sich später erklären, was diesen Zustand ausgelöst haben könnte. Sicher schien jedoch, dass Paula keine Schuld daran trug. Sie hatte sich nämlich sofort die größten Vorwürfe gemacht. Doch wirklich half es ihr nicht, dass man sie tröstete und eine liebevoll aufopferungsbereite Mutter nannte, als die Bemühungen, sein Leben zu retten, nach und nach eingestellt wurden. Die Lunge machte einfach nicht mehr mit. Selbst für ein Spenderorgan gab es kaum noch realistische Aussichten, da Philipp die Operation nicht überstehen würde.

Als auch der letzte Sanitäter das Haus verlassen hatte, war es sehr still geworden. Frahn und Paula hatten am Bett von Philipp gesessen, dem man ein starkes Beruhigungsmittel gegeben hatte, damit er friedlich einschlafen und diese Welt verlassen konnte.

Frahn liefen Tränen über die Wangen, als er jetzt an die letzten Monate zurückdachte. Die Beisetzung von Philipp war ein einsamer Akt, bei dem nur er und Paula vor dem Urnengrab in einem Wald standen, wo der Junge seine letzte Ruhestätte unter einer großen alten Eiche fand. Paula hatte sich für ihren geliebten Sohn nichts anderes vorstellen können. Er sollte frei sein, über den Tod hinaus, nachdem man ihn so viele Jahre eingesperrt hatte.

Danach wollte sie alleine sein, und Frahn hatte es schon geahnt, dass es so kommen würde. Sie baute nach und nach die Distanz wieder zu ihm auf, zog die Mauern um sich herum wieder hoch.

Er machte sich Sorgen um sie, ließ aber dennoch in Ruhe. Erst einige Wochen später fuhr er das erste Mal wieder zu ihr.

Da war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen. Er sah sofort, dass sie kaum noch etwas aß. Ihre Wangen waren eingefallen und von dem vielen Salz der Tränen gegerbt.

Als er ins Haus kam, fand er sie auf dem Sofa in ihrem Arbeitszimmer. Eine Flasche Rotwein auf dem Tisch. Am helllichten Tag. Doch getrunken hatte sie gar nicht. Nein, so hatte er den Eindruck, sie hatte auch das Trinken insgesamt eingestellt und drohte zu dehydrieren.

Praktisch willenlos ließ sie sich von ihm aufsetzen und sah ihn mit leerem Blick an.

»Paula«, flüsterte er, »so kannst du doch nicht weitermachen.«

»Ich will nicht«, hatte sie gemurmelt, »lass mich einfach sterben.«

Doch er dachte ja gar nicht daran und schleifte sie ins Badezimmer.

»Entweder, du gehst freiwillig unter die Dusche, oder ich helfe mit.«

Angewidert hatte sie sich zunächst weggedreht, doch dann stützte sie sich an der Duschwand ab und machte eine wegwischende Handbewegung, die ihm sagte, dass er gehen sollte. Er tat es auch. Allerdings mit gemischten Gefühlen. Denn als er hörte, dass sie sich einschloss, hatte er Angst um sie.

Doch sie kam wieder heraus, nachdem sie das Wasser lange hatte laufen lassen. Sie hatte sich etwas anderes angezogen und die Haare waren trockengerubbelt, aber nicht gekämmt.

Dann hatten sie lange beisammengesessen, er hatte ihr etwas zu essen gemacht und sie tranken Tee. Sie sprachen über Philipp. Und auch wenn sie es nicht zugab, so tat es ihr dennoch gut.

Die Fremden

 

Jeden Morgen war es die Mutter, die als erstes die Augen aufschlug und sich dann an die Arbeit machte, um für alle das Frühstück vorzubereiten.

Sie waren nicht wie andere. Ihr Leben fand nicht in einem schönen Haus an einem gedeckten Tisch statt. Nein. Sie waren anders. Und das spürten sie jeden Tag, dass andere damit ein Problem zu haben schienen.

Deshalb gingen auch die Kinder nicht in eine ordentliche Schule, sondern bekamen von den Eltern beigebracht, was man zum Leben brauchte.

Und dabei war alles einmal ganz anders gewesen. Vor langer und kaum erinnerbarer Zeit. Ja, sie hatten sie verdrängt, die Zeit davor, bevor sie sich für ein Leben auf der Wanderschaft entschieden. Alles war zu eng geworden. Sie konnten die Miete nicht mehr bezahlen, weil der Vater seine Arbeit verloren hatte.

Die Mutter versuchte, an allen Ecken und Enden zu sparen. Doch wo fing man da bei einer fünfköpfigen Familie an? Die Mäuler wollten gestopft werden. Und die Miete bezahlt. Der Strom wurde als erstes abgestellt. Das war nun schon über zehn Jahre her.

Darüber dachte sie nach, als sie den Tee aufsetzte und anschließend die Tassen auf den Tisch brachte. Es war eng geworden in dem schon recht großzügigen Wohnwagen, der ihnen vor ein paar Jahren von einem älteren Ehepaar vermacht worden war. Das war so einer dieser Momente, wo Henriette doch noch wagte, an das Gute im Menschen zu glauben. Da waren sie gerade einmal drei Jahre auf Wanderschaft gewesen mit ihrem alten Wohnwagen, der hinter einen noch älteren VW gespannt worden war. Sie hatten bei Nacht und Nebel ihre Sachen gepackt und waren losgefahren. Egal wohin, hatte Günter gesagt, Hauptsache weg aus dieser kalten Stadt, wo es für Familien wie seine offensichtlich keinen Platz mehr gab.

Auf einem Wochenmarkt, wo Henriette mit ihren drei Kindern in zerschlissenen Kleidern um halb verdorbenes Obst bei einem Stand bettelte, da waren sie ihren Wohltätern begegnet.

Es war die ältere Dame gewesen, die zunächst mit einem Schluchzer und dann offen mit Tränen in den Augen reagiert hatte, als sie die kleinen blaugefrorenen Hände von Nadine, dem jüngsten Kind der Bettlerin, gesehen hatte. Und sie hatte nicht so reagiert, wie es die meisten taten. Henriette mustern, sie mit Verachtung strafen und kopfschüttelnd weitergehen, indem etwas Unverständliches und doch offensichtlich Böses gemurmelt wurde.

All das, das tat diese ältere Dame nicht, nachdem sie ihren Mann am Arm gezupft hatte und »Sieh doch mal« zu ihm gesagt hatte. Er war genauso ergriffen gewesen wie seine Frau und hatte Henriette angesprochen. Ob sie Hilfe bräuchte oder etwas Geld. Es sei nicht böse gemeint, doch wenn es nötig wäre, dann hülfen sie gerne aus.

Henriette, die ihre drei Kinder bereits mit den Armen zusammengerafft hatte, um weiterzugehen, blieb zunächst der Mund offenstehen. Dann sagte sie, ja, sie bräuchte tatsächlich Hilfe. Die Kinder, sie hätten schon seit einigen Tagen kein Gemüse mehr zu essen gehabt. Und das sei doch nicht gut für die Entwicklung.

Es hatte keine Stunde gedauert, da saß Henriette mit ihren Kindern in einer warmen Küche bei dem älteren Ehepaar im Haus. Und da erkannte sie auch, warum die Frau sie und Nadine so voller Wehmut gemustert hatte. Sie hatten nämlich eine Tochter gehabt vor schon sehr langer Zeit, das Kind war durch einen tragischen Unfall in einem Gartenteich gestorben. Es hing ein Bild an der Wand. Das Mädchen hatte dieselben Augen wie Nadine und auch grobe Gesichtszüge ließen eine Ähnlichkeit vermuten. Als Henriette die Geschichte um das Mädchen auf dem Bild gehört hatte, fing sie an zu weinen.

Die alte Dame kochte eine klare Gemüsebrühe und lud die Familie kurzerhand für den Abend zum Essen ein.

Der Kontakt hielt darüber hinaus und nach einer Woche gab es sogar eine Einladung für die kleine Familie, mit in das große Haus einzuziehen. Doch das wollte Günter nicht. Sein Stolz, so dachte Henriette, stand ihm im Weg. Doch sie sagte nichts dazu. Letztlich bestanden die Gönner dann doch darauf, dass die Familie wenigstens das Wohnmobil, das schon seit Jahren in der großen Diele stand, anzunehmen. Damit konnte Günter sich arrangieren. Und er bestand darauf, noch eine Weile bei den älteren Herrschaften im und ums Haus herum notwenige Arbeiten zu verrichten, bevor sie weiterzogen.

Jetzt waren sie in Ostfriesland angekommen. Sie hatten immer wieder von anderen gehört, wie schön und friedlich es in dem urigen Landstrich, bei dem man weit übers flache Land schauen konnte, zuging. Dort seien die Menschen noch anders. Hilfsbereit und zugewandt. Und da es dort viele Stürme gebe, sei auch immer was zu tun. Und da Günter gelernter Zimmermann war, schlugen sie vor ein paar Wochen diese Richtung ein, die sie in ein vielleicht nettes Dorf führen sollte.

Aufgepäppelt

 

Frahn brauchte drei ganze Tage, um Paula soweit aufzupäppeln, dass sie wieder Appetit entwickelte und freiwillig aß. Etwas, worüber sie bisher nicht gesprochen hatten, war die Tatsache, dass er seine beiden alten Hunde kurz nacheinander hatte einschläfern lassen müssen.

Erst am dritten Tag fragte sie überhaupt nach den Tieren. Und er vermutete, dass sie sich auch seit geraumer Zeit nicht mehr um ihre Katzen gesorgt hatte. Doch das alles war ja nichts im Vergleich zu ihrem Verlust. Deshalb hatte er so lange darüber geschwiegen.

»Sag mal, wo sind eigentlich deine Hunde? Du warst schon seit Tagen nicht mehr zuhause?«

Frahn schluckte und schob seinen Teller beiseite. »Sie sind nicht mehr da«, sagte er mehr zu sich selbst. »Sie waren sehr krank.«

Er erschrak beinahe, als sie nach seiner Hand griff.

»Das tut mir so leid«, sagte sie mit Tränen in der Stimme. »Du hast sie so sehr geliebt.«

Was sollte er jetzt sagen? Dass eben alle irgendwann sterben würden. Das würde ihrem Verlust in keiner Weise gerecht und konnte sie erneut verletzen.

»Ich war bei ihnen«, sagte er und entzog ihr seine Hand. Bilder tauchten auf, wie er Abby auf Händen zum Wagen getragen hatte. Er war mit ihr in einen nahe bei seinem Haus gelegenen Wald gefahren und hatte sie an einem ihrer Lieblingsplätze begraben. »Was machen eigentlich die Katzen?«, sagte er.

Sie spürte, wie verletzt er sein musste, weil er alles mit sich alleine abgemacht hatte, während er immer für sie da war, wenn sie jemanden brauchte. Und selbst dann, wenn sie eigentlich alleine sein wollte.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu, »wahrscheinlich leben sie im Moment wirklich wie Katzen und ernähren sich von Mäusen. Aber ich werde mich wieder mehr um sie kümmern.«

»Hm.«

Es entstand eine Pause, die für sie beide unangenehm war. Sie verhielten sich nicht so, wie man es von Erwachsenen erwarten dürfte und vermieden jedes Wort, das doch eigentlich hätte ausgesprochen werden müssen. Sie wussten, dass man den Schmerz verarbeiten musste. Doch wie schaffte man es, wenn er einem das Herz herausgerissen hatte.

»Ich glaube, ich sollte mal wieder in der Dienststelle vorbeisehen«, sagte er schließlich, obwohl er sich für eine ganze Woche dort abgemeldet hatte, weil er nicht wusste, wie lange er brauchen würde, um Paula wieder stabil zu bekommen. Und vielleicht war sie es auch noch gar nicht. Doch im Moment, da musste er einfach mal hier raus.

»Sicher«, sagte sie, »ich komme auch alleine zurecht. Aber ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich hier um mich gekümmert hast. Das meine ich ehrlich. Ich weiß nicht, was ich sonst ...«.

Oh doch, dachte er, das weißt du ganz genau. Er sagte aber nichts dazu, sondern trank sein Glas Wasser leer und machte sich dann auf den Weg. Er versprach, in den nächsten Tagen wieder bei ihr vorbeizusehen.

 

Paula war erleichtert, als sie seinen Wagen hörte. Und gleichzeitig hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so empfand. Das hatte er wirklich nicht verdient. Wann hatte sie jemals so einen guten Freund gehabt wie Frahn.

Was mache ich jetzt?, fragte sie sich ratlos in der Küche stehend, als sie aus dem Fenster sah. Sollte sie wieder anfangen, online zu arbeiten. Seit Monaten hatte sie sich gar nicht mehr um ihr Mailpostfach gekümmert. Deshalb graute es ihr davor, nachzusehen, was alles eingegangen war.

Es war so, dass sie im Prinzip gar nicht mehr wusste, wofür sie eigentlich noch lebte. Deshalb war sie auch in dieses Loch gefallen, aus dem Frahn ihr herausgeholfen hatte. Aber wofür? Sie hatte dafür gelebt, nach Philipp zu suchen. Und als sie ihn fand, da wollte sie für ihn da sein. Dass er jetzt nicht mehr da war, ließ sie ziellos dastehen. Es gab schlichtweg keinen Grund mehr für sie, weiterzuleben. Ein Gefühl stieg in ihr auf, dass sie es um Philipps willen nicht tun durfte, ihr Leben einfach wegzuwerfen. Er hatte nämlich nicht die Chance gehabt, seines zu leben. Und sie warf ihres achtlos einfach weg? Wie zynisch sie doch war. Es machte sie traurig. Alles irgendwie. Sie weinte und ließ es zu. Sie wischte mit dem flachen Handrücken über ihr Gesicht und straffte den Rücken. Plötzlich bekam sie eine Ahnung davon, wie sie ihr zukünftiges Leben gestalten würde. Es gab so viele Kinder, die jeden Tag um jede Minute rangen, die ihnen im Leben noch blieb. Sie würde sich für sie engagieren.

Wie genau das alles aussehen sollte, das war ihr im Moment noch nicht klar. Aber sie wollte etwas dafür tun, damit für diese Kinder das Leben ein bisschen besser wurde.

So motiviert ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie ließ den Rechner hochfahren und suchte im Netz nach Organisationen, die sich für kranke oder benachteilige Kinder einsetzten.

 

Lethargie

 

Er lag auf seinem Sofa und starrte an die Decke. Natürlich war er nicht in die Dienststelle gefahren, dort erwartete man ihn ja gar nicht. Er hatte Paula angelogen, weil er in ihrem Haus plötzlich keine Luft mehr bekommen hatte.

Und dann der Schmerz um den Verlust seiner treuen Weggefährten. Mit niemandem hatte er darüber sprechen können, bis heute. Aber auch danach fühlte es sich nicht wesentlich besser an. Tiere konnten einem so sehr ans Herz wachsen. Viel mehr als Menschen manchmal. Sie liebten einen bedingungslos. Von Menschen erwartete er das schon lange nicht mehr.

Wie würde es jetzt mit ihm und Paula weitergehen? Den Gedanken, dass sie irgendwann einmal ein Paar werden könnten, hatte er spätestens in dem Moment begraben, als er erfahren hatte, dass sie mit seinem Kollegen irgendwo draußen in der Pampa gevögelt hatte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so war, es war einfach nur ein Mann gewesen, hatte sie gesagt. Ja, so einfach waren zwischenmenschliche Beziehungen wohl für sie. Sie saugte die anderen aus, nahm sich, was sie brauchte und ging über zur Tagesordnung. War sie überhaupt zu wahren Gefühlen fähig? Er gestand sich ein, dass er sie seitdem mit einer gewissen Distanziertheit betrachtet hatte. Und vielleicht war sogar Eifersucht im Spiel dabei. Ganz sicher sogar. Denn es gab da immer noch ganz tief in ihm drinnen dieses Kribbeln, wenn er sie sah. Vielleicht würde es nie vergehen. Gerade dann, wenn seine Sehnsucht nie gestillt wurde. Wie gerne wäre er manchmal einfach irgend so ein Kerl gewesen, dem sie sich hingab. Nicht immer nur der gute verständnisvolle Freund. Schließlich war er auch nur ein Mann.

Durch diese Grübeleien war er schläfrig geworden und in die Welt der Träume hinübergeglitten.

 

Es schrillte. Schlaftrunken blickte er um sich und musste weiter zu sich kommen, um zu wissen, wo er überhaupt war und warum. Er lag zu Hause auf dem Sofa. Und dabei war es noch gar nicht dunkel draußen. Das Telefon trommelte weiter erbarmungslos in seinen Ohren, bis er schließlich abnahm.

»Ja?«

»Frahn«, sagte eine ihm vertraute Stimme, »du musst sofort kommen. Es ist etwas Furchtbares passiert.«

Er hörte zu und was er vernahm, ließ ihn wahrlich den Atem anhalten. Er notierte sich die Adresse des Tatorts und machte sich alsbald auf den Weg.

Dass die Dämmerung schon eingesetzt hatte, machte das Szenario, das ihn empfing, um noch einiges düsterer. Drei Krankenwagen, ein Sanitäter und zahlreiche Dienstwagen sendeten ihr blaues Licht in den grau wirkenden Himmel. Die nahegelegenen Bäume, die das Feld umringten, standen wie Wächter dort, um das Grauen in Schach zu halten.

Frahn ging unter dem Absperrband hindurch und watete durchs hohe Gras der ungemähten Wiese. Mitten auf einem Feld, hatte die Kollegin gesagt. Ein Bauer, der in den späten Nachmittagsstunden noch einmal nach seinem Vieh nur wenige Äcker weiter hatte sehen wollen, habe sie entdeckt, weil Vögel über ihnen kreisten.

Dann ließ es sich nicht mehr weiter hinauszögern. Frahn war am Tatort, der großzügig mit rotweißem Flatterband abgesperrt worden war, angekommen. Grelle Scheinwerfer ließen ihm keinen Ausweg. Er musste jetzt auf eine niedergemetzelte Familie blicken. So jedenfalls sah es im ersten Moment aus. Eine Frau, ein Mann und drei jugendliche Kinder. Sie lagen in einem wilden Knäuel beieinander. Überall Blut. Sehr viel Blut. Jemand musste sie mit einem größeren Messer so übel zugerichtet haben, dass große klaffende Wunden wie ein stummer Schrei wirkten, doch endlich mit dem innezuhalten, was da geschehen sein musste.

Soviel nackte Gewalt hatte Frahn schon lange nicht mehr gesehen. Wenn überhaupt. Die Kinder waren das Schlimmste. Ihre Gesichter wirkten verzerrt, so, als hätte ihnen jeder Messerstich von neuem große Qualen bereitet. Es musste wohl lange gedauert haben, bis sie endlich vom Tod erlöst worden waren.

»Mein Gott«, sagte Frahn an einen Sanitäter gewandt, der gerade seine Sachen zusammenpackte, weil er hier jetzt nicht mehr gebraucht wurde.

»Wer tut so etwas?«, murmelte der recht junge Mann, dem die Sache ordentlich zuzusetzen schien.

»Das muss ein Unmensch gewesen sein«, antwortete Frahn, weil ihm nichts Besseres einfiel. Aber er wollte den Sanitäter auch nicht mit seiner Sorge alleine lassen, und bot ihm wenigstens diese Erklärung an.

»Ein Monster«, sagte der junge Mann und nahm seine Tasche und ging davon.

Ja, dachte Frahn, das muss ein Monster gewesen sein, der kleine Kinder einfach so abschlachtet. Da war die Frage nach dem Warum schon beinahe nebensächlich. Würde er ihm, diesem Unmenschen oder Monster, hier und jetzt gegenüberstehen, er könnte für nichts mehr garantieren. So jemand, der hatte den Tod verdient, auch wenn er als Polizist nicht so denken durfte.

Jemand machte Fotos aus allen erdenklichen Perspektiven von diesem Szenario des Grauens. Frahn war sich nicht sicher, ob er sich diese jemals würde ansehen können. Jedenfalls nicht freiwillig. Doch als Ermittler blieb ihm keine andere Wahl. Wen mochte es zuerst getroffen haben, fragte er sich. Und war es hier geschehen? Vieles deutete darauf hin. Denn die Schuhe der Kinder lagen teilweise verstreut herum. Und dann das ganze Blut. Während der oder die Täter, nein, eigentlich mussten es mehrere gewesen sein, als also die Täter sich über das erste Opfer hermachten, mussten die anderen zugesehen haben. Ein furchtbarer Gedanke, dass ein Vater oder eine Mutter sah, wie dem eigenen Kind ein Messer in den Körper gerammt wurde, während es um Hilfe schrie. Da war es ja wirklich schon beinahe ein Segen, dass alle tot waren. Wer hätte mit so einem Erlebnis weiterleben wollen?

Paula kam ihm in den Sinn. Nein, eigentlich stimmte das gar nicht. Sie war immer in seinem Kopf. Bestimmt würde es nicht lange dauern, bis sie von den grausigen Mordfällen im Internet las. Doch er bezweifelte, dass es bei ihr eine derartige Wirkung hatte wie beim ihm. Sie war in ihrem Schmerz um Philipp gefangen. Deshalb machte er sich jetzt auch keine allzu großen Sorgen um sie. Er musste jetzt herausfinden, wer diese Monster gewesen waren, die eine Familie ausgelöscht hatten.

Er sprach noch kurz mit dem Gerichtsmediziner und den Kollegen von der Spurensicherung, bevor er sich vom Tatort mit gemischten Gefühlen entfernte. Er hatte bis hierher alleine gearbeitet, weil es schlichtweg nicht möglich gewesen war, ihm bis heute einen neuen Kollegen oder eine Kollegin an die Seite zu stellen. Es war nicht leicht, die jungen Aspiranten für Ostfriesland zu begeistern. Bei den älteren erfahrenen Kollegen war es noch schwieriger geworden. Aber es war unmöglich, dass er diesen Fall alleine löste. Also entschied er sich doch dafür, zunächst einmal zu Paula zu fahren. Er musste mit jemandem über die Sache reden.

Das Institut

 

Wie jeden Tag um diese Zeit saß Hella Brandner an ihrem PC und kümmerte sich um das Schicksal vieler Familien. Aus einer kleinen Idee war etwas ganz Großartiges geworden. Zweifellos. Doch es machte auch jede Menge Arbeit, jedem gerecht zu werden. Das »Kinderland« hatte mittlerweile über fünftausend Mitglieder und viele spendable Gönner, die gar nicht genannt werden wollten. Keine Frage, finanziell lief es gut.

Das Kinderland kümmerte sich um die Schwächsten der Gesellschaft, das kam gut an. Angefangen hatte alles, als Hella Brandner die Idee hatte, zu Ostern eine Aktion für Kinder ins Leben zu rufen. Damals war gerade ihre älteste Tochter ausgezogen, um zu studieren. Deshalb hatte Hella nach einer neuen Aufgabe für sich gesucht. Und engagiert für andere, das hatte sie sich schon immer. Über zehn Jahre war das jetzt her. Ihr Alltag bestand nun darin, als Leiterin vom Kinderland zu fungieren. Sie verwaltete damit ein Vermögen von über fünfhunderttausend Euro. Das Geld wurde für Dinge eingesetzt, die Kindern zugutekamen. Mal profitierte ein Kinderheim, mal eine Jugendeinrichtung.

Um sich herum installierte sie nach und nach einen Stab von zahlreichen Mitarbeitern, die sich um Anfragen und Aktionen kümmerten. Alles ließ sich wirklich nicht mehr ehrenamtlich erledigen. Das konnte man von niemandem verlangen, der praktisch vierundzwanzig Stunden im Einsatz war für die gute Sache. Und auch Hella hatte zugestimmt, sich selber ein Gehalt zu zahlen, wenn auch widerwillig. Schließlich war es ihr pragmatischer Mann gewesen, der sie überzeugte. Es sei ja schön und gut, hatte er gesagt, dass sie etwas für andere tun wollte. Aber sie müsse auch an sich und das spätere Leben denken, wenn sie nicht mehr so fit war. Wovon wollte sie da leben? Er hatte zwar eine Lebensversicherung für sie abgeschlossen, doch er bestand darauf, dass sie auch selber für sich sorgte. Die Zukunft konnte schließlich niemand voraussehen.

Oh nein, dachte Hella Brandner nun, als sie die Mail einer Anwaltskanzlei in ihrem Postfach entdeckte. Nicht schon wieder ein monatelanger Rechtsstreit, der an ihren Kräften zehrte und letztlich zu nichts führte. Immer wieder kam es vor, dass skrupellose Menschen versuchten, das Kinderland zu diskreditieren und daraus Kapital zu schlagen. Mit sinnentleerten Vorwürfen traten Anwälte an das Kinderland heran und forderten Schadenersatz.

Es half ja nichts, dachte Hella, besser, sie las die Nachricht jetzt, bevor sie sich den ganzen Tag mit Magenschmerzen herumquälte vor lauter Sorge. Also klickte sie die Nachricht an, überflog sie kurz noch einmal und war dann schließlich angenehm überrascht. Und irgendwie auch misstrauisch.

Da bot ihr doch tatsächlich eine Anwältin kostenlos ihre Unterstützung an. Was konnte dahinter stecken? Reine Gutmütigkeit vermochte Hella nach allem, was sie mit Anwälten schon erlebt hatte, auf den ersten Blick nicht mehr darin zu erkennen. Da musste es einen Haken geben. Und doch, es gab da einen Satz in dieser Nachricht, der sie aufhorchen ließ. Diese Frau, Paula Fenders, sie hatte erst vor kurzem ihren Sohn verloren, schrieb sie, und nun suche sie nach einer sinnvollen Aufgabe. Deshalb habe sie sich entschieden, etwas für Kinder zu tun.

Hella Brandner tat so etwas nicht gerne, aber jetzt googelte sie erst mal den Namen dieser Frau. Und tatsächlich gab es Berichte über sie. Veraltete über einen Entführungsfall, der in jüngerer Zeit zu einem guten Ende geführt hatte. Sie hatte ihren Sohn zurückbekommen, der vor Jahren entführt worden war. Hella versuchte es sich vorzustellen, dieses Gefühl, wenn das eigene Kind plötzlich spurlos verschwunden war. Sie mochte gar nicht daran denken. Und dann war der Junge wieder da gewesen. Was musste das für ein Glücksmoment für eine Mutter sein. Und dann das. Vor einigen Monaten war Philipp, so hieß der Junge, gestorben. Eine Welt, so titelte eine Zeitung, war für die bekannte Anwältin Paula Fenders zusammengebrochen.

Hella fragte sich, ob es wirklich ratsam war, so eine Frau, die so viel Leid durchgemacht hatte, mit den Belangen von Kinderland zu betrauen. Sicher, sie meinte es bestimmt aufrichtig, als sie ihre Hilfe anbot. Aber es war auch klar, dass so ein Schicksal nicht spurlos an einem vorbeiging. Was war, wenn sie psychisch angeschlagen war und am Ende doch nur Ärger dabei herauskam. Noch mehr, als sowieso schon. Hella klickte sich weiter durch diverse Artikel, weil sie sich einfach nicht sicher war, was sie tun sollte. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung war dann ein Foto aus einem Bericht, wo diese Anwältin einer anderen Frau, deren Kind auch entführt worden war, zur Seite gestanden hatte. Das nahm Hella dann doch für diese Fremde ein, die sie im Grunde ja für sie war. Bevor sie es sich noch anders überlegte, tippte sie eine nett formulierte Antwort mit der Einladung zu einem Gespräch bei einer Tasse Kaffee. Hella setzte auch gleich zwei Daten zur Wahl mit ein, das machte die Sache oft einfacher, hatte sie gelernt. Anschließend druckte sie die Mail für sich aus und legte sie in einen grünen Postkorb für die Dinge, die noch zu erledigen waren.

 

Völlige Leere

 

Sein Wagen rollte durch die Landschaft und er hatte nicht das Gefühl, dass er ihn beeinflussen konnte. Viel zu sehr war Frahn in seine Gedankenwelt verstrickt. Er war auf dem Weg zu Paula und immer wieder blitzten die Eindrücke des Tatorts vor seinem inneren Auge auf. Er musste die Monster finden. Diese Unmenschen. Wie konnte man so etwas nur tun? Und immer war noch nicht klar, wer diese Familie eigentlich gewesen war. Es gab keinen Ausweis, nicht einmal bei den Eltern. Kein Papier in den Taschen, was auch nur als kleinster Anhaltspunkt bei der Identität hätte hilfreich sein können. Auch der Bauer, der die Toten auf seinem Feld entdeckt hatte, konnte nichts über ihre Identität sagen. Nein, er hätte sie noch nie hier in der Gegend gesehen, hatte er gemeint, als Frahn ihn dazu befragte. Und eigentlich sei das schon komisch, wo hier doch jeder jeden kenne. Urlauber, hatte er dann schließlich eingeräumt, das sei schon eine Möglichkeit, mit denen habe er ja nie etwas zu tun.

Deshalb hatte Frahn einen Kollegen gebeten, sich in der Gegend bei den Ferienhäusern, Hotels und Campingplätzen umzuhören. Vielleicht brachte es sie ja weiter. Solange man nicht wusste, wer die Toten waren, wurde es auch schwer, nach einem Motiv oder einem Täter zu suchen.

Plötzlich stand er vor Paulas Haus und stellte den Wagen ab. Sie kam kurz darauf nach draußen vor die Tür, weil sie ihn wohl gehört hatte. Fragend blickte sie ihn mit verschränkten Armen an, als er aus dem Wagen stieg.

»Ist etwas passiert?« Sie versperrte ihm die Tür, vielleicht nicht einmal absichtlich.

»Ja«, sagte er und nickte. »Eine tote Familie.«

Das machte sie betroffen und neugierig zugleich.

»Ich mach uns einen Kaffee«, sagte sie und ging voraus ins Haus.

Frahn bemerkte, dass die Katzen wieder da waren. Ein gutes Zeichen, dass es ihr wieder besser zu gehen schien. Ein kurzer Blick in die Küche. Da standen verschiedene gefüllte Näpfe auf dem Boden. Gott sei Dank.

»Setz dich doch schon ins Wohnzimmer«, bot sie an, als sie in die Küche ging.

Der PC blinkte, sie hatte gearbeitet. Das freute ihn, dass sie dazu wieder in der Lage war. Von der toten Familie schien sie aber noch nichts gelesen zu haben. Sowas machte ja heutzutage in den Onlinemedien blitzschnell die Runde. Eigentlich ließ sich nichts mehr erst einmal bearbeiten oder verdauen, sinnierte er. Die Öffentlichkeit war wie ein Fluch für seine Arbeit geworden. Immer hatte er das Gefühl, den vielen Menschen dort draußen, die an den Bildschirmen hingen, hinterherzulaufen, ihnen etwas schuldig zu sein. Die Menschheit wollte heutzutage unterhalten werden. Auch mit Mord, wenn es sein musste.

 

Was will er hier schon wieder?, fragte sich Paula, die an die Küchenzeile lehnte, während der Kaffee durchlief. Eigentlich war sie sogar froh gewesen, als er ging. Er musste arbeiten. Warum also saß er nicht in seiner Dienststelle und tat es verdammt nochmal auch. Sie hatte keine Lust auf ermordete Familien, soviel stand fest. Und eigentlich hätte ihm das auch klar sein müssen. Und trotzdem war er sofort wieder zu ihr gekommen. War es gar nicht sie, die man aufpäppeln musste, sondern er? Sie konnte ihm dabei aber nun wirklich nicht helfen. Sie hatte mit ihren eigenen Sorgen genug zu tun. Das klang egoistisch, doch er selber hatte ihr ja dazu geraten, auch mal an sich zu denken. Und das tat sie jetzt. Am liebsten hätte sie es ihm hier und jetzt gleich ins Gesicht gesagt, dass er gehen sollte. Natürlich tat sie es nicht, sondern schenkte Kaffee in zwei Becher, mit denen sie dann rüber zu ihm ins Wohnzimmer ging.

So, wie er da jetzt auf dem Sofa saß, da tat er ihr leid.

»Hier.« Sie reichte ihm einen Becher und setzte sich selber wieder an ihren Schreibtisch. »Eine Familie also.«

Er nickte. »Es wundert mich, dass du davon noch gar nichts online gelesen hast. Die öffentlichen Heuschrecken machen sich doch immer gleich über so etwas her.«

»Nein, hab ich nicht.« Sie nippte an ihrem Kaffee und stellte den Becher dann ab. »Du hast mir ja den Rat gegeben, mich um mich selber zu kümmern. Schon vergessen?«

»Du arbeitest wieder?«, stellte er eine Gegenfrage.

Sie schüttelte mit dem Kopf. »Nein, so kann man das glaube ich nicht nennen. Aber ich habe mich entschlossen, etwas Gutes zu tun. Für Kinder, weißt du ...«. Sie musste schlucken, weil das Gefühl für Philipp wieder in ihr hochstieg.

»Das ist bestimmt eine gute Idee«, half er ihr über die Brücke. »Woran denkst du denn dabei?«

»Ach, es gibt da so eine Institution, die heißt Kinderland. Sie setzen sich für alles Mögliche ein, damit es Kindern besser geht.«

»Das klingt gut«, erwiderte Frahn, »Kindern sollte es gut gehen in unserem Land. Wofür sonst steht man denn noch jeden Tag auf?«

Der Fall muss hart für ihn sein, dachte Paula. So deprimiert klang er sonst nicht. Ob ihm auch seine Hunde fehlten? Das erste Mal überhaupt dachte sie darüber nach, dass er jetzt ja wirklich ganz alleine war. Vielleicht sogar einsam. Und da setzte sie ihn praktisch vor die Tür und schloss ihn aus ihrem Leben aus. Das war nicht fair gewesen.

»Du tust alles, was du kannst, damit diese Welt eine bessere wird«, sagte sie, um ihn aufzumuntern. »Aber was genau ist denn eigentlich passiert?«

»Ein Bauer hat eine Familie auf seinem Grünland entdeckt, sie wurden praktisch abgeschlachtet.«

Bei dem letzten Wort zuckte Paula kurz zusammen.

»Tut mir leid«, sagte Frahn, der das Zucken um ihre Mundwinkel mitbekommen hatte. »Aber es ist ein wirklich ganz furchtbarer Anblick gewesen. Ich hoffe, dass davon keine Bilder im Netz kursieren werden. Schließlich klicken sich auch Kinder und Jugendliche da ein.«

»Das ist sicher so ...«.

Er schilderte ihr in abgemilderter Wortwahl, was sich augenscheinlich zugetragen hatte.

»Und keiner weiß, wer diese Leute sind?«, fragte Paula nach.

»Im Moment jedenfalls noch nicht. Sie trugen keine Papiere bei sich. Und wir können kaum Bilder von ihnen machen, um nach ihrer Identität zu fahnden. Das würde die Leute eher abschrecken, denn zur Mithilfe animieren.«

»Du fragst dich jetzt also, wie du herausfinden könntest, wer diese Familie war, richtig?« Paula hatte wieder zu sich gefunden.

»Ja, so ist es.«

»Aber wie sollte ich dir dabei helfen können?«

»Das weiß ich nicht. Ehrlich gesagt, ich musste einfach mit jemandem reden, nach dem Anblick.«

»Schon gut«, bestätigte sie, dass er richtig gehandelt hatte und sie es ihm nicht übel nahm. »Irgendjemand wird sie vermissen, soviel steht fest.«

»Wieso?«

»Na ja, die Kinder sind noch schulpflichtig, wenn ich dich richtig verstanden habe. Also bleiben drei Stühle in den Schulen hier in Ostfriesland ab morgen leer. Das muss doch auffallen, ich meine, wenn drei Kinder einer Familie nicht mehr kommen und sie keiner krankmeldet.«

»Du hast recht«, bestätigte Frahn. »Das ist ein erster Anhaltspunkt. Und wenn man davon ausgeht, dass auch der Vater irgendwo beschäftigt war, um seine Familie zu ernähren, dann wird sich das Unternehmen ebenso wundern, wenn er nicht zur Arbeit erscheint.«

»Ein altes Klischee, das noch immer funktioniert«, sagte Paula mehr zu sich selbst. Im Grunde würde sie es ja genauso angehen, wenn sie Ermittlerin wäre. Die Menschen dachten immer noch in diesen Schubladen, auch wenn es immer mehr Frauen gab, die auf den Arbeitsmarkt drängten. Oder gedrängt wurden. So jedenfalls war manchmal ihr Eindruck, wenn sie online von den vielen Programmen las, die von der Regierung aufgelegt wurden, um Frauen die abhängige Beschäftigung schmackhaft zu machen. Oft allerdings handelte es sich dabei eher um Teilzeitbeschäftigungen, wenn man die Realität betrachtete. So etwas würde keiner Frau helfen, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen.

»Du hast recht«, sagte er in ihre Überlegungen hinein. »Aber bei drei Kindern bleibt sicher meistens die Frau zuhause, um sie zu versorgen.«

Ich würde es tun, wenn ich noch einmal die Gelegenheit bei Philipp hätte, dachte Paula und wieder zog sich ihr Herz zusammen. Sie war damals als Anwältin tätig gewesen und hatte eine Kinderfrau beschäftigt. Wäre sie wie eine normale Mutter gewesen, dann wäre das alles mit Philipp vielleicht gar nicht passiert. Doch sie wollte jetzt alles andere, als darüber nachzudenken. Also ging sie in die Offensive, um Frahn zu unterstützen.

»Dann lass uns doch eine Aufstellung von allen Schulen hier im Umkreis machen«, schlug sie vor, »und morgen früh hängst du dich gleich mit deinen Kollegen ans Telefon, um nach Kindern zu fragen, die nicht erschienen sind.«

»Das ist eine gute Idee«, stimmte er zu. Und das erste Mal an diesem Tag gelang es ihm, das Bild der blutverschmierten Wiese aus seinem Kopf zu verbannen. Wenn er mit Paula zusammen sein konnte, dann wurde vieles erträglicher.

 

Sie brauchten über zwei Stunden, um auch wirklich die letzte Dorfschule in dem entlegensten Winkel in Ostfriesland zu erfassen. Eine Liste von drei Seiten mit vielen Telefonnummern.

»Ich könnte uns etwas zu essen machen«, schlug Paula mit hochrotem Kopf vor. »Dazu ein schöner Rotwein. Was meinst du?«

Er zögerte, bevor er antwortete. Sie kam ihm zuvor.

»Am besten, du bleibst einfach über Nacht hier. Dann musst du dir auch keine Sorgen über den Alkohol beim Fahren machen.«

Das Argument leuchtete ihm ein und er nickte. »Aber dann kümmere ich mich um das Essen. Du hast schon so viel getan.«

»Da werde ich dir nicht widersprechen«, sagte sie, »ich meine, du weißt, wie ungerne ich koche.«

Er lächelte und sie wandte sich wieder ihrem PC zu.

Es gab tatsächlich schon eine Antwort, dachte sie erstaunt, als sie die Nachricht von einer gewissen Hella Brandner vom Kinderland öffnete. Man freue sich sehr über ihr Angebot und lüde zu einer Tasse Kaffee ein. Bevor Paula es sich noch überlegen konnte, weil sie eigentlich nicht so gerne aus dem Haus ging, antwortete sie und suchte sich einen Termin am übernächsten Tag aus.

 

Der letzte Abend

Es war gemütlich warm im Wohnwagen und Henriette Klaver war gerade mit dem Abwasch fertiggeworden.

---ENDE DER LESEPROBE---