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Wieder erwarten Sie humorvolle und spannende Lesestunden mit der Soko Norddeich 117 mit Thekla, Agneta, Okko, Siggi und Herbert! ! Sie lösen jeden Fall, egal wie. In diesem Sammelband enthalten: "Nur über seine Leiche" Krino Bischoff und sein Kumpel Hein Böskopp freuen sich auf einen schönen Motorradausflug am Wochenende. Krino will seine Harley nochmal so richtig aufpolieren bis zum Sonntag. Als Hein ihn dann abholen will, liegt Krino regungslos hinter dem Haus. Jemand hat ihm eine schwere Eisenstange über den Schädel geschlagen. Die Soko Norddeich 117 ermittelt wieder in alle Richtungen. "Der fröhliche Barbier" Margret und Friedhelm Stratmann sind alt geworden, aber sie kommen zurecht. Immer noch geht der rüstige Rentner jeden Tag, wenn es das Wetter erlaubt, in seinen großen Garten. In den späten Vormittagsstunden trinken sie immer zusammen Tee. Dann, als Margret, die an einen Rollstuhl gefesselt ist, wieder auf ihren Mann wartet, da kommt er nicht aus dem Garten zurück. Sie macht sich Sorgen, kann aber nicht selber rausgehen. Voller Panik ruft sie bei der Soko Norddeich 117 an und bittet um Hilfe. Sie sind anders als die anderen. Und genau das schweißt sie am Ende zusammen. In der Soko Norddeich 117 lernen wir Thekla, Agneta, Okko, Siggi und Herbert kennen. Sie alle teilen das Schicksal, dass man sie aus dem normalen Polizeialltag einfach aussortiert hat. Sie sitzen in einem Büro in Norddeich an zwei Schreibtischen mit fünf Telefonen, die nie klingeln. Und in der Ecke wartet ein PC darauf, dass er angeschlossen wird. Die Männer spielen Skat, um sich die Zeit zu vertreiben, während Agneta und Thekla sich um ihre Gesundheit sorgen. Und dann eines Tages lösen sie gemeinsam jeden noch so kniffligen Fall.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ostfrieslandkrimi
mit den Fällen
Nur über seine Leiche
Der fröhliche Barbier
von
Moa Graven
Die Soko Norddeich 117 ermittelt
Ostfrieslandkrimi
von Moa Graven
Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann.
Nur über seine Leiche Soko Norddeich 117 Band 9
Ostfrieslandkrimi von Moa Graven
Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin
Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland
Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn
Februar 2024
ISBN 9798860754768 (Taschenbuchausgabe)
Umschlaggestaltung: Moa Graven
„Nur über seine Leiche“ ist der neunte Band aus der Krimi-Reihe Soko Norddeich 117 mit Thekla, Herbert, Okko, Siggi und Agneta, den schrägsten Ermittlern in Ostfriesland.
Krino Bischoff und sein Kumpel Hein Böskopp freuen sich auf einen schönen Motorradausflug am Wochenende. Krino will seine Harley nochmal so richtig aufpolieren bis zum Sonntag. Als Hein ihn dann abholen will, liegt Krino regungslos hinter dem Haus. Jemand hat ihm eine schwere Eisenstange über den Schädel geschlagen. Die Soko Norddeich 117 ermittelt wieder in alle Richtungen.
Sie sind anders als die anderen. Und genau das schweißt sie am Ende zusammen. In der Soko Norddeich 117 lernen wir Thekla, Agneta, Okko, Siggi und Herbert kennen. Sie alle teilen das Schicksal, dass man sie aus dem normalen Polizeialltag einfach aussortiert hat. Sie sitzen in einem Büro in Norddeich an zwei Schreibtischen mit fünf Telefonen, die nie klingeln. Und in der Ecke wartet ein PC darauf, dass er angeschlossen wird. Die Männer spielen Skat, um sich die Zeit zu vertreiben, während Agneta und Thekla sich um ihre Gesundheit sorgen. Und dann eines Tages lösen sie gemeinsam jeden noch so kniffligen Fall.
Für die Liebe ist es nie zu spät.
Auch nicht, wenn sie sich verspätet meldet.
Moa Graven
Depression. Dieses Wort stand dem Mann, der Agneta schon seit geraumer Zeit praktisch ohne ein Augenklimpern beobachtete, auf die Stirn geschrieben. Doch ausgesprochen hatte er es bisher noch nicht. Heute war ihre dritte Sitzung, von der die anderen zuhause nichts wussten. Nichts wissen sollten. Sie brauchte auch einmal etwas ganz für sich. Deshalb hatte sie heimlich einen Termin bei Klaas Herrmann vereinbart. Ganz ohne Überweisung durch einen Arzt, so dass sie die Kosten selber würde tragen müssen, hatte ihr Herrmann am Telefon deutlich gemacht. Es war ihr recht gewesen. Denn so ein Arzt, bei dem kam man doch auch nicht ohne Medikamente oder eine neue Hüfte wieder raus, wenn man im fortgeschrittenen Alter war. Und Agneta fühlte sich alt. Und müde. Ihr machte die Arbeit keinen Spaß mehr. Und selbst das Zusammenleben mit Thekla und Oma Gerda, so lieb sie auch sein mochten, nahm ihr langsam die Luft zum Atmen. Zeitweise hatte es sogar so ausgesehen, als würde auch noch Siggi sich im Haus von Oma Gerda einnisten, was ihr wohl den Rest gegeben hatte. Tagelang hatte sie im Bett gelegen und nur noch an die Decke gestarrt. Thekla hatte besorgt an ihre Tür geklopft, und das auch erst nach zwei Tagen. Sie kannten einander ja. Und da Agneta sich eher reserviert verhalten hatte, zog Thekla sich dezent zurück. Vielleicht dachte sie, dass Agneta mit den Wechseljahren zu kämpfen hatte. Außerdem hatte sie Urlaub und konnte den verbringen, wie sie wollte. Doch es wäre der erste Urlaub, seitdem sie zusammenarbeiteten, den sie nicht auch zusammen verbrachten.
Wieso sagt er denn nichts, fragte sich Agneta allmählich, als ihr sein durchdringender Blick immer unerträglicher erschien. Sollte sie ihn vielleicht fragen, ob sie ihm helfen könnte. Bei dem Gedanken musste sie einem Reflex folgend schmunzeln.
„Ah“, sagte er und erwachte aus seiner Starre.
„Ah?“, wiederholte sie und legte den Kopf schief. „Was bedeutet das?“
„Sie haben gelächelt“, erwiderte er und sie dachte, wenn du wüsstest. „Es ist gut, wenn man sich nicht nur trüben Gedanken hingibt.“
„Das tue ich ja auch gar nicht“, reagierte sie leicht aufmüpfig. „Ich bin ja wegen etwas ganz anderem hierhergekommen ...“.
„Können Sie das vielleicht noch einmal konkretisieren?“, hakte er nach und notierte etwas auf seinen Zettel. Seine Finger waren lang und knochig. Hätte er sie damit angefasst, dann wäre ihr bestimmt eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen.
„Ich bin heute das dritte Mal hier“, sagte sie nur. Guck doch in deine Akte, Blödian, fügte sie in Gedanken hinzu.
Er sah wieder auf und seine großen blauen Kinderaugen, die leicht hervortraten, wenn er sie fixierte, waren wieder auf sie gerichtet. „Das ist richtig, Agneta“, bestätigte er und faltete seine Hände ineinander, wiegte sie kurz auf und ab, was zu einem leicht hörbaren knackenden Geräusch führte. „Ach, diese dumme Arthrose.“ Er entspannte seine Hände wieder und legte sie in seinen Schoß. „Wo waren wir stehengeblieben. Ach ja, es ist unsere dritte gemeinsame Sitzung heute“, wiederholte er. „Aber dennoch habe ich nicht den Eindruck, als hätten Sie mir schon mitgeteilt, was Sie wirklich bedrückt. Bisher sind wir bei Stress bei der Arbeit und dem Gefühl, zu wenig Zeit für sich selbst zu haben, eher steckengeblieben, denke ich.“
„Naja“, piepste Agneta kleinlaut, „es ist ja auch nicht immer so einfach, in meinem Job. Die vielen Leichen, all das Böse, das in den Menschen lauert. Wem kann man denn überhaupt noch vertrauen heutzutage.“ Sie griff nach ihrem Taschentuch, das sie aus der Hosentasche zog und schnäuzte sich. Sie war nahe daran, gleich loszuheulen. Und sie wusste nicht, warum eigentlich.
„Ich verstehe“, sagte er, um ihr das Gefühl von Nähe zu vermitteln. Dass jemand für sie da war, wenn sie Hilfe brauchte. „Wie lange arbeiten Sie nun schon als Polizistin? Dreißig Jahre?“
Sie nickte und schnäuzte sich erneut. Sie schämte sich für ihren leichten Gefühlsausbruch. Sollte eine Polizistin nicht taffer sein und keine Heulsuse. Immer mehr manifestierte sich die Gewissheit in ihr, dass sie tatsächlich depressiv wurde. Oder vielleicht schon immer gewesen war. War sie denn jemals fröhlich gewesen. Glücklich. Vielleicht in jungen Jahren einmal. Doch das war so lange her, dass sie sich auf alten Fotos oft selber nicht mehr erkannte. Was hätte sie tun müssen, damals, als sie noch das ganze Leben vor sich gehabt hatte, um nicht hier bei Klaas Herrmann auf dem Plüschsofa zu landen. Doch nun war es zu spät. Für alles. Mit Ende fünfzig zog man keinen Hering mehr vom Teller. Riss das Ruder nicht mehr rum. Was ihr noch blieb, war die Beerdigung von Oma Gerda und das gemeinsame Abendbrot mit Thekla. Wer von ihnen beiden würde dann wohl als Erstes sterben. Sie hoffte, dass es sie traf, weil sie nicht alleine in dem Haus von Oma Gerda zurückbleiben wollte.
„Was denken Sie, Agneta?“, riss Herrmann sie aus ihren Gedanken. „Es wäre bestimmt hilfreich, wenn Sie mit mir sprechen würden. Machen Sie immer alles mit sich alleine ab?“
Sie schnäuzte sich erneut, weil sie die Tränen, die in ihr aufkamen, kaum noch unterdrücken konnte. Gleich sehe ich nicht nur alt, sondern auch hässlich aus, dachte sie, wenn sich mein Gesicht verzerrt. Und schon war es soweit. Es erbrach sich ein Schwall an Gefühlen und trieb ihr immer mehr Wasser in die Augen. Dezent schob er die Schachtel mit den Papiertaschentüchern auf dem Tisch weiter in ihre Richtung. Es dauerte eine kurze Weile, bis Agneta sich wieder im Griff hatte.
„Es stimmt schon“, gab sie zögerlich zu, „ich rede mit anderen nicht über die Dinge, die mich bewegen.“
„Was denken Sie, woran das liegt?“
Sie zog die Schultern hoch und sah ihn aus leicht brennenden Augen an.
„Sie sagten mir in unserer ersten Zusammenkunft, dass Sie mit Ihrer Kollegin bei einer älteren befreundeten Dame im Haus wohnen“, fuhr er fort, um ihr ein wenig Zeit zum Durchatmen zu geben. Sie war aber auch wirklich keine Schönheit mit ihren dünnen blond gefärbten Haaren, die wie weicher Flaum weit über ihre Schultern fielen. Mit einer modernen Frisur konnte man bei Frauen manchmal noch einiges retten. Warum ließ sie sich so gehen.
Agneta erkannte keine Frage in seinem Gesagten und starrte ihn nur weiter an. Warum bin ich bloß hierhergekommen, dachte sie. Ich komme schon alleine zurecht. Das habe ich sonst doch auch immer geschafft.
„Agneta?“
„Ja?“
„Wie geht es Ihnen bei dem Gedanken an Ihre aktuelle Wohnsituation?“
Was sollte das jetzt bringen, fragte sie sich und zog die Stirn kraus. „Es ist doch nett, dass Oma Gerda uns bei sich aufgenommen hat. Oder nicht?“
„Fragen Sie mich das? Oder ist das eine Frage, die Sie schon seit längerer Zeit umtreibt?“
Er ist geschickt, dachte sie. Will mich in eine Falle locken, damit ich hier herumjammere, weil ich keinen Mann und keine Kinder habe. Dabei habe ich nie eine eigene Familie gewollt. Nicht mal mit Anfang zwanzig oder später. Nein, ich war einfach glücklich in meinem Job als Polizeianwärterin und ich hatte eine schnuckelige kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, die sogar einen Balkon hatte. Was brauchte man mehr. „Ich bin gerne im Haus von Oma Gerda“, stieß sie jetzt aus, „es ist immer jemand da, wenn man ihn braucht. Wir sind nie alleine.“ Das Letzte hatte sie eigentlich gar nicht sagen wollen, doch nun war es zu spät.
„Hm“, machte Herrmann, „eigentlich könnte man doch sagen, dass Sie die ideale Lebensform in einer Generationen übergreifenden Wohngemeinschaft gefunden haben. Viele sehnen sich nach so einem Wohnmodell, das können Sie mir glauben. Menschen, die alleine in ihrer Wohnung sitzen, tagein tagaus. Niemanden haben, mit dem sie sprechen und sich austauschen können.“
„Leben Sie alleine?“ Auch diese Frage war einfach so aus ihr herausgesprungen. Wer therapierte hier eigentlich wen.
„Ja“, gab er zu, „ich bin Single. Allerdings eher durch das Schicksal, das mir vor drei Jahren meine Frau durch eine schwere Krankheit genommen hat.“
„Das tut mir leid.“
„Danke.“ Nun war er es, der sich ein Taschentuch aus der Box zog. Er rieb sich damit unter den Augen entlang. „Sie sehen, ich bin auch nur ein Mensch.“
Sollten wir jetzt einfach beide heulen, damit es uns besser geht, ging es Agneta durch den Sinn. Selbst der Schmerz konnte Menschen verbinden. Und wenn sie bei ihrem ersten Treffen noch gedacht hatte, was er eigentlich für ein hässlicher alter Knochen war, so empfand sie nach dieser persönlichen Offenbarung nun etwas wie Sympathie für ihn.
„Vielleicht sollte ich jetzt lieber gehen“, schlug sie vor und griff auch schon nach ihrer dunkelblauen Ledertasche, die sie neben sich auf dem Boden abgestellt hatte.
Er sah zur Uhr. „Es bleibt uns noch eine Viertelstunde.“
„Na dann ...“. Sie ließ die Tasche wieder sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Es überkam sie das Gefühl, dass es nun fifty-fifty stand. Das stärkte sie in ihrer psychischen Verfassung und sie drückte ihren Rücken durch.
„Bitte entschuldigen Sie mein unprofessionelles Verhalten“, sagte Herrmann nun wieder in seiner typisch sonoren Stimmlage, die nichts mehr über seine emotionale Lage verriet.
„Ach, wie Sie schon sagten, wir sind alle nur Menschen“, erwiderte Agneta gönnerhaft.
Sie fühlt sich gleich besser, wenn sie das Gefühl hat, dem anderen überlegen zu sein, dachte er. Das deutete auf ein sehr geringes Selbstbewusstsein hin. Ein Thema, an dem sie in den nächsten Sitzungen sicher noch arbeiten würden.
„Sagen Sie mir bitte, Agneta, wie es sich anfühlt in Ihrer Wohngemeinschaft.“
„Wie es sich anfühlt?“, wiederholte sie.
„Ja. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie mit den anderen zusammensitzen und essen, Spaß haben, sich einfach gut unterhalten.“
Er verunsicherte sie wieder mit seinen blauen Glupschaugen. Und sie fand jetzt, dass das linke Auge aus ihrer Perspektive sogar noch ein wenig größer war und auch weiter hervorstand als das andere. Konnte er das vielleicht steuern. Er wollte jetzt eine Antwort, sonst würden ihm die Augen am Ende noch rausfallen. Wieder musste sie schmunzeln.
„Ach, eigentlich ist es ein schönes Gefühl, wenn wir alle zusammen sind“, antwortete sie, „die Kollegen von der Soko sind ja auch oft beim Essen mit im Haus. Man könnte sagen, wir sind eine große Familie. Wir halten immer zusammen, egal, was passiert.“
Er lehnte sich zufrieden zurück. Was war es doch schön, wenn man einen anfangs unglücklichen Menschen durch sein eigenes Können zu solchen Aussagen bewegen konnte. Dann wanderte sein Blick zur Uhr.
„Oh“, sagte er, „nun ist die Zeit leider um. Wir sehen uns in vierzehn Tagen wieder um dieselbe Zeit.“
Ich hab‘ einen Fehler gemacht, dachte Agneta, als sie erneut zu ihrer Handtasche griff. Er denkt doch tatsächlich, dass er der Sieger ist. Dieser Blödmann. Hastig verließ sie die Praxis.
Dann taten ihm selbst seine kaputte Hüfte und die morschen Knie nicht mehr weh, wenn er sich am Samstag mit seinem Baby beschäftigte. Die alte Harley aus den 1970er Jahren war Krinos ganzer Stolz. Sein Leben, meinten einige seiner Kollegen. Er hatte sich die Maschine damals von seinem zusammengesparten Geld aus seiner Tätigkeit als Maurergeselle gekauft. Autos waren sicher bequemer, hatten sein Herz aber nie so hochschlagen lassen wie der Anblick eines Motorrads.
Nun fuhr Krino mit der Hand über das frisch polierte Lenkrad. Morgen, am Sonntag, würde er wieder mit seinen Kumpels zu einer Tour aufbrechen. Dieses Mal sollte es nach Westerstede gehen, wo Markt war mit einem großen Flohmarkt nebenher. Manchmal fand er da etwas für seine Sammlung, die er in der Vitrine im Wohnzimmer wie einen Augapfel hütete. Natürlich Motorradmodelle. Und am liebsten die von früher, die noch schwer und aus Metall waren. Heutzutage wurde ja alles nur noch aus Plastik hergestellt. Darüber rümpfte Krino gerne die Nase.
Er hörte Skater, seinen Schäferhund, bellen. Da musste wohl jemand auf die Auffahrt gekommen sein. Denn sonst schlug der Hund, der ebenso wie Krino in die Jahre gekommen war, gar nicht erst an.
Es war Hein Böskopp, sein bester Kumpel. Langsam ließ er sein Motorrad ausrollen und stellte es dann auf den Ständer.
„He, Krino.“ Hein winkte, nachdem er seinen Helm abgenommen hatte.
„Hein, altes Haus“, lachte Krino, „ich bin gerade mit dem Polieren fertig. Lass uns reingehen und Tee trinken.“
Hein strich Skater über den Kopf und dann schlenderten die drei, einer sich nach links drehend wegen der Hüfte, der andere leicht humpelnd wegen des Knies, hintereinander her ins Haus.
Hein war Krinos ältester Freund, wenn man von denen ausging, die noch lebten. Sie waren beide schon in Rente und lebten alleine, nachdem ihre Frauen sie schon aus unterschiedlichsten Gründen verlassen hatten. Bei Krino war es eine schwere Krankheit, die ihn zum Witwer gemacht hatte. Hein war alleine, weil seine Frau noch mit über sechzig Jahren Flausen im Kopf hatte, wie er es nannte. Sie verließ ihn wegen eines anderen Mannes und lebte nun auf Mallorca. Er hatte da ja nie hingewollt, weil er die Hitze nicht so gut vertrug.
Krino setzte Wasser auf und stellte Tassen auf den Tisch. Hein hatte es sich bereits in dem alten Ostfriesensofa gemütlich gemacht, während Skater sich unter dem Tisch zusammenrollte und einschlief.
Die beiden Alten saßen lange zusammen und unterhielten sich über ihre Motorräder. Hein hatte zwar auch eine Harley, doch die war längst nicht so chic wie die von Krino. Er hatte erst später seine Leidenschaft fürs Motorradfahren entdeckt und so hatten sich die beiden Männer vor rund fünfzehn Jahren bei einem Biker Treffen in der Krummhörn kennengelernt. Und dann stellten sie auch noch fest, dass sie gar nicht so weit voneinander entfernt in der Nähe von Norden wohnten. So wurde bald eine Freundschaft daraus und sie trafen sich auch privat regelmäßig zum Tee trinken und an den Wochenenden zum Cruisen sowieso.
„Hoffentlich spielt das Wetter morgen mit“, meinte Krino und schlürfte seine siebte Tasse Tee. Er war so ein richtiger Ostfriese, dem nichts anderes auf den Tisch kam. Er trank morgens, mittags und abends eine Kanne und schwor darauf, dass er dieser Angewohnheit seinen sehnigen Körper zu verdanken hatte.
„Sieht doch noch gut aus“, meinte Hein, während er an den vielen Grünpflanzen, die auf der Fensterbank des großen Wohnzimmerfensters wucherten, hindurch in den Himmel sah. „Schäfchenwolken, könnte man sagen.“
„Ich bin gespannt, was wir auf dem Flohmarkt wieder finden werden“, freute sich Krino schon auf den Ausflug. „Mir fehlt da immer noch dieses eine Sondermodell aus den 1980er Jahren.“
„Die meisten verkaufen sowas aber mittlerweile auf der Kleinanzeigenseite im Internet“, meinte Hein, „hast du da schon mal nachgeguckt.“
„Geh mir weg mit dem Quatsch“, winkte Krino ab. „So eine Höllenmaschine kommt mir nicht ins Haus.“
Hein lachte. Er wusste, wie negativ Krino der modernen Technik gegenüber eingestellt war. Deshalb erzählte er ihm auch nichts von den äußerst belebenden freizügigen Seiten, die er sich abends regelmäßig ansah. Kleine Geheimnisse musste man auch mal für sich behalten können, selbst unter Freunden.
Sie saßen dann auch beim Abendbrot immer noch zusammen, nachdem beide ein kleines Nickerchen nach dem Tee gemacht hatten. Krino kochte erneut Ostfriesentee und brachte Schwarzbrot und Schinken auf den Tisch. Da er aus früheren Zeiten einen Stangenofen in der Küche hatte, hing der Schinken bei ihm noch immer unter der Decke zum Trocknen. Genauso wie auch die Mettwürste, die er sich vom Schlachter seines Vertrauens kaufte. So war das in diesem Haus, in dem er auch geboren worden war, immer gewesen. Lange hatten er und seine Frau mit Krinos Eltern zusammen unter einem Dach gelebt, bis diese kurz nacheinander starben.
Und selbst, als eine Heizung eingebaut worden war im Haus, da hatte Krino darauf bestanden, den alten Stangenherd in der Küche zu behalten. Seine Frau war zum Glück ein Mensch, der ihn verstanden hatte. Er vermisste sie sehr.
Erst gegen einundzwanzig Uhr machte Hein sich dann auf den Weg nach Hause. Sie vereinbarten, dass er am nächsten Morgen gegen zehn Uhr wieder auf der Matte stehen würde.
Thekla wurde an diesem Sonntag als Erste wach im Haus. Als sie auf die Uhr sah, da war es noch nicht einmal sieben. Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken. Sie war ja noch nie eine Langschläferin gewesen, aber am Wochenende um sieben Uhr aufstehen, das behagte ihr dann doch nicht. Und sie wollte Agneta und Oma Gerda um diese Zeit auch noch nicht mit klapperndem Geschirr wecken. Also drehte sie sich wieder auf die Seite und machte die Augen zu, in der Hoffnung, doch noch wieder einschlafen zu können.
Es tauchten Bilder vor ihrem inneren Auge auf, die ihr nicht gefielen. Es geschah immer öfter, dass Ereignisse aus der Vergangenheit, die sie meinte, längst vergessen zu haben, sich wieder in den Vordergrund drängten. Und es waren wahrlich keine schönen Erinnerungen. Da war mal was gewesen mit einem Mann, mit dem sie nur kurz zusammen war. Vielleicht drei Monate oder so. Es hatte alles ganz harmonisch angefangen, ja, sie fühlte sich sogar ein wenig verliebt damals. Er kam zu ihr in die Wohnung und gab vor, dass bei ihm nicht aufgeräumt sei. Dabei lachte er dann immer. Thekla machte es nichts aus, sie verwöhnte ihn gerne. Es war ja nicht so, dass die Männer ihr in Trauben nachliefen. Damals war sie schon Ende zwanzig und noch nie länger als ein Jahr mit jemandem zusammen gewesen.
Thekla setzte sich im Bett auf und zog die Beine an. Sie sah zum Fenster. Wieso muss ich ausgerechnet jetzt wieder an ihn denken, fragte sie sich. Sie fuhr sich mit der Hand über den Hals. Dieses Gefühl, als er sie gewürgt hatte, das würde sie wohl niemals aus ihren Erinnerungen löschen können.
„Thekla, bist du schon wach?“
Agneta stand vor ihrer Tür.
„Ja, komm rein“, rief Thekla und war wirklich dankbar für diese Abwechslung.
„Ich kann nicht mehr schlafen“, sagte Agneta und schlüpfte auf der freien Seite des Doppelbetts unter die Decke. „Aber wie ich sehe, geht es dir ähnlich. Du siehst irgendwie bedrückt aus.“
„Ach was“, winkte Thekla ab und setzte ein Lächeln auf. „Was machen wir heute? Wollen wir vielleicht mit Gerda einen kleinen Ausflug machen?“
„Wenn sie dazu Lust hat“, entgegnete Agneta, „gestern Abend sah sie mir irgendwie erschöpft aus.“
„Sie war ja auch praktisch den ganzen Tag draußen im Garten“, sagte Thekla, „die Beete vorbereiten für das Gemüse. Sie ist wirklich unverbesserlich.“
„Glaub mir, wenn sie das nicht mehr machen würde, dann wäre sie nicht mehr lange bei uns“, erwiderte Agneta mit leicht gedämpfter Stimme, „sie braucht die Natur und die Tiere. Was ich auch verstehe, jeder braucht doch einen Grund, um morgens aufzustehen.“
„Hm“, machte Thekla, „und warum stehen wir auf?“
„Wegen der Arbeit“, maulte Agneta.
Beide mussten lachen.
Sie tratschten dann noch ein bisschen über die Kollegen und ahmten Okko und Siggi nach. Und auch Herbert bekam sein Fett weg. Das waren so die Momente, wo sie sich wohlfühlten, auch wenn es ihnen gar nicht bewusst war. Die Soko Norddeich mitsamt Oma Gerda war zu ihrer Familie geworden. Dieses Haus, in dem sie lebten zu einem Ort, an dem man bis zum Schluss bleiben wollte. Auch wenn es niemand von ihnen aussprach, sie waren eigentlich glücklich.
Krino war an diesem Morgen schon um halb acht aus dem Bett gekrochen und hatte seine Hüfte und seine Knie mit Franzbranntwein eingerieben. Die Nacht über hatten ihn immer wieder ziehende Schmerzen geplagt. Sein Arzt riet ihm ja schon lange zu Ersatzteilen. Doch Krino winkte immer ab. Er sei wie seine alte Harley, da sei auch noch alles original. Der Arzt stimmte dann immer in das Lachen mit ein.
Nachdem er sich angezogen hatte, ließ er Skater hinten aus dem Haus. Danach setzte er in der Küche Wasser für seinen Tee auf. Unschlüssig stand er danach vor dem Kühlschrank. Sollte er Käse oder Marmelade essen. Toast oder Schwarzbrot. Schließlich zog er etwas Deftiges vor, weil sie einen langen Tag vor sich haben würden. Und auch wenn Hein immer gerne an Pommesbuden herumlungerte, so lehnte Krino das fette Zeug wegen seiner Cholesterinwerte dankend ab. Da war es wirklich besser, wenn er sich mit Käse und Vollkornbrot versorgte.
Er brachte alles auf den Tisch und goss das sprudelnde Wasser in die Kanne, als er hörte, wie Skater draußen anschlug. Das konnte unmöglich Hein sein. Der kam nie zu früh, wenn sie verabredet waren. Dazu schlief der viel zu gerne.
Krino stellte die Kanne mit dem Tee auf das Stövchen auf dem Tisch und ging dann neugierig hinten aus dem Haus.
Thekla und Agneta waren tatsächlich wieder eingeschlafen, als sie plötzlich von klapperndem Geschirr geweckt wurden.
„Das ist Gerda“, murmelte Agneta und räkelte sich.
„Dann sollten wir jetzt aber auch aufstehen“, sagte Thekla und warf ihre Bettdecke zur Seite und schwang ihre Beine heraus.
Nachdem Thekla sich im Bad fertiggemacht hatte, ging auch Agneta hinein und schon bald saßen sie zusammen mit Oma Gerda beim Frühstück.
„Eigentlich hätte ich das heute machen wollen“, seufzte Thekla und wies auf den gedeckten Tisch und sah Gerda schuldbewusst an.
„Ach, schon gut, meine Liebe“, erwiderte diese, „ich mache das gerne für euch. Ihr habt euch einen freien Tag ja wirklich mal verdient bei eurem anstrengenden Job.“
„Wir könnten heute Nachmittag einen Ausflug machen“, mischte sich Agneta in das Gespräch ein, „was denkst du Gerda, wo würdest gerne einmal hinfahren?“
„Ich?“ Gerda schien in diesem Moment wirklich überfordert. „Ich weiß nicht, eigentlich tun mir die Knochen von der Gartenarbeit am gestrigen Tag noch weh. Ich dachte, ich ruhe mich einfach mal an einem geschützten sonnigen Plätzchen aus. Aber wenn ihr beide was unternehmen wollt, dann nur zu ...“.
Thekla und Agneta warfen sich einen kurzen Blick zu. Dann schüttelten sie mit den Köpfen.
„Wenn du hierbleibst, dann bleiben wir auch hier“, sagte Thekla, „und eigentlich hast du ja auch recht. Zuhause ist es immer noch am schönsten.“
Als sie mit dem Frühstück fertig waren, war es schon fast halb zwölf. Deshalb beschlossen sie, ihre große Mahlzeit auf den frühen Abend zu verlegen. In der Zwischenzeit wollten sie einfach mal die Seele baumeln lassen, wie Agneta mit einem Augenzwinkern bemerkte. Doch daraus sollte an diesem Tag nichts werden.
Okko hatte an diesem Wochenende Dienst und am Nachmittag wollte Siggi noch einmal reinschauen, damit es für Okko nicht allzu langweilig wurde. Meistens kam bei solchen Gelegenheiten auch noch Herbert dazu, so dass sie bis zum späten Abend Skat spielten. Darauf freute Okko sich immer am meisten.
Er hatte gerade sein zweites Frühstück mit einer guten Kanne Ostfriesentee verspeist, da klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Mit einem Papiertaschentuch wischte er sich Reste von seiner Leberwurst von den Fingern. Dann nahm er ab.
„Soko Norddeich 117, Okko Fahnster am Apparat.“
„Hallo, ist dort die Polizei?“, fragte eine männliche Stimme nach.
„Ja, das ist richtig“, bestätigte Okko. Es gab wohl immer noch Menschen, die noch nie etwas von ihrer Sondereinheit in Norddeich gehört hatten.
„Ich möchte einen Mord melden“, fuhr der Mann fort.
Okko horchte auf. „Mit wem spreche ich bitte?“, hakte er nach. Es kam in letzter Zeit immer häufiger vor, dass Bekloppte sich einen Spaß daraus machten, die Polizei mit Fehlinformationen zu einem Einsatz zu locken. Ähnlich war es bei der Feuerwehr. Die Welt wurde immer verrückter.
„Mein Name ist Hein Böskopp“, sagte der Mann, „und es geht um meinen Freund Krino.“
Klar, wenn man schon Böskopp hieß, dachte Okko und nahm die Sache noch immer nicht so ganz ernst. „Was ist denn genau passiert?“
„Das weiß ich nicht“, fuhr der Zeuge am anderen Ende fort. „Ich wollte Krino zu einem Motorradausflug abholen. Und als er die Tür nicht aufmachte, da bin ich ums Haus gegangen. Da habe ich ihn dann gefunden. Und sein Hund ist auch tot.“
Es mochte sein, dass jemand wegen eines toten Mannes herumflunkerte, doch bei einem Hund, da hörte der Spaß eindeutig auf. Also ließ Okko sich die Adresse vom Anrufer geben und bat ihn, dort auf die Polizei zu warten. Dann legte er auf und rief bei Siggi und Herbert an, damit sie sich auf den Weg zu der besagten Adresse machten. Anschließend alarmierte er auch Thekla und Agneta, die sich sofort auf ihre Fahrräder schwangen, um zur Dienststelle zu fahren, damit Okko sie mit zum Tatort nehmen konnte.
Als Okko mit den Frauen im Wagen saß, erzählte er ihnen, was der Anrufer gesagt hatte. Nur den toten Hund, den ließ er vorerst weg, weil er wusste, wie dünnhäutig Agneta auf tote Tiere reagierte. Ihm schwante schon, was gleich passieren würde, wenn sie den Hund mit raushängender Zunge und gestreckten Beinen am Boden liegen sah.
Als sie den Hof des Opfers erreichten und auf die Auffahrt einbogen, da stand der Wagen von Herbert bereits da. Siggi und er unterhielten sich mit einem älteren Mann in Lederkluft. Okko stellte den Wagen neben Herberts ab und die drei kletterten heraus und gingen zu den anderen herüber.
„Sie haben angerufen?“, fragte Okko und sein Blick heftete sich auf ein Tattoo am Hals des Mannes, das man aufgrund des T-Shirts, das er unter der Lederjacke trug, nur erahnen konnte.
„Das ist richtig“, bestätigte Hein Böskopp, „ich kann es immer noch nicht glauben, dass Krino wirklich tot sein soll.“
„Eigentlich sollte schon jemand hier sein, um das zu bestätigen“, sagte Okko, der auch ein Einsatzteam zur Spurensicherung und einen Gerichtsmediziner vom Wagen aus informiert hatte.
„Die kommen sicher gleich“, sagte Herbert, „ich schlage vor, wir sehen uns den Toten schon mal an.“
Gemeinsam trotteten sie alle hinter Hein Böskopp her und schon bald sahen sie die Beine des Toten. Und dann den Rest.
„Da liegt ein Hund!“, stieß Agneta aus und Okko rollte mit den Augen und sah zu Herbert. „Was ist denn mit dem Hund?“ Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, weil sie den Anblick nicht länger ertrug.
Hein Böskopp drehte sich zu ihr um und sah erst sie und dann Okko mit gerunzelter Stirn an. Okko zog nur die Schultern hoch. „Der Hund ist auch tot“, sagte Hein Böskopp, „erschlagen mit der Stange, die neben Krino liegt.“
„Oh mein Gott“, stöhnte Agneta, „Okko, du hättest mich wenigstens vorwarnen können. Kann vielleicht jemand eine Decke über das Tier legen? Andernfalls gehe ich und setze mich wieder in den Wagen.“
„Da liegt bestimmt was Passendes im Schuppen“, beeilte sich Hein Böskopp, zu sagen, und marschierte auch schon los. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen des Hundes. Vielleicht hatte sie recht und er hätte ihn abdecken müssen. Aber mein Gott, Skater war schon dreizehn Jahre alt gewesen. Wer wusste schon, wie elendig er in vielleicht einem halben Jahr oder so an einer schweren Krankheit krepiert wäre. Da war so ein schnelles Ende doch eigentlich immer schöner. Kurz darauf kam er mit einer graumelierten Decke zurück und warf sie Skater über den ganzen Körper.
Dann wandten sich alle Krino Bischoff zu.
„Sein Motorrad ist weg“, sagte Hein Böskopp, als alle andächtig zu Boden sahen.
„Welches Motorrad?“, fragte Okko nach.
„Na, die Harley. Ich sagte doch, dass wir einen Motorradausflug geplant hatten.“
„Ja stimmt, ich erinnere mich. Und das Motorrad ist weg?“
„Es steht immer im Schuppen“, Hein Böskopp zeigte in die Richtung, „da, wo ich eben auch die Decke geholt habe. Fiel mir gleich auf, dass das Motorrad weg ist.“
Die spinnen, dachte Thekla bei sich. Erst das Gejammer um den Köter und jetzt auch noch das Motorrad. Und wer trauerte um den armen alten Mann mit der klaffenden Wunde am Schädel. „Ich denke, Krino Bischoff ist tot“, sagte sie deshalb, um das Augenmerk nun dahin zu lenken.
Alle sahen wieder auf den Toten. Krino Bischoff war klein und schmächtig gewesen. Sein volles graues Haar, das ihm bis zum Alter erhalten geblieben war, war von dunklem getrocknetem Blut durchtränkt. Er trug eine schwarze Lederhose mit Fransen an den Außenseiten und dazu ein schwarzes Shirt mit einem Totenkopf, was in diesem Moment ein wenig bizarr wirkte. Wäre er nicht tot, dachte Thekla, dann könnte man ihn für einen alten Punk-Opa halten, so mit den roten Strähnen auf dem Kopf.
Jemand kam hinters Haus. Alle drehten sich um. Es war der Gerichtsmediziner, der sich durch die vielen Augenpaare, die jetzt auf ihn gerichtet waren, ein wenig in die Enge getrieben fühlte.
„Moin“, sagte er und die anderen erwiderten seinen Gruß. Na, dachte er dann, als er vor der Leiche stand, das wäre doch auch nicht nötig gewesen. Er war doch in einem Alter, wo es sowieso bald vorbei gewesen wäre. „Da ist wohl nicht mehr viel zu machen.“ Er ging in die Hocke, nachdem er seine Tasche abgestellt und geöffnet hatte. Dann legte er seinen behandschuhten Finger an den Hals des Toten, um sich letzte Gewissheit zu verschaffen. „Mausetot.“ Er kam wieder hoch.
„Das haben wir uns auch schon gedacht“, sagte Okko, der sich als Ansprechpartner heute für zuständig hielt, weil die Meldung in seinem Dienst reingekommen war.
Nun kamen auch die Mitarbeiter der Spurensicherung ums Haus herum und nahmen ihre Arbeit auf.
Okko, seine Kollegen und Hein Böskopp machten ihnen Platz und stellten sich etwas weiter entfernt hin und beobachten das Spektakel.
„Meinen Sie“, fragte Okko an Böskopp gewandt, „dass man ihn wegen des Motorrads ermordet hat?“
„Woher soll ich das wissen“, erwiderte Böskopp matt. „Aber die Maschine, die war schon ein schönes Sümmchen wert, soviel steht fest.“
„Dann müsste der Mörder von dem Motorrad gewusst haben“, mischte sich Thekla nun ein, die sonst gerne die Gesprächsführung bei der Befragung übernahm. „Dann sollten wir den Täter wohl im näheren Bekanntenkreis suchen.“
„Tja“, machte Böskopp und rieb sich übers Kinn, „alle, die über die Straßen cruisen, kennen Krino und seine Harley.“
„Soviel zum engeren Bekanntenkreis“, seufzte Okko, „wir können doch nicht jeden Motorradfahrer im Umkreis von fünfzig Kilometern zur Befragung einladen.“
„Nein“, bestätigte Thekla, „so kommen wir bestimmt nicht weiter. Hatte Herr Bischoff Verwandte hier in der Gegend?“, fragte sie dann wieder an Böskopp gewandt.
Dieser schüttelte mit dem Kopf. „Krino und seine Frau, die vor einigen Jahren gestorben ist, hatten keine Kinder. Und auch von anderen Verwandten weiß ich da leider nichts.“
„Also auch da nichts“, meinte Thekla.
„Mir fällt da gerade etwas ein“, sagte Böskopp plötzlich und rieb jetzt an seiner Stirn, „ich habe Krino gestern noch auf einen Tee besucht, weil wir die für heute geplante Tour noch einmal besprechen wollten.“
„Und?“ Okko machte große Augen.
„Tja, ich weiß nicht, ob das wirklich weiterhilft oder wichtig ist, aber Krino hat mir erzählt, dass vorgestern, also am Freitagvormittag, dass da so seltsame Typen bei ihm vorm Haus gestanden hätten.“
„Seltsame Typen?“, fragte Thekla, „was genau meinen Sie damit?“
Nun erzählte Hein Böskopp das, was ihm von dem Gespräch mit Krino noch in Erinnerung geblieben war. Es waren zwei Männer gewesen, die in einem weißen Kastenwagen auf Krinos Auffahrt gefahren waren, während er an seinem Motorrad herumgeschraubt hätte. Sie seien ganz offensichtlich keine Ostfriesen gewesen und dann, als sie Krino ihre Dienste bezüglich seines Daches und der Regenrinne angeboten hätten, da wurde klar, dass sie aus dem osteuropäischen Raum stammen mussten. Krino hätte sie dann ziemlich schnell wieder abgewimmelt mit dem Hinweis, dass er selber Handwerker sei und das meiste, was an seinem Haus gemacht werden müsste, gerne in Eigenregie erledigte.
„Und dann sind die Männer einfach wieder gegangen?“, fragte Thekla, nachdem Böskopp sich wohl alles aus seiner Stirn gerieben zu haben schien, an das er sich erinnerte. Denn nun steckte er die Hände in die Hosentaschen.
„Ja“, bestätigte Böskopp, „dann sind die Männer wieder abgezogen.“
„Hm“, machte Thekla, „man hört ja immer wieder von kriminellen Banden, die sich an ältere Menschen heranmachen, um sie dann übers Ohr zu hauen. Das könnte ein erster Hinweis sein.“
„Aber wie um Himmels willen sollen wir sie finden?“, fragte Okko geistesgegenwärtig.
„Wir könnten die anderen Hausbesitzer hier in der Gegend fragen, ob jemand mehr über diese Männer weiß. Vielleicht haben wir Glück und jemand hat sich eine Telefonnummer aufgeschrieben oder gar das Kennzeichen ihres Wagens.“
„Gute Idee“, stimmte Okko zu. „Ich denke, Herbert und ich werden uns darum kümmern.“ Er nickte seinem Kollegen zu, der bereitwillig mit ihm zu seinem Wagen ging. „Du warst ziemlich still die ganze Zeit“, sagte Okko, als er mit Herbert alleine war. „Etwas nicht in Ordnung?“
„Wie?“ Herbert schien ganz in Gedanken gewesen zu sein.
„Ob alles in Ordnung ist“, wiederholte Okko, „du hast dich aus der Befragung praktisch komplett herausgehalten.“
„Oh, ja ja, alles gut.“
Sie stiegen in den Wagen und fuhren los.
Hinter dem Haus wurde Krino Bischoff nun in einen Zinksarg verfrachtet. Und ein weiterer Kollege bemühte sich um den Hund.
„Ich geh dann mal nach vorne“, sagte Agneta schnell, weil sie dabei einfach nicht zusehen konnte, wie man das arme Tier in einen Müllsack stopfte.
„Wir sollten uns jetzt sowieso im Haus umsehen“, sagte Thekla, die Agnetas Überempfindlichkeit zwar nicht nachvollziehen konnte, aber dennoch respektierte, wenn jemand so viel für Tiere übrig hatte. „Herr Böskopp, Sie können dann jetzt gehen, wir haben ja Ihre persönlichen Daten, falls wir noch Fragen an Sie haben.“
„Danke“, sagte dieser. Ihm hatte sich nämlich gerade der Magen umgedreht, als er Krinos Arm aus dem Zinksarg baumeln sah, bevor ihn ein Polizist pragmatisch wieder zurückdrückte, damit die Blechkiste geschlossen werden konnte. Er ging direkt zu seinem Motorrad und fuhr davon.
Thekla, Siggi und Agneta sahen sich im Haus von Krino Bischoff um, nachdem das Team von der Spurensicherung ihnen die Erlaubnis erteilt hatte. Es war ein schönes großes altes Bauernhaus mit einer lichtdurchfluteten Küche, die mindestens vierzig Quadratmeter umfasste. Darin standen ein alter Stangenherd und es hingen Würste und Schinken von der Decke.
„Nur gut, dass Okko jetzt nicht hier ist“, frotzelte Thekla und die anderen beiden lachten, weil sie wussten, worauf sie anspielte.
„Er hätte sofort nach einer Leiter gesucht und sich ein Messer gegriffen“, erwiderte Siggi und schmunzelte.
Agneta verzog nur das Gesicht bei dem Anblick. Während den Kollegen sicher auch das Wasser im Mund zusammenlief, sah sie nur viel Tierleid. Und die Arbeit in dem Tierschutzverein, die sie längst wieder an den Nagel gehängt hatte, hatte ihr den Rest gegeben. Menschen nannten Tiere immer Bestien, obwohl sie selber die Schlimmsten waren.
Um einen langen Echtholztisch herum standen acht massive Stühle. Die Stimmung in diesem Raum, in das die Sonne schien, erzählte von Familiengeschichten, die an diesem Tisch sicher oft erzählt worden waren bei gemeinsamen Sonntagsessen, so, wie man sie früher kannte. Der Ofen bollerte, wenn die Soße und das Fleisch auf den Tisch kamen. Alle hielten zusammen und genossen die schöne Zeit zusammen.
Thekla und ihre Kollegen konnten ja nicht ahnen, wie viel Leid sich hier in der Küche über die Jahre zugetragen hatte.
Das Wohnzimmer war mit dunklen Eichenmöbeln eingerichtet und vermittelte mit den fast deckenhohen Schränken etwas Bedrückendes, wie Agneta feststellte. Dazu noch die schweren Sitzmöbel mit dunkelgrünem Samtstoff bezogen. Es gab einen Fernseher, aber es war noch ein altes Modell mit einem wuchtigen Körper, wie man sie eigentlich nur noch bei Haushaltsauflösungen sah, wenn der Opa gestorben war.
„Keine Familienfotos an den Wänden“, murmelte Thekla, „das ist doch sonderbar.“
„Ja, komisch“, sagte Agneta, „ich geh dann mal weiter ins Bad.“
„Mach das.“ Thekla setzte sich in den schweren Sessel und ließ ihren Blick über die Bücherwand streifen. Auch so ein Relikt aus vergangenen Zeiten, die schweren Duden im Ledereinband. Ihre Eltern hatten diese Dinger auch gesammelt. Sie waren komplett in den Müll gewandert, als diese starben. Niemand wollte sie haben. Und sie selber am wenigsten. Sie hatte nie verstanden, warum man sich dicke Bücher in den Schrank stellte, ständig abstaubte und doch niemals hineinsah.
Siggi war ins Schlafzimmer gegangen, in dem es leicht modrig roch. Nicht wärmer als achtzehn Grad, klang es in seinen Ohren, sonst schläft man nicht gut. Nun, er selber mochte es lieber wärmer. Und dann roch es auch besser. Das Bettgestell war aus vergangenen Zeiten. Vermutlich von den Großeltern übernommen mit einer hohen mit Schnitzereien verzierten Rückwand. Ihn erinnerte es eher an einen Sarg und eine Gänsehaut fuhr über seinen Rücken. Er dachte in letzter Zeit viel über den Tod nach. Vielleicht lag es daran, dass er privat zu viel alleine war. Er lebte nun in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit netten Vermietern, die im Erdgeschoss wohnten. Sie ließen ihn gewähren, nachdem sie gemerkt hatten, dass er ziemlich wortkarg war. Sicher waren sie einfach froh und erleichtert, dass die Polizei nun direkt bei ihnen im Haus wohnte, was ihnen ein Gefühl der Sicherheit in diesen Zeiten gab. Da musste man ja nur an Krino Bischoff denken, dem offenbar fremde Menschen eine Eisenstange über den Kopf gezogen hatten, nur, weil sie es auf sein Motorrad abgesehen hatten. So ein Ende verdiente doch niemand. Siggi traute sich nicht, die dicke Bettdecke, die Krino noch am Morgen ordentlich aufgeschüttelt und doppelt gelegt hatte, anzufassen. Der Geruch nach alten feuchten Federn kroch in seine Nase und er musste niesen. Er schnäuzte sich kurz, um danach mit spitzen Fingern den dunklen Kleiderschrank zu öffnen. Hemden, nach Farben geordnet hingen neben abgewetzten Cordhosen. Ein alter Mann brauchte eben nicht mehr viel. In den Fächern Unterwäsche nach Jahreszeiten gestapelt. Was würde wohl mit all den Sachen passieren. Noch wussten sie ja nicht, ob es überhaupt Nachkommen gab, denen man die Aufgabe, hier alles zu entsorgen, in den Magen drücken konnte. Ansonsten würde sich wohl die Stadt darum kümmern müssen.
„Na, was Interessantes gefunden?“
Siggi schrak aus seinen Gedanken auf und drehte sich zu Agneta um.
„Hm“, machte er, „sieht alles nach einem normalen Leben aus, wenn du mich fragst.“
„Im Badezimmer auch“, erwiderte sie und ging zum Bett und strich über die Decke.
Wieder kroch eine Gänsehaut über Siggis Rücken, als er ihr dabei zusah. Wie konnte sie nur, wo sie doch sonst so empfindlich war.
„Fühlt sich ein wenig klamm an“, sagte sie und rieb ihre Handflächen nun aneinander.
„Ist ja auch nicht gerade warm hier“, sagte er und verschwieg ihr seinen Ekel vor dem, was sie gerade gemacht hatte.
„Man spürt im ganzen Haus, dass er alleine gelebt hat“, fuhr Agneta fort, „alles ist irgendwie praktisch aber schmucklos.“
Das würde sie sicher auch zu meiner Wohnung sagen, dachte Siggi. Bisher hatte er seine Kollegen noch nicht auf einen Schnaps zu sich eingeladen, wie das sonst sicher üblich war. Aber eigentlich war das Wohnzimmer dafür auch viel zu klein. Es passten gerade mal ein kleines Sofa, ein Tisch und ein Fernsehbord hinein. Und mehr hatte er auch gar nicht angeschafft.
Die beiden gingen ins Wohnzimmer zurück, wo Thekla in gebückter Haltung in einer Schublade der Schrankwand herumkramte. Als sie die beiden hörte, drehte sie sich um und kam mit in den Rücken gestemmten Händen wieder in die Senkrechte.
„Na, was Interessantes gefunden?“, fragte Agneta und setzte sich in den Sessel, in dem bis eben noch Thekla gesessen hatte. Siggi blieb am Fenster stehen und sah nach draußen.
„Nein, eigentlich nicht“, meinte Thekla, „es sieht aus, als hätte hier schon mal jemand alles so richtig durchforstet und Unwichtiges weggeschmissen. Es gibt hier nur noch Unterlagen, die auf den Namen von Krino Bischoff laufen wie Versicherungen und Schreiben von der Kommune. Fast so, als hätte es seine Frau niemals gegeben.“
„Das ist unüblich“, meinte Agneta, „sonst kann man doch Papiere von Generationen in solchen alten Häusern finden.“
„Richtig“, sagte Thekla, „es ist wirklich seltsam.“
„Vielleicht wollte er seine Erben nicht damit belasten, wenn es soweit ist“, schlug Siggi vor, ohne seinen Blick von der großen alten Eiche, die im Garten stand, abzuwenden. Es war ein gepflegter Garten ohne Schnörkel. Und doch wirkte es heimelig, weil alles von einer hohen Hecke umgeben war, so dass niemand hineinsehen konnte. Es stand eine Sitzgruppe unter der Eiche, wetterfest aus Stahl. Doch Siggi ging davon aus, dass dort schon seit langer Zeit niemand mehr gesessen hatte. Efeu rankte um die Beine der Stühle und hatte sich bereits auch nach dem Tisch gereckt.
„Das wäre möglich“, sagte Thekla, „aber wer erbt das hier jetzt eigentlich alles? Das müssen wir unbedingt herausfinden.“ Sie bückte sich wieder und kramte weiter in Papieren herum.
Okko und Herbert waren schweigend nebeneinandersitzend in der näheren Umgebung herumgefahren und hatten Hausbesitzer befragt. Und tatsächlich waren diese Handwerker auch bei dem ein oder anderen Haus gewesen, um ihre Dienste anzubieten. Doch niemand hatte sich weiter darauf eingelassen und konnte nichts zu deren Identität beitragen.
„Das hätte man sich ja denken können“, stöhnte Okko, als sie bei dem bereits sechsten Grundstück erfolglos wieder von der Auffahrt fuhren.
„Ich denke, das bringt uns nicht weiter“, sagte Herbert. „Oder kannst du dir vorstellen, dass du solche Typen nach ihren Namen und Telefonnummern befragst. Die will man doch einfach nur schnell wieder vom Hof haben. Die Menschen sind über das Fernsehen und die Zeitung doch alarmiert, bei solchen Angeboten vorsichtig zu sein.“
„Stimmt. Was meinst du, sollen wir zurück zur Dienststelle fahren?“ Okko sah auf seine Uhr. „Gleich ist es schon sechs. Abendbrotzeit, wenn du mich fragst.“
„Also auf zu Oma Gerda“, sagte Herbert und das erste Mal an diesem Tag huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
Gerda hatte das meiste für das Abendbrot bereits vorbereitet, als Thekla und ihre Kollegen als Erste bei ihr eintrafen.
„Ausgerechnet der Krino“, klagte sie, als sie die Teekannen jetzt mit kochendem Wasser in der Küche befüllte.
Thekla half ihr bei den restlichen Vorbereitungen, Agneta und Siggi kümmerten sich draußen noch einmal um die Hühner, weil ein heftigerer Wind als gewöhnlich aufgekommen war.
„Du kanntest ihn gut?“, hakte Thekla nach, während sie Zwiebeln schnippelte.
„Ach, wer kannte Krino nicht“, seufzte Gerda. „Natürlich war er jünger als ich, aber er ist in der Schule schon immer aufgefallen. Alle wollten gerne mit ihm befreundet sein, weil es dann immer Abenteuer zu erleben gab. Und später dann, als ich die Schule verlassen hatte, da hat er, als er zum Maurer ausgebildet wurde, auch hier am Hühnerstall mitgearbeitet. Er war einfach ein feiner Kerl.“
„Wusstest du, dass er Motorrad fuhr?“
„Sicher. Das wussten alle. Und niemand hat sich darüber gewundert, dass der alte Knochen noch immer in Lederkluft herumläuft.“ Gerda lachte nun mit nach innen gerichtetem Blick.
Thekla beneidete sie um diese Erinnerungen. Gerda hatte diese Gegend niemals verlassen und kannte Gott und die Welt und wusste vieles über die Bewohner zu erzählen. Jedenfalls über die Alteingesessenen im Dorf. Wenn alle einmal weggestorben waren, dann redete niemand mehr über Gerda oder Krino, war sich Thekla sicher. Und in ihrer Generation war alles schon irgendwie unpersönlicher geworden. Man zog ständig um wegen des Jobs oder aus sonstigen Gründen. Die Soko Norddeich 117 war ja auch so ein willkürlich zusammengewürfelter Haufen.
Sie hörten die Haustür und dann die Stimmen von Okko und Herbert, die ebenso in das Wohnzimmer gegangen waren und mit Siggi und Agneta sprachen.
„Der Tee ist fertig“, sagte Gerda und stellte drei Kannen auf ein Tablett.
„Die trage ich rüber.“ Thekla nahm ihr das Tablett ab und sagte, „nimm du die Zwiebeln und Tomaten bitte mit.“
„Hallo Gerda“, sagte Okko, als die beiden hereinkamen, „das sieht wieder mal ganz fantastisch aus und ich habe einen Bärenhunger.“ Er rieb sich über seinen Bauch.
„Da hast du was verpasst“, lachte Thekla, die an die Würste und den Schinken in Krino Bischoffs Küche denken musste.
„Wieso?“, hakte er nach.
„Ach, schon gut.“ Thekla stellte die Kannen mit dem Ostfriesentee auf die Stövchen und lehnte das Tablett anschließend an die Wand neben der Tür.
Alle saßen zusammen und langten ordentlich zu. Sie berichteten Gerda von den Vorkommnissen bei Krino Bischoffs Haus und dass man zurzeit nach zwei Männern suchte, die handwerkliche Dienste auf gut Glück anboten. Die Suche nach ihnen war bisher erfolglos verlaufen. Aus Rücksicht auf Agneta sprach niemand über Skater, den toten Hund.
„Ich sag ja immer, dass man die Tür gar nicht aufmachen sollte, wenn man niemanden erwartet“, sagte Gerda und klang bestürzt. „Aber wenn ich ehrlich bin, ich schließe meine Tür ja nicht einmal ab.“
„Darüber solltest du wirklich nachdenken“, warnte Thekla, „wir sind ja nicht immer im Haus.“
„Du hast recht, ich werde vorsichtiger sein. Aber zum Glück waren diese Handwerker noch nicht an meiner Tür. Denen würde ich aber Beine machen.“ Drohend hob sie den Arm und ballte ihre verknöcherten Finger zu einer hohlen Faust.
Alle mussten lachen und sie wussten, dass mit Gerda nicht gut Kirschen essen war, wenn ihr etwas gegen den Strich ging.
„Ich habe das Schreiben eines Notars gefunden“, wechselte Thekla nun das Thema. „Vermutlich hat Krino Bischoff bei ihm sein Testament hinterlegt. Ich werde gleich morgen mal dort vorbeifahren.“
„Tja, da bin ich wirklich gespannt“, meinte Gerda, „wem er alles vermacht. Meines Wissens hat er keine Verwandten mehr in dieser Gegend.“
„Das sagte sein Kumpel Hein Böskopp auch“, erwiderte Okko.
„Hein Böskopp“, stieß Gerda aus, „was hat er denn mit der Sache zu tun?“
„Er wollte Krino zu einer Motorradtour abholen“, fuhr Okko fort und alle wunderten sich über Gerdas offensichtliche Abneigung gegen diesen Mann. „Was ist denn mit ihm?“
„Ach, ich will gar nicht an ihn denken“, murmelte Gerda, „das ärgert mich dann nur. Aber dass Krino mit dem befreundet war, das finde ich wirklich seltsam. Aber im Alter werden Menschen ja manchmal wunderlich.“
Es herrschte plötzliche Stille am Tisch. Agneta musste husten und griff nach ihrer Teetasse, um die Krümel, die ihr im Hals steckengeblieben waren, herunterzuschlucken.
„Du bist nicht gut auf ihn zu sprechen, richtig?“ Herbert konnte das nicht auf sich beruhen lassen. Schließlich ermittelten sie hier in einem Mordfall.
„Nein“, murmelte Gerda. Sie rieb mit ihrer Fingerspitze über ihren Teller, um die letzten Brotkrumen aufzusammeln und sie sich in den Mund zu stecken. „Es ist schon lange her, sehr lange“, fuhr sie dann fort, „da haben Krino und Hein eine ganz üble Schlägerei in der Dorfkneipe gehabt. Es ging da wohl um eine Frau. Und am Ende hat man Krino schwerverletzt in ein Krankenhaus bringen müssen. Hein ist äußerst brutal und rücksichtslos gewesen. Und vielleicht heute immer noch.“
„Willst du damit andeuten, dass wir ihn uns mal näher ansehen sollten?“ Herbert strich Butter auf ein weiteres Schwarzbrot, während er Gerda mit seinem Blick fixierte. „Denkst du, er hat etwas mit Krinos Tod zu tun?“
„Das weiß ich nicht“, sagte Gerda, „und es liegt mir wirklich fern, hier Gerüchte in die Welt zu setzen. Ihr müsst selber entscheiden, was ihr mit dieser alten Geschichte von damals anfangt. Vielleicht haben die beiden sich ja wirklich irgendwann zusammengerauft mit den Jahren. Ich weiß ja auch nicht alles, was hier vor sich geht.“ Sie führte ihre Teetasse an die Lippen und schlürfte.
Thekla und Herbert warfen sich Blicke zu. Es war klar, wen sie morgen als Erstes unter die Lupe nehmen würden.
Um Gerda einen Gefallen zu tun, sprachen sie nun über die Hühner und den Garten. Das gefiel ihr und sie plante den nächsten Tag, wo sie wieder eine Fläche für die Möhren anlegen wollte. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle zwei Jahre die Standorte vom Gemüse zu wechseln, damit dem Boden die Möglichkeit blieb, sich dem Wandel anzupassen und so mehr Kraft zu haben. Ob es wirklich half, das wusste sie nicht. Doch die Ernte war in jedem Jahr reichlich.
Der Abend klang nach dem gemeinsamen Abräumen mit einem guten Korn oder zwei aus.
Als Siggi, Okko und Herbert gegangen waren, saßen die Frauen noch vor einem Krimi, wo sie die Hälfte schon verpasst hatten. Doch das war egal. Am Ende klärte sich alles wie von Zauberhand auf. Thekla stieß Agneta an, als sie hörte, wie Gerda leise in ihrem Ohrensessel vor sich hin schnorchelte. Thekla legte eine warme Decke über sie und machte den Fernseher aus.
Dann gingen Agneta und Thekla nach oben und legten sich schlafen.
Am nächsten Morgen gingen Agneta und Thekla schon in aller Frühe, noch bevor Gerda aufgestanden war, aus dem Haus.
In der Dienststelle warteten die Männer bereits auf sie und gemeinsam besprachen sie, wie sie vorgehen wollten.
Thekla und Herbert würden zum Notar fahren, während Siggi in der Dienststelle mit Agneta mehr zu Hein Böskopp in Erfahrung bringen wollten.
Okko wollte in die Gerichtsmedizin nach dem Obduktionsergebnis zu fragen.
Außerdem war es für alle interessant, welche Fingerabdrücke man auf der Eisenstange finden würde.
Der Notar fiel aus allen Wolken, als er vom unfreiwilligen Tod von Krino Bischoff erfuhr. Er war auch nicht mehr der Jüngste und an der Wand hingen Aufnahmen, die ihn in Lederkluft mit einem Motorrad zeigten.
„Sie waren näher mit Herrn Bischoff befreundet gewesen?“, hakte Thekla deshalb nach.
„Wir haben uns über ein Biker Treffen kennengelernt“, antwortete der Notar, „aber privat haben wir nicht miteinander verkehrt, falls Sie das wissen möchten.“
„Okay. Und dann hat Herr Bischoff Sie beauftragt, ein Testament für ihn anzufertigen.“
„Woher wissen Sie das?“
Thekla zog das Schreiben, das sie aus dem Haus von Krino Bischoff mitgenommen hatte, aus ihrer Jackentasche und legte es vor dem Notar auf den Tisch.
„Aha“, sagte dieser, „ja, es stimmt. Krino hat seinen letzten Willen bei mir hinterlegt, für den Fall ...“. Er schüttelte mit dem Kopf. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er wirklich tot sein soll. Und dann auf so brutale Weise. Mit einer Eisenstange erschlagen, sagen Sie?“ Ungläubig sah er Thekla an. Sie nickte.
„Würden Sie uns bitte einen Blick auf das Testament werfen lassen“, forderte Thekla ihn dann auf.
„Oh, ist das denn ohne richterlichen Beschluss so einfach möglich?“, fragte der Notar unsicher nach.
„Bei Mord ist nichts mehr, wie es war“, sagte Thekla, „oder denken Sie, dass es bei dem Testament etwas zu verbergen geben könnte? Sie wissen doch, wer das Haus erben wird.“
Der Notar nickte. „Geben Sie mir einen Moment, ich habe nebenan einen Safe. Ich werde das Testament holen.“
Als er zurückkehrte, hatten sich Thekla und Herbert an den Besuchertisch gesetzt und sahen im gespannt entgegen. Er setzte sich zu ihnen.
„Ich bin froh, dass Sie wenigstens zu zweit hier sind, dann gibt es einen weiteren Zeugen“, sagte der Notar und öffnete den Umschlag, auf dem Mein letzter Wille – Krino Bischoff – in feiner Handschrift geschrieben stand, mit einem Brieföffner, den er lautlos in den Umschlag schob. Dann zog er einen blütenweißen Bogen mit feiner Musterung heraus und entfaltete ihn. „Soll ich Ihnen vorlesen, was darin steht?“, fragte er, weil es eigentlich so üblich war. Thekla nickte. Also räusperte er sich. Dann las er vor, dass das Haus mit dem großen Grundstück sowie sämtliches Inventar mit einer Ausnahme an eine Stiftung mit dem Namen Herzkinder gehen sollte. Mit der Abwicklung war ebenfalls derselbe Notar betraut, der das Testament für Krino Bischoff aufgesetzt hatte.
„Und was ist die Ausnahme?“, hakte Thekla neugierig nach.
„Moment“, sagte der Notar, „ich lese weiter ...“.
Und dann erfuhren sie, dass mit der Ausnahme die Harley Davidson von Krino Bischoff gemeint war, die nach seinem Tod an seinen besten Freund Hein Böskopp übergeben werden sollte.
Thekla und Herbert sahen sich vieldeutig an. War das jetzt das Motiv für den Mord an Krino Bischoff auf einem Silbertablett serviert.
„Sie verstehen jetzt sicher“, sagte der Notar, „weshalb ich gezögert habe, das Testament für Sie zu öffnen. Eigentlich hätte auch Herr Böskopp als Erbe anwesend sein müssen bei der Eröffnung.“
„Sie können ihn ja anrufen und ihn informieren“, meinte Thekla pragmatisch, „bestimmt freut er sich, dass sein Freund ihn bedacht hat.“
„Oh, das will ich meinen“, erwiderte der Notar.
„Was meinen Sie damit?“
„Nun ja, es ist kein Geheimnis, dass Herr Böskopp seit jeher an diesem Motorrad von Herrn Bischoff interessiert war. Er hat sogar versucht, Herrn Bischoff die Harley abzukaufen, hat Herr Bischoff mir einmal erzählt. Doch da ließ er nicht mit sich reden. Nur über meine Leiche, hat er dann immer gesagt und gelacht.“
„Nur über meine Leiche?“, wiederholte Thekla, „hat Krino Bischoff das wirklich wortwörtlich so gesagt?“
Der Notar nickte.
„Ganz schön makaber“, meinte Herbert, dem Motorräder schon immer egal gewesen waren. „Und diese Stiftung ... die ...“.
„Herzkinder“, half der Notar nach. „Das ist ein kleiner Verein in Norddeich, der sich um herzkranke Kinder und ihre Eltern kümmert.“
„Das ist rührend“, sagte Thekla, „obwohl Krino Bischoff keine Kinder hatte, so sorgte er sich anscheinend um sie.“
„Er hat immer gesagt, dass ihm die Schwächsten am Herzen liegen“, gab der Notar Auskunft. „Damit meinte er Kinder und ebenso Tiere.“
„Man hat seinen Hund auch erschlagen“, sagte Herbert.
„Oh Gott“, sagte der Anwalt, „hoffentlich erst, nachdem Herr Bischoff tot war. Wenn er in seinen letzten Momenten auch noch mit ansehen musste, wie sein Hund elendig verreckt, nicht auszudenken.“
Der tickt ähnlich wie Agneta, dachte Thekla. Vielleicht sollte sie ihr den Notar mal bei nächster Gelegenheit vorstellen. Sie ließen sich noch die Adresse und Telefonnummer des Vereinsvorsitzenden der Herzkinder geben und machten sich dann wieder auf den Weg zur Dienststelle.
Bald darauf saßen alle im Büro bei einer Tasse Ostfriesentee zusammen und tauschten sich über die neuen Erkenntnisse aus.
„Hein Böskopp also“, sagte Okko, den das nicht weiter wunderte, „und dann versucht er auch noch, es fremden Männern anzuhängen, die vermutlich nur ein bisschen Geld mit ihrem Handwerk verdienen wollen. Man sollte doch froh sein, dass überhaupt noch jemand arbeitet bei diesem verschwenderischen Sozialstaat.“
Thekla sah ihn skeptisch an. Solche Töne war man von Okko bisher eigentlich nicht gewöhnt. Er interessierte sich kaum für Politik und das gesellschaftliche Leben. Wieso plötzlich diese Aversion gegen Hilfe für die, die alleine nicht zurechtkamen und Unterstützung benötigten.
„Ich denke“, sagte sie, „so schnell sollten wir die Handwerker nicht vom Haken lassen. Es ist ja nicht erwiesen, dass Hein Böskopp wirklich der Täter ist. Was sagt denn die Forensik zu den Fingerabdrücken auf der Eisenstange?“
„Da war nichts rauszuholen“, winkte Okko ab. „Sicher hat der Täter auch Handschuhe getragen, wenn er sich nicht allzu dumm angestellt hat.“
„Und das alles nur für ein Motorrad“, murmelte Agneta, die das Bild von dem toten Hund noch immer nicht aus dem Kopf bekommen hatte. „Vielleicht hätte Krino Bischoff ihm das ja sogar noch irgendwann zu Lebzeiten überlassen. Er war etwas älter als Hein Böskopp und hätte vielleicht eingesehen, dass er lieber nicht mehr auf das Ding steigen sollte.“
„Möglich ist alles“, meinte Okko, „aber sag mal, was habt ihr denn nun über Böskopp in Erfahrung bringen können?“
Viel war es nicht, mussten Agneta und Siggi dann zugeben. Böskopp lebte alleine in einem kleinen Häuschen, in dem ihn seine Frau vor Jahren zurückgelassen hatte und ab in die Sonne geflüchtet war. Sie war in den sozialen Netzwerken aktiv und postete andauernd Fotos von sich und einem deutlich jüngeren Mann, natürlich braungebrannt, die beiden. Außerdem war Böskopp wegen mehrerer Bandscheibenvorfälle schon mit neunundfünfzig Jahren in Frührente gegangen, weil er den Beruf als Maler nicht mehr hatte ausüben können. In den sozialen Medien war er scheinbar nicht aktiv, jedenfalls tauchte dort sein Name nicht auf.
„Wir müssen ihn vorladen“, sagte Thekla, „bestimmt hat ihn der Notar schon über sein Erbe informiert.“
Siggi hängte sich ans Telefon und rief bei Böskopp an. Desto eher sie mit ihm sprachen, umso weniger Möglichkeiten blieben ihm, noch Spuren zu verwischen.
„Er wusste noch nichts von der Erbschaft“, sagte Siggi, als er wieder aufgelegt hatte. „Er kommt gleich morgen früh um acht Uhr hierher.“
„Wer’s glaubt“, sagte Thekla, „das kann mir doch keiner erzählen, dass zwei alte Kumpels sich nicht auch darüber unterhalten, was passiert, wenn mal einer von ihnen ins Gras beißt. Ich bin mir sicher, dass er gewusst hat, dass er das Motorrad erben wird.“
Sie fachsimpelten noch eine Weile über die Fragen, die sie Böskopp am nächsten Tag stellen könnten. Außerdem legte Okko Fotos aus der Gerichtsmedizin auf den Tisch, die die Wunde an Krino Bischoffs Kopf mikroskopisch darstellten. Dieser einzige Schlag mit der schweren Eisenstange hatte ausgereicht, um Krino Bischoff das Licht auszuknipsen. Als Thekla bemerkte, dass Okko einige der Fotos aus seiner Mappe unterschlug, hakte sie nicht weiter nach. Bestimmt waren es Bilder vom verwundeten Tier. Agneta würde wieder einen Heulkrampf kriegen und das konnte keiner hier gebrauchen.
Ein dunkelblaues Hemd oder doch lieber ein pechschwarzes. Unschlüssig stand Hein Böskopp vor dem Spiegel im Schlafzimmer und wägte die Vor- und Nachteile, die die Kleidung für ihn bedeuten könnte, ab. Buntkariert ging wohl auf keinen Fall, obwohl er eigentlich am liebsten diese typischen Holzfällerhemden trug. Aber irgendwie musste er auch äußerlich zum Ausdruck bringen, wie schwer er von dem Tod seines besten Freundes getroffen war. Schlussendlich wurde es dann das dunkelblaue Cord Hemd mit einer fast neuen Jeans. Dazu ein Jackett, dass er sich zu seiner Verabschiedung aus dem Berufsleben vor einigen Jahren gekauft hatte. Danach hatte er es nie wieder getragen, weil er gar nicht der Typ für sowas war. Doch die Kollegen hatten ein großes Fest für ihn veranstaltet, als er in Frührente ging. Da war er es ihnen schuldig gewesen, sich herauszuputzen. Es war ihm gar nicht leichtgefallen, morgens nicht mehr aufzustehen und die weißen Malersachen anzuziehen. Er war gerne bei anderen Menschen in den Häusern gewesen und hatte ihr Zuhause schöner gemacht. Sie waren dann immer so dankbar, wenn alles frisch renoviert war und gut roch. Es hatte immer viel Trinkgeld gegeben. Und mit dem einen oder anderen war er sogar heute noch in Kontakt, wenn mal was im Haus gemacht werden musste.