Frieslandkrimi Sammelband 5 - Moa Graven - E-Book

Frieslandkrimi Sammelband 5 E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

Frieslandkrimi Sammelband mit den Krimis DAS GLASMURMELSPIEL mit Joachim Stein, Mona Lu und Hauke in Friesland! Mona Lu verdaut wieder mal die Trennung von Hauke. Dieses Mal soll es wohl endgültig sein. Auch Stein versucht, sein Leben zu ändern. Und dann kehrt eine Frau an die Stätte ihrer Kindheit in Horumersiel zurück, um dort mit ihrer Familie zu leben. Ein schöner Plan, der von einem grausigen Fund im Garten durchkreuzt wird. Ein dunkles Geheimnis, das nun ans Licht kommt, als Mona Lu in der Sache ermittelt. Und ein Glasmurmelspiel zieht sich wie ein roter Faden durch die Vergangenheit. DER RUF DES KALTEN VOGELS mit Joachim Stein, Mona Lu und Hauke in Friesland! Das geht unter die Haut! Der neue Fall für Joachim Stein, Mona Lu und Hauke in Friesland! Mona Lu lebt jetzt alleine in ihrem Haus. Eines Abends, als sie auf ihrem Sofa vor dem Fenster sitzt, sieht sie einen größeren Hund über das Feld rennen. Er kommt direkt auf sie zu. Sie lässt ihn ins Haus und eine Freundschaft beginnt. Da weiß sie noch nichts von dem alten Mann, der in der Nähe eines Waldes wohnt und die Wildtiere versorgt. Das ändert sich schon bald, als dieser Mann eine Leiche im Wald entdeckt. Mona Lu nimmt die Ermittlungen auf, die sich immer weiter zuspitzen, bis sie schließlich einen Serienkiller jagt.

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Impressum
Das Glasmurmelspiel
Damals
Heute
Der Einzug
Das Abendessen
Gartenarbeit
Im Einsatz
In der Mühle
Milena
In der Dienststelle
Was verschweigt Milena?
Stein
Die Befragung
Endlich Antworten
In der Mühle
Reise in die Vergangenheit
Stein und Mona Lu
Wer das Schweigen bricht
Frieda
Ein neues Kapitel
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
LESEPROBE aus „EVA STURM Verlorenes Vertrauen“ Ostfrieslandkrimi von Moa Graven
Der Ruf des kalten Vogels
In die Zukunft sehen
Im Wald
In der Mühle
Runner
In der Mühle
Im Hotel
Hohe Tannen
Die alte Eiche
Kellerspiele
Runner allein zuhause
In der Mühle
In der Dienststelle
Im Baumarkt
So leise der Tod
Bei Mona Lu
Peter Langner
Zuhause
Der Vater
Unter Verdacht
Die Festnahme
Der Vogel
Versagerin
Michael Werner Brunkhorst
Noch einmal von vorne
Verhaftet
Warum etwas geschieht
Endlich zuhause
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Ein Rezept, das auch Joachim Stein aus den Frieslandkrimis gerne kocht!
Zur Autorin
Die Reihe mit Joachim Stein in Friesland
Die Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
LESEPROBE aus
„EVA STURM Rosen auf ihrem Grab“
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

Frieslandkrimi

Sammelband mit Joachim Stein,

Mona Lu und Hauke in Friesland

 

Das Glasmurmelspiel

und

Der Ruf des kalten Vogels

 

Von Moa Graven

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis, die sie in ihrem eigenen Verlag herausbringt. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann.

 

Impressum

Frieslandkrimi Sammelband mit den Krimis Das Glasmurmelspiel und Der Ruf des kalten Vogels aus der Reihe Joachim Stein in Friesland

von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn

April 2023

Umschlaggestaltung: Moa Graven

 

Man muss nicht klug sein,

um alles richtig zu machen.

Man braucht nur

das Herz am richtigen Fleck.

 

Moa Graven

Das Glasmurmelspiel

Zum Inhalt

Mona Lu verdaut wieder mal die Trennung von Hauke. Dieses Mal soll es wohl endgültig sein. Auch Stein versucht, sein Leben zu ändern. Und dann kehrt eine Frau an die Stätte ihrer Kindheit in Horumersiel zurück, um dort mit ihrer Familie zu leben. Ein schöner Plan, der von einem grausigen Fund im Garten durchkreuzt wird. Ein dunkles Geheimnis, das nun ans Licht kommt, als Mona Lu in der Sache ermittelt. Und ein Glasmurmelspiel zieht sich wie ein roter Faden durch die Vergangenheit.

Damals

Die Oma hatte sie heute hübsch gemacht. Milena trug das rote Baumwollkleid mit weißer Spitze. Dazu ihre weichen Locken, die die Großmutter in spielende Wellen gekämmt hatte.

„Mach dich nur nicht schmutzig“, rief die Großmutter dem Mädchen nach, als es nach draußen ging zum Spielen. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet. Die Schaukel war nass, und doch setzte sich Milena darauf und genoss den Wind in ihrem Haar, als sie immer höher stieg. Die Sonne kam durch die Wolken hervor und kitzelte ihre Nase. Es war ein besonderer Tag. Es war Milenas sechster Geburtstag. Heute sollte alles Mal so richtig schön sein, hatte die Oma gesagt, als sie den Kuchen in den Ofen schob. Schon bald darauf duftete es herrlich nach warmem Teig in der Küche.

Als Milena keine Lust mehr zum Schaukeln hatte, ging sie in den kleinen Schuppen neben dem Haus. Dort hatte der Großvater immer seine Geheimnisse aufbewahrt. Bisher hatte noch niemand sich getraut, hier aufzuräumen, nachdem er vor fast einem Jahr kurz nach ihrem fünften Geburtstag ganz plötzlich verstorben war. Milena hatte viel geweint um den Mann mit den immer roten Wangen und dem verschmitzten Lächeln, wenn er sie mit einem Fingerzeig in seine Werkstatt, wie er den Schuppen nannte, gelockt hatte, um ihr etwas Schönes zu zeigen. Sie hatten viel zusammen gebastelt. Von ihm hatte Milena bestimmt ihr handwerkliches Geschick geerbt. Als letztes hatte sie einen Vogel aus einem Stück Holz geschnitzt, den sie stolz ihren Freunden präsentiert hatte.

Sie stöberte in einem verstaubten Metallkasten herum. Darin lagen verschiedene Schlüssel, einige hatten schon Rost angesetzt. Und dann war da noch ein kleiner Beutel aus rotem Stoff. Und als Milena ihn zwischen die Finger nahm, da erinnerte sie sich daran, was darin war. Sie zog das weiße Band auf und öffnete den Beutel. Die alten Glasmurmeln vom Großvater. Sie hatte lange danach gesucht im Haus, als er verstorben war. Woher hätte sie auch wissen sollen, dass er diesen wunderbaren Schatz auch im Schuppen versteckt hatte. Dafür waren sie doch eigentlich viel zu kostbar. Milena nahm eine Glasmurmel mit bunten kleinen Dreiecken, die darin eingefroren zu sein schienen, in die Hand. Du darfst sie niemals in den Mund nehmen, hatte der Opa ihr immer eingebläut, das ist sehr gefährlich. Ja, er fehlte er ihr sehr. Sei mochte ihre Oma auch, aber mit ihr gab es nicht so viele schöne Abenteuer für Milena. Die Oma zeigte ihr, wie man abwusch, wie man kochte und sich um die Wäsche kümmerte. Das sei wichtig, sagte sie immer. Sonst bekäme Milena am Ende keinen Mann ab, wenn sie zu dumm wäre, einen Haushalt zu führen. Dafür wurde die Oma immer von Milenas Mutter gescholten. Die Zeiten änderten sich doch, auch ein Mädchen müsse einen ordentlichen Beruf lernen.

Milena hatte sich auf eine Holzkiste gesetzt und hielt eine Glasmurmel nach der anderen gegen das Licht der Sonne, das durch das kleine Fenster im Schuppen hereinschien. Eine Murmel war schöner als die andere. Sie würde sie mit auf ihr Zimmer nehmen, dachte sie. Und niemand sollte davon erfahren. Sie waren nun ihr ganz besonderes Geheimnis, das sie mit Opa teilte.

Plötzlich horchte das Mädchen auf. Laute Stimmen drangen aus dem Haus der Oma zu ihr herüber. Das machte Milena sehr traurig. Sie mochte nicht, wenn Oma und Mama sich stritten. Und heute war doch ihr Geburtstag. Sie verhielt sich ganz still, bis der Lärm im Haus vorbei schien. Dann hörte sie die Mutter nach ihr rufen.

Heute

Mona Lu war spät dran an diesem Morgen. Seitdem sie wieder alleine in ihrem Haus lebte, hatte sich auch ihr Tagesrhythmus verändert. Vorbei die langen Abende, wenn sie und Hauke erst spät nach Hause kamen und noch bis weit in die Nacht hinein Rotwein tranken und quatschten. Es war still geworden in ihren vier Wänden. Abends aß sie manchmal etwas, oft auch nicht. Später trank sie noch ein Glas Rotwein oder zwei, während sie aus dem Fenster über das weite Feld sah. Doch spätestens gegen elf Uhr war sie immer im Bett verschwunden, zog sich die Decke über den Kopf und schlief auch schnell ein. Und meistens wachte sie dann gegen drei Uhr in der Nacht wieder auf und konnte nicht mehr schlafen. Sie grübelte einfach zu viel. Über sich, ihr Leben, warum es mit Hauke einfach nicht funktionierte. Lauter solche Gedanken hielten sie wach, weil sie keine Lösung dafür fand, wie sie es schaffen sollte, einfach mal ein zufriedenes Leben zu führen. Meistens schlief sie dann gegen fünf Uhr wieder ein, was dann dazu führte, dass sie den Wecker, den sie immer auf sieben Uhr stellte, überhörte.

Nun eilte sie über die schmale Straße im Ort von Horumersiel, um noch beim Bäcker vorbeizugehen, wo es die leckersten belegten Brötchen gab. Das würde für den Tag reichen und am Abend wollte sie sich einen Nudelauflauf machen. Sie hatte da ein Rezept entdeckt mit vielen Gemüsesorten und vor allem Schärfe. Ihr Leben brauchte endlich mehr Pep. Plötzlich allerdings blieb sie wie angewurzelt stehen, weil sie glaubte, ihre Augen spielten ihr einen Streich. War das wirklich Stein, der dort in einem Café saß und in einer Zeitung blätterte, während er Kaffee trank. Sie rieb sich übers Gesicht, so halb verschlafen, da konnte man sich ja schon mal täuschen. Sie ging näher an das große Fenster heran. Kein Zweifel, er war es wirklich.

Sie beschloss, hinzugehen, um ihn zu fragen, ob etwas passiert war oder er vielleicht auch nur normal geworden sei.

„He“, sagte sie, als sie an seinem Tisch stand und er sie nicht zu bemerken schien. Er blickte auf.

„Mona Lu?“ Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. „Was machst du hier?“

„Hm, das wollte ich eigentlich dich fragen“, gab sie zurück. „Darf ich mich setzen?“

„Aber natürlich.“ Er zog ihr einen Stuhl hervor. Sie nahm Platz und löste ihren Schal und zog ihn langsam von sich und legte ihn über die Stuhllehne. „Sicher wunderst du dich, mich hier zu sehen“, fuhr er amüsiert mit den Augen blinzelnd fort.

„Wundern ist sicher die Untertreibung des Tages“, meinte sie, „hast du deinen Schwur, am Tag nie einen Fuß vor die Tür zu setzen, gebrochen?“ Nun lachte auch sie.

„Tja, so könnte man sagen“, erwiderte er, „und ehrlich gesagt, ich kann es dir gar nicht erklären, was mich dazu bewogen hat, hierher zu gehen. Es war so ein diffuses Gefühl, dem ich einfach gefolgt bin.“

„So lande ich wohl auch jeden Morgen in der Dienststelle“, klagte sie und gähnte ausgiebig.

„Keinem anderen gegenüber würde ich jemals meine Gedanken dazu äußern“, fuhr Stein fort, „das ist dir hoffentlich bewusst.“

„Keine Sorge, ich erzähle es niemandem“, versicherte sie und fügte in Gedanken hinzu, dass ihr sowieso niemand glauben würde, dass sie mit einem Mann befreundet war, der ein Problem damit hatte, anderen Menschen zu begegnen. Der sich lieber zurückzog, zuhause auf dem Sofa saß und las oder einfach Löcher in die Luft starrte und grübelte. Er führte ein Leben, das sie als luxuriös beschrieben hätte. Aber ganz sicher nicht als verrückt.

„Möchtest du auch frühstücken?“ Er wies auf seinen Teller, wo noch ein halbes Brötchen mit Käse und ein Croissant bestrichen mit Erdbeermarmelade lag.

„Warum eigentlich nicht“, sagte sie und er winkte nach der Bedienung und bestellte dasselbe, was er hatte, für sie noch einmal.

„Wie geht es dir denn?“, fragte er, als sie wieder für sich waren. Er sah sie direkt an, die Zeit der Floskeln war vorbei.

„Naja, geht so“, erwiderte Mona Lu zaghaft.

„Fühlt sich bestimmt komisch für dich an, so alleine in dem Haus ...“. Er sah zum Fenster, um ihr Zeit für die Antwort zu geben.

„Ja, das stimmt“, gab sie zu, „komisch und auch irgendwie befreiend.“

„Dann war deine Entscheidung, dich endgültig von ihm zu trennen, wohl richtig gewesen.“

„Am Ende wollten wir es wohl beide“, fuhr sie fort, „ich bin ein Mensch, der anderen nicht zuzumuten ist.“ Sie seufzte auf und sah ebenfalls zum Fenster. Es waren einige Passanten unterwegs, die deutlich als Urlauber durch ihr Äußeres auszumachen waren.

„Warum sagst du so etwas?“

„Bitte, jetzt keine Psychoanalyse“, wehrte sie ab, „ich muss gleich zum Dienst, da möchte ich nicht über so etwas nachdenken müssen.“

„Okay, wir können auch über etwas anderes sprechen.“ Er sah sie wieder an. „Hast du einen Fall?“

„Momentan nicht“, ging sie dankbar auf den Themenwechsel ein. „Alles ziemlich ruhig für einen Sommer. Aber die Saison ist ja noch nicht zu Ende, irgendwo lauert sicher einer dieser Serienkiller und schlägt demnächst erbarmungslos zu, damit ich nicht arbeitslos werde.“ Sie grinste.

„Makabre Sichtweise“, meinte er und klang nachdenklich. „Doch so ist es wohl, wenn man sich permanent mit der dunklen Seite des Lebens beschäftigt. Dann wird man sarkastisch.“

Dann wurde ihr Frühstück gebracht und sie schwiegen, bis alles abgestellt war. Mona Lu schenkte sich Kaffee ein, den sie neuerdings wieder mit Zucker und Milch trank. Auch das war eine Veränderung, die nach Haukes Auszug eingetreten war.

„Du hast recht“, nahm sie den Faden von vorhin dann wieder auf, bevor sie unterbrochen worden waren. „Bestimmt gehört eine Portion Sarkasmus zu meinem Leben dazu. Aber was sollte ich sonst machen, außer für die Polizei zu arbeiten?“

Er fand, sie klang ein wenig hilflos. „Denkst du wirklich darüber nach, noch einmal etwas ganz anderes zu machen?“, fragte er nach.

„Nein, eigentlich nicht. Ich habe heute Morgen das erste graue Haar ausgezupft, da denkt man sicher nicht mehr über große Veränderungen nach.“

Ja, sie ist melancholisch und traurig, fühlte er sich bestätigt. Doch gerade er war wohl nicht der geeignete Gesprächspartner, um sie aufzumuntern. Wo er doch selber den ganzen Tag Zweifel darüber hegte, was das Leben eigentlich war. Sein Leben. Wo steckte da eigentlich der Sinn. Er wusste es immer noch nicht. Und genau das verbindet uns, dachte er nun, als er ihr Profil beobachtete, während sie wieder zum Fenster sah. Wir beide sind Gefangene im Nirgendwo. Wir schwimmen in einem Boot ohne Segel übers weite Meer und warten auf den Untergang, der zwangsläufig unsere Reise beenden wird. Irgendwann. Sie ist schön, dachte er. Gerade jetzt, wo sie älter wird. Ihre feine schmale Nase warf einen kleinen Schatten auf ihre Wange, die er nun am liebsten gestreichelt hätte. Sie hatte so feine Haut, obwohl sie sich kaum mit der Pflege derselben aufhielt. Sie war von Natur aus schön und musste da nicht nachhelfen. Ob es ihr überhaupt bewusst war, welchen Reiz sie auf ihn ausübte. Ihr fein geschwungener Mund mit den unaufdringlich vollen Lippen, der sich immer ein wenig nach links zog, wenn sie etwas sagte. Es gab ihr etwas Burschikoses, wenn sie lachte.

„Worüber denkst du nach?“ Plötzlich sah sie ihn wieder an und er fühlte sich ertappt.

„Ach, eigentlich nichts Besonderes“, wich er aus.

„Vielleicht sollte ich jetzt auch losgehen“, meinte sie, „es ist schon spät geworden.“

„Du hast dein Frühstück gar nicht angerührt ...“.

„Ja, es ist schade drum. Ich werde mir ein Brötchen schmieren und es mitnehmen.“

„Eine gute Idee. Ich frage die Bedienung nach einer Papiertüte.“ Er winkte erneut. „Möchtest du heute Abend zum Essen kommen?“, fragte er, als er seine Bitte gegenüber der jungen Frau, die an den Tisch gekommen war, geäußert hatte.

„Heute?“, fragte Mona Lu und klang, als hätte sie einen üppig gefüllten Terminkalender, wo sie sich nach Feierabend mit Freunden traf. „Eigentlich wollte ich ein neues Rezept für einen Auflauf ausprobieren. Ich habe dafür schon alles im Haus.“

„Hm, und wenn ich zu dir komme?“ Fast kam er sich aufdringlich vor. Es war neu, dass er derjenige war, der andere besuchte.

„Oh, ja ... sicher, warum nicht.“ Sie Band sich ihren Schal wieder um und stieß mit ihren Armen in die schwarze Lederjacke. Dann erhob sie sich und nahm die Tüte mit dem Brötchen an sich. „Dann bis heute Abend, so gegen neunzehn Uhr würde gut passen.“

„Bis heute Abend“, erwiderte er und sah ihr nach. Es ist meine Schuld, dass ihre Beziehung zu Hauke nicht funktioniert hat, ging es ihm durch den Kopf. Dafür schämte er sich ein wenig, denn das hatte er nie gewollt, dass sie sich trennen. Denn ja, er mochte sie sehr. Und sie wusste es.

An der Tür drehte sie sich um und sah noch einmal mit einem angedeuteten Lächeln zu ihm herüber. Ich werde heute Abend nicht mit ihm schlafen, dachte sie bei sich.

Der Einzug

Milena stand stumm auf dem schmalen Gehweg, der zum Haus führte. Die hohen Fenster mit den dunklen Sprossen, die nun wie dunkle Augen wirkten. Es war über dreißig Jahre her, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie war damals noch ein kleines Mädchen gewesen und nun erinnerte sie sich kaum noch an die Zeit, die dazwischen vergangen war, so beeindruckt war sie in diesem Moment von dem Gefühl, ihrer Oma plötzlich wieder ganz nah zu sein. Es schien, als sei es gestern gewesen, dass sie mit ihrem kleinen Rucksack, aus dem der Kopf einer Puppe lugte, für immer gegangen war. Selbst die rote Holztür sah noch aus wie früher, nur, dass sie etwas gelitten hatte und abgeblättert war. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, sie neu zu streichen. Aber ich werde es tun, dachte Milena und ein leichtes Zittern umspielte ihren Mund, als sie sich eine kaum merkliche Träne aus dem Augenwinkel wischte. Es tat immer noch weh. Die Zeit heilte eben doch keine Wunden.

„Alles in Ordnung?“, fragte André, ihr Ehemann. Er war neben sie getreten und trug einen schweren Karton unter seinem linken Arm.

„Ja, es geht schon“, erwiderte sie, „es ist nur so lange her ... ich ...“. Fast hätte sie nun richtig geweint, ohne zu wissen, warum eigentlich. Jeder wusste doch, dass alles vergänglich war. Gerade sie sollte es wissen. Sie sah ihren Mann an und lächelte zaghaft. „Der Karton ist sicher schwer, geh nur ins Haus, ich komme gleich nach.“

„Ist gut“, erwiderte er, „sag mal, weißt du, wo Kilian abgeblieben ist?“ Er meinte ihren kleinen neunjährigen Sohn, der gleich nach der Ankunft aus dem Wagen gesprungen und im Dickicht, das sich ums ganze Haus herum befand, verschwunden war.

„Sicher erkundet er die Geheimnisse dieses Ortes“, erwiderte Milena. Und ja, davon gab es sicherlich genug, doch sie waren bestimmt nicht für kleine Jungen wie ihren Sohn geeignet. Ein Seufzer entfuhr Milena, dann ging sie tapfer weiter. Vorbei an den großen Hortensienbüschen, die ihre Großmutter als kleine Setzlinge einst gepflanzt hatte. Sie hatte sie über alles geliebt. So wie eigentlich jede Pflanze und jeden Strauch im Garten. Unermüdlich war sie im Sommer mit der Pflege beschäftigt gewesen. Und der Zustand des Gartens deutete darauf hin, dass hier schon lange keiner mehr danach fragte, wie es rings ums Haus herum aussah. Der Efeu hatte die Pergola, die eigentlich für den Blauregen aufgestellt worden war, erobert und völlig überwuchert. Die eigentlich edlen Rosen waren zu wilden Büschen herangewachsen. Doch das alles fand Milena überhaupt nicht schlimm. Sie liebte verwilderte Gärten. Sicher, irgendwo musste auch ein wenig Ordnung in alles gebracht werden und bestimmt legte André für Kilian einen neuen Rasen fürs Fußballspielen an. Milena fuhr sich über den Bauch. Bald würde sie es nicht mehr leugnen können. Sie war wieder schwanger und nicht einmal André hatte sie bisher etwas davon verraten. Dafür war ihre Angst zu groß, denn schon einmal hatte sie eine Fehlgeburt erlitten, als sie versucht hatten, ein Geschwisterchen für Kilian in die Welt zu setzen. Deshalb schwieg sie bisher, um ihm den Schmerz, falls es wieder nicht klappte, zu ersparen. Es reichte doch, dass sie sich sorgte. Und der Arzt hatte auch gemeint, dass sie nun doch schon reichlich alt für eine Schwangerschaft geworden sei. Es könne Komplikationen geben. Sie wusste das alles nur zu gut. Und umso mehr setzte sie alle Hoffnung darin, eine kleine Tochter zu bekommen. Sie hatte auch schon einen Namen für sie ausgesucht. Und bald, ja, da würde sie mit André darüber sprechen müssen. Wenn sie erst mal hier eingezogen waren, nahm sie sich vor. Vielleicht in ein paar Tagen, wenn sich alle ein wenig beruhigt hatten.

Sie ging weiter und kam schließlich zu dem alten Schuppen, der für sie als Kind so viele Geheimnisse bereitgehalten hatte. Sie musste an ihren Opa denken. Das Bild von ihm, es war verblasst. Nur an seine gütigen blauen Augen, da erinnerte sie sich nun mit Freude. Er war der gütigste Mensch gewesen, dem sie jemals begegnet war in ihrem Leben. Niemals war er laut geworden oder hatte ein böses Wort gegen andere gerichtet. Es schien so, als seien die Aufgaben unter ihm und seiner Frau aufgeteilt worden, denn Oma, ja, die konnte manchmal schon sehr böse und laut werden. Das wiederum hatte auch Milenas Mutter geerbt. Sie schimpfte oft mit ihrem einzigen Kind. Und noch heute hatte Milena das Gefühl, dass die prüfenden Blicke ihrer Mutter auf ihr ruhten. Und dabei war sie schon vor einiger Zeit gestorben. Ganz plötzlicher Herztod, hatte es geheißen. Milena hatte sie zu dem Zeitpunkt schon über vier Jahre nicht mehr gesehen gehabt. Der endgültige Abschied fiel ihr dementsprechend leicht. Im Grunde hatte sie ihre Mutter nie gemocht. Und als Kind hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass es ihrer Mutter umgekehrt genauso gegangen war. Es gab diese Mutter-Kind-Beziehungen, die einfach nicht funktionierten, hatte ein Therapeut einmal zu Milena gesagt. Eine leibliche Verwandtschaft verpflichte niemanden zu Gefühlen. Wenn sie kämen, dann sei es natürlich schön, doch erzwingen ließe sich eben nichts.

Die Tür zum Schuppen ließ sich mit einem leichten Quietschen tatsächlich noch öffnen. Schon damals schloss hier niemand ab. Und was nun noch darin stand, es hätte niemandem zu Reichtum verholfen. Das Sonnenlicht warf einen Strahl auf die alte Werkbank, an der der Opa immer gearbeitet hatte. Für einen kurzen Moment hatte Milena das Gefühl, dass er sie über die Schulter hinweg ansah und lächelte. Es stimmte schon, dachte sie nun bekümmert, alles, was wir im späteren Leben machen, wird schon in jungen Jahren durch das gesät, was wir erleben. Und mit Opa, da hatte sie gelernt, dass das Leben ein großes Abenteuer war. Es hatte sie in gewisser Weise mutig gemacht. Schon als junge Frau war sie alleine um die halbe Welt gereist. Im Stillen dankte sie ihm dafür. Dann hatte sie André kennengelernt und da war in ihr das erste Mal überhaupt der Wunsch aufgekommen, eine eigene Familie zu haben. Sie wollte alles besser machen als ihre Mutter. Und mit André, da konnte es funktionieren. Er war der Mann, der ihr vorbestimmt war, das würde ihre Oma dazu gesagt haben. Er war fleißig, ordentlich und hatte einen gesunden Menschenverstand, der ihn vom Alkohol und anderen lasterhaften Tätigkeiten fernhielt. Er liebte Milena über alles. Und als sie mit Kilian schwanger wurde, da hatte er sie praktisch monatelang auf Händen getragen, damit sie nur ja nicht ihr gemeinsames Kind verloren.

Plötzlich erinnerte sich Milena wieder an den roten Beutel, den sie damals hier in der Werkstatt gefunden hatte. Die vielen schönen Glasmurmeln. Als sie das Haus der Oma verlassen hatten, da hatte sie sie vergessen. Das tat ihr bis heute leid. Sie wusste allerdings noch, wo sie sie versteckt hatte. Sie nahm sich vor, gleich, wenn sie ins Haus ging, als Erstes danach zu suchen.

„Liebling! Wo bist du?“

Das war André, der nach ihr suchte. Also ging sie wieder nach draußen.

„Ich bin hier beim Schuppen“, erwiderte sie, als sie vor die schmale Holztür trat.

„Ach so“, er entdeckte sie und kam ihr entgegen. „Ich dachte schon, du hättest dich im Dickicht verlaufen.“ Er lächelte sie an und nahm sie kurz in den Arm, als er sie erreichte. „Da kommen sicher viele Erinnerungen hoch, jetzt, wo du wieder hier bist“, meinte er mitfühlend, weil er wusste, dass sie viele Dinge, die ihre Kindheit betrafen, lieber ausblendete. Warum eigentlich, das hatte sie ihm nie erzählt und er fragte auch nicht weiter nach. Sie würde ihre Gründe haben. Und dass sie den Kontakt zu ihrer Mutter irgendwann ganz abgebrochen hatte, sprach ja auch schon für sich. Warum in alten Wunden bohren.

„Ist Kilian wieder aufgetaucht?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

„Ja, er ist im Haus und sieht sich die Zimmer im oberen Stockwerk an. Ich glaube, er kann sich nicht entscheiden, welches er zu seinem machen möchte.“

„Dann lass uns bitte reingehen“, meinte Milena, „vielleicht können wir ihm ja dabei helfen.“ Sie hoffte, dass er sich ihr Kinderzimmer von früher aussuchte, denn sie selber hatte keine große Lust, darin ihr Schlafzimmer einzurichten. Und als sie so Arm in Arm mit André auf das Haus zuging, da beschlich sie das erste Mal das Gefühl, dass es vielleicht doch ein Fehler sein könnte, hier zurück in dieses Haus zu ziehen. Sie hätte es besser verkaufen sollen, ohne zurückzublicken. Doch jetzt war es für diese Option schon längst zu spät.

Als sie oben im Haus ankamen, kam Kilian ihnen schon mit geröteten Wangen entgegengelaufen.

„Mama ... Mama“, rief er und breitete seine Arme aus, damit sie ihn auffing, „es ist so schön hier. Welches Zimmer darf ich denn nehmen?“

Sie drückte ihren Sohn an sich, küsste sein Haar. Er roch so unschuldig. Was tat sie ihm hier nur an. „Vielleicht das dort drüben“, sagte sie, „es ist das größte.“

Kilian folgte ihrem Blick. „War das mal dein Zimmer?“

„Nein, es war das Schlafzimmer meiner Großmutter.“

„Und welches war dein Zimmer?“

„Dort drüben.“ Sie hatte sich leicht gedreht und zeigte mit dem Finger auf eine weitere Tür, die offenstand.

„Dann nehme ich das“, lachte Kilian, „ich möchte da schlafen, wo du als Kind gespielt hast.“

„Sicher, wenn du es möchtest“, antwortete Milena mit leiser Stimme und sie spürte Andrés sorgenvollen Blick auf sich ruhen. Er spürte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie würde am Abend, wenn sie alleine waren, mit ihm reden müssen.

„Ja, Mama, das wird schön.“ Kilian rannte in sein neues Zimmer. Seine Eltern folgten ihm. „Was sind das für Sachen, die hier stehen?“, fragte der Junge aufgeregt, „es war doch dein Zimmer. Aber das hier sieht alles gar nicht nach Sachen für ein Mädchen aus.“

„Du hast recht“, sagte Milena, die sich auch darüber wunderte, dass hier nichts mehr im Raum war, was an sie und ihre Anwesenheit hätte erinnern können. Alte dunkelbraune Schränke standen an den Wänden aufgereiht. Sie schienen wahllos zueinander gestellt worden zu sein. Vermutlich hatte man ihr Zimmer irgendwann ausgeräumt und dann als Abstellkammer genutzt. „Wir werden die alten Schränke auf den Müll werfen“, fuhr sie fort, „und dann kaufen wir schön helle Sachen für dich ein.“

„Oh ja“, rief Kilian aus, „ich möchte eine blaue Tapete mit Rennwagen. Und ein großes weißes Bett.“

„Vielleicht sollten wir jetzt mal nach unten gehen, Kilian“, schlug André vor und nahm seinen Sohn bei der Schulter mit sich. „Bestimmt möchte deine Mama nun einen Moment alleine sein.“

Dankbar sah Milena den beiden nach, als sie das Zimmer verließen. Es hatte auch schöne Momente in ihrer Kindheit gegeben, dachte sie. Es war nicht alles nur schlecht gewesen. Und gerade hier, in diesem Zimmer, da war sie wirklich glücklich gewesen. Die Glasmurmeln fielen ihr wieder ein und sie ging zum Fenster und schob den kleinen Tisch beiseite. Dann beugte sie sich nach unten und fuhr mit ihrer Hand über den Holzfußboden. Dann ein leichter Druck, und das Brett gab nach. Sie hob es voller Erwartung an. Doch als sie in das Loch hineinblickte, da war das Glasmurmelspiel nicht mehr da.

Das Abendessen

„Du hättest wirklich nichts mitzubringen brauchen“, sagte Mona Lu und nahm Stein umständlich die Rotweinflasche ab, die er ihr an der Tür entgegenhielt.

„Es riecht gut“, ging er einfach darüber hinweg. „Irgendwie nach Bruschetta.“

„Ja, so ähnlich“, sagte sie und winkte ihn herein. „Irgendwie komisch, oder? Ich meine, dass wir beide heute alleine in meinem Haus sind.“ Und schon war sie beim Thema.

„Hm“, machte Stein und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo das Geschirr bereits auf dem Tisch stand. „Irgendwie ist es wohl meine Schuld, dass ihr nicht mehr zusammen seid.“

Mona Lu stellte die Flasche ab. „Wie kommst du denn darauf?“

„Ach, ich weiß auch nicht.“ Er fühlte sich in diesem Moment befangen und fast bereute er, überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, zu ihr zu gehen.

„Das schlag dir mal schnell wieder aus dem Kopf“, tadelte sie und schüttelte mit dem Kopf. „Hauke und ich, das war eigentlich immer schräg. Wir passten noch nie so richtig zusammen, und trotzdem zog es uns zueinander hin. Ist doch sicher genau der richtige Stoff für einen Psychologen wie dich.“ Nun grinste sie. Die Kuh schien vom Eis. Der peinliche Moment vorbei, sie konnten jetzt endlich lockerer miteinander umgehen. So, wie sonst auch immer.

„Ich werde mich jetzt nicht mehr einmischen, versprochen“, erwiderte er und lachte ebenso. Dabei zeigte sich wieder sein verführerisches Grübchen am Kinn.

„Na“, sagte Mona Lu, „dann will ich mal nach dem Essen sehen. Machst du den Wein auf. Es ist doch sicher ein guter, wenn du ihn mitbringst.“

Sie ging und er sah zunächst aus dem Fenster. Ein schöner weiter Blick über weites flaches Land. Eine ganz andere Perspektive als seine von oben auf die Welt herab von der Galerie seiner Mühle. Es wurde Zeit, dass er wieder Bodenhaftung gewann. Er wandte sich nun der Rotweinflasche zu, öffnete sie und goss in bauchige Gläser, die Mona Lu bereits hingestellt hatte.

Dann kam sie mit einem großen weißen Teller zurück, auf dem der Auflauf angerichtet war. „Du weißt, dass ich nicht so eine großartige Köchin bin wie du“, sagte sie entschuldigend, als sie den Teller auf dem Tisch abstellte.

„Das sieht sehr gut aus“, lobt er, „und außerdem habe ich wirklich großen Appetit. Die Aussicht auf diesen Abend hat mich dazu verleitet, auf das Mittagessen zu verzichten.“

Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa und beide taten sich etwas auf ihre Teller. Dann nahmen sie die Gläser zur Hand und stießen an.

„Auf einen schönen Abend“, sagte er und Mona Lu hatte Mühe, dem weichen Blick seiner dunklen Augen standzuhalten.

„Auf deine neue Freiheit“, sagte sie, „ich finde es gut, dass du wieder unter Menschen gehst. Auch wenn ich natürlich nachvollziehen kann, warum du so lange darauf verzichtet hast. Ich mag Menschen nämlich auch nicht sonderlich.“

Er lachte und sie lachte mit. Dann tranken sie jeder einen tiefen Schluck.

„Er ist wunderbar“, sagte sie, „hoffentlich wird sein Geschmack durch das Essen nicht zerstört.“

„Wirklich“, meinte er und stellte sein Glas ab, „du solltest dich nicht immer so klein machen.“

„Aha, fangen wir jetzt also mit der Analyse an ...“. Sie lehnte sich mit ihrem Teller zurück und genoss den Augenblick. Und entgegen ihrer Befürchtung war alles wirklich eine große Gaumenfreude. Stein schenkte noch einmal Wein nach und sie unterhielten sich über all die Dinge, die sie in den letzten Jahren zusammen durchgemacht hatten. Die guten und die schlechten Zeiten sozusagen, wie er mit einem Schmunzeln feststellte.

„Willst du jetzt eigentlich wieder als Psychologe arbeiten?“, fragte sie, „ich meine, wo du dich ja wieder raustraust wäre das jedenfalls nur logisch.“

„Ich habe in der Tat darüber nachgedacht“, gab er zu, „aber nur für einen kurzen Moment. Denn ich möchte nicht wieder in die Fänge des Polizeiapparates gelangen.“

„Du könntest eine Praxis aufmachen“, schlug sie vor.

„Hm, und dann solche Patientinnen wie dich behandeln? Nun, das könnte mir gefallen.“ Er stupste sie sanft an der Schulter. Das mochte auch der bereits zweiten Flasche Rotwein geschuldet sein, die mittlerweile auf dem Tisch stand.

Flirtet er etwa mit mir, fragte sich Mona Lu. Dafür kennen wir uns doch eigentlich viel zu gut. Sie fühlte sich plötzlich befangen. Sie wollte auf keinen Fall mit ihm im Bett landen. Und Stein war jemand, dem man das auch direkt ins Gesicht sagen konnte. Auf der anderen Seite wäre es vielleicht auch albern, wenn sie das machte, ruderte sie gedanklich zurück. Wie konnte sie auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen, würde er erwidern und dabei wieder lächeln. Sie seien doch alte Freunde, sonst nichts. Und diese Abfuhr, diese Peinlichkeit, die wollte sie sich irgendwie dann doch lieber ersparen, also hielt sie den Mund, was dieses Thema betraf.

„Ich hätte noch einen Rest vom sündhaft teuren Grappa da, den Hauke einmal aus Hamburg mitgebracht hat“, schlug sie stattdessen vor und versuchte vergeblich, vom Sofa hochzukommen. „Puh, das ist eindeutig der Wein“, stöhnte sie und ließ sich wieder nach hinten fallen.

Stein sah sie an. Ihr schönes Gesicht, umspielt von dunklen Locken. Die leicht geröteten Wangen, der angedeutet geöffnete Mund. Sie war eine Sünde wert. Doch er wollte diesen Abend auf keinen Fall zerstören, indem er nun wie ein pubertierender Schuljunge über sie herfiel. „Wo steht der Grappa denn?“, fragte er stattdessen.

„Dort drüben im Schrank, glaube ich ...“. Sie sah durch schmale Schlitze in die Richtung und streckte ihren Arm aus.

Sie sollte jetzt nichts mehr trinken, dachte er. Doch er wusste auch, dass sie es ihm sehr übelnehmen würde, wenn er derartiges nun äußerte. Also erhob er sich, ging zum Schrank, sah kurz das Angebot durch und entdeckte dann die schlanke hohe Flasche, die sie meinen musste. Er ging damit in die Küche und nahm, weil er nichts anderes fand, zwei Schnapsgläser, die er befüllte und wieder ins Wohnzimmer trug. Dann setzte er sich wieder zu ihr und reichte ihr ein Glas. Sie hatte sich mittlerweile wieder aufgesetzt und stieß nun mit ihm an. Sie wirkte frischer, was auch daran liegen mochte, dass sie ein großes Fenster geöffnet hatte, durch das nun der Geruch nach frisch gemähtem langem Gras ins Innere drang.

„Du wohnst wirklich sehr schön hier“, sagte er und klang fast ehrfürchtig. „Ich habe nicht gewusst, was ich alles in meiner Mühle verpasse.“

„Wie bitte?“, sagte sie, „ich dachte, du fühlst dich dort sehr wohl, in deinem Kerker.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Schon“, erwiderte er, „aber alles scheint wohl seine Zeit zu haben. So ein Haus, wo man direkt der Natur verbunden zu sein scheint, hat auch etwas für sich.“

„Hm, ich denke, du übertreibst. Aber ja, es ist bestimmt etwas anderes, wenn man immer auf alles herabsieht. Holst du die Flasche? Oder ist sie schon leer?“

„Es dürfte für uns beide reichen.“ Er stand auf und ging in die Küche, um die Flasche zu holen. Dabei wanderte sein Blick über die Spüle. Irgendwie sah es hier sauberer aus, seitdem Hauke nicht mehr da war, dachte er.

Es dauerte dann nicht mehr lange, bis Mona Lu herzhaft gähnte. Es war, als hätte jemand den Stecker bei ihr gezogen und das sagte sie auch zur Entschuldigung. „Aber du kannst gerne hier auf dem Sofa schlafen“, schlug sie vor, „das macht mir nichts aus. Fahren darfst du ja nicht mehr.“

„Das ist nett, aber nein, ich werde laufen. Ein schöner Spaziergang durch die Nacht, der wird mir jetzt sicher gut tun. Wir könnten abräumen, dann gehe ich los.“

„Nein, nicht aufräumen jetzt, bitte ...“. Wieder gähnte sie. „Das mache ich morgen.“

Dem setzte er nichts mehr entgegen. Er hörte noch, wie sie im Bad verschwand und das Wasser anstellte. Dann zog er leise die Haustür hinter sich ins Schloss.

Gartenarbeit

Es war eine Woche vergangen, seit sie in dem Haus waren und Milena vergaß langsam das Glasmurmelspiel. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, für ihre Familie ein neues schönes Heim zu schaffen. Irgendwann musste sie die Geister der Vergangenheit doch hinter sich lassen können. Ihr ehemaliges Kinderzimmer war leergeräumt worden und morgen würden die Maler kommen.

André, der sich für die Zeit des Umzugs eine großzügige Auszeit genommen hatte, war mit Kilian, der noch Ferien hatte, im Garten beschäftigt.

Milena stand nun am Küchenfenster und sah den beiden dabei zu, wie sie abgeschnittene Äste eines großen Lorbeerbusches nach hinten in den Garten trugen. Das sah sehr fachmännisch aus, besonders, weil Kilian so eine ernste Miene dabei machte, dass sie schmunzeln musste. Ja, es gefiel ihm wirklich hier und das war doch das Wichtigste. Sie wandte sich den Vorbereitungen für das Mittagessen zu. Heute sollte es eine Frühlingssuppe mit viel Gemüse und Muschelnudeln geben. Das hatte Kilian sich gewünscht. Nachdem sie die Tomaten, die Paprika, den Blumenkohl, die Möhren und die Kräuter kleingeschnitten hatte, setzte sie alles mit einer Brühe zusammen auf. Die Nudeln kochte sie immer extra, damit sie Biss hatten, wenn sie in die Suppe kamen. Plötzlich merkte sie auf. Draußen war es ziemlich laut geworden. War es Kilian gewesen, der da gerade rief? Schnell lief sie nach draußen, um nachzusehen, was geschehen war.

Und dann kam Kilian ihr ganz aufgeregt entgegengelaufen. Er hielt etwas in die Höhe, was Milena nicht sofort erkannte.

„Mama!“, rief er, „sieh mal, ich habe einen Schatz im Garten gefunden.“

Und dann erkannte Milena die wunderschöne Glasmurmel von früher. Es war die Größte gewesen. Im Inneren schimmerten zwei rosa Flügel, die einem Engel glichen. Wie oft hatte sie sie als Kind gegen das Licht gehalten, um dem Farbenspiel zu folgen. Doch als sie sie nun in Kilians kleinen Händen sah, da gefror ihr Blut zu Eis.

Der Junge erreichte sie atemlos.

„Mama, ist sie nicht schön?“

Als sie nichts erwiderte, ja, nicht einmal lächelte, obwohl er sich so freute, da verfinsterte sich auch sein Gesicht.

„Mama, was ist denn los?“

Milena schnappte förmlich nach Luft. Sie musste sie wohl angehalten haben, ohne es zu merken. „Ja“, flüsterte sie und strich ihrem Sohn über den Kopf, „sie ist sehr schön. Wo hast du sie denn gefunden?“

Kilian drehte sich um zum Garten. „Da hinten, da, wo Papa jetzt gräbt.“

Milena sah ihren Mann, wie er eine schwere Schaufel voller Sand in die Höhe hob und in eine Karre schippte. Sein Gesicht war rot angelaufen, so viel Kraft kostete es ihn, einen Rasen anzulegen, damit Kilian hier Fußball spielen konnte. Das, was Milena am meisten irritierte war die Frage, wie die Glasmurmel dort in den Garten gelangt sein konnte. Sie war sich so sicher gewesen, ihren Schatz im Haus unter dem Holzfußboden in ihrem Zimmer zu finden. Doch dort war er ja nicht mehr gewesen. Jemand musste ihn gefunden und vielleicht im Garten vergraben haben. Sie konnte nur nicht verstehen, warum jemand so etwas hätte tun sollen.

Nun stellte André die Arbeit ein und lehnte sich auf die Schaufel. Er schien sich zu fragen, warum die beiden, seine Frau und sein Sohn, ihn so anstarrten. Milena mit ihrem leicht erschrockenen Blick und Kilian schien verunsichert. „He, ihr beiden“, rief er, „was ist denn los mit euch?“

Sofort rannte Kilian wie erlöst aus einer Erstarrung wieder hin zu seinem Vater. Sicher hofft er, dachte Milena, noch weitere Schätze ähnlich wie die Glasmurmel zu finden. Doch das hielt sie im Moment für ausgeschlossen. So große Zufälle, die gab es einfach nicht im Leben. Doch schon bald darauf wurde sie eines Besseren belehrt.

Es war nach dem Essen, als André und Kilian noch einmal nach draußen gegangen waren. Milena war mit dem Aufräumen in der Küche beschäftigt gewesen und danach setzte sie sich an die alte Nähmaschine, die noch im Haus gestanden hatte, um zu versuchen, leichte Schals für die Fenster damit zu nähen, als dieses Mal ihr Mann ins Haus gerannt kam und nach ihr rief.

„Milena!“

Sie hörte sofort, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Seine Stimme war kraftvoll und hart. So sprach er ihren Namen sonst nie aus. Sie sprang vom Stuhl hoch und ging auf den Flur.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Du musst dich um Kilian kümmern“, fuhr er mit leicht reduzierter Stimme fort, „bitte, denke dir einen Vorwand aus, um ihn ins Haus zu locken.“

„Aber warum denn? Ich verstehe nicht ...“. Sie fasste sich automatisch ans Herz. Eine Vorahnung kroch in ihr hoch, dass es nicht um eine leichtfertige Angelegenheit ging.

„Bitte, mach es einfach“, fuhr André fort, „ich denke, ich habe etwas im Garten gefunden, dass ein kleiner Junge besser niemals sehen sollte.“

„André“, stieß sie aus, „du machst mir Angst.“

„Es ist auch zum Fürchten, glaube mir ...“. Nun nahm er sie bei der Hand und zog sie mit sich aus dem Haus heraus.

„Kilian!“, rief Milena, so, wie André es gewollt hatte, „möchtest du ein Eis essen?“ Sie wusste, dass der Junge zu so einem verlockenden Angebot niemals nein sagen würde. Und so war es dann auch. Der Junge kam auf seine Eltern zu gerannt und folgte seiner Mutter fröhlich ins Haus.

André warf seiner Frau noch einen vieldeutigen Blick zu, bevor er wieder in den Garten ging. Milena wusste, dass Kilian nun eine Menge Eis würde essen müssen.

Währenddessen kümmerte André sich draußen im Garten um seine Entdeckung. Er war beim Graben auf etwas Hartes gestoßen, dass er für einen Tierknochen gehalten hatte. Es musste ein größerer Hund gewesen sein, den man seinerzeit hier begraben hatte. Früher machten die Leute sowas noch. Doch er hatte nicht gewollt, dass Kilian so etwas sah. Der Junge war so tierlieb, es würde ihn sicher bis in seine Träume begleiten, wenn er den Totenschädel eines Hundes in den Händen hielte. Denn André ging davon aus, dass er gleich, wenn er weiter grübe, darauf stieße. Er wollte, solange der Junge im Haus war, die Knochen weitestgehend aus der Erde gehoben und verschwinden gelassen haben.

Er stieß zunächst auf einen längeren Knochen, der ihn das erste Mal an seiner Annahme, es handele sich hier um einen größeren Hund, zweifeln ließ. Und dann kurz darauf die bittere Erkenntnis, als er auf einen Schädel stieß, der ebenso wenig einem Tier gehören konnte. Hier im Garten war ein Mensch begraben worden. Selbst ihm, einem gestandenen Mann, der glaubte, dass ihm so etwas nichts mehr anhaben könnte, lief bei dem Anblick eine Gänsehaut über den Rücken. Es war das erste Mal, dass es ihm durch den Kopf ging, dass es wohl tatsächlich ein Fehler gewesen war, in dieses Haus zu ziehen. Und er wusste, dass er jetzt die Polizei würde rufen müssen. Hier war offensichtlich vor vielen Jahren ein Verbrechen geschehen. Den vielen Glasmurmeln, die er während seines Grabens ebenfalls zutage gefördert hatte, schenkte er indes kaum Beachtung.

Nur notdürftig hob er wieder Sand auf das vermeintliche Skelett, auf das er gestoßen war, damit Kilian, dem er gleich natürlich verbieten musste, wieder in den Garten zu gehen, auch nur einen Blick darauf werfen müsste.

Schließlich ging er wieder ins Haus. Milena, ihn zögernd musternd, und Kilian, der bereits seine dritte Portion Erdbeereis in sich hineinschaufelte. Für die beiden war die Welt in diesem Moment noch in Ordnung. Doch schon bald würde alles anders werden. Er machte seiner Frau ein Zeichen, dass sie kurz zu ihm vor die Tür kommen möge.

„Was ist denn?“, flüsterte sie.

„Wir müssen die Polizei rufen“, erwiderte André ohne Umschweife. „Ich denke, ich habe draußen im Garten das Skelett eines Menschen gefunden. Du weißt, was das bedeutet, oder?“

Milena lief im selben Moment kalkweiß an. „Oh mein Gott, André, bist du sicher?“

Er nickte stumm. „Ich werde die Polizei rufen müssen. Und sorge du bitte dafür, dass Kilian heute auf keinen Fall mehr in den Garten geht.“

„Ja, ist gut“, stieß sie aus. Dann ging sie wieder in die Küche zurück.

Im Einsatz

Mona Lu war heute zu Stein in die Mühle gefahren und genoss gerade den Nachgeschmack von frischen Nudeln mit Tomaten-Kräuter-Soße, während sie auf dem Sofa fläzte, als ihr Handy klingelte.

Stein, der damit beschäftigt war, einen Kaffee zuzubereiten, sah sich kurz nach ihr um, während sie die Augen verdrehte. Er lachte. Sie ging ran.

„Ja, hallo?“

Es war ein Kollege aus der Dienststelle, der ihr von einem mysteriösen Skelettfund in einem Vorgarten eines älteren Hauses in einer abgelegenen Straße in Horumersiel berichtete.

„Okay, ich kümmere mich gleich mal darum“, sagte sie und zog ihre Beine vom Sofa, was der Kollege zum Glück nicht sehen konnte. Manchmal, da hatte sie wirklich ein schlechtes Gewissen wegen ihrer großzügigen Eigeninterpretation der Erledigung ihrer Aufgaben. Aber eben nur manchmal. Sie legte auf und trank noch den Kaffee, den Stein ihr bereitgestellt hatte, während sie telefonierte.

„Du musst los?“, fragte er.

Sie nickte. „Sicher nur blinder Alarm“, meinte sie, „jemand denkt, dass er ein menschliches Skelett im Garten gefunden hat. Wetten, dass es nur ein blöder Köter ist?“

„Hm ...“, machte er. Ihm gefiel der Gedanke, sich gleich auf dem Sofa lang zu machen, während sie zur Arbeit fuhr. Er musste nachdenken. Über sich und die Mühle. Und er wusste auch, dass er darüber wie üblich einnicken würde und krude Dinge ihm in seine Träume begleiteten.

„Bis dann“, sagte sie, bevor sie die Stufen nach unten herunter eilte. „Vielleicht komme ich später noch einmal vorbei.“

„Ja, mach das“, sagte er mehr für sich, als ihn schon die Trägheit übermannte, wobei er einen kurzen Moment daran dachte, dass er zu alt wurde, um überhaupt noch einmal eine berufliche Tätigkeit in Betracht zu ziehen.

 

Es war nicht leicht gewesen, doch Milena war es tatsächlich gelungen, Kilian im Haus zu beschäftigen, bis die Polizei eintraf. Nachdem er sich den Bauch mit Eis vollgeschlagen hatte und sie ihm dann auch noch einen warmen Kakao gekocht hatte, wurde er ein wenig müde und sie las ihm im Wohnzimmer auf dem Sofa aus Gullivers Reisen vor. Es war sein neuestes Lieblingsbuch, weshalb er sich wohl auch neuerdings als großer Entdecker fühlte, seitdem er die Glasmurmel gefunden hatte. Er hütete sie wie einen Schatz in seiner Hosentasche, das hatte er Milena erzählt. Nie wieder würde er sich von ihr trennen. Tja, hatte sie gedacht, dasselbe habe ich mir damals als kleines Mädchen auch vorgenommen. Bis alles anders kam.

André, der unruhig in der Küche gewartet hatte, nachdem er telefoniert hatte, ging nach dem ersten Klingeln eilig zur Tür und machte auf.

„Kripo Wangerland“, sagte eine äußerst attraktive junge Frau mit schwarzer Lederjacke. „Sie haben uns angerufen?“

„Das ist richtig“, entgegnete André, „wir können direkt in den Garten gehen“, schlug er vor und zog die Tür hinter sich zu, damit Kilian nicht mitbekam, dass die Polizei gekommen war. „Es ist wegen meines Sohnes“, erklärte er, während sie hinters Haus gingen.

„Schon gut“, erwiderte Mona Lu, die das Verhalten des Familienvaters im Moment noch für etwas übertrieben hielt. Früher oder später sah schließlich jedes Kind eine überfahrene Katze.

Dann standen sie vor dem Loch aus schwarzer Erde und Mona Lu sah ihn fragend an.

„Ich habe wieder etwas Sand darüber geschüttet“, entschuldigte sich André, „für den Fall, dass Kilian doch noch nach draußen rennt.“

„Schon gut“, sagte Mona Lu und sah zum Spaten, den André im nächsten Moment bereits in Händen hielt und die Erde, die er aufgeschüttet hatte, vorsichtig wieder abtrug.

Verdammt, war das Erste, was sie dachte, als auch sie den menschlichen Schädel erkannte. „Am besten, Sie gehen jetzt zurück“, sagte sie in routiniertem Polizeiton, „damit keine weiteren Spuren zerstört werden. Ich rufe die Kollegen, damit hier alles untersucht wird.“

„Wäre es möglich, dass es unauffällig geschieht, ich meine, wegen Kilian“, bat André, doch er merkte, dass sie ihm schon gar nicht mehr richtig zuhörte.

„Gehen Sie bitte ins Haus“, sagte sie stattdessen, während sie ihr Handy schon ans Ohr hielt. „Ich werde nachher noch mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen müssen. Und vielleicht auch mit Kilian.“ Dann wandte sie sich ab und sah wieder in das Erdloch.

André ging ins Haus zu Milena und Kilian ins Wohnzimmer. Er setzte sich in einen Sessel und sie wusste auch ohne, dass er große Worte machte, dass ab sofort nichts mehr war wie vorher.

 

Mona Lu wartete draußen auf das Einsatzteam. Dabei sah sie sich ein wenig ums Haus herum um. Der Besitzer hatte gemeint, dass sie erst vor Kurzem eingezogen seien und dass es noch viel für sie zu tun gebe. Nun, da hatte er zweifellos recht. Die Bäume waren alt und teilweise nur noch tote Äste, die sich mit letzter Kraft ans Leben klammerten, wenn man es genau betrachtete. Überall wucherte der Efeu und raubte sich jede Wand, jeden Baum und Strauch, um sich auszutoben. Im Grunde mochte sie solche wilden Gärten. Und sie wusste, dass es bei ihr zuhause irgendwann auch ähnlich aussehen würde. Denn sie ging nie in den Garten, um dort für Ordnung oder Rückschnitt zu sorgen. Sie ließ die Natur gewähren.

Sie ging in den kleinen Schuppen, in dem es nach einer Mischung aus altem verklebtem Staub und einem Hauch Benzin roch. Die Fenster waren so verschmutzt, dass man das Sonnenlicht dahinter nur erahnen konnte. Ein fast verwunschener Ort, der viele Geheimnisse barg. Aber welches Geheimnis steckte hinter der Leiche, die im Garten vergraben worden war. Eines stand fest, in diesem Haus, da hatte es nicht nur schöne Zeiten gegeben. Sie hörte Stimmen, die bis zu ihr drangen. Und als sie vor die Tür trat, da sah sie, wie André Geusen den Männern den Fundort zeigte. Danach ging er wieder ins Haus zurück.

Mona Lu ging zum Einsatzteam und begrüßte sie kurz mit einem Nicken. Auch der Gerichtsmediziner war bereits eingetroffen.

„Das wird ein etwas langwieriger Prozess werden“, meinte er, „bis wir herausgefunden haben, wer das da ist.“ Er zeigte auf den Schädel, der von einem Kollegen der Spurensicherung gerade in einen großen Plastikbeutel geschoben wurde. „Eigentlich eher eine Angelegenheit für einen Forensiker. Wir werden ihn anfordern müssen, damit er nach Oldenburg kommt.“

„Sicher“, entgegnete sie. „Aber wieso bist du überhaupt mitgekommen, frage ich mich gerade.“

„Ach, ich hatte im Moment nichts weiter zu tun“, gab er zurück. „Und ja, ich war auch ein wenig neugierig. So einen Fund gibt es hier in der Gegend nun auch nicht alle Tage.“

„Da hast du sicher recht.“

Sie schwiegen und sahen den anderen dabei zu, wie nach und nach Gebeine, Arm- und Handknochen in Beuteln verschwanden und ein Haufen entstand, der einmal ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war.

„Ich bin zwar kein Fachmann“, meinte der Gerichtsmediziner nun, „aber wenn ich mir die Knochen so ansehe, dann denke ich, es handelt sich bei dem Opfer um eine Frau.“

„Und was schätzt du, wie lange liegt sie schon da unten?“, fragte Mona Lu nach.

Er zog die Schultern hoch. „Man hat keine Kleidung gefunden, oder? Dann denke ich, dass es schon sehr lange sein muss, sonst wäre sie noch erhalten.“

„Es gibt jede Menge Glasmurmeln“, sagte Mona Lu.

„Glasmurmeln?“

„Ja, sie waren im Erdreich rund um das Skelett verteilt, wenn man so will.“

„Sonderbar. Hat das etwas zu bedeuten?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich werde mich gleich mit den Hausbesitzern unterhalten. Aber viel wird wohl nicht dabei herauskommen, denn sie wohnen erst sei einigen Wochen hier, hat mir der Mann, der auf die Überreste gestoßen ist, vorhin erzählt.“

„Tja, dann musst du wohl viel weiter in die Geschichte dieses Hauses eintauchen“, meinte der Fachmann, „es stand wohl schon länger leer, bevor die neuen Besitzer sich nun seiner annehmen. Alles ist ziemlich verwildert, das macht eine Menge Arbeit, bis es wieder gut aussieht.“

„Hm, ich finde es gar nicht schlimm“, entgegnete sie, „ich mag wilde Gärten.“

„Wild oder verkommen sind aber zweierlei Dinge“, gab er zurück. „Aber Geschmäcker sind eben verschieden. Ich bin froh, dass ich nur eine kleine Terrasse habe, die ich hin und wieder fegen muss. So ein großer Garten, das wäre nichts für mich.“

Sie wusste, dass er alleine lebte. Nach seiner Scheidung war er hier nach Oldenburg gewechselt und hatte eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem nobleren Viertel bezogen. Und das wiederum konnte sie sich für sich selber überhaupt nicht vorstellen. Sie brauchte ihren Freiraum. Und die Wildnis um sich herum.

„Ich mache mich dann mal wieder auf den Weg“, sagte er, „ich melde mich, wenn der Forensiker eingetroffen ist.“

„Ist gut. Bis dann.“ Mona Lu ging zu einer Bank, die erst vor kurzem wieder vom Efeu befreit worden sein musste, und setzte sich. Sie sah den Kollegen noch eine Weile dabei zu, wie sie die Spuren bis ins kleinste Detail sicherten, in Folien packten und anhäuften. Und immer noch kam hier und da eine weitere Glasmurmel zum Vorschein. Und irgendwann, da hielt einer der Männer etwas in die Höhe, was stofflich aussah. Also doch ein Kleidungsstück, dachte sie bei sich. Erst später erfuhr sie, dass es ein Teil des Beutels aus dickem rotem Samt war, in dem sich das Glasmurmelspiel einst befunden hatte, als Milena ihr im Haus bei der Befragung davon erzählte.

 

„Sie haben also früher bereits als Kind hier gelebt?“, fragte Mona Lu, als sie mit Milena in der Küche saß. André kümmerte sich um Kilian. Er war mit ihm auf sein Zimmer gegangen, um dort mit der Einrichtung fortzufahren. Außerdem wollte er dem Jungen schonend beibringen, was hier vor sich ging.

„Ja, das ist richtig“, antwortete Milena. „Es war das Haus meiner Großmutter. Ich habe es nun nach ihrem Tod geerbt. Sie ist vor einiger Zeit verstorben. Alleine in einem Heim.“

„Das heißt, sie hatten keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt?“

Milena schüttelte mit dem Kopf. „Nein, leider nicht. Ich war lange Zeit nicht mehr hier. Beruflich hatte es mich weiter in den Süden verschlagen, wo ich auch meinen Mann kennen gelernt habe.“

„Verstehe. Aber wie lange genau haben Sie denn hier gewohnt?“

„Bis ich sechs Jahre alt war“, sagte Milena. „Dann ist meine Mutter mit mir weggezogen.“

„Weshalb?“

„Nun ja, es hatte wohl auch irgendwie mit der Arbeit zu tun, denke ich. Als Kind versteht man die Dinge ja noch nicht so ganz.“

„Das mag sein. Und wohin zogen sie um?“

„Nach Oldenburg in einen Vorort. Dort habe ich mein Abitur gemacht und danach studierte ich Germanistik. Als ich Mitte zwanzig war, begann ich eine Ausbildung zur Buchhändlerin in einer Stadt in Baden-Württemberg.“

„Und dann lernten Sie ihren Ehemann kennen ...“.

Sie nickte.

„Und in dieser Zeit hatten Sie überhaupt keinen Kontakt mehr hierher zu diesem Haus und Ihrer Großmutter?“, fragte Mona Lu, die es sich kaum vorstellen konnte, dass einen der Alltag derart einspannte, dass man nicht mal mehr die Zeit fand, die Stätte seiner Kinderjahre wieder aufzusuchen.

„Nein, ich war nie wieder hier“, bestätigte Milena.

„Aber Sie haben doch bestimmt Ihre Mutter in Oldenburg hin und wieder besucht. Sie war doch die Tochter Ihrer Großmutter, oder irre ich mich.“

„Ja, das ist richtig. Aber es war eben eine ganz schöne Entfernung“, verteidigte Milena sich. „Da fährt man nicht einfach immer so nach Hause, wenn einem danach ist.“

Aber offensichtlich war dir nicht danach, dachte Mona Lu bei sich. Sie fand, dass Milena Geusen irgendwie abwesend wirkte. Oder auch verwirrt.

„Nun, ich gebe zu“, sagte Mona Lu, „ich selber bin auch nicht gerade ein Familienmensch.“ Sie hoffte, die Zeugin damit zurückzuholen, indem sie eine gewisse Vertrautheit aufbaute und ihr signalisierte, dass man sie verstand. „Wir haben eine Menge Glasmurmeln in dem Erdreich rund um den Fundort des Skeletts gefunden. Können Sie sich das erklären?“

„Ich?“ Milena wirkte geradezu erschrocken, als die Beamtin sie direkt damit in Verbindung brachte.

„Sie haben doch als Kind hier gelebt“, fuhr Mona Lu fort, „da hatten Sie damals doch bestimmt auch ein Glasmurmelspiel? Diese wunderschönen Kugeln, die in der Sonne glitzern.“

Milena sah zum Fenster und wich somit der Befragung aus. Mona Lu sah sich in ihrer Annahme bestätigt, dass sie weitaus mehr wusste, als sie im Moment zugab.

„Mein Großvater hat es mir geschenkt“, sagte Milena nun und ihre Stimme klang brüchig. „Ich habe sie immer gehütet wie einen Schatz.“ Dann sah sie Mona Lu wieder an, wirkte aber immer noch, als sei sie nicht mehr von dieser Welt.

„Es wäre also möglich, dass es sich bei den Glasmurmeln, die man draußen im Garten gefunden hat, um diejenigen handelt, mit denen Sie früher gespielt haben? Richtig?“

„Das weiß ich nicht ...“.

„Wenn Sie sich die Glasmurmeln ansehen würden, denken Sie, Sie würden sie wiedererkennen?“

Milena zog die Schultern hoch. „Kann sein.“

„Warten Sie bitte hier, ich bin gleich zurück.“

Mona Lu verließ das Haus in der Hoffnung, dass die Kollegen noch vor Ort waren. Und sie hatte Glück. Sie bat darum, ihr einen Teil der Glasmurmeln für einen Moment zu überlassen. Sie brächte sie gleich zurück. Mit mehreren Plastikbeuteln in der Hand kehrte sie sodann ins Haus zurück und ging zu Milena. Dort legte sie die Beutel auf den Tisch.

„Das sind einige der Glasmurmeln, die wir gefunden haben“, erklärte sie. „Sehen Sie sie sich in Ruhe an, bevor Sie antworten. Es ist sehr wichtig für uns, zu erfahren, ob es tatsächlich die Glasmurmeln von damals sind.“

Milena senkte ihren Blick und sah auf die Beutel, die auf dem Tisch lagen. Sie wiegte ihren Kopf dabei sachte hin und her. Ihre rechte Hand fuhr geräuschlos über den Tisch, doch bevor sie einen der Beutel berühren konnte, zuckte sie wieder zurück.

„Sind das Ihre Glasmurmeln?“, fragte Mona Lu und sah sie eindringlich an.

Nach einem tiefen Seufzer nickte Milena und sagte: „Ja, das sind meine Glasmurmeln.“

„Danke“, sagte Mona Lu, „ich werde sie nun wieder zu den Kollegen bringen, damit man diese in der Kriminaltechnik untersuchen kann. Ich bin gleich zurück.“

Sonderbar, dachte sie auf dem Weg nach draußen. Es sind doch nur Glasmurmeln. Aber die Zeugin hat darauf gestarrt, als wären es heilige Artefakte. Was hat es mit diesen Dingern auf sich. Und wer ist die tote Frau. So, wie es im Moment aussah, reimte sie sich zusammen, dass Milena die Frau ganz sicher gekannt haben musste. Vielleicht war sie sogar eine Verwandte von ihr. Aber wer hatte sie umgebracht und auf dem eigenen Grundstück vergraben.

 

Milena hatte einen Tee gemacht, als Mona Lu in die Küche zurückkam. Einen Kräutertee, der sie immer beruhigte.

„Danke“, sagte Mona Lu und nahm den Becher, den Milena ihre reichte, entgegen. „Sagen Sie, wer wohnte damals alles hier im Haus, als Sie noch hier waren?“

„Meine Oma, meine Mutter und ich“, erwiderte Milena prompt. „Und natürlich mein Opa, bis er starb.“

„Und Ihre Großmutter ist vor etwa einem Jahr gestorben“, sagte sie.

Milena nickte.

„Und was ist mit Ihrer Mutter?“

„Sie ist auch tot. Das ist aber schon einige Jahre her, dass sie gestorben ist. Sie hatte Krebs.“

Also konnte es keine der Frauen aus diesem Haus sein, die dort im Erdreich verscharrt worden war, dachte Mona Lu bei sich. Es sei denn, Milena Geusen tischte ihr hier einen Haufen Lügen auf. Was natürlich nicht ausgeschlossen war. Bei der Toten konnte es sich aber ja auch um eine entferntere Verwandte gehandelt haben, die mal zu Besuch gekommen war. Oder eine Nachbarin. Allerdings, so dachte sie, wäre das wohl doch zu auffällig gewesen für so einen kleinen Ort, wenn eine Frau von dort einfach verschwand. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und das lag nicht nur an diesen verdammten Glasmurmeln.

„Und weitere Verwandte?“, fragte Mona Lu, „hatten oder haben Sie eine Schwester, eine Tante oder Kusine, die hier auch gelebt hat? Oder die hin und wieder vorbeikam?“

„Nein.“

„Wirklich niemand kam hierher?“

„Nein.“

„Warum nicht? Gibt es keine weiteren Verwandten? Oder war der Kontakt abgebrochen worden?“

„Da war niemand sonst.“ Milena rieb mit ihren Händen an dem Becher, als wären diese eiskalt.

„Okay, vielen Dank“, sagte Mona Lu, weil sie der Zeugin nun eine kleine Auszeit gönnen wollte. „Ich würde mich gerne noch mit Ihrem Mann unterhalten. Wäre das möglich?“

„Sicher. Ich hole ihn.“ Milena stellte ihren Becher ab und verließ die Küche, als sei sie auf der Flucht.

Ich werde schon noch hinter dein Geheimnis kommen, dachte Mona Lu. André Geusen kam bald darauf zu ihr und setzte sich mit an den Tisch. Im Groben bestätigte er das, was auch Milena erzählt hatte. Was hätte er auch sonst sagen sollen. Alles, was er über seine Frau wusste, das wusste er ja von ihr.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen begegnete Mona Lu kurz darauf einem jungen Mann von der Presse. Sie fragte nicht nach Hauke. Es ging sie einfach nichts mehr an, wo er gerade war und was er machte.

In der Mühle

Stein hatte Mona Lu aufmerksam zugehört, als sie von den Vorkommnissen bei der Familie Geusen berichtet hatte.

„Es ist ja durchaus denkbar“, sagte er nun, während er seinen Kaffeebecher in der Hand wog, „dass die Tote gar nichts mit der Familie zu tun hat.“

Mona Lu nickte. „Ja, möglich ist es schon“, gab sie zu. „Aber das hängt eben davon ab, was der Gerichtsmediziner und die Forensiker feststellen. Und Milenas Familie, also ihre Großeltern, sie haben lange in dem Haus gelebt. Verstehst du.“

„Sicher, das leuchtet mir ein. Aber wenn es doch keine weiteren Verwandten gibt, die dort gelebt haben ...“. Er stand auf und stellte seinen leeren Becher nun in der Spüle ab.

„Das sagt sie“, erwiderte Mona Lu, „aber es muss ja nicht stimmen.“

„Sie erschien dir also nicht unbedingt glaubwürdig?“ Er lehnte sich gegen die Anrichte und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das weiß ich nicht, ich habe sie ja nur kurz gesprochen. Aber sie wirkte schon sehr verstört. Was natürlich kein Wunder ist. Vielleicht war sie auch einfach überfordert mit allem. Erst zieht sie wieder in das Haus, das sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hat und dann wird eine Leiche im Garten gefunden. Oder besser gesagt das, was davon übriggeblieben ist.“

„Und Glasmurmeln“, konstatierte Stein, „die einmal ihr gehört haben, als sie noch dort lebte.“

„Das stimmt. Was könnte es damit auf sich haben?“

Er zog die Schultern hoch. „Aber wir haben einen Denkfehler gemacht“, stellte er nun fest und setzte sich wieder zu ihr aufs Sofa. „Wenn es ihre Glasmurmeln waren, dann muss die Leiche doch dort vergraben worden sein, nachdem sie mit ihrer Mutter das Haus für immer verlassen hat.“

Mona Lu wurde bleich. Immer zog er die richtigen Schlüsse. Ein wenig ärgerte es sie schon, dass sie nicht selber auf den Gedanken gekommen war. „Du hast recht“, gab sie zu, „daran hatte ich nicht gedacht.“

„Du solltest sie fragen, warum sie die Glasmurmeln, obwohl sie ihr so viel bedeutet zu haben schienen, nicht mitgenommen hat, als sie und ihre Mutter ausgezogen sind“, sagte er.