Der Adler - Joachim Stein in Friesland - Sammelband 4 - Moa Graven - E-Book

Der Adler - Joachim Stein in Friesland - Sammelband 4 E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

Joachim Stein, Mona Lu und Hauke ermitteln wieder in brisanten Fällen! In diesem Sammelband enthalten: Die Frieslandkrimis "Bis es friert" "Es waren die anderen" Wie bei allen Krimis von Moa Graven Bücher voller Spannung und Emotionalität. In "Bis es friert" entdeckt Ermittlerin Mona Lu einen Toten in den Dünen am Strand von Schillig. Seine Hände sind in Eisblöcke eingefroren. In "Es waren die anderen" findet ein Spaziergänger mit seinem Hund eine Frauenleiche im Gebüsch eines kleinen Wäldchens.

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Bis es friert
Impressum
Zum Inhalt
Element
Herbstlich
Alleine
Hooksiel
Schwimmtage
In der Mühle
Ermittlungen
Bremen
Hauke
Badetag
In der Mühle
Der Unfall
Bis es friert
Im Krankenhaus
Auf eigene Faust
In der Mühle
Hauke
Der andere Blickwinkel
Wo ist Hauke?
Dunkle Stunden
In der Redaktion
So kalt
Schillig
Im Krankenhaus
Zwei Monate später
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Es waren die anderen
Impressum
Zum Inhalt
Stumme Gefühle
Die Joggerin
Ina und Ulla
Die Tote im Wald
Das Fest
Mona Lu und Hauke
Die Chefin
Ina Detering
Zuhause
Katja Brouwer
Verwirrungen
Im Hotel
Verdachtsmomente
Joachim Stein
Wer ist der Fremde
In der Redaktion
In der Mühle
In der Dienststelle
Reaktionen
Am Ende des Tages
Einige Wochen später
Ina
In der Klinik
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Zur Autorin
Die Friesland Krimi-Reihe
Die weiteren Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
Meine Autobiografie
Leseprobe aus dem aktuellen Fall mit der Langeooger Ermittlerin EVA STURM „Toter Schneemann“
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

Wortzähler: 72131

 

 

 

 

 

 

Der Adler – Joachim Stein, Mona Lu und Hauke in Friesland – Sammelband 4

von Moa Graven

 

 

BIS ES FRIERT

 

 

ES WAREN DIE ANDEREN

 

Bis es friert

Frieslandkrimi von

Moa Graven

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben und eröffnete ein Krimihaus in Rhauderfehn, wo man sie auch besuchen kann. Mit über 70 Krimis, die sie über 600.000 Mal im Eigenverlag verkaufte, gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen in Deutschland.

Impressum

Bis es friert – Joachim Stein in Friesland –

Band 10

Frieslandkrimi von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Januar 2021

ISBN 978-3-946868-81-1 (Taschenbuchausgabe)

Umschlaggestaltung: Moa Graven

 

Zum Inhalt

Bis es friert ist der zehnte Band aus der Reihe Joachim Stein in Friesland von Moa Graven

Mona Lu muss nachdenken. Ihre Beziehung zu Hauke steht wieder mal an einem Scheidepunkt. Sie fährt zum Naturstrand von Schillig und dort macht sie eine furchtbare Entdeckung. Ein Toter sitzt in den Dünen. Und seine Hände sind zu Eisblöcken gefroren.

 

Die Schatten

der Vergangenheit

können nicht

an allem schuld sein.

Aber sie sind für alles der Grund.

 

Moa Graven

Element

Wasser. Wir Menschen bestehen zu über sechzig Prozent aus diesem Element. Und deshalb brauchen wir Wasser zum Leben. Im Wasser kann man schwimmen. Wir fangen bereits als Baby damit an, wenn wir im Mutterleib heranwachsen. Das Wasser umhüllt uns und gibt uns Schutz.

Wenn wir durstig sind, dann trinken wir es. Und wenn wir schmutzig sind, dann baden wir darin.

Die Erde wird von vielen Flüssen und Seen mit Wasser versorgt. Ohne Wasser würde keine Pflanze gedeihen. Kein Tier könnte überleben, wenn es kein Wasser trinken würde.

Wasser ist wichtig. Und es gibt viele Regionen auf dieser Erde, wo Wasser sehr knapp bemessen ist. Diese Menschen müssen weite Wege, oft zu Fuß zurücklegen, um an die Quelle allen Lebens zu gelangen. Wahrscheinlich machen wir Menschen, denen es nicht so geht, und die nur den Wasserhahn im Bad oder in der Küche aufzudrehen brauchen, es uns gar nicht bewusst, wie kostbar dieses Gut im Grunde ist.

Wir alle lieben es, am Meer zu sein. Dem Rauschen der Wellen zuzuhören. Oder einfach nur bis weit hinter den Horizont zu sehen. Das gelingt, wenn man nur lange genug aufs Wasser sieht. Dann sieht man mehr. Man blickt auf sich selber zurück.

Kinder freuen sich auf den Sommer, wenn sie endlich ins Freibad gehen können. An manchen Tagen kann man das helle Kinderlachen bis weit über den Dorfrand hinaus vernehmen, je nachdem, wie der Wind weht.

Wasser macht alle glücklich.

Nur mich nicht. Und sicher fragen Sie sich jetzt, warum das so ist.

Herbstlich

Der Sommer war verstrichen und in goldgelben Farben kündigte sich der Herbst bereits an.

Stein saß in seiner Mühle und las gerade in der letzten Zeitung, die er seinerzeit, als er nach Horumersiel gezogen war, mit aus Frankfurt hergebracht hatte. Es waren die Nachrichten von vor über vier Jahren. Und doch hatte er beim Lesen nicht den Eindruck, dass sich seitdem viel geändert hätte. Noch immer schwankte er, ob er sich wieder ein Abo zulegen sollte. Was half es, immer von Dingen zu lesen, die sich sowieso nicht ändern ließen. Die Menschen waren schlecht. Daran ließ sich nicht rütteln. Sie trafen in der Politik die falschen Entscheidungen, genauso wie der Mann oder die Frau Zuhause beim Essen oder in der Erziehung ihrer Kinder. Warum also sein Geld für bedrucktes Papier verschwenden.

Bisher hatte er sich nicht dazu durchringen können, eine Zeitung digital zu lesen. Doch jetzt, so dachte er, als er die letzte Seite umblätterte, wäre das vielleicht doch eine Option. Doch dieses Mal wollte er sich für etwas entscheiden, was ihn wirklich interessierte. Vielleicht ein Fachmagazin für Psychologie. Es war schon lange her, dass er sich mit dem Feinschliff der Seele auseinandergesetzt hatte. Damals in Frankfurt war es seine Pflichtlektüre gewesen, weil er als Polizeipsychologe sein Geld verdient hatte.

Doch, so wusste er instinktiv, würde ihn das nur noch weiter herunterziehen. Und das in dieser Herbststimmung, die er im Grunde genommen liebte. Der Sommer war ihm immer viel zu warm. Wobei er sich daran gewöhnt hatte, seitdem er an der Küste lebte. Hier wehte doch immer ein viel frischerer Wind als in der Großstadt.

Sein Blick wanderte zum Ofen. Ja, dachte er, es würde schön werden, wenn im Winter wieder die Scheite darin knisterten und sachte verglommen. Er würde auf dem Sofa sitzen und seinen Tee trinken. Sich mit Dingen beschäftigen, an denen Mona Lu gerade mit Hauke arbeitete. Das bereitete ihm tatsächlich neben seiner Freude am Alleinsein noch immer am meisten Vergnügen.

Ach, die beiden. Nun wollten sie sogar heiraten. Oder besser gesagt, es war Haukes Idee gewesen und er hatte sich getraut, sie zu fragen. Typisch Mona Lu willigte sie zwar ein, doch den Termin, wann es passieren sollte, ließ sie offen. Eben immer ein Hintertürchen, durch das sie sich hinwegmogeln konnte. Doch wenn er genau darüber nachdachte, dann würde es sowieso nicht gutgehen, wenn sie heirateten. Mona Lu war eine Frau, die sich schnell gefangen fühlte. Und so eine Unterschrift, die das Glück ein Leben lang besiegeln sollte, wenn nicht gar musste, das würde ihr bestimmt die Luft zum Atmen nehmen. Er war sich sicher, dass sie nur Hauke zuliebe Ja gesagt hatte, weil ihr nach dem letzten Fall so richtig klargeworden war, dass sie ihn wirklich liebte. Eben auf ihre ganz spezielle Art. Stein verstand eigentlich nicht, was an Hauke so besonders sein sollte. Doch die Liebe war ja auch bekanntlich etwas, was sich unter rationalen Aspekten nicht erklären ließ.

Nun packte Stein die Zeitung zusammen und brachte sie nach unten in den Papiercontainer, der nie geleert wurde. Alleine aus dem Grund sollte er Abstand davon nehmen, sich ein neues Abonnement zuzulegen, dachte er und drückte den Deckel fest nach unten. Er nahm immer nur ein wenig Papier wieder heraus, um den Ofen anzuzünden. So war alles in seiner Mühle ein ewiger Kreislauf.

Wieder oben fragte er sich, was er als Nächstes machen sollte. Es war noch früh am Tag und müde war er nicht. Er sah nach draußen. Die Sonne schien. Also entschied er sich, einen Kaffee zu kochen und sich auf den Stuhl auf der Galerie zu setzen und in den Himmel zu sehen.

Alleine

Hauke war tatsächlich nach Hamburg gefahren, um sich dort bei einer größeren Zeitung vorzustellen. Eine Woche würde er weg sein. Und nun saß Mona Lu alleine in ihrem Haus und fragte sich, ob sie schuld daran war, dass es ihn aus Friesland fortzog.

Sie wusste, dass er erwartete, dass sie, wenn alles gut mitlief und er die Stelle bekam, ihm dorthin folgen würde. Schließlich wollte er sie heiraten. Also war sein Entschluss, auch mal über den Tellerrand hinauszusehen ganz sicher kein Wunsch, sich von ihr abzunabeln. Doch alleine, weil er sicher so dachte, würde sie es niemals tun. Schließlich setzte er sie vor vollendete Tatsachen. Sie hatten nicht offen darüber gesprochen, was war, wenn ... doch durch die Blume hatte er schon angedeutet, dass so ein Ortswechsel auch dazu beitragen könnte, den Horizont zu erweitern. Wir sind doch noch jung, hatte er gesagt. Da muss man doch nicht auf dem Land versauern.

Nun, Mona Lu fühlte sich weder besonders jung, auch wenn sie noch keine vierzig war, noch versauerte sie in ihrem Häuschen in Friesland. Im Gegenteil, sie fühlte sich hier wohl. Ihr Haus war ihre Festung. Ein Rückzugsort, in den nur wenige Menschen eindrangen außer Hauke. Wenn es wirklich soweit kam, dachte sie, als sie aus dem Fenster übers weite Feld sah, dass Hauke sie vor die Wahl stellte, dann würde er wohl den Kürzeren ziehen oder es lief auf eine Fernbeziehung hinaus, die in ihren Augen sowieso zum Scheitern verurteilt war.

Bin ich einsam?, fragte sie sich und verfolgte mit ihren Blicken ein scheues Reh, das vielleicht nach seiner Herde suchte. Denn sonst war kein Tier weit und breit zu entdecken. Bisher hatte sie sich nie solche Fragen gestellt. Sie war viel alleine und fühlte sich wohl damit. Ihr Job war schon aufreibend genug und er bewies ihr immer wieder, dass man Menschen lieber nicht zu nahe kam. In jedem steckte auch ein Killer, davon war sie mittlerweile überzeugt.

Als sie diese These einmal gegenüber Stein erwähnt hatte, widersprach er ihr nicht. Ja, sie beide waren aus ähnlichem Holz geschnitzt. Und es hatte Zeiten gegeben, da war sie irgendwie in ihn verliebt gewesen. Doch mehr war nie daraus geworden und sie konnte seine Gefühle ihr gegenüber nie so richtig einschätzen. Er mochte sie. Das ja. Aber konnte er sich auch mehr mit ihr vorstellen? Nahm er Rücksicht auf Hauke? Nun, das war vielleicht bald gar nicht mehr nötig.

Das Reh war nun in einem kleinen Waldstück verschwunden und tauchte nicht noch einmal auf.

Mona Lu sah auf ihre Armbanduhr. Die Sonntage zogen sich wirklich wie ein fad gewordener Kaugummi dahin. Hauke wollte am Abend noch einmal anrufen. Morgen war schließlich sein großer Tag. Als er gestern anrief, hatte er ihr versichert, dass von Hamburg nun wirklich nicht sein Leben abhing. Wenn es nicht klappte, dann würden sich andere Chancen auftun. Doch sie hatte Zwischentöne vernommen, die ihr etwas anderes sagten. Er wollte unbedingt aus Friesland weg. Steuerte er auf eine Midlife Crisis zu? Andere ließen sich dann scheiden und er wollte sie heiraten. War er einsam? Selbst mit ihr? Bestimmt war sie ihm keine große Hilfe, wenn er mit sich haderte. Meistens merkte sie es nicht, wenn es ihm nicht gutging. Erst, wenn sie in eine Krise gerieten, sah sie genauer hin, was mit ihm los war. Keine Frage, sie war eine Egoistin. Er hatte es ihr auch schon oft genug an den Kopf geworfen. Doch sie war eben so. Und er beteuerte immer wieder, dass er sie gerade wegen ihrer Unabhängigkeit so liebte. Tja, man konnte nicht beides haben.

Mona Lu beschloss, noch ein wenig an die frische Luft zu gehen, solange sie sicher sein konnte, auf nicht allzu viele Spaziergänger treffen zu müssen.

 

Sie war bis zum Naturstrand von Schillig gefahren, wo sie um diese frühe Stunde praktisch alleine für sich war. Sie ging am Wasser entlang. Es würde sicher ein wirklich schöner Herbsttag werden, auch wenn die Temperaturen schon ziemlich in den Keller gegangen waren für diese Jahreszeit. Sie sah aufs Meer. Oft kam von dort eine Antwort auf ihre Fragen. Doch heute war es nicht so. Das Problem mit Hauke musste sie wohl auf eine andere Art lösen.

Sie ging weiter und fuhr mit ihren Schuhen Linien in den weißen Sand. Dann drehte sie sich um die eigene Achse, um nach einem lauschigen Plätzchen Ausschau zu halten, wo sie sich ein wenig in die aufkommende Herbstsonne setzen konnte, ohne gestört zu werden. Und dann sah sie plötzlich etwas Merkwürdiges. Weiter hinten zwischen dem hohen Gras, da saß schon jemand und beobachtete sie. Und er sah sie auch weiterhin ungeniert an, selbst, als sie sich in Bewegung setzte und direkt in seine Richtung lief. Das war nun wirklich mehr als unverschämt, dachte sie ärgerlich. Dem würde sie jetzt gleich mal ihre Meinung geigen, so unverhohlen Menschen zu belästigen. Schon war sie bereit, ihre Muskeln spielen zu lassen, als sie plötzlich erkannte, warum er nicht wegsah. Er war tot. Und seine Augenhöhlen waren leer. Jemand hatte ihm die Augen herausgenommen. Geschockt stand Mona Lu da. Damit hatte sie an diesem schönen Tag nun wirklich nicht gerechnet. Wäre sie nur Zuhause geblieben. Musste denn wirklich alles, was sie machte, immer in einem Desaster enden? Doch nun waren die Dinge so, wie sie waren. Mechanisch zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und rief die Kollegen an.

Danach ging sie weiter an das Opfer heran. Und dann runzelte sie die Stirn. Er hatte keine Hände. Oder vielmehr, doch, Hände hatte er schon. Doch sie waren in überdimensionalen Eiswürfeln eingefroren. So etwas hatte sie bisher wirklich noch nie in ihrem Leben gesehen. Und sie hatte schon einige Opfer untersucht. Sie beugte sich herunter und fragte sich, ob sie sich vielleicht täuschte.

Doch sie irrte sich nicht. Als sie mit ihrer freien Hand ganz nah an dem Rieseneiswürfel entlangwedelte, da spürte sie die Kälte, die dieser verströmte. Sie nahm ihr Handy wieder heraus und machte Fotos. Für sich und auch für die Kollegen, falls sie zu lange brauchen würden. Denn bei diesen Temperaturen, da schmolz das Eis natürlich, wenn auch nur sehr langsam. Die Hände in den Eiswürfeln lagen auf den Oberschenkeln und man konnte deutlich die feuchten Stellen erkennen, wo das Eis bereits getaut war.

Es wäre bestimmt eine knifflige Aufgabe für die Spurensicherung, zu ermitteln, wie lange der Tote hier schon saß. Und Mona Lu fragte sich, ob man den Mann vielleicht sogar hier abgelegt hatte, während sie schon am Strand unterwegs gewesen war. Eine Vorstellung, die ihr bei dem Anblick der großen Eiswürfel eine Gänsehaut über die Arme jagte. Ja, das wäre auch etwas für Hauke gewesen. Da hätte er Fotos schießen können. Und da glaubte er, man müsste ganz bis nach Hamburg fahren, um etwas Außergewöhnliches zu erleben.

Sie beschloss, ihm später beim Telefonat nichts davon zu sagen. Sie wusste ja auch nicht, was er da eigentlich so trieb. Und wieso musste er eigentlich eine ganze Woche in Hamburg bleiben, nur wegen eines Vorstellungsgesprächs. Nun gut, er besuchte bei der Gelegenheit auch einen Kollegen, den er während seines Volontariats kennen gelernt hatte. Aber mein Gott, das war doch auch schon eine Ewigkeit her. Sicher zogen sie da das typische Männerding durch in der frivolen Szene. Doch jagte sie etwa Schulfreundinnen von früher hinterher, um sich zu amüsieren? Das war doch eigentlich auch naiv.

Nein, sie wollte jetzt nicht über Hauke nachdenken. Sie kam aus der Hocke hoch und ging ein paar Meter auf Abstand, um noch weitere Fotos der Gesamtsituation zu machen. Keine Frage, der Täter wollte etwas mit der Art der Verstümmelung des Opfers aussagen. Bestimmt war er schwer gestört und in psychiatrischer Behandlung. Anders ließ sich das, was da im Sand noch übrig war von einem Menschen, nicht mehr erklären. Wie komisch es war, wenn die Augen fehlten. Das war noch einmal etwas ganz anderes, als wenn ein Toter die Augen geschlossen hatte. Wenn sie weg waren, dann wollte der Täter damit andeuten, dass er es dem Opfer nicht mehr erlaubte, Dinge zu sehen. Gab es eine sehr persönliche Beziehung zwischen Opfer und Täter? Mona Lu freute sich schon darauf, darüber später mit Stein in der Mühle zu fachsimpeln. Und schon aus dem Grund machte sie gleich noch ein paar weitere Fotos und ging wieder ganz nah an den Toten heran.

 

Dann hörte sie herannahende Fahrzeuge. Das Team kam an.

Und kurz darauf war der Tatort schon abgeriegelt und der Gerichtsmediziner stand neben ihr.

»Heilige Scheiße«, wiederholte er immer wieder, während er sich mit den fehlenden Augen und den eingefrorenen Händen beschäftigte.

»Wie geht sowas überhaupt?«, fragte Mona Lu, die wusste, dass Fachleute es mochten, wenn man naive Fragen stellte.

Der Gerichtsmediziner drehte sich zu ihr um. »Du meinst die Hände?«

Sie nickte.

»Tja. So aus dem Stegreif bin ich da auch überfragt. Aber ich vermute mal, dass die Hände zunächst jeweils in einen größeren Behälter gesteckt wurden, in dem Wasser war. Dann hat der Täter gewartet, bis das Wasser gefroren war, um dann die Behälter wieder zu entfernen.«

»Hört sich leichter an, als es ist, nehme ich an.« Mona Lu war neben dem Fachmann in die Hocke gegangen.

»Da müsste ich mich konkreter mit befassen, um dir etwas sagen zu können. Ich seh sowas auch zum ersten Mal.«

Sie kam wieder hoch und sah ihm dabei zu, wie er mit einer Taschenlampe in die Augenhöhlen leuchtete. Vielleicht hätte ich auch davon ein Foto mit dem Blitz machen sollen, dachte sie. Doch jetzt wäre sie sich dabei echt blöd vorgekommen, ihn darum zu bitten, sie ein Bild davon machen zu lassen.

»Er war noch nicht tot«, fuhr er fort, »als man die Augen entfernt hat. Da ist eine deutlich zu erkennende Blutung auf beiden Seiten.«

»Und die Hände?«, fragte Mona Lu.

»Du meinst, ob er es noch mitbekommen hat, dass sie gefrieren?« Der Gerichtsmediziner stellte sich stöhnend auf und hielt sich die Hände in den Rücken. »Also, das müsste ich untersuchen. Aber so, wie sich die Situation im Moment für mich darstellt, würde ich sagen, der Täter hat das Leid des Sterbenden sehr genossen.«

»Verstehe.« Mona Lu fuhr sich durch die Haare.

»Wo ist eigentlich Hauke?«, wechselte der Gerichtsmediziner jetzt das Thema, »sonst will er doch immer die ersten Fotos schießen für sein Blatt.«

»Ach, der ist unterwegs«, blieb Mona Lu im Vagen. Ihr Privatleben hatte hier jetzt nichts verloren.

»Na gut. Dann werde ich mal weitermachen und nach den Dingen suchen, die du jetzt brauchst, um ihn zu identifizieren.«

»Ja, ist gut«, stimmte sie zu.

 

Es fand sich tatsächlich ein Portemonnaie mit einem Personalausweis in der hinteren rechten Hosentasche. Bei dem Opfer handelte es sich um Werner Grein aus Hooksiel. Als der Gerichtsmediziner sich wieder auf den Weg nach Oldenburg machte und die Leiche in einen Zinksarg verfrachtet worden war, machte Mona Lu sich auf den Weg, um die Angehörigen zu informieren.

Hooksiel

Werner Grein lebte alleine in einer Einliegerwohnung eines Ehepaares, das nun von Mona Lu befragt wurde. Da auf ihr Klingeln an Greins Wohnungstür niemand öffnete, war sie wieder nach vorne gegangen.

»Das ist ja unfassbar«, sagte die Vermieterin immer wieder und konnte sich kaum beruhigen. »Wer bringt denn so einen netten älteren Herrn einfach um? Er hat doch niemandem etwas getan.«

Ihr Ehemann legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern und zog sie sachte mit sich, als er Mona Lu hereinbat.

Es stellte sich heraus, dass die beiden im Grunde nicht viel über Grein wussten. Er hatte die Wohnung vor gut drei Jahren bezogen, nachdem er in Pension gegangen und nach Friesland zurückgekehrt war. Er hatte in Bremen als Lehrer an einem Gymnasium gearbeitet. War aber gebürtiger Hooksieler gewesen. Deshalb kam er auch zurück, um in seiner Heimat die letzten Jahre zu genießen.

Mit dem Zweitwohnungsschlüssel der Vermieter ging Mona Lu dann in Greins Wohnung, um sich ein umfangreicheres Bild des Opfers zu machen. Die vielen Bücher in den Regalwänden im Wohnzimmer fielen ihr als Erstes auf. Als Lehrer war es wohl typisch, dass er viel gelesen hatte. Und wenn man auf Rente war, hatte man ja noch mehr Zeit. Insgesamt war die Wohnung sehr aufgeräumt. Ihm schien viel an Ordnung gelegen zu haben, denn nichts lag irgendwo vernachlässigt herum. Das Besteck in der Schublade der Küchenzeile blitzte und die Spüle war blankgeputzt.

Die Vermieter hatten gesagt, dass sie nicht wüssten, wann sie Grein überhaupt zuletzt gesehen hätten. Er war ein zuvorkommender angenehmer Mieter gewesen, den man kaum gehört hatte. Oder vielleicht war Grein ihnen auch einfach egal gewesen, Hauptsache, die Miete kam pünktlich. Und davon konnte man bei einem pensionierten Lehrer wohl ausgehen. Aber insofern war im Moment nicht klar, wann er zuletzt in seiner Wohnung gewesen war.

Wann war er seinem Mörder begegnet? Hatte dieser ihn über einen längeren Zeitraum gefangen gehalten und gefoltert? Es war immer schwierig, bei so zurückgezogenen Menschen wie Grein festzustellen, wie sich die letzten Tage abgespielt hatten. Wer sollte darüber Auskunft geben können, wenn sich niemand für ihn interessiert hatte? Denn auch das hatten die Vermieter gesagt, Grein war mehr für sich gewesen und bekam nach ihrer Meinung wenig Besuch. Nur hin und wieder sei mal eine ältere Dame gesehen worden, die wohl zur Teezeit vorbeisah. Aber wer das gewesen sei, das könnten sie leider nicht sagen.

Mona Lu seufzte auf, als sie in den Kleiderschrank mit den vielen grauen Hosen und karierten Hemden sah. Wenn Hauke jemals so einen Kleidungsstil entwickeln sollte, dann würde sie ihn verlassen. Grein hatte auch hier alles akribisch nach Farbabstufungen sortiert. War er ein Kleinkrämer gewesen? Wo sollte sie anfangen, nach dem Mörder zu suchen? Wem war Grein mit seiner Art zu leben derart auf die Nerven gegangen, dass ihm die Augen ausgestochen worden waren? War er ein Spanner gewesen? Und was bedeuteten dann die eingefrorenen Hände? Hatte er damit Frauen angetatscht? Oder gar Kinder? Wenn Letzteres zutraf, dann hatte er auf jeden Fall eine entsprechende Strafe verdient gehabt.

Sie schloss die Schranktüren wieder. Sie mochte den Geruch nicht, den die Kleidung von alten Männern verströmte.

In einem kleinen Abstellzimmer stand ein alter Sekretär, in dem fein säuberlich Papiere gehortet wurden. Rechnungen von Energieanbietern und Ähnliches, was eben so zum Alltag gehörte. Keine Briefe von Bekannten, Verwandten oder Freunden. Kein Hinweis auf die Privatsphäre, die auch ein Mann wie Grein sicherlich gehabt hatte.

Im Buchregal im Wohnzimmer fand Mona Lu ein altes Fotoalbum. Sie konnte nur mutmaßen, wer von den Kindern, die darin abgebildet waren, Grein als Jugendlicher gewesen war. Doch war das wirklich wichtig? Sie musste jetzt herausfinden, mit wem er hier in Hooksiel Umgang gehabt hatte. Ein Kollege war bereits in der Dienststelle damit beschäftigt, etwas herauszufinden.

Mona Lu beschloss, nun zur Mühle zu fahren. Sie musste nach dieser trostlosen Wohnung unbedingt auf andere Gedanken kommen.

Schwimmtage

Der Vorteil, den man als Kind erlebte, wenn man an der Küste aufwuchs, war die Tatsache, dass das Schwimmen zum wichtigsten Zeitvertreib gehörte.

So war das auch in meiner Familie.

Am Sonntag fuhren wir im Sommer immer gerne an einen kleinen See, wo sich auch viele andere Familien vergnügten. Es gab dort eine Rutsche ins Wasser und diese war ständig gut besucht. Was gab es Schöneres, als ins Wasser zu platschen.

Ich mochte das alles nicht. Doch danach fragte niemand. Mir waren die anderen Kinder, was das Schwimmen betraf, immer weit voraus. Unbeholfen tapste ich vom Uferrand, einen Zeh weit vorausgeragt, immer weiter ins Wasser. Mir war kalt und ich schlang meine Arme um meinen bloßen Oberkörper. Meine beiden Schwestern ärgerten mich, indem sie mich mit Wasser bespritzten und kreischend lachten. Sicher dachten sie, das machte mir Spaß. Oder, dass ich mich bewusst so anstellte, um sie noch mehr herauszufordern. Ich habe ihnen auch später nie einen Vorwurf deshalb gemacht, weil sie eben Kinder waren. Genau wie ich.

Es dauerte immer über eine halbe Stunde, denke ich, bis ich bis zum Hals im Wasser verschwand. So richtig schwimmen konnte ich noch nicht. Ich hielt mich eher wild mit den Armen rudernd über Wasser und blieb meistens sowieso so weit am Ufer, dass ich mit den Fußspitzen immer noch Boden unter den Füßen hatte.

Bis zu diesem einen Tag, der alles verändern sollte. Ich weiß nicht mehr woher, aber plötzlich griffen von hinten zwei große Hände nach mir und zogen mich mit. Meine Schwestern hörte ich lachen. Es musste wohl sehr komisch ausgesehen haben, wie ich mich wehrte und ins Wasser schlug.

Es war mein Vater, der mich überrascht hatte. Auch er lachte, als er mich immer weiter in Richtung Rutsche zog. Ich ahnte, was kommen würde und nässte mich ein, was im Wasser aber nicht weiter auffiel.

Noch nie war ich da oben gewesen. Und mein Herz schlug mir wild bis zum Hals. Warum machte mein Vater das mit mir? Er sagte, dass heute ein ganz besonderer Tag wäre, den ich bestimmt niemals wieder vergessen würde. Schon in den vergangenen Wochen davor hatte er mich immer wieder ermuntert, doch einmal auf die Rutsche zu gehen. Doch ich hatte mich standhaft geweigert. Schlichtweg, weil ich Angst hatte vor dem, was mir passieren konnte.

Damit ich keinen Rückzieher machte, blieb mein Vater unten an der Rutsche stehen und ich wusste, was er von mir erwartete. Geh nach oben, zeig, was du kannst. Immer wieder sagte er das. Nur mit Mühe schaffte ich es, die Sprossen nach oben zu gehen. Es hatte sich bereits ein Pulk an Kindern um die Rutsche versammelt, einige feuerten mich an, andere lachten mich aus. Das war der Moment, wo ich nicht mehr leben wollte. Die Sonne stach mir in die Augen, als ich oben stand und flehentlich in den Himmel sah. Irgendwer musste mich doch retten kommen. Doch es kam niemand.

Nun los, rief mein Vater von unten, dem die ganze Sache mit mir sicher langsam mehr als peinlich war. Ich war sein Sohn. Was sagte das über ihn aus, dass ich so ein Angsthase war? Und meine Schwestern machten an solchen Tagen nichts anderes, als von der Rutsche ins Wasser zu gleiten. Und was machte ich? Ja, ich war eine Schande für meinen Vater.

Ich wusste, dass ich hier niemals wieder runterkommen würde. Eben nur über den Weg, mich auf den Hosenboden zu setzen und loszulassen. Mein ganzer Körper war zu einer starren Säule geworden, als ich mich langsam heruntersetzte. Um mich herum das Stimmengewirr, johlend und hässlich. Meine Finger umklammerten das kalte Metall. Ich hatte solche Angst wie in meinem ganzen Leben vorher niemals. Ich musste jetzt loslassen. Dann war es bald vorbei. Dann war alles vorbei. Ich würde sterben. An einem Tag im sonnigen August.

Ich ließ los. Mein Körper setzte sich in Bewegung, als mir ein Junge von hinten auch noch nachhalf. Ich schloss die Augen und fühlte die zunehmende Geschwindigkeit. Immer weiter voraus. Es war ja nicht weit. Dann platschte ich ins Wasser. Schwerelosigkeit. Ich wirbelte im Wasser herum. Machte den Mund auf vor Schreck und schluckte. Mit den Armen schlug ich um mich herum. Wo war die Wasseroberfläche? Wie tief war ich gesunken? Würde ich gleich ertrinken? Fast hoffte ich es. Ich sah Licht. Ich versuchte, dem Licht entgegen zu rudern. Dann griffen wieder Hände nach mir. Mein Vater hatte mich gerettet. Jedenfalls dachte er es.

Als er mich an die Oberfläche zerrte, sah ich einen gewissen Stolz in seinen Augen, der mich in dem Moment völlig irritierte. Ich lebte noch. Ich hatte es geschafft, von dieser verhassten Rutsche ins Wasser zu gleiten und auch noch zu überleben. Einige Kinder um uns herum klatschten vor Freude in die Hände. Sicher meinten sie es gut mit mir.

So, sagte mein Vater, und jetzt wirst du schwimmen. Er ließ mich los. Meine Füße zappelten im Wasser, doch ich bekam keinen Boden unter den Füßen. Ich sank erneut nach unten. Mit den Armen rudernd kam ich wieder hoch und holte tief Luft. Dann sank ich wieder. Da sah ich meinen Vater bereits in Richtung Ufer schwimmen. Er wollte mich hier wirklich ertrinken lassen.

Es war meine größere Schwester, die mich dann an Land zog. Ich denke, das hat mein Vater mir nie verziehen.

In der Mühle

Stein genoss gerade sein zweites Frühstück, das aus einem Kräutertee und einer Scheibe selbstgebackenem Knäckebrot mit Käse bestand, als er draußen einen Wagen hörte. Weil er ahnte, wer da kam, holte er eine zweite Tasse aus dem Schrank und stellte ebenso einen Teller mit einem Messer bereit.

Er hatte sich sowieso gewundert, dass sie nicht gestern schon gekommen war. Schließlich war Hauke in Hamburg und sie alleine Zuhause. Sie sagte zwar immer, dass sie gut alleine zurechtkäme, doch so ganz nahm er es ihr nicht ab. Und nun war ihr am Sonntag wohl die Decke auf den Kopf gefallen. Er hörte sie die Treppe nach oben kommen.

»Hallo«, sagte sie und klang atemlos. »Tee? Den brauche ich jetzt. Und Hunger habe ich auch.«

»Schön, dass du da bist«, sagte er, »greif zu, das Knäckebrot habe ich heute Morgen in aller Herrgottsfrühe gebacken. Ich konnte die letzte Nacht nur sehr schlecht schlafen.«

»Ach ja? Woran lag das?« Gierig biss sie in das schnell geschmierte Brot. Wenn Liebe wirklich durch den Magen ging, dann war Stein der Richtige.

»Ich weiß nicht. Es hatte vielleicht nostalgische Gründe. Ich habe gestern meine letzte Zeitung aus Frankfurt gelesen und weggeräumt.«

Sie stutzte. »Du hast die alten Meldungen immer noch gelesen? Warum? Das ist doch alles längst Geschichte.«

Er zog die Schultern hoch. »Es war immer ein schönes Ritual. Ein Stück Vergangenheit hervorzuholen. Schließlich war ja nicht alles schlecht gewesen in Frankfurt.«

»Oh oh«, sagte sie und schmunzelte, »das hört sich wirklich nach einer beginnenden Krise an.«

»Mag sein. Apropos Krise. Wie geht es Hauke?«. Jetzt grinste er.

»Ja, schlag ruhig zu, mitten in die Magengrube«, gab sie zurück und knuffte ihn am Arm. »Ist noch etwas von dem Tee da? Der schmeckt ja himmlisch nach einer Mischung aus Minze und Zitrone. Ist der neu?«

Er nickte. »Freut mich, dass er dir schmeckt. Er ist tatsächlich eine Neuentdeckung von mir. Es steckt auch ein Hauch Melisse darin und etwas Zimt. Die Komposition macht es wohl ...«. Er nahm die Kanne und goss ihr nach. »Aber mal ehrlich, geht es Hauke gut? Hast du was von ihm gehört?«

Sie machte eine wegwischende Handbewegung. »Schlechten Menschen geht es immer gut. Er scheint sich jedenfalls gut in Hamburg zu amüsieren.«

»Stört es dich?« Stein sah sie nachdenklich an.

»Nein, natürlich nicht.«

»Aber so alleine im Haus, das muss komisch sein. Ich meine, sonst ist er ja immer da.«

»Ach«, sie seufzte, »lass uns jetzt nicht über Hauke reden. Ich hab da etwas viel Interessanteres, weshalb ich ja eigentlich auch hierhergekommen bin.« Sie zog ihr Handy hervor und öffnete die Bilddateien. Eines, wo das Opfer aus kurzer Entfernung ganz zu sehen war, hielt sie ihm nun hin. »Darüber bin ich heute Morgen beim Spaziergang gestolpert.«

Stein brauchte einen Moment, um zu verstehen, was da auf dem Foto los war. »Sieht verdammt übel zugerichtet aus«, sagte er und runzelte die Stirn. »Die Augen fehlen. Und was ist mit seinen Händen? Ist das etwa Eis?«

Sie nickte. »Allerdings. Krass, oder?«

»Das kann man wohl sagen. So etwas ist mir in meiner bisherigen Laufbahn nicht untergekommen. Wo genau hast du ihn gefunden?«

»Ich war am Naturstrand in Schillig unterwegs. Zuerst dachte ich, dass er da im Gras hockt und mich schamlos beobachtet.«

»Na, das konnte er wohl nicht mehr ...«. Stein gab ihr das Handy zurück, nachdem er auch die anderen Bilder überflogen hatte.

»Nein, konnte er nicht. Er heißt übrigens Werner Grein und wohnte hier als pensionierter Lehrer zur Untermiete bei einem Ehepaar in Hooksiel.«

»Also alleinstehend?«

Sie nickte und nahm noch ein Stück Knäckebrot. Es gefiel ihm, wie sie zulangte. In solchen Momenten hatte sie etwas von einem kleinen Mädchen, dass sich geborgen fühlte. Er wusste, dass es beileibe nicht so war. Mona Lu war schon immer auf der Flucht gewesen. Vor anderen und am meisten vor sich selber.

»Ich war schon in seiner Wohnung. Alles akkurat und ordentlich. Lehrer eben. Und mehrere Tausend von Büchern überall ordentlich in Regalen verstaut. Er muss viel gelesen haben.«

»Es gibt Schlimmeres, womit man sich beschäftigen kann. Hast du schon Bekannte oder Verwandte befragt? Irgendjemand muss ihn doch vermissen.«

Sie schüttelte mit dem Kopf. »Nein, bisher ist da niemand aufgeploppt. Es ist auch noch nicht klar, wann er aus seiner Wohnung verschwunden ist. Die Vermieter sagten, dass sie kaum Kontakt zu ihm gehabt hätten. Er sei ein ordentlicher ruhiger Mieter. Sowas wünscht man sich doch, oder?«

»Vermutlich.«

»Aber ein Kollege in der Dienststelle ist schon damit beschäftigt, seinen Background zu durchleuchten. Ich werde gleich dorthin fahren und gucken, was es gibt. Aber was denkst du zu dem Szenario? Der Täter hat doch bestimmt aus sehr persönlichen Gründen gehandelt, oder?«

»Ganz sicher sogar«, bestätigte Stein, »wenn du jemandem die Augen nimmst, dann ist das wohl die persönlichste Geste, die ich mir so vorstellen kann. Augen bedeuten leben. Etwas sehen, den Kontakt halten.«

»Du meinst, der Täter wollte nicht mehr, dass Grein ihn ansieht?«, schlussfolgerte Mona Lu für sich.

»Das wäre denkbar. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch sein, dass der Täter sich von den Augen des Opfers verfolgt gefühlt hat.«

»Ein Spanner? Daran habe ich auch schon gedacht. Ich meine, ein alter alleinstehender Mann. Da kann man schon auf unschöne Gedanken kommen.«

»Er war Lehrer, sagtest du ...«. Stein rieb sich mit seinem Zeigefinger über die Stirn. »Da kam er auf jeden Fall mit jungen Menschen zusammen.«

»Ein pädophiler Spanner also?«

»Man muss in solchen Fällen wohl immer vom Schlimmsten ausgehen. Und wenn ich jemanden derart fantasievoll ins Jenseits schicke, dann habe ich eine große emotionale Rechnung mit ihm offen.«

»Also sollte ich mit seinen Schülern der letzten Jahre befassen«, schlug Mona Lu vor.

»Das wäre ein erster Ansatz.«

»Puh, er war Lehrer an einem Gymnasium in Bremen. Du weißt, was das bedeutet. Und ich kann es ja nicht einmal auf männliche oder weibliche Schüler begrenzen.«

»Eine Mammutaufgabe, das stimmt. Aber wie sonst willst du mit der Ermittlung beginnen?«

»Ich hab keine Ahnung.« Mona Lu schenkte sich selber noch einmal Tee nach und lehnte sich auf dem Sofa zurück.

Stein räumte die Frühstücksteller weg, weil sie jetzt nichts mehr essen würden. Bald darauf verabschiedete sich Mona Lu, um zur Dienststelle zu fahren.

Ermittlungen

Wo fang ich bloß an, fragte sich Mona Lu, als sie am Schreibtisch saß, und raufte sich die Haare. Werner Grein hatte ein derart unspektakulär zurückgezogenes Leben geführt, dass man hätte annehmen können, er habe gar nicht existiert. Im Netz gab es nur die wenigen Einträge der Schule, wo er mal hier und da herausragend als Lehrkraft für Deutsch und Philosophie erwähnt wurde.

Die Ergebnisse ihrer Kollegen waren ähnlich bescheiden. Er war nie verheiratet gewesen und seine letzte lebende Verwandte, eine Schwester, die in Bayern gelebt hatte, war im vergangenen Jahr gestorben. Das war eine Weile nachdem gewesen, als Grein zurück nach Friesland gekommen war. Somit gab es niemanden mehr, den Mona Lu nun zu Grein hätte befragen können. Jedenfalls kannte sie niemanden außer den Vermietern, die auch nicht gerade ergiebige Angaben machen konnten.

War es wirklich möglich, dass man so untertauchte? Fast beneidete ihn Mona Lu um diese Eigenschaft. Ihr selber ging es manchmal nämlich ziemlich auf die Nerven, dass jeder hier in der Gegend sofort wusste, wer sie war. Ihr Bild hatte schon viel zu oft in der Zeitung gestanden. Und daran war sicher nicht zuletzt auch Hauke schuld. Am Anfang, da hatte es ihrem Ego durchaus geschmeichelt. Sie erlangte durch seinen Eifer praktisch den Status irgendwelcher Tatortkommissare im Fernsehen, die man auch im realen Leben auf der Straße mit der Rolle verband. Aber sie war eben keine Schauspielerin, sondern echte Ermittlerin. Und sie sehnte sich nach einem unberührten Privatleben. Denn das gab es mit Hauke ganz sicher nicht. Überall witterte er immer irgendwelche Storys. Selbstredend war er deshalb im Wangerland bekannt wie der berühmte bunte Hund. Und sie war in seinen Dunstkreis geraten, was ihr noch mehr Aufmerksamkeit bescherte. Mittlerweile wusste sicher auch jeder, dass sie beide ein Paar waren.

Mittlerweile war es schon später Nachmittag und sie beschloss, Zuhause weiterzugrübeln.

 

Als sie die Tür aufschloss, fühlte es sich komisch an. Sie hatte eigentlich erwartet, in ein wohliges Zuhause zu kommen, wo sie sich zurückziehen konnte. Doch irgendwo mochte sich dieses erhoffte Gefühl nicht einstellen. Nein, eher war es so, dass es ihr unheimlich erschien, dass sie jetzt die restlichen Stunden alleine sein würde. Bis zur Nacht und dann durch sie hindurch bis zum nächsten Morgen. Niemand wäre da, der etwas mit ihr teilte. Ob sie es wirklich ertragen könnte, wenn das immer so wäre? Ihr kamen Zweifel. Und sie musste unwillkürlich an Hauke denken. Tat sie ihm unrecht, wenn sie so tat, als freute sie sich sogar, dass er mal ein paar Tage weg war. Oder war es nicht doch eher eine Trotzreaktion ihrerseits, weil er es tatsächlich wagte, auch nur den Ansatz zu unternehmen, sie vielleicht zu verlassen. Denn er wusste, wie ungern sie hier weggehen würde. Doch er nahm es bei seiner Bewerbung in Hamburg billigend in Kauf. Einfach so.

Als wie weiter ins Haus ging, blinkte der Anrufbeantworter. Fünf neue Nachrichten. Es war klar, dass Hauke diese hinterlassen hatte. Sicher wunderte er sich, warum sie nicht ranging. Schließlich war ja Sonntag. Doch solche freien Tage gab es für Ermittler nicht. Die Opfer fragten nicht danach. Und die Täter erst recht nicht. Während sie sich die Schuhe auszog, hörte sie sich an, was Hauke ihr hinterlassen hatte. Seine Stimme klang angenehm und doch ein wenig traurig, weil er sie nicht erreicht hatte. Bei der letzten Ansage war deutlich zu hören, dass er genervt war und irgendwie auch den Verdacht hegte, dass sie absichtlich nicht ranging. Er sagte zum Schluss, dass er es am nächsten Tag noch einmal versuchen würde.

Hauke. Sie löschte die Nachrichten. Morgen war sein großer Tag. Wenn er die Stelle bekam, dann würde alles anders werden. Wirklich alles.

Nachdem sie ihre Jacke aufgehängt hatte, ging sie ins Wohnzimmer und legte die Akte, die sie mitgenommen hatte, auf den Tisch. Danach holte sie sich ein Glas und eine Flasche Weißwein.

Als sie dann auf dem Sofa vor dem Fenster saß, kroch wieder dieses Gefühl der Einsamkeit in ihr hoch. Sie hätte nicht sagen können, warum, doch sie musste plötzlich an Jan Krömer in Aurich denken. An seinen fast verwunschen wirkenden Hof, auf dem er zurückgezogen in Tannenhausen lebte. Aber nicht alleine, sondern mit seiner Kollegin Lisa, mit der ihn mehr etwas Freundschaftliches verband. Sie waren kein Paar. In diesem Moment, da wäre sie gerne Lisa gewesen. Bestimmt war es interessant, mit Jan zusammen zu sein und zu arbeiten. Er hatte dieses gewisse Etwas, das Frauen in den Wahnsinn treiben konnte. Ja, sie fand ihn heiß. Und vor gar nicht allzu langer Zeit, da hätte sie sich alles mit ihm vorstellen können. Und nun dachte sie schon wieder an ihn?

Wäre es wirklich so leicht, Hauke von der Liste zu streichen? Wenn sie jetzt an ihn dachte, dann empfand sie nur aufsteigende Wut. Er nahm sie und ihre Arbeit nicht ernst. Er ging davon aus, dass sie einfach ihre Sachen packen und irgendwo in Hamburg Verbrecher jagen konnte. Doch so leicht war das eben nicht. Sie war kein Großstadtmensch. Sie würde in Hamburg untergehen. Sie mochte es übersichtlich.

Sie nahm ihr Glas in die Hand und sah durch den Wein hindurch nach draußen. Dann wirkte alles immer so anders. Als sei sie gar nicht hier in Horumersiel. Was Stein jetzt wohl gerade machte? Doch das brauchte man sich eigentlich gar nicht mehr zu fragen. Er machte ja immer dasselbe. Tagein und tagaus. Und auch er lebte alleine. War es wirklich so schlimm in ihrem Job, dass jeder, der ihn ein paar Jahre ausgeübt hatte, mit den Menschen rein gar nichts mehr zu tun haben wollte? Traute man überhaupt noch jemandem? Oder anders gesagt, es hatten doch alle ihren Leichen im Keller. Jeder, der dich auf der Straße nett anlächelte, konnte Zuhause seine Kinder quälen. Das war einfach so. Sie trank einen Schluck. Es war ein neuer Wein, den sie zufällig beim letzten Einkauf entdeckt hatte. Er schmeckte nach Pfirsich und hatte eine angenehme Säure. Mit Hauke trank sie meistens Rotwein. Und sie stellte fest, dass er sie eigentlich von ihrer Leidenschaft für Weißwein abgebracht hatte im Laufe der Jahre. Auch da hatte er sich immer durchgesetzt. Und sie hatte es geschehen lassen. Und da meinte er immer, sie würde ihn bevormunden und versuchen, einen anderen aus ihm zu machen. Es war doch genau umgekehrt.

Sowas würde Jan niemals tun. Wieder schweiften ihre Gedanken zu seinen undefinierbaren Augen ab. Sie waren weder richtig blau, noch grün. Und schon gar nicht braun. Es war eine Mischung aus allem, die je nach Lichteinfall in diese oder jene Richtung überwog. Und es war ja nicht die Farbe alleine. Sie hatte keinen Favoriten in dieser Richtung. Es war die Art, wie er einen ansah. Es war schier unmöglich, seinem Blick auszuweichen. Man saugte sich regelrecht an ihm fest. Bestimmt war Lisa heimlich in ihn verliebt. Doch, ohne ihr wehtun zu wollen, sie war einfach eine Nummer zu klein für ihn.

Mona Lu wusste, dass es gemein war, so zu denken. Sie kannte Lisa ja schließlich kaum. Deshalb schämte sie sich jetzt vor sich selber. Sonst war ja niemand da.

Ich muss mich jetzt zusammenreißen, dachte sie. Deshalb griff sie zur Akte Grein und blätterte diese durch, ohne auf etwas wirklich Interessantes zu stoßen. Ihr blieb wohl tatsächlich nichts anderes übrig, als morgen nach Bremen an die Schule zu fahren, wo er zuletzt gearbeitet hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---