Eva Sturm Bundle - VII - Moa Graven - E-Book

Eva Sturm Bundle - VII E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

Eva Sturm ist die beliebteste Ermittlerin in Ostfriesland! In diesem Sammelband lesen Sie die Bände 19 bis 21 mit den Titeln: Spuren in dunkler Nacht Toter Schneemann Ganz in deiner Nähe Wie immer sind die Fälle sehr emotional und spannend. Was gibt es schöneres, als einen Krimi zu lesen und sich auf Langeoog, die schönste Insel Ostfrieslands, zu träumen. Und in Spuren in dunkler Nacht ermittelt Eva sogar zu Beginn noch einmal mit Maja Scoll in Ystad, bevor der Fall sie zurück nach Ostfriesland führt.

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Spuren in dunkler Nacht
Eva Sturm ermittelt
Schweden-Ostfrieslandkrimi
Impressum
Moa Graven
Zum Inhalt
Die Angst
Sommer in Schweden
Der nächste Tag
Der Ruf des Vogels
Am Flughafen
Acht Jahre zuvor
Das einsame Haus
Das Versteck
Robert
Erste Spuren
Der lange Weg
Spuren in dunkler Nacht
Eva
Die im Dunkeln
Bruchstücke
Entstellt
Im Wald
Hinweise
In der Dienststelle
Eva und das Mädchen
Die Nachbarin
Ben und Inga
Schreckensbotschaft
Johanna und Gustav
Der Verdacht
In Malmö
Wittmund
In Ystad
Der Abschied
Familie Rhauert
Robert
Toter Schneemann
Impressum
Zum Inhalt
Vom Winde verweht
Auf dem Boot
Ein neuer Morgen
In Stedesdorf
In Tannenhausen
Der Bootsführer
Robert
Die anderen Freunde
Stefan
Eva
In Wittmund
Wieder zu Hause
In der Dienststelle
In Tannenhausen
Ganz in deiner Nähe
Impressum
Zum Inhalt
In Angst
Unsicherheit
Robert
In Sorge
Ein Hoffnungsschimmer
Polizei Wittmund
Zerplatzte Träume
Eva
In der Dienststelle
Zuhause
Ermittlungen
Hannes Bünting
Im Dunkeln tappen
In der Dienststelle
Bei Robert
Die erste richtige Spur
In der Dienststelle
Eva ist frustriert
In Gefahr
In Blomberg
Das ewige Meer
In der Klinik
Zuhause
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Zur Autorin
Die Reihe mit Eva Sturm auf Langeoog
Die weiteren Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
Meine Autobiografie
Leseprobe
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

 

 

 

 

 

 

EVA STURM ermittelt auf Langeoog

Sammelband VII

von Moa Graven

 

Spuren in dunkler Nacht

 

Toter Schneemann

 

Ganz in deiner Nähe

 

 

 

 

 

 

Moa Graven

 

 

 

Spuren in dunkler Nacht

 

Eva Sturm ermittelt

Schweden-Ostfrieslandkrimi

 

Moa Graven

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Mit über 90 Krimis, die sie über 600.000 Mal im Eigenverlag verkaufte, gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen in Deutschland.

Impressum

Spuren in dunkler Nacht – Eva Sturm ermittelt – Band 19

Schweden-Ostfrieslandkrimi von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn

Mai 2021

ISBN 978-3-946868-84-2 (Taschenbuchausgabe)

Umschlaggestaltung: Moa Graven

Hast du einen

geliebten Menschen

an deiner Seite,

wird alles andere

zur Nebensache.

Moa Graven

Zum Inhalt

Bereits im Vorgängerband aus der Eva Sturm Reihe mit dem Titel "Das dritte Kind" deutete sich ein weiterer Fall in Schweden an, wo Eva eigentlich nur den Nachlass ihrer verstorbenen Mutter auflösen wollte.

Noch immer hängt Eva und Maja der Tod eines jungen Mädchens nach. Ganz nah sind sie einem Kinderhändlerring auf die Spur gekommen, doch die Hintermänner, die kriegt man doch nie. Die beiden ebenso unterschiedlichen Frauen, die so manches verbindet, wollen es nicht auf sich beruhen lassen. Und geraten dabei selbst in größte Gefahr.

Die Angst

Es war nicht besonders kalt, denn ein schöner Sommertag war vor nicht allzu langer Zeit zu Ende gegangen. Leichter Nebelregen legte sich auf die Blätter der Bäume und glitzerte mit Hilfe der letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Viele Menschen machten es sich jetzt auf ihrer Veranda gemütlich, um ein Gläschen Wein zu trinken oder anderes. Morgen war Samstag, da konnte man ausschlafen.

Es herrschte eine Idylle in Schonen, die man mit Farben hätte festhalten mögen.

Doch das alles war dem jungen Mädchen, das gerade durch die Wälder rannte, völlig egal. Ihr Atem ging schnell und in ihrer Brust pochte ihr Herz so laut, dass sie glaubte, es würde im nächsten Moment zerspringen. Sie hatte Angst. Ganz furchtbare Angst. Denn sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nur, dass sie immer weiter rennen musste, rennen um ihr Leben. Bestimmt waren sie schon hinter ihr her. Was sie getan hatte, das wurde mit dem Tod bestraft, da war sie sich sicher.

Ihre Füße brannten vom noch warmen Asphalt. Sie hatte keine Schuhe an. Das hatte keines der Mädchen, von dort, wo sie jetzt herkam. Es war dieser eine Moment gewesen, wo sie sich entscheiden musste. Weglaufen oder einfach wieder auf die Matratze legen. Warum, das wusste sie nicht. Es war ihr jetzt auch völlig egal. Aber einer der Männer, er hatte vergessen, die Tür ihres Zimmers abzusperren. Sie hatte gehorcht, als er das Tablett auf den Boden gestellt hatte und sie wieder alleine ließ. Es war komisch, aber selbst diese Routine zu den Essenszeiten mochte sie, weil sie für sie bedeutete, dass sie noch lebte. Deshalb hörte sie immer ganz genau hin. Doch da war nichts. Es drehte sich einfach kein Schlüssel im Schloss herum, was in der Regel ein leises Quietschen erzeugte, das sie in gewisser Weise auch beruhigte, weil sie dann wieder für sich war.

Ungläubig war sie auf die Tür zu geschlichen. Das konnte ein Trick sein. Man wollte herausfinden, wie weit sie ging. Würde sie versuchen, auszureißen? Und wenn sie es tat, bedeutete das dann ihren Tod? Sie hatte leicht angefangen, unter den Armen zu schwitzen vor Angst. Zögerlich hatte ihre Hand nach dem Türgriff gelangt und ihn sachte nach unten gedrückt. Die Tür leistete keinen Widerstand und ließ sich Zentimeter für Zentimeter ins Innere des Raumes ziehen. Ihre Augen erkannten nur weitere Dunkelheit und fahles Licht von irgendwoher. Es war so still, dass sie ihren eigenen Atem als störend empfunden hatte. Deshalb hielt sie ihn immer wieder an. Wenn jetzt der Mann zurückkäme, dann wäre das ihr sicheres Todesurteil. Sie musste die Tür jetzt einfach wieder schließen und so tun, als hätte sie es gar nicht bemerkt, dass nicht abgeschlossen gewesen war. Doch sie konnte nicht. Zu verlockend war die Aussicht, hier endlich rauszukommen. Also wagte sie sich weiter vor. Horchte. Doch außer ihrem Atem war da einfach nichts. Wieso hörte sie denn nichts von den anderen Mädchen?, fragte sie sich. Das war komisch. Wahrscheinlich hatten sie genau solche Angst wie sie. Dann hatte sie noch einmal tief durchgeatmet und war mit nackten Füßen über die kalten Steine gegangen, bis sie schließlich in eine große Scheune kam, von wo aus sie direkt nach draußen gehen konnte. Einfach so. Und dann hatte sie ihre Beine in die Hand genommen und war gerannt, als sei der Teufel hinter ihr her. Es ging um ihr Leben.

Immer wieder blieb sie nun zwischen den vielen Bäumen stehen und sah in den Himmel. Wohin sollte sie weiterlaufen? Oder lief sie gar schon zurück zu ihren Peinigern? Es war schon lange her, dass sie in die Schule gegangen war. Doch mit den Himmelsrichtungen, da kannte sie sich aus. Sie erfasste mit wenigen Blicken, woher sie gekommen war und bestimmte die geografische Richtung und ging nun genau entgegengesetzt immer weiter. Nur nicht mehr so hastig, sondern ruhiger. Wäre ihr jemand gefolgt, dann hätte man sie längst wieder gefasst.

Und irgendwann, sie wusste immer noch nicht, wann der Wald zu Ende war und sie auf Menschen treffen würde, da war sie so müde geworden, dass sie sich an eine große alte Baumwurzel lehnte und bald darauf in einen oberflächlichen Schlaf gefallen war. Sie träumte wirres Zeug von Männern mit Kraken ähnlichen Armen, die nach ihr griffen. Sie versuchte, sich zu wehren. Doch wie es immer in solchen Träumen war, man schaffte es einfach nicht, sich zu befreien.

Sommer in Schweden

Den Sommer in Schweden fand Eva so wunderbar, dass sie gar nicht genug davon bekommen konnte. Jeden Tag gingen sie und Robert in den Wäldern spazieren oder fuhren ans Meer. Zwei Wochen, hatte Maja gesagt. Solange wollte sie sich und Eva eine Pause gönnen. Sich sammeln für die nächste Aufgabe. Denn die eigentlichen Hintermänner der Kinderschänder waren immer noch nicht gefasst. Sicher, es hatte einige Festnahmen gegeben. Doch das waren die kleinen Fische gewesen, die man schnell durch neue Gesichter ersetzen konnte.

Auch jetzt kehrten Eva und Robert von einem Ausflug an der Westküste zurück, wo sie sogar zweimal in einem Hotel mit Blick aufs Meer übernachtet hatten.

Ja, der Sommer war schön. Und doch hatte sich eine leicht dunkle Wolke über das kleine Holzhaus von Eva gelegt, denn seit gestern Abend fühlte Robert sich nicht so gut.

„Du solltest vielleicht doch morgen zum Arzt gehen“, schlug sie vor, als sie Tee einschenkte. „Nur, um sicher zu gehen, dass ...“.

Er sah sie nachdenklich an. Natürlich war ihnen klar, woran sie dachte. Doch keiner von beiden hatte es bisher gewagt, auch auszusprechen. Was war, wenn der Krebs zurückkam? Sicher hatte Eva davor noch mehr Angst als Robert selber.

„Du hast recht“, sagte er, um ihr ein wenig Sicherheit zu geben. „Gleich morgen früh gehe ich zum Arzt.“

„Ich werde dich zur Klinik in Malmö fahren. Dort gibt es bestimmt genauso komepetente Ärzte wie bei uns.“

„Sicher. Das ist eine gute Idee.“ Robert verzog plötzlich das Gesicht und Eva sah ihn erschrocken an.

„Was ist?“

„Ach, es zog nur für einen Moment ganz heftig in der Bauchgegend“, wiegelte Robert ab. „Es geht schon wieder.“

„Vielleicht solltest du doch lieber keinen Tee trinken ...“. Ängstlich sah sie ihn an. Doch sie wollte ihm eigentlich nicht noch mehr Sorgen machen, als er es selber vermutlich schon längst tat.

„Am Tee liegt es nicht“, erwiderte er und strich über ihre Hand. „Eva, es wird schon nicht so schlimm sein.“

Sie nickte und sah zu Boden, damit er nicht sah, wie ihre Augen in Tränen schwammen. Sie schluckte sie tapfer herunter. „Und wenn wir heute noch ...“.

„Sicher“, sagte er zu ihrer Verwunderung, „wir können auch heute noch rüberfahren. Allerdings glaube ich nicht, dass die heute noch was machen. Dafür ist es eigentlich schon zu spät.“

„Ich rufe gleich mal an“, sagte Eva. Sie schöpfte neue Kraft, weil sie die Dinge wieder in der Hand hatte.

Nach einem kurzen Telefonat packte sie ein paar Sachen ein. Man würde Robert heute noch untersuchen und vermutlich über Nacht dabehalten, hatte man ihr gesagt. Und für sie selber gab es auch die Möglichkeit, ein Bett zu Robert ins Zimmer gestellt zu bekommen.

Der nächste Tag

Eva hatte kaum geschlafen in der Nacht im Gegensatz zu Robert, dem man Proben entnommen und dann ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht hatte. So ausgeruht würde er besser auf die anstehenden weiteren Untersuchungen vorbereitet sein, hatte man ihm gesagt. Immer, wenn er ganz tief schlief und sein Atem leise durch seinen halb geöffneten Mund entwich, hatte Eva ihn beobachtet. Sie hatte sich so dagegen gewehrt, doch jedes Mal beschlich sie die Angst, dass sie bald wieder alleine sein würde. Das war egoistisch, doch sie war noch nicht bereit, ihr Glück mit Robert schon wieder aufzugeben.

Nun saß sie vor einem Tablett mit einem wirklich appetitlich aussehenden Frühstück, dass man für sie gebracht hatte. Doch sie bekam einfach keinen Bissen herunter.

„Du solltest etwas essen“, meinte Robert, der selber nüchtern bleiben musste.

„Ich kann nicht ...“. Sie schob das Tablett weiter in die Mitte des Tisches.

„Bitte, mir zuliebe. Nicht, dass du auch noch schlappmachst.“ Er lachte.

Das machte sie noch kleiner, als sie sowieso schon war. Durch ihr naives Verhalten zwang sie ihn praktisch in die Rolle des Stärkeren. Und dabei sollte sie doch die Starke sein für ihn. Also gab sie nach.

„Du hast recht. Und es sieht ja auch wirklich sehr lecker aus. Ganz anders als das Frühstück in den Krankenhäusern bei uns zuhause.“ Sie zog das Tablett wieder zu sich heran und schmierte sich ein Brot mit Käse.

Es klopfte an die Tür. Eine Schwester bedeutete Robert, dass es nun soweit sei. Er stand aus dem Bett auf und ging mit ihr davon.

Nun war Eva alleine im Zimmer. Auch wenn sie eben ganz tapfer gewesen war, jetzt liefen die Tränen über ihre Wangen. Sie konnte nichts essen. Deshalb wickelte sie das Brot in die Serviette und steckte es einfach in ihre Tasche, damit Robert später nicht weiter nachfragen würde. Dafür schämte sie sich. Es kam ihr vor, als täte sie etwas Verbotenes hinter seinem Rücken. Also kramte sie das Brot wieder aus der Tasche und aß es mit langen Zähnen auf. Immer wieder sah sie zur Uhr. Er war jetzt schon über eine Stunde weg. Ein quälendes Gefühl lähmte ihren Körper. Sie sah einfach nur noch aus dem Fenster auf die vielen Häuser, die sie von der Klinik aus sehen konnte. Alles war fremd.

Dann endlich das erlösende Geräusch der Tür. Sie sah sich um. Robert kam zurück. Und sein Gesicht verriet ihr sofort, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Doch sie konnte nicht aufstehen und zu ihm gehen. Sie saß einfach nur da und sah dabei zu, wie er sich mit Hilfe der Schwester zurück ins Bett legte.

Bevor diese ging, warf sie Eva noch einen vielsagenden Blick zu.

„Robert“, brachte Eva mit fast lautloser Stimme hervor. Nun endlich konnte sie sich wieder bewegen. Sie ging zu ihm ans Bett und nahm seine Hand. Er sah sie nicht an. Und er sagte auch nichts. Das war auch gar nicht nötig. Denn ein paar einsame Tränen, die über seine Wange liefen, erzählten eine zerstörerische Geschichte, die sich nun fortzusetzen schien.

Fast eine Viertelstunde saßen sie einfach nur beisammen. Sie hielt seine Hand. Er streichelte sie sachte mit seinem Zeigefinger.

Es klang beinahe brutal, als er sich endlich wieder zu ihr wandte und sagte:

„Ich muss zurück nach Deutschland.“

In dem Moment brach alles aus Eva heraus, was sich in den letzten Stunden an Emotionen angesammelt hatte.

„Robert“, schniefte sie, „es tut mir so leid, dass ich so egoistisch war und wir nicht schon längst wieder in Deutschland sind. Es ist alles meine Schuld.“

Er sah sie mit glasigen Augen an. „Du kannst nichts dafür. Solche Dinge passieren einfach. Egal, wo man ist.“

Eva wagte nicht zu fragen, was genau der Arzt gesagt hatte. Zu groß war ihre Angst um Robert. Und die Tatsache, dass er nichts von den Untersuchungen erzählte, bestärkte sie in ihrer Sorge. Es musste wirklich sehr schlimm um ihn stehen.

„Ich werde alles arrangieren, damit wir morgen schon fliegen können“, sagte sie beherzter klingend. Es war jetzt ihre Aufgabe, sich um alles zu kümmern. Stark zu sein für ihren Ehemann.

„Eva“, sagte Robert und sah sie offen an, „ich möchte alleine nach Hause gehen.“

Sie verstand nicht, was er damit meinte und runzelte die Stirn.

„Bitte“, fuhr er fort, „du darfst es mir nicht übelnehmen. Aber damit muss ich erst einmal alleine fertig werden.“

Sie erinnerte sich daran, wie sehr sie damals gelitten hatte, als Robert sich nicht wieder bei ihr gemeldet hatte. Auch da wollte er alles mit sich alleine ausmachen. Eine sehr schmerzliche Zeit für sie, als sie nicht wusste, warum er den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Doch jetzt war alles anders. Sie war doch seine Frau. Warum also wollte er alleine sein? All das jagte in Sekundenschnelle durch ihren Kopf, während sie ihn weiter schweigend ansah. Robert. Ihr Ehemann. Ihr Leben. Und in seinen Augen las sie nun den Schmerz, den er selber zu verbergen suchte. Er hatte Angst. Er wollte nicht sterben. Natürlich nicht. Und er ertrug es auch nicht, sie so leiden zu sehen. Er wollte anderen einfach nicht zur Last fallen. Sie sollte sich nicht um ihn sorgen. So war Robert eben. Es war besser, wenn sie das akzeptierte. Denn was hätten weitere Worte schon bewirken können.

„Ich verstehe“, sagte sie und ihre Stimme schnitt eine scharfe Wunde in die bedrückende Stille, die sie umgeben hatte. „Es ist so wie damals. Du bist einfach so und ich verstehe das.“

„Wirklich?“, fragte er beinahe erleichtert.

Sie nickte. „Wenn ich ehrlich bin, dann würde ich mich sicher genauso verhalten. Wir sind einfach so. Wir machen Dinge am liebsten mit uns selber aus. Jedenfalls, wenn es um schwierige Lebensabschnitte geht.“

Dankbar sah er sie an.

„Darf ich trotzdem fragen, was der Arzt gesagt hat?“ Sie wischte sich unter den Augen entlang. Sie wollte jetzt nicht mehr weinen und ihm das Leben damit noch schwerer machen.

„Er ist wieder aktiv“, antwortete Robert, als spräche er über einen unliebsamen Nachbarn. „Aber die Chancen sehen gar nicht so schlecht aus, weil es noch früh genug ist.“

„Das ist schön.“ Sie streichelte über die Bettdecke.

„Du musst dir keine Sorgen machen, Eva. Bitte.“

„Nein, mach ich nicht.“

Sie wussten beide, dass das gelogen war. Doch manchmal konnte man Dinge wirklich nur verkraften, wenn man sich von seinen Gefühlen distanzierte.

Lange saßen sie einfach nur da und hielten sich bei der Hand. Jedem gingen sicher die schönen Zeiten durch den Sinn, die sie miteinander erlebt hatten. Und beide hatten Angst, dass es bald damit vorbei sein könnte.

Robert selber hatte keine Angst vor dem Tod. Doch das sagte er Eva natürlich nicht. Und jetzt, wo sie verheiratet waren, da hatte er sich geschworen, sich um sie zu kümmern. Sie war nicht die starke Frau, die sie immer gerne vor anderen spielte. Dafür liebte sie bedingungslos. Es musste einfach alles wieder gut werden.

Der Ruf des Vogels

Es zwickte an ihrer Schulter und im Halbschlaf kratzte sie sich. Dann schlug sie die Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, dass sie wirklich den offenen Himmel über sich sah. Der Ruf eines Vogels hallte von weiter her durch die Bäume zu ihr herüber. In diesem Moment, da war sie wirklich das glücklichste Mädchen auf der Welt.

Bis sie sich dann daran erinnerte, warum sie hier draußen unter den Bäumen saß. Bestimmt suchten sie schon nach ihr. Aber wo sollte sie hingehen? So, wie sie aussah. In dem zerschlissenen dünnen Kleid und schmutzigen Füßen ohne Schuhe. Sie wusste ja auch gar nicht, wo sie war. Sie war einfach nur gerannt. Solange, bis sie vor Erschöpfung angehalten war.

Sie kam etwas hoch aus ihrer Deckung hinter der alten Baumwurzel. Um sie herum wirklich nur Bäume. Ihr Hals war trocken, als sie schluckte. Ob es hier irgendwo in der Nähe Wasser gab? Einen kleinen See, wo sie etwas trinken konnte und sich waschen. Sie wusste nicht warum, doch plötzlich tauchten da Bilder in ihrem Kopf auf, die aus einer anderen Welt kamen. Sie als kleines Mädchen, die nach Beeren suchte im Wald. Süßen Früchten, die sie sich gleich, nachdem sie sie gepflückt hatte, in den Mund steckte. Automatisch lief ihr das Wasser bei dem Gedanken im Mund zusammen. Der Tag hatte gerade erst begonnen. Sie würde nun gleich aufstehen, dachte sie, und dann würde sie nach Früchten und nach Wasser suchen. Und irgendwann, da käme sie vielleicht zu einem Haus mit netten Menschen, die ihr helfen würden. All das ging durch ihren Kopf, als sie nun aufstand und über ihr Kleid strich. Immer wieder sah sie sich um, lugte durch die Bäume. Doch es schien niemand außer ihr hier zu sein.

Vielleicht haben sie auch schon aufgehört, nach mir zu suchen, dachte sie bei sich. Sie war schon lange nicht mehr nützlich gewesen. Warum also sollte jemand sie zurückholen wollen. Nein, es gab jetzt nur eines, was wirklich wichtig war. Dass sie überlebte.

Am Flughafen

Robert hatte einen Arm um Eva gelegt und sie drückte sich ganz fest an ihn. In einer Stunde würde er abfliegen. Und diese eine Stunde, die wollte sie nicht durch ihre bohrenden Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, zerstören. Sie wollte einfach nur bei ihm sein. Seine Wärme spüren. Und ihm ging es wohl genauso. Denn auch Robert sagte nichts, während er die anderen Fluggäste beobachtete, und doch durch sie hindurchzusehen schien.

Sie hatten vereinbart, dass Eva zunächst in Schweden bleiben sollte, damit sie den Fall mit Maja Scoll zu Ende bringen konnte. Du hast es ihr versprochen, hatte Robert gesagt. Sie hatte nichts Gegenteiliges erwidert, obwohl sie ganz anderes dachte. Wie unwichtig erschien es ihr plötzlich, hier in einem fremden Land nach Verbrechern zu suchen. Doch sie schwieg, während er ihr plausibel klingend erklärte, dass es gar nicht anders ginge, als dass sie noch eine unbestimmte Zeit hier bliebe. Sie wusste, dass er diese Zeit auch für sich in Ostfriesland brauchte. Ohne sie. Das tat weh, doch sie hatte sich langsam an den Gedanken herangetastet, dass es vielleicht ganz normal war, wenn es so geschah.

Sie waren zusammen zu ihrem Haus gefahren und hatten Roberts Koffer gepackt. Dann hatten sie sich zusammen aufs Sofa gelegt und sich bei der Hand gehalten.

Schließlich hatte Eva noch einen Kaffee gekocht und sie hatten ein paar Brote gegessen, bis es sich nicht mehr aufhalten ließ und sie aufbrachen, um zum Flughafen zu fahren.

Roberts Flug wurde aufgerufen und Eva erschrak fast dabei. Nun war es soweit. Robert würde sie verlassen. Und sie blieb in Schweden alleine zurück. Doch, so dachte sie, als er aufstand und nach seiner Jacke griff, es wäre egal, ob ich hier in Schweden bin oder auf Langeoog. Er will jetzt einfach alleine sein. Das hat auch gar nichts mit mir zu tun. Ich muss ihn gehen lassen.

Sie erhob sich ebenfalls und strich über seinen Arm.

„Ich liebe dich, Robert.“

„Ich liebe dich auch.“

Er beugte sich zu ihr herab und sie küssten sich. Dann nahm er sie ganz fest in seine Arme.

„Ich muss jetzt los“, sagte er, als er sich von ihr löste.

Sie nickte.

„Ich rufe dich an, wenn ich angekommen bin.“

„Ja.“

Gemeinsam gingen sie weiter. Solange, bis Robert schließlich durch die Kontrolle musste. Alleine. Seine Sachen wurden durchgesehen. Danach sah er sich noch einmal nach ihr um. Ein letzter Blick. Dann verschwand er aus ihrem Gesichtsfeld.

Eva schluckte hart. Dann rannte sie. Sie hätte es nicht mehr ertragen, noch länger hier zu sein. Abschiede waren etwas Schreckliches. Und vielleicht war dies ja auch ein Abschied für immer. Sie wollte das nicht denken, doch sie konnte nichts dagegen tun. Mit tränenverschleiertem Blick setzte sie sich hinters Steuer und fuhr zurück zu ihrem Haus.

Robert war überall. Der Geruch seines Rasierwassers schlug ihr entgegen, als sie die Tür aufschloss. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie weiterging. Es war so still. Und im Moment konnte sie Stille einfach nicht ertragen. Also ging sie ins Wohnzimmer und stellte das Radio an. Ausgerechnet jetzt wurde ein Lied gespielt, das sie beide gerne mochten. Also drehte sie wieder ab. Sie legte ihre Jacke über einen Stuhl und ging zum hellblauen Sessel, der vor dem Fenster stand. Sie setzte sich und sah einfach nur nach draußen. Der Anblick des nahegelegenen Waldes beruhigte sie ein wenig. Ich werde das durchstehen, dachte sie. Wir beide werden das durchstehen. Und wenn die Sache hier ausgestanden ist mit Maja, dann fahre ich sofort zurück nach Langeoog.

Und irgendwann, da wurden ihre Augenlider immer schwerer. Die Anspannung ließ nach und sie fiel in einen oberflächlichen Schlaf.

Erst, als ihr Handy klingelte, schreckte Eva wieder auf. Die Sonne hatte sich schon hinter den Bäumen verkrochen und ein dämmriges Licht hüllte den Raum in eine diffuse Stimmung. Eva stand auf und drehte ihre Jacke hin und her, bis sie das Handy schließlich in der Hand hielt. Es war Maja.

„Hallo“, sagte sie, als sie rangegangen war.

„Eva? Bist du es?“ Maja klang unsicher.

„Ja Maja, ich bin’s. Was gibt es denn?“

„Du klingst nicht gut. Ist alles in Ordnung?“

Eva schluckte. „Nein, eigentlich ist nichts in Ordnung. Robert ist heute Nachmittag wieder zurück nach Deutschland geflogen. Der Krebs ...“. Weiter kam sie nicht, denn ihre Kehle schnürte sich bei dem hässlichen Wort, das ihr Glück bedrohte, plötzlich zu.

„Das tut mir leid“, sagte Maja. „Wirklich ... ich.“

Eva hörte an ihrer Stimme, dass sie am liebsten gleich wieder aufgelegt hätte. Maja war nicht gut darin, schlechte Nachrichten zu verarbeiten. Besonders nicht, wenn sie sehr persönlich waren.

„Schon gut“, sagte Eva deshalb schnell, „warum rufst du an? Geht es um die Arbeit?“ Irgendwie wollte sie jetzt über etwas anderes reden als ihr beschissenes Schicksal, das sie immer wieder einholte.

„Stimmt“, gab Maja zu, „es geht um die Arbeit. Ich weiß ja, dass du noch ein paar Tage frei hättest, aber es gibt eine wichtige Spur.“

Eva horchte auf. Ihr Ermittlerinstinkt schmiss den Motor an. „Spur?“, wiederholte sie, „um was genau geht es dabei?“

„Ein Haus in der Nähe von Växjö. Es steht schon eine Weile leer, doch ein Mann, der etwas weiter wohnt, will in der letzten Zeit beobachtet haben, dass dort vermehrt Autos standen. Aber immer nur für kurze Zeit.“

„Warst du schon dort?“

„Nein, ich dachte, du wolltest vielleicht mitkommen. Deshalb rief ich an.“

„Danke Maja, wirklich. Ich kann so eine Abwechslung gut gebrauchen.“

„Okay, dann hole ich dich gleich ab.“

„Heute noch?“

„Naja ... nein, eigentlich reicht es auch morgen früh.“ Sie verstand, dass Eva nun erst einmal etwas Zeit für sich brauchte. „So gegen neun, ist das in Ordnung?“

„Wie wäre es, wenn du schon um acht Uhr herkommst und wir dann erst einmal zusammen frühstücken?“, schlug Eva vor, obwohl sie wusste, dass Maja morgens nie etwas aß.

„Sicher, das kann ich auch machen. Aber halb neun dürfte auch reichen, ich trinke ja nur Kaffee.“

Eva hörte, wie Maja lächelte. „Schön, bis morgen. Ich freue mich.“

Sie legten auf.

Es hatte gutgetan, mit jemandem zu sprechen, fand Eva. Und plötzlich hatte sie großen Appetit. Sie ging in die Küche und setzte ein paar Kartoffeln auf. Im Kühlschrank waren noch etwas Kräuterquark und auch Tomaten.

Acht Jahre zuvor

Susanne Rhauert sah zur Küchenuhr. So ein Glück, sie würde es noch pünktlich schaffen, das Essen auf den Tisch zu bringen. Das hatte sie auch ihrem Nachbarn zu verdanken, der ihr in einer misslichen Lage beim Einkauf am Vormittag aus der Patsche geholfen hatte. Ihr Wagen war nicht wieder angesprungen, als sie die Einkäufe im Kofferraum verstaut hatte. Mit einem Überbrückungskabel war das Problem dann zum Glück recht schnell gelöst und sie konnte nach Hause fahren. Denn sie mochte es nicht, wenn ihre kleine Tochter Charlotte vor verschlossener Tür stand, wenn sie von der Schule kam. Sie hatten zwar draußen im Fahrradschuppen einen Schlüssel deponiert, von dem das Mädchen wusste, doch Susanne mochte es eben lieber, wenn das Kind nicht alleine im Haus war. Sie war ja erst sieben Jahre alt und hatte immer einen Bärenhunger, wenn sie von der Schule kam. Da gab es so viel zu erzählen, weil Charlotte die Schule wirklich liebte. Sie war in allen Fächern die beste in der Klasse und wurde von den Lehrern mit Lob überschüttet.

Susanne liebte ihr kleines Mädchen über alles. Sie sollte es gut haben. Besser als sie selber in ihrer Kindheit sowieso. Und bald würde sie sicher ein Brüderchen bekommen. So wünschten es sich die Eltern. Ja, die Welt von Susanne Rhauert war wirklich perfekt.

Bis zu dem Moment, als der Zeiger der Uhr immer schneller und immer weiter vorwärtslief und die Minuten dahineilten und das Kind nicht nach Hause kam.

Als es fünf Minuten über der Zeit war, ging Susanne das erste Mal nervös zum Fenster im Flur, um nach Charlotte Ausschau zu halten. Die Nudelsuppe stand bereits fertig auf dem Herd und wurde warmgehalten.

Ein paar Minuten Verspätung waren schon normal, beruhigte sich die Mutter und versuchte, flach zu atmen. Sie hätte nicht sagen können warum, aber es war eine unheilvolle Ahnung, die ihren Rücken nach oben kroch. Charlotte war eigentlich immer pünktlich. Sie tat der Mutter auch den Gefallen, direkt nach der Schule mit dem Rad nach Hause zu fahren. Nicht herumtrödeln oder noch mit anderen Klassenkameraden auf dem Schulhof herumstehen. Das Versprechen musste Charlotte ihr geben, damit Susanne sich keine unnötigen Sorgen machte. Im Gegenzug tat ihr die Mutter den Gefallen, und ließ sie den Schulweg alleine zurücklegen. Charlotte war in der Hinsicht schon immer sehr weit gewesen. Viel selbständiger als andere Kinder, die von ihren Müttern mit dem Wagen vor die Schule gefahren wurden. Charlotte wollte das nicht, sondern fuhr lieber mit dem Fahrrad.

Dann war es schon fünfzehn Minuten über der Zeit. Susanne stand an die Treppe gelehnt und schielte zum Garderobenschrank. Sie hatte das Rauchen aufgegeben. Aber trotzdem hatte sie noch immer eine Schachtel Zigaretten für den Notfall in einer ihrer Taschen. Und jetzt schien so ein Notfall zu sein. Sie merkte, dass ihre Hände zitterten, als sie die Tür öffnete. Nur der Umstand, dass sie gerne wieder schwanger werden wollte, hielt sie dann schließlich davon ab, die Schachtel hervorzuholen.

Doch sie hielt es nun einfach nicht mehr aus, weiter hier im Flur zu stehen und nach draußen zu starren. Sie musste etwas unternehmen.

Also ging sie in die Küche und rief in der Firma an. Um diese Zeit war Richard meistens mit Papierkram beschäftigt, nachdem er die Baustellen am Vormittag abgeklappert hatte. Er nahm auch gleich nach dem zweiten Klingeln ab.

„Susanne, was für eine Überraschung“, begrüßte er sie.

„Richard“, sie schrie den Namen fast aus, „Charlotte ist noch nicht von der Schule zurück.“

Einen Moment Stille. Richard sah auf seine Armbanduhr.

„Es ist ja noch nicht einmal zwei. Sicher kommt sie gleich“, meinte er dann.

„Nein. Da muss etwas passiert sein. Ich bin mir ganz sicher. Charlotte ist sonst immer pünktlich.“

„Hast du denn schon in der Schule angerufen?“, schlug Richard vor. „Vielleicht hat sich der Schulschluss ja verzögert.“

„Aber warum sollte sich der Schulschluss verzögern?“

„Was weiß ich. Kommt das denn sonst nie vor?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Na gut. Und bei einer Schulfreundin? Vielleicht ist sie ja mit Bine oder Marion mitgegangen.“

„Das würde sie niemals tun, das weißt du auch.“

Richard hörte an dem harten Klang ihrer Stimme, dass die Sache wohl wirklich nicht für Scherze geeignet war. Und sonst rief Susanne ihn auch nie bei der Arbeit an, weil sie wusste, wie stressig es in seinem Betrieb war.

„Warte“, sagte er, „ich mach hier noch eben was fertig und dann komme ich nach Hause. Dann kümmern wir uns beide um Charlotte.“

„Danke“, schluchzte Susanne, „ich halte es hier wirklich nicht mehr alleine im Haus aus.“

Es dauerte wirklich nur noch kurze Zeit, bis Richard Rhauert zuhause eintraf. Er fand eine völlig aufgelöste Ehefrau vor, die sich einen Kaffee gekocht hatte. Er übernahm die Telefonate bei Schulfreundinnen, Verwandten und selbst beim Bäcker um die Ecke, wo Charlotte am Wochenende immer die Brötchen für die Familie holte. Doch niemand hatte etwas von dem Mädchen gesehen oder gehört.

Schließlich alarmierte Richard dann die Polizei. Aber auch das half nicht weiter. Charlotte Rhauert blieb spurlos verschwunden.

Das einsame Haus

Maja war erst um kurz vor neun Uhr bei Eva eingetroffen, die ihrerseits auch verschlafen hatte. So wurde aus dem gemeinsamen Frühstück tatsächlich nur ein Kaffee im Stehen.

„Robert hat gestern Abend noch angerufen“, sagte Eva an die Küchenzeile gelehnt. „Er ist gut zuhause in Aurich angekommen. Heute wird er in die Klinik gehen, um die nötige Therapie zu beginnen.“

„Bestimmt wird alles gut“, erwiderte Maja und umschloss mit beiden Händen ihren Kaffeebecher.

„Ja, das hoffe ich“, seufzte Eva. Sie erzählte nicht, dass sie sich gestern Abend nach einer halben Flasche Rotwein in den Schlaf geweint hatte. Doch sicher sah man es ihr auch so wegen der roten Augen an.

„Wollen wir losfahren?“ Maja mochte solche Situationen nicht, wo sie anderen bei ihrem Schmerz beistehen musste. Sie wusste einfach nicht, wie sie darauf reagieren oder was sie sagen sollte. Sie fand, Privates sollte auch privat bleiben im Job. Doch das sagte sie Eva natürlich nicht.

Schließlich stiegen sie in Majas Dienstwagen und fuhren Richtung Växjö. Während der Fahrt waren beide Frauen nicht sehr redselig. Eva schloss hin und wieder die Augen und genoss die Sonne durch das geöffnete Seitenfenster. In der Zeit in Schweden war sie völlig entschleunigt worden. Niemand fuhr hier rasend oder mit Lichthupe über die Autobahnen. Alle schienen verstanden zu haben, dass das im Grunde nur wenig brachte außer einem erhöhten Blutdruck.

Nach gut zweistündiger Fahrt kamen sie schließlich bei dem Haus an. Es stand direkt an einem schmalen Weg, der nur mit viel gutem Willen noch als Verkehrsstraße durchgehen würde. Es war ein hohes rechteckiges Holzhaus, das Eva irgendwie eher an einen großen Schuppen erinnerte. Es war dunkelrot gestrichen und die Fensterrahmen, die sicher einmal weiß gewesen waren, hielten die schmutzigen Scheiben nur noch mit einem müden grau zusammen.

„Das sieht aber wirklich verlassen aus“, meinte Eva, als sie ausstiegen.

„Es steht schon fast zehn Jahre leer, hat mir der Mann am Telefon gesagt. Deshalb wunderte er sich ja auch, dass hier überhaupt noch jemand herkam. Und dann gleich verschiedene Wagen, die nicht von hier waren.“

„Seltsam.“

Die beiden Frauen gingen auf den Eingang zu. Dann bog Maja ab.

„Ich seh mal hinterm Haus nach, bevor wir reingehen. Nicht, dass wir eine böse Überraschung erleben.“ Und schon war sie verschwunden.

Eva sah durch das mit einem Holzkreuz geteilte Fenster in der Tür nach innen. Ein heller Flur, weiße Möbel und bunte Decken. Doch alles nicht mehr neu und schon gar nicht einladend aussehend. Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten und die Tür ging tatsächlich einfach so auf. Sie lugte hinein. Es war alles still. Also ziemlich unwahrscheinlich, dass hier jemand im Haus war. Und doch dachte sie an Majas mahnende Worte, dass sie warten sollte, bis diese zurück war.

Also blieb Eva ganz entgegen ihrem sonstigen Naturell brav an der Tür stehen. Auch, weil sie so schnell wie möglich und vor allem heil wieder nach Deutschland fahren wollte zu Robert.

Maja kam zurück. „Da hinten ist niemand. Man kann durch die Hintertür ...“. Sie stoppte, weil sie sah, dass auch die Tür vorne bereits offenstand.

„Ich hab gewartet“, sagte Eva.

Maja runzelte die Stirn. „Dann lass uns jetzt reingehen.“ Sie ging voraus und hielt ihre Pistole im Anschlag. Wenn man Verbrecher dieser Kategorie im Menschenhandel jagte, dann musste man auf alles gefasst sein.

Aber auch nachdem sie alle Zimmer unten und im ersten Stock inspiziert hatten, blieb das Ergebnis dasselbe. Hier war niemand. Allerdings wiesen einige notdürftig mit ein paar Decken und abgewetzten Matratzen zurechtgemachte Schlafplätze darauf hin, dass vor nicht allzu langer Zeit jemand hier übernachtet hatte.

„Vielleicht bringen sie die Kinder zunächst hier unter, bevor sie weitergereicht werden“, meinte Maja und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

„Das könnte sein“, stimmte Eva zu, „aber auch sehr riskant. Das Haus ist nicht gerade klein und sie könnten versuchen, zu fliehen.“

„Dazu sind die viel zu sehr eingeschüchtert“, winkte Maja ab. „Und außerdem viel zu jung. Meistens erst fünf, sechs oder sieben Jahre. Diese Altersgruppe lässt sich am besten an den Mann bringen.“

Eva wich zurück. Sie mochte es nicht, wie Maja über die armen Kinder sprach. Doch sie musste zugeben, dass es in weicheren Worten nicht weniger grausam sein würde, was man den überwiegend kleinen Mädchen antat. Ihr Blick wanderte über einen angerosteten Ofen, der schon bessere Tage gesehen hatte.

„Wie alt mag das Haus hier wohl sein?“, fragte sie mehr sich selber.

„Hm. Vielleicht fünfzig oder sechzig Jahre. Aber sowas weiß hier in dieser Gegend meistens keiner mehr so genau, weil sie oft verlassen dastehen. Irgendwann hat irgendjemand mal darin seine Kinder großgezogen.“

„Die vielen alten dunklen Möbel“, sagte Eva und wirkte angewidert. Sie mochte diesen Stil nicht, der sie mehr an ein Bestattungsunternehmen, denn an ein Zuhause erinnerte. Wahrscheinlich hatte Maja recht, hier war es einmal schöner gewesen. Und jetzt diente das Haus vielleicht für unzählige Verbrechen an Kindern.

„Komm“, meinte Maja, „hier gibt es im Moment nichts mehr für uns zu tun. Lass uns zu dem Mann fahren, der den Hinweis gegeben hat.“

Sie gingen zum Wagen. Eva zog die Tür des Hauses wieder hinter sich zu.

 

Truls Vareen saß auf einer kleinen Holzbank vor seinem Haus und genoss die Sonne, als der Wagen auf seiner Auffahrt hielt. Misstrauisch sah er zu ihnen herüber, hier bekam man nicht viel Besuch. Und schon gar nicht von Fremden.

„Wieso guckt der denn so komisch“, meinte Eva, „du hast ihm doch gesagt, dass wir vorbeikommen. Oder nicht?“

„Sicher weiß er das. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass er sich darüber freut, dass wir hier sind.“

Eva schmunzelte. Ihr gefielen die alten Schweden. Überhaupt die Menschen in diesem Land, jedenfalls, wenn sie in guten Absichten unterwegs waren. Aber Verbrecher gab es ja überall.

Sie gingen auf das in schmutzigem Gelb gestrichene Haus zu und der Mann blies den Rauch seiner Pfeife in die Luft.

Maja übernahm das Gespräch und stellte Eva vor. Jedenfalls kam es ihr so vor, obwohl sie kein Wort verstand, aber Maja zeigte auf sie und erwähnte ihren Namen.

Der Mann sagte nicht viel. Er schien zu beschreiben, was er gesehen hatte. Maja machte sich ein paar Notizen in ein schwarzes Büchlein. Hin und wieder lachte der Mann auf und zeigte seine gelben Stummel im Mund. Er lebt bestimmt alleine, dachte Eva. So wie viele alte Menschen hier. Einsam in ihren Häusern in den Wäldern. Sie fand, es gab Schlimmeres, wenn man alt wurde. So hatte ihre Mutter Katharina ja auch gelebt. Und sie hatte ein sehr schönes erfülltes Leben gehabt.

Und ebenso wirkte der Mann auf der Bank vor seinem Haus auch plötzlich auf sie. Zufrieden mit sich und dem, was er bis hierher geschafft hatte. Er genoss die Sonne. Ließ sich seinen alten Tabak schmecken und am Abend würde er sich etwas zu essen machen, ein wenig fernsehen und dann zu Bett gehen. Bestimmt hatte er auch Menschen, denen er vertraute, die er hin und wieder besuchte, oder sie ihn. Was brauchte man eigentlich mehr im Leben? Wieso strebten eigentlich alle nach dem unerreichbaren vermeintlichen Glück und blieben dabei unweigerlich emotional auf der Strecke. Denn das eigentliche Glück, das gab es ja gar nicht. Es gab nur dieses Gefühl, dass sich der Tag zufrieden in die Arme der nahenden Nacht legte.

„Ich hab alles.“ Maja riss Eva aus ihren Gedanken. „Wir können wieder los.“

Sie gingen zum Wagen. Allerdings ging Maja zum Kofferraum und holte etwas heraus. Eine Flasche Schnaps.

„Das hätte ich fast vergessen“, sagte sie und grinste, „ein kleines Dankeschön sollte uns dieser Hinweis schon wert sein.“

Sie ging zurück zu dem Mann und reichte ihm die Flasche. Dieser grinste breit und nickte ihr fröhlich zu, bevor sie wieder zum Wagen kam.

„Und jetzt?“, fragte Eva, als sie wieder losgefahren waren.

„Jetzt überprüfen wird die Bruchstücke der Kennzeichen, die er mir genannt hat“, entgegnete Maja.

„Er konnte sich daran erinnern?“

„Allerdings. Und bei einigen war er sich nur bei den Ziffern unsicher. Aber das lässt sich ja in der Technik alles durchspielen. Dann überprüfen wir die Halter. Wer weiß, vielleicht bringt uns das ja weiter. Außerdem werde ich versuchen, beim Chef durchzuboxen, dass sich hier ein Team der Spurensicherung umsieht.“

Das Versteck

Es war ein großes Glück für das Mädchen, das Sommer war. In der eisigen Kälte des Winters hätte sie ganz sicher keine vierundzwanzig Stunden überlebt.

Doch nun wurde sie von der Sonne an der Nase gekitzelt. In ihr hatte sich eine Ruhe ausgebreitet vom tiefen Schlaf. Desto länger sie unentdeckt blieb, umso wahrscheinlicher war es, dass diese Männer sie niemals finden würden. Das war gut. Das einzige, was ihr Kummer bereitete, waren die vielen anderen Kinder, die es nicht wie sie in die Freiheit geschafft hatten. Sie wusste, was man ihnen antat. Es war dasselbe, was sie durchleiden hatte müssen. Ständige Angst vor Gewalt und Schmerz. Über viele Jahre. Wenn sie jetzt darüber nachdachte und in den blauen Himmel sah, dann fragte sie sich, wie sie es überhaupt hatte überstehen können.

Sicher, irgendwann war sie abgestumpft. Und desto weniger sie sich innerlich wehrte, umso leichter wurde es mit der Zeit. Die Männer hatten wirklich jeden Zentimeter ihres Körpers angesehen und angefasst. Irgendwann war auch die Scham gewichen. Nur, wenn sie sich ausschaltete, konnte sie überleben. Das hatte sie mit der Zeit gelernt. Und hin und wieder hatte sie auch mit den anderen Mädchen gesprochen, die in weiteren Räumen gefangen gehalten wurden. Gesehen hatte sie allerdings nie eine von ihnen.

Heute würde sie noch ein Stückchen weiter gehen. Solange, bis es dunkel wurde, hatte sie sich vorgenommen. Und sobald sie ein schönes Plätzchen für ein Versteck fand, dann würde sie sich Holz, Zweige und Blätter zusammensuchen, um sich ein Versteck herzurichten. Vielleicht in der Nähe eines Sees. Das wäre perfekt.

Den Sommer über würde sie so mit den Früchten aus dem Wald überleben können. Und vielleicht, so hoffte sie, traf sie ja auch auf einen Menschen, dem sie vertrauen konnte. Allerdings würde das sehr schwer werden.

Schon seit einigen Stunden geisterte eine Frage durch ihren Kopf. Wo war sie eigentlich? Und wo kam sie her? War sie hier geboren worden? Es fühlte sich für sie nicht so an. Und am schlimmsten war es für sie, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie ihr Name war.

Doch sie wollte jetzt nicht weiter grübeln, sondern den Tag nutzen. Also stand sie auf, reckte sich und lief los.

Robert

Robert hatte Angst. Und das erste Mal, seitdem er in Malmö untersucht worden war, konnte er dieses Gefühl auch zulassen. Das war mit einer der Gründe, warum er solche Dinge lieber mit sich alleine ausmachte. Vor Eva hätte er es nur schwer zugeben können, was ihn bewegte. Eben, dass er tatsächlich doch eine Heidenangst davor hatte, zu sterben. Endlich konnte er es sich auch eingestehen. Diese Angst hätte sicher jeder in seiner Situation gehabt. Aber wenn er nicht alleine war, dann sah er sich gezwungen, sich zunächst einmal um Eva zu kümmern. Ihr sollte es gut gehen. Sie durfte nicht leiden, weil es ihm schlecht ging.

Und deshalb hatte er auch darum gebeten, dass sie noch in Schweden blieb. Auch wenn er sie wirklich vermisste. Noch nie hatte er eine Frau wie sie gekannt. Noch niemals so tiefe Gefühle empfunden. Eva war seine zweite Hälfte, nach der er ein Leben lang gesucht hatte. Es war komisch, dass sie sich bereits ganz früh im Leben begegnet waren, als Eva in seine Familie als Pflegekind kam. Da hatte er sie noch für eine aufmüpfige Göre gehalten, die ständig Streit suchte.

Aus welchen Gründen auch immer, aber das Schicksal hatte es so gewollt, dass sie sich wiedertrafen. Viele Jahre später. Sie war eine Frau, die man nur lieben konnte, wenn man sie verstand. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.

„Es ist soweit.“ Eine Schwester war neben sein Bett getreten und nickte ihm aufmunternd zu. „In weniger als einer Stunde ist alles überstanden. Danach dürfen Sie dann auch frühstücken.“

Er nickte nur zur Bestätigung. Was jetzt kam, das hatte er sowieso nicht mehr in der Hand.

Erste Spuren

Sie fuhren genauso schweigsam wieder zurück nach Ystad. Und auch, wenn Eva Schweden wirklich lieben gelernt hatte, so entfernte sie sich mit jedem Kilometer, den Maja und sie im Wagen zurücklegten immer ein Stückchen weiter.

Und auch Maja selbst rückte weiter von ihr ab. Oder, eigentlich war es ja umgekehrt. Hatte sie sich anfangs noch sehr mit dieser jungen etwas sonderbaren Ermittlerin verbunden gefühlt, so fragte sie sich nun, was sie eigentlich hier in ihrem Wagen machte. Sie gehörte nicht hierher. Sie konnte es kaum noch nachvollziehen, dass sie überhaupt mit Robert über den Gedanken gesprochen hatte, ganz nach Schweden auszuwandern. Nein, so war sie nicht. Sie brach nicht alles hinter sich ab. Nicht so wie ihre Mutter Katharina das einmal vor langer Zeit getan hatte und sogar ihr eigenes Kind, nämlich sie, einfach so zurückließ.

„Eva?“ Maja musste gespürt haben, wie es ihr ging.

„Ja?“

„Geht es dir gut?“

„Sicher.“

„Du denkst bestimmt an Robert.“

Eva nickte. Sie wollte jetzt nicht mit dieser fremden Frau über die Liebe ihres Lebens sprechen. Es ging nur sie selber etwas an, woran sie dachte.

„Das ist schon okay“, fuhr Maja fort, weil Eva nichts erwiderte. „Und wirklich, es wäre für mich in Ordnung, wenn du schon früher wieder nach Deutschland abreisen würdest.“

Was geht es dich an, dachte Eva bockig und blickte stur weiter aus dem Seitenfenster.

„Sieh mal“, sagte Maja, „da drüben laufen Elche.“

Eva merkte auf. Was konnten diese Tiere denn dafür, dass sie so niedergeschlagen war. Maja zeigte noch einmal mit dem Finger in die Richtung, wo die Tiere waren, und Eva folgte mit ihrem Blick.

„Sie sind wunderschön“, bestätigte sie. Und auf seltsame Weise verflogen ihre dunklen Gedanken bei dem Anblick dieser unschuldigen Wesen, die einfach zwischen den Bäumen standen und neugierig zu ihnen herüberzusehen schienen. „Du musst dir wirklich keine Gedanken um mich machen“, fuhr sie fort, „wir lösen den Fall gemeinsam und dann werde ich fahren.“

„Ist gut“, bestätigte Maja. „Es ist auch nicht mehr weit bis zur Dienststelle. Ich hoffe, dass wir mit den Kennzeichen ein bisschen weiterkommen.“

„Das wäre gut.“

Schließlich war es soweit und Maja stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab. Sie gingen gemeinsam in ihr Büro, wo Maja sofort zum Hörer griff und den Spezialisten die möglichen Kennzeichen durchgab. Anschließend fuhr sie selber ihren PC hoch und Eva setzte sich an den zweiten Platz ihr gegenüber.

Maja fing an, auf ihrer Tastatur herumzuhacken, während Eva sich noch einmal durch den letzten Fall am Bildschirm klickte. Das war alles schon so weit weg. Sie hatte im Wald in der Nähe ihres Hauses ein totes Mädchen gefunden. Damit war alles ins Rollen gekommen. Wenn es um Kinder ging, das war immer das Schlimmste für Eva. Doch das ging den meisten Ermittlern so. Bei Kindern sahen sie rot. Und während ich hier sitze, dachte Eva und schielte zu Maja herüber, die sie gar nicht mehr wahrzunehmen schien, da werden weitere Kinder zu Opfern. Überall um uns herum. Hinter verschlossenen Türen und den Wänden von einfachen Einfamilienhäusern. Und im Grunde können wir nichts dagegen tun. Ja, das war wirklich das schrecklichste Gefühl für Ermittler, wenn sie sich machtlos vorkamen.

Sie sah wieder zu Maja rüber. Im Sommer trug sie meistens ein weißes Shirt und Jeans mit flachen Sandalen. Man sah ihr an, dass sie wenig schlief. Dunkle Ringe unter den Augen und trotz des Sommers eine eher ungesund hell wirkende Gesichtshaut. Keine Frage, Maja war keine gewöhnliche junge Frau. Sonst wäre sie wohl auch nicht bei der Mordkommission und setzte sich den übelsten Verbrechen aus. Sie wirkte stark, auch wenn sie eher hager war. Es war ihre Erscheinung insgesamt, die selbst Männern zunächst einmal Respekt einflößte. Ihr Blick war meistens bedingungslos offen und entwaffnend. Man log Maja nicht an. Oder man bereute es bald. Sie hatte es sogar geschafft, dass ihr pervers veranlagter Chef sie nicht mehr zuhause behelligte. Wie, das wollte Eva gar nicht so genau wissen.

„Es gibt einen Treffer“, rief Maja plötzlich aus. „Kurt Vernegard. Letzte gemeldete Adresse Kronsstaa 13 in Jönköping.“

„Tatsächlich“, erwiderte Eva, „das ging ja schnell. Ist er polizeitechnisch bekannt?“

„Nein, nach dem, was ich bisher gefunden habe, nicht. Aber das muss nichts bedeuten. Oft werden völlig unbescholtene Mitbürger für solche Transporte für gutes Geld angeheuert. Sie sind unauffällig und können sich überall frei bewegen. Weiß man denn, was in dem Kofferraum eines Wagens steckt, der uns irgendwo auf der Straße begegnet?“

Eva wusste, dass es eine rhetorische Frage gewesen war. Es leuchtete ihr ein, was Maja sagte. Aber inwiefern half ihnen das jetzt wirklich weiter? „Willst du zu der Adresse fahren?“

„Ich weiß noch nicht. Aber eigentlich schon.“

Ja, so war Maja. Sie antwortete, und dann doch wieder nicht. Eva war genauso schlau wie vorher. „Wir könnten es noch machen“, schlug sie vor. „Dann wären wir irgendwann spät am Abend zurück.“

„Bist du sicher?“ Maja wirkte angenehm überrascht. Vielleicht hatte sie erwartet, dass Eva in ihrem Alter zu solchen Strapazen keine Lust mehr hatte. Schließlich waren sie heute schon über vier Stunden im Wagen unterwegs gewesen.

„Natürlich bin ich sicher“, sagte Eva, „komm, lass uns fahren.“

 

Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie fast alleine über die Autobahn dahinglitten. Eva ließ ihren Blick über die hohen Wälder wandern. Auch darin, so dachte sie, findet vielleicht irgendwo gerade ein Verbrechen statt. Als Ermittler bekam man irgendwie eine schräge Sicht auf die Dinge. Überall sah man nur noch das Schlechte irgendwann. Immer wieder hielt sie sich selbst den Spiegel vor Augen und ermahnte sich, auch mal einfach eine schöne Landschaft, Bäume oder die Sonne zu sehen und dabei nicht gleich an ein Verbrechen zu denken.

Maja lag lang in ihrem Sitz und sagte nichts. Eva wusste, dass es hinter ihrer hohen Stirn wie in einem Hightech-Computer arbeitete. Sie wollte diese Typen zur Strecke bringen, die kleinen Mädchen weh taten. Egal, was es kostete. Sie würde liefern.

„Beobachtest du mich?“, fragte sie nun und Eva schüttelte schnell den Kopf.

„Nein, ich bin nur in Gedanken“, log sie schnell.

„Worüber denkst du nach?“

„Ich weiß es nicht.“

„Das geht mir auch so.“

Wieder Stille. Nur der Motor des alten Saabs röhrte durch die einsame Welt Schwedens. Zwei Ermittlerinnen mit dem Herz am rechten Fleck in aussichtsloser Mission im Kampf gegen das Verbrechen. Männer hätten diese Situation bestimmt ganz anders für sich interpretiert, dachte Eva und musste wegen ihrer etwas abstrusen Gedanken lächeln. Männer hätten jetzt etwas von Abenteuerlust, Macht und grenzenlosem Einsatz für das Recht geschildert. Sie waren immer die Starken. Während Frauen, selbst wenn sie schon seit Jahren im Dienst waren, immer noch an zweiter Stelle für sie kamen. So dachte auch der Chef von Maja, da war sie sich sicher. Sie verstand sehr gut, warum Maja ihn nicht anzeigte. Doch es wäre eigentlich richtig gewesen. Doch sie löste Probleme eben auf ihre Art.

Eva lehnte sich wieder in ihren Sitz zurück und sah aus dem Fenster. Und irgendwann, da verschwammen die Bäume zu einer grünen Wand und sie schloss die Augen, um kurz darauf einzunicken vom monotonen Geräusch, das die Reifen auf dem Asphalt sangen.

Dann kamen sie dann in Jönköping an und Maja hielt etwas außerhalb der Stadt vor einem hellblauen Haus, dessen Holz schon lange nicht mehr gestrichen worden war. Und doch wirkte es irgendwie einladend. Was vermutlich auch an den vielen wilden Blumen lag, die rund herum auf dem Grundstück wucherten. Zahlreiche Insekten tummelten sich darin und machten kaum hörbare Geräusche, als würden sie einander etwas zuflüstern.

Sie brauchten auch gar nicht lange nach dem Hauseigentümer zu suchen, denn es kam ein Mann von hinten, weil er den Wagen auf seiner Auffahrt gehört hatte. Er trug einen Hammer in der Hand, was ihn wie einen Handwerker aussehen ließ, doch unter den gegebenen Vorzeichen durchaus auch bedrohlich wirken konnte.

Er war hager und braungebrannt. Neben einem weißen Feinrippunterhemd trug er eine zerschlissene Arbeitshose und klobige Schuhe. Als er die beiden Frauen sah, blieb er stehen und fuhr sich durch die graue wilde Mähne. Sein Blick huschte über Eva, bei Maja blieb er hängen.

„Maja Scoll, Polizei Ystad“, stellte sie sich vor. „Und das ist meine Kollegin Eva Sturm.“

„Aha.“ Der Mann stand da in einem Stück und wartete ab.

„Wir hätten da ein paar Fragen an Sie“, fuhr Maja fort, die dieses stoische Verhalten der schwedischen Bewohner sicher gewohnt war. „Es geht um Ihren Wagen, der in der Nähe von Växjö bei einem verlassenen Haus gesehen worden sein soll.“

„Aha.“ Mehr kam da nicht.

Eva wurde langsam nervös von soviel schwedischer Gelassenheit. Doch sie mischte sich zunächst einmal nicht ein.

„Waren Sie dort?“

„In Växjö?“ Er kratzte sich jetzt am Kinn und zog die Stirn kraus, als ob er schwer darüber nachzudenken hätte. „Nein, ich glaube nicht.“

„Kann ich mir mal ihren Wagen ansehen?“

„Nein.“

„Wieso nicht?“

„Er wurde gestohlen.“

„Na, so ein Zufall. Wann denn genau?“

„Vor einer Weile. Aber das ist nicht schlimm. Ich habe schon einen neuen. Allerdings muss ich noch ein paar Veränderungen vornehmen.“ Er hielt seinen Hammer in die Höhe.

„Welches Kennzeichen hatte ihr gestohlener Wagen?“, hakte Maja nach.

Der Mann nannte es ihr und es stimmte mit dem überein, weshalb sie hier waren. Sie wusste im selben Moment, dass es sinnlos war, noch weiter hier seine Zeit zu vergeuden. Er hatte nicht direkt abgestritten, in der Gegend von Växjö gewesen zu sein, es aber auch nicht zugegeben. Und da sein Wagen weg war, gab es auch keine Spuren, die ihn mit dem verlassenen Haus in Verbindung bringen konnten. Sie konnte ihm nichts beweisen. Und wenn es ans Eingemachte ging, indem sie die DNA von ihm verlangte, um diese auch mit denen im Haus zu vergleichen, dann musste sie ihn festnehmen. Und dafür brauchte sie ein hinreichendes Verdachtsmoment. Und den hatte sie im Moment noch nicht. Und nach einem gestohlenen Wagen würde sie ganz sicher nicht suchen. Denn es war klar, dass dieser schon längst nicht mehr existierte. Wahrscheinlich war er in irgendeiner Schrottpresse gelandet. Und dafür musste es gute Gründe geben.

Das alles schien der Mann mit den stahlblauen Augen zu wissen. Er war die Ruhe selbst, weil er sich sicher war, dass man ihm nicht das Geringste würde nachweisen können.

„Sagen Sie mir Bescheid, wenn man Ihren Wagen findet“, sagte Maja. Sie drehte sich um und ging zum Wagen.

Eva sah von einem zum anderen. Das war jetzt alles?, fragte sie sich. Was war mit Växjö? Warum bohrte Maja da nicht weiter nach? Es war doch durchaus möglich, dass er sich in Widersprüche verwickelte. Irritiert sah sie dem Mann nach, der jetzt seinerseits wieder hinter dem Haus verschwand. Dann ging auch sie zum Wagen.

„Wieso hast du ihn nicht weiter befragt?“, fragte sie, als sie eingestiegen war.

„Dafür ist es noch zu früh“, meinte Maja, „wir brauchen mehr Beweise. Außerdem möchte ich ihn jetzt eine Weile beobachten lassen. Wenn es wirklich stimmt, dass er etwas mit dem Menschenhandel zu tun hat, dann ist er jetzt alarmiert und wird die anderen informieren.“

„Verstehe“, sagte Eva und kam sich irgendwie dumm vor, weil sie gleich wieder mit der Tür ins Haus gefallen wäre. Schweden war wirklich ein ganz anderes Pflaster als Ostfriesland, soviel stand fest.

 

Es war schon fast neun Uhr am Abend, als sie schließlich vor Evas Haus standen, wo Maja sie am Morgen abgeholt hatte.

„Willst du noch mit reinkommen?“ Eva kannte die Antwort eigentlich schon.

„Nein, eher nicht.“

„Verstehe. Dann komme ich morgen früh in die Dienststelle.“

„Ja, ist gut.“

Sie stieg aus dem Wagen und sah Majas Wagen nach, bis die roten Lichter immer kleiner wurden und hinter den Tannen verschwanden.

Es fiel ihr schwer, ins Haus zu gehen. Und doch hatte sie jetzt keine andere Wahl. Robert würde in einer Stunde anrufen. Das hatten sie so vereinbart. Heute war sein erster Tag in der Klinik in Aurich. Heute würde sie erfahren, wie schwer es wirklich um ihn stand. Davor hatte sie Angst. Aber eines schwor sie sich, als sie in den Flur trat, wenn es wirklich schlimmer war, als beide hofften, dann würde sie morgen in den nächsten Flieger steigen und zu ihm fahren.

Sie machte überall Licht in den Zimmern, um sich nicht so einsam zu fühlen. Früher hatte es ihr überhaupt nichts ausgemacht, alleine in einer Wohnung zu sein. Doch seitdem sie Robert so nah war, wurde alles anders. Wenn er nicht da war, dann fühlte sie sich unvollständig. Etwas fehlte, und das löste dieses leicht diffuse Empfinden aus, alleine zu sein. Angst hatte sie nicht, selbst nicht hier in Schweden. Doch neuerdings nahm sie immer ihre Waffe mit ins Bett. Für alle Fälle. Denn die Täter hatten nicht davor zurückgeschreckt, Robert anzugreifen. Sie wussten, wo sie wohnte. Und vielleicht wussten sie auch schon längst, dass sie weiter mit Maja zusammenarbeitete und hier nun ganz auf sich gestellt war.

Als sie sich umgezogen hatte, kontrollierte sie noch einmal alle Türen und Fenster und verschloss diese fest, auch wenn sie im Sommer gerne bei offenen Fenstern schlief. Anschließend machte sie sich ein paar Brote und öffnete einen Weißwein.

Und als sie sich in den hellblauen Sessel setzte, den Robert so sehr liebte, da klingelte auch schon das Telefon.

Sie nahm ab. „Hallo, mein Liebling.“

„Eva, ich liebe dich“, antwortete er.

Sie schluckte. „Wie war dein Tag?“

„Durchwachsen“, antwortete er. „Es hat sich bestätigt, was man in Malmö prognostiziert hat.“

Sie atmete tief durch. „Dann fangen sie also mit der Chemotherapie an?“

„Ja.“

Stille und dann ein Geräusch auf Roberts Seite. Es klang, als ob er sich ein Kissen zurechtlegte.

„Du bist sicher müde“, sagte Eva.

„Es war anstrengend.“

„Dann solltest du jetzt schlafen. Ich denke an dich ...“.

„Ich denke auch an dich. Und Eva, bitte, mach dir nicht so viele Gedanken. Ich bin zäh und schaffe das.“

„Das weiß ich doch.“ Aber ich wäre so gerne bei dir, fügte sie für sich selber hinzu, weil sie wusste, dass er jetzt nicht darüber würde sprechen wollen, dass sie zu ihm kam.

„Eva, ich leg jetzt auf. Morgen Abend melde ich mich wieder.“

„Schlaf gut. Ich liebe dich.“

„Du auch. Ich liebe dich auch über alles.“

Sie schickten noch Küsse durch die Nacht. Dann legten sie auf.

Eva starrte noch eine Weile auf das Telefon in ihrer Hand, so, als könnte sie Roberts Stimme wieder herbeirufen, wenn sie es nur lange genug fixierte.

Draußen war die Dämmerung auf dem Weg, in die Nacht überzuleiten. Die hohen Bäume wirkten wie schemenhafte Gestalten, die sich leicht im Wind hin und her wiegten. Unvorstellbar wäre es jetzt für sie, so wie vor ein paar Monaten, alleine in den Wald zu laufen. Sie gab es nicht gerne zu, aber Schweden hatte sie verändert. Das ganz andere Leben und die vielen Ereignisse, sie hatten die Angst in ihr entfacht. Sie legte das Telefon weg und ging noch einmal bei allen Fenstern und Türen entlang. Dann nahm sie ihren Brotteller, den Wein und auch ihre Waffe und verschanzte sich unter ihrer dicken Bettdecke. Das Licht auf ihrem Nachttisch ließ sie in dieser Nacht an.

Der lange Weg

Erst, als es bereits wieder dämmerte, hatte das Mädchen das Gefühl, jetzt weit genug von ihren Peinigern davongelaufen zu sein. Sie stand nun zwischen hohen Tannen auf einer Lichtung, in der Nähe glitzerte ein See.

Das ist gut, dachte das Mädchen. Sie begann damit, nach einem geschützten Fleckchen zwischen den Bäumen zu suchen. Unter den Tannen wuchs nicht viel, nur weiches Moos auf abgefallenen Nadeln. Das würde ihr einen weichen Untergrund für ihr Versteck bieten, das sie sich nun bauen wollte. Die hohen Tannen schützten sie vor ungewollten Blicken von Fremden, die hier vorbeikommen mochten. Und auch vor dem Wind hielten sie schützend ihre lang herabhängenden Zweige über ihr zusammen. Also begann das Mädchen damit, nach dickeren Ästen und Zweigen zu suchen, womit sie sich ein kleines neues Zuhause bauen konnte. Sie brauchte nicht lange, und schon war ein erster kleiner Wall aufgestapelt. Morgen, so dachte sie, da werde ich die nähere Gegend erkunden, um zu sehen, wo ich etwas zu essen bekomme. Sie ging noch einmal los und fand ganz in der Nähe des Sees Bäume mit großen samtigen Blättern, die sie mitsamt den Zweigen vorsichtig vom Stamm brach. Diese würden ihr als Unterlage für ihr Nachtlager dienlich sein.

Sie fand Spuren von wilden Tieren. Doch sie empfand keine Angst. Tiere waren anders als Menschen. Ja, sie wünschte sich sogar, auf einen entlaufenen Hund oder eine Katze zu treffen, um einen Kameraden an ihrer Seite zu haben.

Auf dem Rückweg pflückte sie sich noch ein paar Beeren und nahm sie mit in ihr Versteck. Bald darauf lag sie zufrieden in ihrem Lager und sah nach oben. Hin und wieder rief ein Vogel und es hallte in der herannahenden Nacht. Das Mädchen war zufrieden mit sich. Doch sie wusste auch, dass dieses Versteck nicht von Dauer sein würde. Irgendwann, da würde der Winter kommen. Bis dahin musste sie einen Ausweg gefunden haben. Sie drückte sich mit ihrem Rücken gegen die Wand aus den Zweigen, die sie gesammelt hatte, und schlief irgendwann friedlich ein.

Spuren in dunkler Nacht

Maja hatte keineswegs vorgehabt, nach Hause zu fahren, als sie Eva an ihrer Haustür abgeliefert hatte.

Nun stand sie mit ihrem Wagen in der Nähe des Hauses, das sie am Morgen durchsucht hatten. Zu Eva hatte sie gesagt, dass die Überwachung andere Kollegen übernehmen würden. Aber das war gelogen. Das hätte sie auf der Grundlage von vagen Vermutungen niemals bei ihrem Chef durchgeboxt. Also nahm sie die Sache selber in die Hand. Und Eva wollte sie nicht damit hineinziehen.