Forever young - Julian Bates - E-Book
SONDERANGEBOT

Forever young E-Book

Julian Bates

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Selen und Nadia sind seit vielen Jahren Insassen in einer Anstalt, als Selen sich endlich gegen ihren Peiniger wehrt und die beiden fliehen. Eine lange und gefährliche Reise steht ihnen bevor, wobei sie feststellen müssen, dass sie viel weniger menschlich sind, als sie dachten, aber dafür auch jede Menge heiße Erotik und gefährliche Abenteuer überstehen müssen. Sie beginnen ihre Abenteuer damit, ein für sie fremdes Deutschland zu durchqueren, in dem sie sich kaum noch auskennen, so sehr haben sich die Zeiten verändert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

Forever Young - Ein fehlgeschlagenes Genexperiment

 

Ein Roman von Julian Bates

 

Impressum

Autor: Julian Bates

AutorEmail: [email protected]

Herausgeber:

Dirk Jost

Am Mühlbach 5

64853 Otzberg

Deutschland/Germany

 

 

[email protected]

 

82 Seite(n)

84911 Wörter

441783 Zeichen

Inhaltsverzeichnis

 

Widmung

Buchbeschreibung

1 Hinter Gittern

2 Nadia

3 Eine Reise

4 Der Engel von München

5 Das erste Mal

6 Bonn

7 Die Anzüge

8 Blutige Anfänger

9 Der Unterricht

10 Wahre Liebe

11 Eine verrückte Idee

12 Ashanti

13 Eine heiße Nacht

14 Eine Nacht der Veränderung

15 Waffen

16 Der Marienplatz

17 Eine unerwartete Wendung

18 Eine echte Siegesfeier

19 Ein Moped und ein Auto

20 Nachwort

Widmung

Dieses Buch widme ich allen meinen Lesern. Vier Jahre als Indie Autor, und es macht nach wie vor sehr viel Spaß zu schreiben, ich hätte niemals gedacht, dass es einmal ein so zeitintensives Hobby von mir werden würde. Fünf Bücher, die an Länge und Inhalt alles in den Schatten stellen, was die Erotiksparte von Ebooks so zu bieten hat. Ich habe jedenfalls nichts Vergleichbares gefunden, und auf Deutsch schon gar nicht. Und das alles nur wegen euch, weil ihr mir die Stange haltet.

Die besten und tollsten Leser der Welt.

 

 

Buchbeschreibung

 

Selen und Nadia sind seit vielen Jahren Insassen in einer Anstalt, als Selen sich endlich gegen ihren Peiniger wehrt und die beiden fliehen. Eine lange und gefährliche Reise steht ihnen bevor, wobei sie feststellen müssen, dass sie viel weniger menschlich sind, als sie dachten, aber dafür auch jede Menge heiße Erotik und gefährliche Abenteuer überstehen müssen.

Sie beginnen ihre Abenteuer damit, ein für sie fremdes Deutschland zu durchqueren, in dem sie sich kaum noch auskennen, so sehr haben sich die Zeiten verändert.

 

 

1 Hinter Gittern

Mein Name ist Selen Müller, und ich war Insassin in einer Nervenheilanstalt. Meine Diagnose war ... ach nein, ich glaube, dazu komme ich später noch einmal, das ist nicht unbedingt mein Lieblingsthema. Und diese Geschichte soll ja positiv anfangen, soweit das jedenfalls überhaupt machbar ist. Was kann ich sonst noch Schönes berichten? Ach ja, der Sport. In Anstalten hat man zwar wirklich wenige Möglichkeiten zu trainieren, Jogging ist bei der Geschlossenen ja leider ein Tabuthema, aber es gibt ja auch noch sehr viele Übungen mit Eigengewicht, die sind zwar nicht ganz so effektiv wie Hanteln, waren aber dafür wenigstens fast überall erlaubt und immer mit ein klein wenig Platz und noch idealerweise einer Matte jederzeit machbar.

Das Essen war auch nicht wirklich toll, weshalb meine Figur relativ gut war, sehr schlank und ziemlich muskulös, für eine Frau jedenfalls, aber auch nicht übertrieben. Mein Busen war trotzdem recht groß, was ich durch weniger Sport oder mehr Essen natürlich hätte auch noch, zumindest ein bisschen, ändern können, aber nicht wirklich mochte, eine Brust sollte zwar nicht im Weg sein, vor allem beim Sport oder beim Laufen, zu klein wollte ich sie aber auch nicht haben.

Meine körperliche Fitness war zugegebenermaßen nach jahrelangem Training, ohne auch nur einigermaßen spannende Alternativbeschäftigungen, auch nicht wirklich eine tolle Leistung, denn ohne leibliche Betätigungen wäre ich ziemlich schnell dem Wahnsinn verfallen, und zwar einem echten, allerdings gab es auch viele Mitinsassen, die sich völlig hängen ließen.

Ich hatte lange, fast weißblonde Haare, die bis weit über die Schultern reichten, und trug daher gerne einen Pferdeschwanz oder ließ mir von Nadia einen Zopf flechten. Die anderen waren zwar stets neidisch auf unsere Figur, taten selbst aber trotzdem nichts für ihre eigene. Ich war auch immer sehr stolz darauf gewesen, jedenfalls bis auf das letzte Jahr, und zwar sowohl auf meinen Körper als auch die schönen Haare. Es gab in diesem Umfeld wenig genug, auf dass man stolz sein konnte.

Vor etwa einem Jahr traf ich dann auf Rüdiger, der mir zeigte, dass man durchaus andere Menschen dermaßen hassen kann, dass man ihnen nur noch die Pest an den Hals wünscht. Er wusste ganz genau, was er tat, ich war mit Sicherheit nicht die erste Patientin, der er seine Sonderbehandlung unterzog, dafür hatte er einfach viel zu viel Routine, und zwar mit allem, was er tat.

Er wusste genau, welche Schläge ohne deutlich sichtbare Blessuren, möglichst große Schmerzen hervorriefen, wie man eine Jungfrau exakt so vergewaltigt, dass es ohne relativ aufwändige, und vor allem teure medizinische Untersuchung, die offensichtlich niemand nur auf das Wort einer Anstaltsinsassin bezahlt, nicht nachweisbar war. Wenn ich genügend Medikamente intus und Schläge hinter mir hatte, dann konnte er sich sogar oral an mir vergehen, dann war ich in einem Zustand, dass ich nicht mal im Traum noch den Willen gehabt hätte, mich zu wehren oder gar ihn zu beißen.

Noch viel schlimmer war, er setzte seine wirklich üblen sexuellen Phantasien, die größtenteils Gewalt und Erniedrigung enthielten, in die Tat um, und zwar bei mir. Niemand schöpfte Verdacht, kein Arzt oder sonst jemand, der etwas zu melden hatte. Meine Jungfräulichkeit war für mich ein winziges Trostpflaster, der Gedanke von ihm ein Kind auszutragen war ein absoluter Albtraum für mich, dabei war ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich eigentlich empfängnisbereit war oder nicht, aber ich musste ihn wenigstens nicht auch noch in meiner Vagina ertragen, da ein plötzlich gerissenes Jungfernhäutchen dann doch recht einfach nachzuweisen war.

Die meisten Frauen in der Anstalt erzählten in ihren Therapiestunden noch dazu die ganze Zeit über, dass sie ständig vergewaltigt wurden, vielleicht weil sie sich mehr Aufmerksamkeit erhofften, ich kann es also niemandem verübeln, wenn man als Pfleger oder Arzt mit der Zeit ein wenig resistenter wird, und nur noch bei eindeutigen Hinweisen aktiv wird. Also ignorierten sie es meistens einfach, wenn das wieder einmal eine behauptete, jedenfalls solange es keine deutlich sichtbaren Spuren gab.

Wirklich erwischte es dann aber am Ende natürlich nur die gut gebauten mit einem einigermaßen hübschen Gesicht, und zu denen musste ich mich zu meinem Leidwesen ja ebenfalls zählen. Also kam Rüdiger mit allem durch, was er mir antat, er war klüger als die Kollegen vor ihm, die es den Job gekostet hatte, weil sie bei den Patienten Spuren wie blaue Augen, Hämatome oder sichtbare Wunden hinterlassen hatten.

Ich hatte keine andere Wahl, als abzuwarten und auf den richtigen Moment zu hoffen. Nach ein paar Monaten seiner liebevollen Behandlung fing ich jede Nacht, in der er Dienst hatte, meistens schon beim Abendessen an vor Angst unkontrolliert zu zittern, manchmal wurde es auch zur Abwechslung mal eine ruhige Nacht, viel zu oft aber eben nicht.

Ich fühlte mich wegen dieser ganzen Sache nach einer Weile alt, so richtig alt, vielleicht sogar so alt, wie ich wirklich war, obwohl mein Körper eher der einer Zwanzigjährigen war. Das Gefühl wurde durch die unglaublich starken Medikamente und die schlaflosen Nächte verursacht, und vor allem durch Rüdiger natürlich. Die Pillen verabreichten sie mir aus dem gleichen Grund, aus dem ich auch hier war, jedenfalls vermutete ich das, denn sehr viele Informationen bekam man als Patient in solchen Anstalten nicht. Sie dienten hauptsächlich zur Unterdrückung meiner paranoiden Wahnvorstellungen.

Vielleicht war ich damals ja einfach ein wenig zu vertrauensselig mit dem gewesen, was ich den Ärzten erzählt hatte. Was auch immer der Grund dafür war, jedenfalls hielt es mich nach wie vor in der gastlichen Einrichtung fest, in der ich, oder zumindest in Institutionen dieser Art, nach einer Weile sind sie nämlich alle gleich, mittlerweile schon länger verweilte, als meine Erinnerungen zurückreichten. Wieso ich irgendwann einmal in die allererste Anstalt eingewiesen worden war, daran erinnerte ich mich schon lange nicht mehr, ich war durch die verschiedenen Institutionen, die ich größtenteils auch wieder vergessen hatte, immer weitergereicht worden, bis ich dann irgendwann in der mit Rüdiger gelandet war.

Kurz nach meiner Einweisung war er ja sogar richtig nett, er besorgte mir neue, sehr hübsche Klamotten und alles Mögliche an Badezimmerartikeln und Schminke, aber das stellte sich schließlich als reine Vorbereitung heraus, er wollte das Objekt seiner Begierde einfach nur ansehnlicher machen. Ich fiel anfangs darauf herein, wie viele andere in der Anstalt, die mich wegen der Sonderbehandlung seinerseits auch noch beneideten. Auch wenn man nicht vergewaltigt wird, ist der Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt kein Zuckerschlecken.

Die total Beschränkten, die wirklich nichts mehr mitbekamen, beneideten mich auch danach noch weiter, nachdem er mit den Vergewaltigungen angefangen hatte. Die Schläge wurden deutlich schmerzhafter, wenn ich mich nicht herrichtete. Das fand ich heraus, als ich es eine Weile aus Protest einstellte und mein äußeres Aussehen meinem Inneren anpasste, was ihm nicht zu gefallen schien.

Warum mir von den Medizinern immer wieder paranoide Wahnvorstellungen unterstellt wurden, war mir selber durchaus nicht ganz unverständlich, ich hätte es an der Stelle meiner Ärzte vermutlich auch nicht anders gemacht, denn ich sah zwar aus wie Anfang zwanzig, hatte aber sehr alte Erinnerungen an die Welt da draußen. Ich konnte mich an die sechziger, siebziger und achtziger Jahre erinnern, und zwar aus dem letzten Jahrtausend. Danach allerdings an nichts mehr.

Nun ja, fast nichts. Ich erinnerte mich sehr wohl an sehr viele weiße Wände, immer wieder von einer Anstalt in die nächste geschoben zu werden, wobei mir die Letzte dann meinen unerträglichen Peiniger beschert hatte, und seitdem war das Leben für mich endgültig lebensunwert geworden. Über Selbstmord dachte ich natürlich ebenfalls immer wieder nach, aber es wird den Insassen in der Geschlossenen nicht wirklich einfach gemacht, auch dieser Fluchtweg war sorgfältig verschlossen, genau wie alle anderen.

Vor der Zeit mit Rüdiger war ich trotz meines Aussehens vor sexuellen Belästigungen verschont geblieben, was natürlich mit meinem Penis zusammenhing, welcher bei den allermeisten Männern homophobe Reaktionen hervorrief. Ich hatte nämlich zusätzlich zu den weiblichen Genitalien auch noch das eine eben eindeutig männliche, was auch die vielen Aggressionen erklärte, die ich in anderen Anstalten erleben durfte, aber leider nicht den ziemlich widersprüchlichen Mix aus Gefühlen, den ich anscheinend bei Rüdiger ausgelöst hatte.

Er fühlte sich sogar irgendwie trotz allem von mir angezogen, hasste aber sowohl sich selbst als auch mich dafür abgrundtief. Sein Hass entlud sich immer wieder in Gewaltorgien, wobei er sich so weit im Griff hatte, dass er, wie schon erwähnt, nie deutlich sichtbaren Wunden an meinem Körper hinterließ, was mir etwas in die Hand gegeben hätte und ihn dann doch irgendwann Fragen von den behandelnden Ärzten ausgeliefert hätte, denen er verständlicherweise aus dem Weg gehen wollte.

Ich war also in meiner ganz persönlichen Hölle gefangen, einem Albtraum, der einfach nicht enden wollte, in dem selbst der Freitod keine Lösung und auch keine Hilfe in Sicht war.

 

2 Nadia

Der einzig verbliebene Halt in meinem Leben war meine Zwillingsschwester. Nadia war nicht wirklich eine Schwester, jedenfalls konnte ich mich nicht an Geschwister erinnern, aber sie sah mir so ähnlich, dass wir uns selber oft als Zwillingsschwestern bezeichneten, und auch von den anderen meistens nur die Zwillinge genannt wurden.

Nadias Schicksal war genau das Gleiche wie meines, bis auf die Sache mit Rüdiger, denn merkwürdigerweise ließ er sie links liegen und beachtete sie nicht, obwohl ich mir nicht einmal sicher war, dass er uns optisch auseinanderhalten konnte, allerdings kam er immer nur in die Zelle, die ich behauste.

Nadia liebte mich genauso abgöttisch, wie ich meine Nadia liebte. Sie hatte mir sogar angeboten, und zwar mehr als nur einmal, den Platz in der Zelle für mich einzunehmen, damit ich wenigstens ein einziges Mal eine Nacht ohne Angst durchschlafen konnte, ich hätte das aber niemals zugelassen. Ich war so dankbar dafür, dass ich in meinem Leben noch jemanden hatte, der mit mir den Pfad gemeinsam ging, auch wenn ich das niemandem wünschte, so ein Dasein wie das meine. Außer Rüdiger natürlich.

Nadia war mir durch sämtliche Anstalten gefolgt, sie war offenbar aus den gleichen Gründen wie ich eingesperrt und wurde dermaßen zuverlässig in dieselben Einrichtungen verlegt, dass es uns beiden völlig klar war, dass das kein Zufall sein konnte.

Wir erzählten uns alles, wenn wir alleine waren, und wussten daher, dass nicht nur unsere Vergangenheit umfassend identisch war, jedenfalls der Teil, an den wir uns erinnern konnten, wir hatten auch noch beinahe den gleichen Körper, auch unbekleidet sahen wir nämlich doch sehr ähnlich aus. Was wir einmal in einem intimen Moment herausfanden, als wir uns völlig unbeobachtet geglaubt hatten. Einer der Wärter belehrte mich jedoch schon bald darauf eines Besseren, in einer geschlossenen Anstalt der Art, in die wir versetzt wurden, ist man nie unbeobachtet, es gibt sogar auf den Toiletten winzige Kameras. Das erlebten wir lange vor Rüdiger, und die Konsequenzen waren damals zum Glück nur halb so wild gewesen. Vergleichsweise jedenfalls.

Die schlimmste Nacht von allen fing eigentlich erst einmal genau wie so viele andere davor an. An dem Abend stank sein Atem ziemlich intensiv nach Wodka, ein Geruch, den ich seitdem echt nicht mehr riechen kann, allein schon dieser Geruch bringt mich spätestens seit jenem Abend dazu, mich hemmungslos zu übergeben. Sein Gesicht war hochrot und er schwitzte stark, und wenn ich ihn nicht so abgrundtief gehasst hätte, dann hätte ich mir in dem Moment echt Sorgen darum gemacht, ob er wohl in Gefahr lief, einen Herzinfarkt zu erleiden.

Er fing die zurückfedernde Tür geschickt auf, die er vorher krachend aufgestoßen hatte, und schloss sie dann trotzdem mit einem genauso lauten Krachen. Ein eiskalter Schauer lief über meinen Körper, als das elektronische Türschloss die Tür gewissenhaft und zuverlässig wie immer verriegelte. Das abschießende Klacken klang für mich wie der Hammer eines Richters und brachte mich, wie schon so oft davor, wieder einmal dazu, dass ich anfing, unkontrolliert zu zittern, mich strampelnd nach hinten auf dem Bett in Richtung Wand zurückzuziehen und die Bettdecke schützend vor mich zu halten, was natürlich alles völlig sinnfrei war. Ich war jedoch nicht einmal annähernd so gelassen, wie ich es Nadia immer verkaufte.

Geräusche wie diese sorgten dafür, dass sich die anderen Pfleger und Patienten in ihre Löcher zurückzogen, bis auf Nadia vielleicht. Aber auch sie ließ sich normalerweise nicht mehr blicken, nachdem sie einmal von ihm erwischt und danach sehr lange in Einzelhaft, Entschuldigung, ich meine natürlich Einzeltherapie, eingesperrt worden war. Sie wäre mit Sicherheit auch nach dieser Aktion trotzdem noch gekommen, allerdings hatte ich es ihr verboten. Ich wies sie sehr bestimmt an, dass sie sich von uns fernzuhalten hätte, wenn er da war.

Um so eine Regel mit ihr irgendwie hinzubekommen, es gab damals einen äußerst heftigen Streit zwischen uns, spielte ich Nadia das gleiche Theater wie den anderen vor und versuchte, sie damit zu beruhigen, dass es ja gar nicht so schlimm sei. Natürlich fühlte ich mich ziemlich schlecht dabei, da wir ansonsten alles offen und ehrlich miteinander teilten und uns nie anlogen.

Aber was brachte es schon, sie mit den tatsächlichen Ausmaßen seiner Erniedrigungen zu belasten, wenn es ihr nur Nach- und mir keine Vorteile einbrachte. Wobei sie natürlich nach wie vor wusste, oder zumindest ahnte, was zwischen mir und dem Pfleger vorging.

Diesmal vergaß Rüdiger jede Vorsicht, bereits sein erster Schlag ließ meine Lippe aufplatzen und knallte meinen Hinterkopf heftig gegen die Wand hinter mir, ich sah auf einmal nur noch Sterne. Trotz des durch Tränenschleier stark verschwommenen und eingeschränkten Sichtfelds konnte ich die dunkelroten Blutspritzer deutlich auf dem Bett sehen und dachte kurioserweise in diesem Moment noch, entweder bringt er mich jetzt um oder er muss heute noch die Bettwäsche waschen.

Dann riss er mich an den Haaren wieder hoch und zischte mich an:

„Was hast du mit mir gemacht, du Hexe, warum komme ich einfach nicht von dir los? Heute Nacht werde ich mich endgültig von dir und deiner Hexerei befreien, das schwöre ich dir. Wir werden schon sehen, wie es dir ohne mich ergehen wird, ich …“

Immer wenn dieser Mann dachte, konnte man, wenn man ganz genau hin hörte, die Zahnräder seines mechanischen Gehirns rattern hören. Irgendwann klickten die Zahnräder in die richtige Position, eine Zeit, die ich durchaus nutzen konnte, wie zum Beispiel dafür, wieder einigermaßen klar sehen zu können, und er kam zu einem Schluss. Der gefiel ihm jedoch nicht besonders, daher verzog sich sein Gesicht vor Wut, vermutlich als ihm klar wurde, dass ich mich dann vielleicht einfach jemand anderem zuwenden würde, also prügelte er weiter hemmungslos auf mich ein. Er ließ seiner Wut endlich freien Lauf, der Wut und den Hass auf mich und sich selbst, die er in all der Zeit mit mir immer sorgsam gezügelt und kanalisiert hatte.

Ich erkannte, wie es um ihn stand, und fing an mich zu wehren, allerdings hatte ich keine Chance gegen den viel zu starken Mann, der sehr übergewichtig war und regelmäßig Gewichte stemmte. Ich versuchte, verzweifelt vom Bett wegzukommen, als er meinen Kopf immer wieder gegen die Wand hämmerte, und schlug ihm dabei die viel zu kleinen Fäuste wirkungslos ins Gesicht, was er aber problemlos abwehrte oder schlicht ignorierte.

Trotzdem konnte ich irgendwie an seinen Dreschflegeln von Armen vorbeischlüpfen und zum Schrank an der gegenüberliegenden Wand springen, als er mir nachsetzte und mich am Fußgelenk packte, was mich heftig auf dem Boden aufschlagen ließ. Er stand dabei allerdings so ungünstig, dass sich sein Fuß in dem schweren Krankenhausbett verhakte und er ebenfalls stolperte, als ich mich panisch strampelnd umdrehte.

Da er mein Fußgelenk einfach nicht loslassen wollte und sein anderer Arm zu langsam war, krachte er mit der Stirn voll auf den Boden und blieb benommen liegen, jedoch ohne mich dabei loszulassen. Die Finger umklammerten mein Bein nach wie vor in seinem eisernen Griff.

Ich schrie laut mit verzweifelter und überschlagender Stimme vor panischer Angst auf. Eine Flucht war deswegen schon wieder völlig unmöglich geworden, also ging ich erneut zum Angriff über. Ich ergriff seinen Kopf an den langen und lockigen Haaren, die eigentlich sogar recht hübsch für einen Mann waren, und schlug ihn immer aufs Neue, so fest ich nur konnte, auf den Boden auf. Die Nase platzte auf und verspritzte Blut auf den Belag, ich war jedoch nicht mehr dazu in der Lage, damit aufhören.

Es fühlte sich auf einmal so an, als würde ich mich selbst von außen beobachten, immer wieder schlug ich den Kopf auf den Boden auf, bis er sich nicht mehr rührte und die Zuckungen seines Körpers aufhörten. Als ich mich endlich stoppen konnte und aufgab, brach die Erkenntnis über mich herein. Ich hatte offenbar gerade sein Nasenbein in sein Gehirn getrieben und so einen Menschen umgebracht. Das würde mir endgültig den Platz in Anstalten, bestimmt noch viel schlimmer als diese hier, für immer garantieren.

Erschrocken sprang ich auf und ignorierte den Schwindel, der mich fast wieder zu Boden geschickt hätte, mein Kopf fühlte sich wie ein Kotelett an, das gerade die übliche Behandlung in der Küche mit dem Hammer hinter sich hatte, weichgeklopft und schwammig. Ich musste hier weg, die Anstalt verlassen, so schnell wie möglich, nur wie? Plötzlich ging die Tür auf und ich erstarrte vor lauter Schreck zur Salzsäule.

Es war zum Glück aber nur Nadia, die, trotz ihrer schlechten Erfahrungen, diesmal offenbar doch nach dem Rechten sehen wollte. Vermutlich war sie von der Geräuschkulisse angelockt worden, die gerade eben noch deutlich heftiger als üblicherweise gewesen war, weshalb sie das Risiko, erneut eingesperrt zu werden, eingegangen war. Als sie mich so sah, blutbespritzt, die Lippe geplatzt und den Kopf aufgeschlagen, blieb ihr offensichtlich für einen Moment das Herz stehen. Dann fasste sie sich und zog mich in das winzige Bad.

Den leblosen Rüdiger ignorierte sie vollständig, vielleicht weil es offensichtlich war, was mit ihm los war, aber viel eher deshalb, weil sie sich nicht für seinen Zustand interessierte. Wortlos setzte sie mich auf die Toilette und fing damit an, mich mit einem Waschlappen zu waschen, jedenfalls so gründlich es ging, sie war aber auch sehr vorsichtig dabei, um meine Wunden nicht zu stark zu reizen. Ohne Vorwarnung fing sie auf einmal an zu reden, und zwar so bestimmt und ohne mich in das Gespräch mit einzubeziehen, dass ich für einen Moment lang dachte, sie redete nur mit sich selbst.

„Wir müssen hier weg, wir müssen fliehen. Wir haben viel zu viel Zeit in Anstalten wie dieser verbracht, es wird für uns jetzt Zeit, sich die Luft da draußen in der Freiheit um die Nase wehen zu lassen. Wer weiß, vielleicht müssen wir das Land zusätzlich auch noch verlassen, aber wir werden schon noch einen Ort finden, wo wir leben können.“

Ich sah sie erschrocken an:

„Du kannst doch nicht mit mir fliehen, das ist nicht dein Ernst, oder?“

Nadia hörte mit allem auf, was sie gerade tat. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie sah mich völlig verzweifelt an:

„Willst du mich denn gar nicht dabei haben? Liebst du mich nicht mehr?“

„Nadia, ich werde wegen Mordes gesucht werden! Was glaubst du denn, warum du dich lieber fern von mir halten solltest? Natürlich liebe ich dich, aber es wird doch viel zu gefährlich für dich! Ich bin bald schon eine gesuchte Mörderin, da machen die Polizisten sogar von der Schusswaffe gebrauch!“

Sie antwortete nicht, sondern seufzte nur erleichtert auf, trocknete ihre Tränen und fuhr damit fort, mir das Gesicht und die blutverklebten Haare zu waschen. Dann redete sie weiter, als hätte ich nie etwas gesagt.

„Wir müssen uns Ausweise besorgen, nur wie? Vielleicht irgendwo ein paar Geburtsurkunden fälschen, das ist einfacher als einen Ausweis zu fälschen, dann kriegen wir bestimmt von irgendeinem Amt unsere Papiere.“

„Hast du mir denn gar nicht zugehört, ich muss fliehen und werde von der Polizei gesucht! Ich habe einen Mord begangen, ich bin fertig, ich bin am Ende. Ich ziehe dich mit mir runter, und das will ich nicht.“

Nadia sah mich ruhig an, ergriff mein Kinn und zog mein Gesicht damit ganz nah an ihr eigenes heran, bevor sie mir eine Antwort gab.

„Vergiss es, wir werden nicht darüber diskutieren. Wir gehören zusammen, und du weißt das eigentlich auch ganz genau. Ich rede gerne mit dir über irgendetwas anderes, aber nicht über dieses Thema.“

Dann gab sie mir einen zärtlichen Kuss auf den Teil meiner Lippen, der nicht aufgeplatzt war, und fuhr kurz darauf mit ihrer Wäsche fort, ohne die immer leiser werdenden Proteste von mir noch weiter zu beachten. Es war ja auch nicht so, dass ich sie nicht dabei haben wollte, ich fand nur, sie hatte etwas Besseres verdient.

„Wir sitzen doch sowieso im gleichen Boot, Selen, und das weißt du auch ganz genau. Es war reiner Zufall, dass er dich und nicht mich ausgesucht hat. Vielleicht ist ihm hier in der Zelle mal was passiert, oder was auch immer der Grund für seine Wahl gewesen ist, wir sehen ja schließlich beide völlig gleich aus. Und außerdem, wenn es andersherum gewesen wäre, hättest du mich alleine ziehen lassen und den Wölfen zum Fraß vorgeworfen?“

Ich schüttelte sofort heftig den Kopf.

„Wir sind uns also einig, lassen wir das. Viel Wichtiger, wie kommen wir hier raus?“

Deswegen hatte ich eine Idee, ich sprang auf und rannte zu Rüdiger, trotz meines Ekels vor dem Mann drehte ich ihn um, zog seinen Ausweis aus der Brusttasche und hielt ihn triumphierend hoch.

„Der funktioniert wie ein Schlüssel, mit NFC, das ist englisch und heißt ‚near field communication‘, man muss die Karte nur an das Schloss halten, dann geht die Tür auf. Ich habe das ein paar Mal bei ihm gesehen, als ich ...“

Der Rest meiner Rede blieb mir im Hals stecken, von einer Erinnerung getroffen sah ich mit einem Mal nur noch Rüdigers Gesicht auf dem Ausweis. Plötzlich spürte ich, wie mir jemand die Plastikkarte aus der Hand nahm und mich in die Arme schloss, dann flüsterte sie mir beruhigend etwas ins Ohr:

„Es wird alles wieder gut, das verspreche ich dir!“, und hielt mich fest.

Wir beschlossen gemeinsam, noch ein wenig mit unserer Flucht zu warten, es war einfach noch zu früh am Abend und wir wollten sichergehen, dass es ruhig genug dafür war.

„Die anderen vom Personal sollten für unseren Ausbruch am Besten schon alle heimgegangen sein, spätesten in einer halben Stunde sind garantiert auch die Letzten weg. Eigentlich hat Rüdiger ja die Nachtschicht mit einem Kollegen zusammen, ich habe heute aber noch niemanden außer ihm gesehen. Vielleicht ist der andere ja auch betrunken und schläft gerade seinen Rausch aus, wäre ja nicht das erste Mal. Hoffen wir das Beste. Komm, wir legen Rüdiger für die Kameras auf dein Bett, damit es so aussieht, als ob jemand darin schläft. Die meisten Pfleger wissen ja nicht mal, wer in welcher Zelle liegt, das hier könnte also durchaus auch die Behausung eines fettleibigen Patienten sein.“

Sobald wir Rüdiger im Bett verstaut und bei der Gelegenheit noch sein Portemonnaie geplündert hatten, beseitigten wir sein und mein Blut so gut es ging, wobei wir mit jeder Minute, die ohne Alarm verstrich, ein wenig entspannter wurden, und daher die Reinigung sogar relativ gründlich ausfiel.

Wir nutzten die restliche Zeit und packten noch ein paar meiner Klamotten zusammen, provisorisch zu einem Bündel geschnürt, wobei Nadia einfach ein paar Kleidungsstücke von mir bekam, denn auch wenn Rüdigers Wahl bei Kleidung weder dezent noch unser Geschmack war, ihre Anstaltsbekleidung war für draußen noch weniger geeignet. Mein Herz klopfte bis zum Hals, als wir endlich aufbrachen und die zur Abendruhe leeren Gänge bis zu ihrer Zelle durchstreiften, wo sie sich noch ein paar Dinge holen wollte.

Nach dem kurzen Abstecher in ihr Zimmer kamen wir kurz danach auf dem Weg nach draußen am Büro vorbei, und zwar genau dem Büro, in dem sich alle Patientenakten befanden, wie mir Rüdiger einmal erzählt hatte. Ich hielt seinen Ausweis an die Tür, die sich laut piepsend öffnete. Nadia protestierte sofort mit einem ziemlich lauten Flüstern, das man sicherlich drei Gänge weiter noch hörte:

„Heeee, was machst du da, du weißt doch genau, wo der Ausgang ist, da drinnen schläft vielleicht jemand?“

Ich blickte sie mit gerunzelter Stein an und hielt den Zeigefinger vor den Mund, dann öffnete ich die Tür und ging hinein, obwohl tatsächlich jemand darin schlief, wie ich sofort laut und deutlich hören konnte. Es war Manfred, Rüdigers schwuler Busenfreund, der sich gerne an den männlichen Patienten hier verging. Er war wie so oft ebenfalls völlig betrunken und stank, genau wie Rüdiger, stark nach Wodka. Wahrscheinlich hatten sie gemeinsam gebechert.

Trotzdem ging ich in das Zimmer zum Aktenschrank, der zum Glück unverschlossen war, holte nach einer sehr kurzen Suche die beiden Akten Selen und Nadia Müller heraus und war so schnell wieder aus dem Büroraum, dass die leichenblasse Nadia keine Gelegenheit mehr dazu fand, doch noch in Ohnmacht zu fallen. Woher ich den Mut hernahm, weiß ich nicht, aber ich wusste genau, wenn ich in diese Chance verpasst hätte, dann wäre sie nie wieder gekommen.

Ein paar Schritte weiter fühlte ich plötzlich einen leichten Schlag gegen den Hinterkopf, und kurz darauf einen Kuss auf die Wange, als ich sie gespielt wütend anfunkelte. Sie konnte gerade noch ein nervöses Kichern unterdrücken, als wir an *der* Tür ankamen. Das war die Tür, die immer verschlossen war, die nicht einmal ein Türschloss oder einen Griff hatte, jedenfalls nicht innen, sondern ausschließlich durch eine elektronische Verriegelung zu öffnen war, gegen die ich jetzt, nachdem ich ein paar Mal tief Luft geholt hatte, Rüdigers Ausweis hielt.

Es piepste und eine kleine LED sprang von Rot auf Grün, woraufhin ein elektrischer Motor damit anfing, laut zu brummen und sich die riesige Stahltür zu unserem Gefängnis langsam öffnete. Dahinter war einfach nur ein weiterer Gang, es erklang keine Fanfare und auch kein Alarm, also blickten wir uns verunsichert an und gingen hinein. Eine Hand schlüpfte in die meine, die ich zärtlich drückte und auch dann noch fortwährend festhielt, als sie sich wieder davonstehlen wollte.

Ausreichend Licht schien von der Lichtanlage um das Gebäude herum von außen in die Gänge, wir unterließen es daher, die Lichtschalter zu betätigen. Zum allerersten Mal war ich für die hässlichen aber dafür leisen, schnürsenkellosen Stoffschuhe dankbar, die wir von der Anstalt gestellt bekamen, andere durften wir nicht tragen. Die weichen Gummisohlen waren auf den grauen und eiskalten Fliesen völlig lautlos.

Nadia fing in diesem Moment, nur wenige Schritte vor der Freiheit, an zu zittern, und ich konnte es ihr nicht verdenken, mir ging es durchaus ähnlich. Wir lebten schon seit so vielen Jahren in irgendwelchen Anstalten, dass uns ein Leben draußen eigentlich völlig unmöglich erschien. Wie sollten wir klarkommen, was sollten wir da draußen in der großen und weiten Welt tun, wie überleben?

Es war wenigsten zu unserem Glück gerade Frühling, die milden Temperaturen eröffneten noch einige weitere Möglichkeiten abseits der Zivilisation, was es allerdings trotzdem nicht weniger angsteinflößend machte. Ich drehte mich zu ihr um und nahm sie in den Arm. Sie klammerte sich völlig verzweifelt an mich und eine Weile standen wir einfach nur da, dann schüttelte sie sich, nahm ihre Schultern nach oben, streckte ihre Brust raus und sagte gefasst:

„Wir müssen hier weg, sonst erwischen sie uns doch noch und sperren uns wieder ein. Es ist höchste Zeit, dass wir endlich rauskommen, wir sind ja echt nicht mehr überlebensfähig. Wenn wir das überhaupt jemals waren?“

Ich wusste genau, wovon sie sprach, ich hatte ebenso wenige Erinnerungen an die Zeit vor den Anstalten wie sie, aber vielleicht würden die sich ja wieder einstellen, irgendwann, vor allem ohne all die Pillen, die wir täglich unter penibler Aufsicht schlucken mussten. Ich war darüber hinaus auch noch sehr gespannt, was in unseren Akten stehen würde, ob es viele Informationen über uns gab? Sie hatten sich ja nicht sehr dick angefühlt, was mich ein wenig überraschte, schließlich waren wir seit sehr vielen Jahren in den unterschiedlichsten Anstalten gewesen.

Wir sahen uns an, grinsten ein wenig schief und verängstigt, dann fassten wir uns ein Herz und überwanden die letzten Meter bis zum Haupteingang, der sich ebenfalls problemlos mit Rüdigers Ausweis öffnen ließ.

Nadia sah mich an, nahm mir die Plastikkarte ab und warf ihn in den Postschlitz der Anstalt, wofür ich ihr sehr dankbar war, ich wollte das Gesicht dieses Mannes ganz sicher nie wieder sehen. Mitleid wegen seines Todes empfand ich ebenfalls nicht, zu sehr hatte er mir zugesetzt, zu sehr hatte er mir heute das Gefühl gegeben, dass er mich am Ende doch noch umbringen wollte. Vielleicht irgendwann einmal. Aber in dieser Nacht noch nicht.

3 Eine Reise

Zum ersten Mal, seitdem wir denken konnten, standen wir mitten auf einer Straße, ohne sehnsüchtig aus einem vergitterten Fenster schauen zu müssen, in der echten und wirklichen Freiheit, einer Freiheit, der wir womöglich noch nicht einmal gewachsen sein würden. Wir sahen uns an und nickten gemeinsam, den Gedanken mussten wir nicht einmal laut aussprechen. Zwei Sekunden später rannten wir, so schnell wir konnten, die Straße hinunter, irgendeinem fremden Ziel entgegen, einem Ort, an dem es uns hoffentlich besser ergehen würde. Einer Zukunft entgegen, die so furchtbar unbekannt und geheimnisvoll wirkte, aber dafür vielleicht ja endlich ein echtes Leben enthielt, oder wenigstens irgendeinem Leben ähnlich sah, jedenfalls vergleichbarer als das war, was wir in den letzten Jahren erleben mussten.

Unser dringendstes Problem war natürlich Geld, das bisschen von Rüdiger würde sicher nicht lange halten. Dass es mittlerweile eine neue Währung gab, den Euro, das hatten wir mitbekommen, allerdings hatten wir überhaupt keine Ahnung, wie viel Kaufkraft diese neue Währung eigentlich hatte. Genauso ahnungslos waren wir mit vielen anderen Dingen, die sich in den letzten vierzig Jahren geändert hatten. Was wir allerdings ganz genau wussten, zunächst mussten wir erst einmal so weit wie möglich von unserer Anstalt weg.

Da gab es zum Glück nach wie vor eine uralte, ziemlich anonyme und für uns völlig sichere Methode, und das war die Eisenbahn. Das mit der Bahn war sogar noch unpersönlicher, als ich es in Erinnerung hatte, denn auf dem Bahnhof gab es nämlich kein Personal mehr, das sich eventuell an uns erinnert hätte, sondern nur noch einen Automaten.

Ein junger Mann, eher schon fast noch ein Junge, der eigentlich sogar recht hübsch anzusehen war, erklärte uns glücklicherweise ziemlich ausführlich, wie der Automat zu bedienen war, nachdem er uns eine Weile beobachtet hatte und dann fragte:

„Zum ersten Mal mit der Bahn unterwegs?“

Ich nickte eifrig und er legte los, ich wäre vermutlich nie auf die Idee gekommen, den Bildschirm anzufassen, und empfahl uns nach einigen Erklärungen als Fahrkarte das sogenannte Wochenendticket, mit dem wir deutschlandweit zu zweit überall hinkamen. Wir durften zwar die schnellen Züge wie den Intercity, da gab es mittlerweile sogar etwas noch Schnelleres, nicht nutzen, aber wir hatten sowieso genug Zeit.

Es verblieben uns nur noch zwei Stunden bis Mitternacht, daher wollten wir die Zeit bis dahin auf dem Bahnhof auf einer Bank verbringen, mit ein wenig Glück würde Rüdiger nämlich erst am nächsten Morgen entdeckt werden, und bis zu diesem Zeitpunkt waren wir hoffentlich schon ein gutes Stück weiter.

Früher zu fahren wagten wir nicht, eine Anzeige wegen eines fehlenden Tickets wäre doch zu problematisch für uns gewesen, vor allem, da wir keine Ausweise hatten. Wie schon vorher war es wichtig für uns, jetzt die Nerven zu behalten und die Ruhe zu bewahren. Deshalb war ja auch eine actionfilmechte Flucht mit einem gestohlenen Auto für uns ausgeschlossen gewesen, möglichst unauffällig zu reisen war die einzige Chance, die wir hatten, da waren wir uns einig.

Die Anstalt war in einem schlichten Gebäude in einem kleinen Ort in der Nähe von Görlitz gewesen, direkt an der polnischen Grenze. Um unsere Spuren zu verwischen, war das Wochenendticket also genau das Richtige für uns. Wir planten, erst einmal nach Berlin zu reisen, von dort aus weiter nach Hamburg, dann nach ein paar Umwegen über Frankfurt, bis wir uns hoffentlich irgendwann unserem finalen Ziel in München wiederfinden durften, das wir uns mehr oder weniger zufällig ausgesucht hatten.

Die Idee war, das Wochenende mit so vielen unterschiedlichen Verbindungen wie möglich zu nutzen, um es auf diese Art und Weise jedem eventuellen Verfolger schwerer zu machen, unserer Spur zu folgen. Es würde ganz sicher Fahndungsfotos geben, also war Haare färben angesagt. Nadia dämmerte jetzt erst so langsam der ganze Umfang der Nachwirkungen und Konsequenzen unseres Ausbruchs, nämlich dass sie nun eine polizeilich gesuchte Verbrecherin war und ein Dasein im Schatten, auf der Flucht vor dem Gesetz, würde leben müssen.

Als ich sie noch einmal darauf ansprach, mich doch noch alleine ziehen zu lassen, wurde sie sofort wieder ziemlich wütend, verschlossen und redete eine halbe Stunde lang gar nicht mehr mit mir. Was mich natürlich zugegebenermaßen mehr als nur ein wenig rührte. Insgeheim empfand ich schon seit vielen Jahren sehr, sehr viel für sie, und zwar deutlich mehr als für eine Freundin und die heftigen Gefühle, die mir manchmal sogar vor Sehnsucht die Kehle zuschnürten, waren zu meinem Leidwesen auch noch dazu alles andere als geschwisterlich, was ich ihr gegenüber aber niemals auch nur angedeutet hatte.

Ich war ja nicht einmal sicher, ob wir nicht vielleicht doch körperlich verwandt waren, also vermied ich den Gedanken an mehr als die gelegentlichen Küsse zur Begrüßung mit ihr, so gut ich konnte. Die Medikamente und Drogen in der Anstalt halfen mir sehr gut dabei, die wahren Emotionen für sie konsequent zu unterdrücken, da diese die ganze Welt in Watte verpackten. Daher kam es nie zu einem Annäherungsversuch meinerseits, ich glaube, einen ablehnenden und befremdlichen Blick von ihr als Antwort auf eine offene Darlegung meiner Gefühle hätte ich auch nicht ertragen. Ein Dasein ohne sie war für mich ebenfalls ausgeschlossen, allerdings hätte ich mich, ohne zu zögern, für sie geopfert, um ihr ein Leben als Kriminelle zu ersparen.

Der junge Mann, wie sich das anfühlte, so etwas zu sagen, als wäre ich mittlerweile eine alte Großmutter, aber manchmal fühlte ich mich tatsächlich so alt wie eine, schließlich konnte ich mich doch immerhin bereits an über fünfzig Jahre erinnern, nur eben leider nur an allgemeine Dinge, nichts Persönliches, gab uns dann auch gleich noch ein paar Tipps, wo man am besten Wanderausrüstung herbekam, Outdoorartikel nannte er es. Seine Sprache war zwar Deutsch aber auch sehr merkwürdig, die Jugend verwendete heutzutage anscheinend deutlich mehr englische Wörter als wir damals. Nicht wirklich überraschend, die Wiedervereinigung hatten wir ja sogar in der Anstalt mitbekommen.

Und noch ein paar andere Dinge hat er uns erzählt, die mich wirklich sehr beeindruckten. Die Amerikaner haben ja vor ein paar Jahren, also um ganz genau zu sein, vielleicht auch mehr als nur ein paar, mit einem atombombensicheren Netzwerk herumexperimentiert, und das ist anscheinend in den letzten Jahrzehnten ziemlich groß und erfolgreich geworden.

Sie haben es das „Internet“ genannt, es ist eine erstaunliche Erfindung, zumindest nach der Beschreibung des jungen Mannes. Dass man irgendwann einmal so viel damit machen könnte, hätte sich damals niemand von uns auch nur träumen lassen. Wieder eine uralte Erinnerung, die wir beide hatten, aber nach wie vor ohne jeden persönlichen Bezug.

Ganz anders, nämlich sehr intim, erinnerte ich mich später an die Stunden auf dem Bahnhof. Der junge Mann flirtete heftig mit mir und beantwortete dabei jede meiner Fragen, was sich zugegebenermaßen ziemlich gut für mich anfühlte. Als er uns verlassen musste, sein Zug kam vor unserem an, hatte ich eine Sekunde lang das Gefühl, dass er nicht einsteigen würde, er entschied sich jedoch im letzten Moment anders und fuhr wehmütig davon. Vielleicht war es der Blick von Nadia, die ihn ziemlich wütend anfunkelte.

Ich zog fragend die Augenbrauen hoch und sah sie innerlich aufgewühlt an: „Was hast du denn, Schwester?“

Sie zischte mich an: „Ich bin nicht deine Schwester, und außerdem kannst du dir das ja wohl selber denken, oder?“

Dann sagte sie nichts mehr, das musste sie auch gar nicht, ich hatte auch so verstanden. Mein Herz klopfte laut und unruhig bei dem Gedanken an sie, und ich hegte insgeheim einen Moment lang die Hoffnung, dass ihre Gefühle für mich genauso wenig geschwisterlich waren, dann schob ich den Gedanken wieder mit Gewalt beiseite.

Ein Wochenende in Bummelzügen und auf Bahnhöfen, um auf die nächste Verbindung zu warten, war also der Plan, es gab deutlich schlimmere Alternativen in unserer Situation. Wir schliefen im Zug, einen billigen Wecker und zwei Rucksäcke konnten wir uns am Samstagmorgen in Berlin kaufen, und reisten so durch das neue Deutschland, das so ganz anders als jenes war, an das wir uns noch aus dem letzten Jahrtausend erinnerten.

Es war gegen Mittag, ein gutes Stück noch vor Hamburg und einige Stunden nach dem Zeitpunkt, an dem wir normalerweise unsere Medikamente in der Anstalt bekamen, als uns fast gleichzeitig ziemlich übel wurde. Ich fing irgendwann, als das Gefühl einfach nicht von alleine verschwinden wollte, an, mir echte Sorgen zu machen, und sah Nadia daher besorgt an, als diese lediglich trocken: „Entzug?“, sagte, obwohl sie ebenfalls offensichtlich sehr grün im Gesicht aussah.

Ich nickte.

„Entzug. Ich sollte nicht so überrascht darüber sein, dass sie uns sehr starke Medikamente gegeben haben, die abhängig machen. Was tun wir? Riskieren wir einen kalten Entzug?“

Sie nickte trotz ihres grünen Gesichts mit einem ziemlich entschlossenen Funkeln in den Augen.

„Wir haben keine andere Wahl, also kalt, am besten steigen wir an der nächsten Haltestelle aus und suchen uns ein Waldstück, um kein Aufsehen zu erregen. Wir brauchen auch noch einige Flaschen Wasser dafür, vermutlich werden wir in den nächsten Stunden doch recht heftig dehydrieren. Haben wir noch genug Geld?“

„So etwa einhundert, die Kaufkraft dieses Euros ist etwas höher als die der guten, alten Ost-Mark. Wenn es länger als ein paar Stunden dauert, müssen wir aber trotzdem weiter.“

Den Rest der Rede sparte ich mir, denn Nadia hatte bereits genickt, und packte unsere Sachen zusammen. Wir kauften am Bahnhof noch ein paar Liter, vermutlich deutlich überteuertes, stilles Wasser ein, dann verdrückten wir uns in ein nahe gelegenes Waldstück, das anscheinend als Park genutzt wurde. Eigentlich enthielt es mir immer noch zu viele Spaziergänger für unseren Zweck, allerdings wären wir nicht sehr viel weiter gekommen. Die nächsten Stunden waren dann auch in der Tat nicht sehr angenehm, um es vorsichtig auszudrücken.

Ich nutzte die Zeit, um zwischen den Krämpfen und dem Erbrechen die Krankenakten zu lesen, wurde aber maßlos enttäuscht. Sie enthielten alle Medikamente, die wir angeblich so dringend benötigten, die bekannte Diagnose und die Daten von der Anstalt davor. Was ich schmerzlich vermisste, waren Daten über unsere Herkunft oder Heimat, kein Geburtsort, nichts. Diese Felder waren alle mit unbekannt beschriftet.

Der einzige interessante Hinweis war eine Anweisung an das Personal, eine bestimmte Rufnummer anzurufen, falls irgendetwas Außergewöhnliches passierte. Die Medikamente sagten mir gar nichts, allerdings stand bei zweien davon, dass man sie nicht absetzen dufte, sondern unbedingt unter ärztlicher Aufsicht ausgeschlichen werden sollten, was bei Nichtbeachtung höchstwahrscheinlich tödliche Folgen nach sich ziehen würde. Außerdem wurde ausdrücklich davor gewarnt, diese Medikamente irgendeinem anderen Patienten außer uns beiden zu verabreichen.

Ich zeigte Nadia den Abschnitt, woraufhin sie niedergeschlagen die Augen niederschlug und ein Moment lang in die Flammen starrte. Dann ergriff sie die Akten, warf sie ins Feuer, und umarmte mich fest.

„Dann sterben wir eben hier und jetzt gemeinsam. Ich gehe nicht zurück und wir können auch keinen Arzt aufsuchen, sonst sind wir sofort wieder in der Anstalt. Und einen Arzt entführen und danach umzubringen, wenn wir ihn nicht mehr brauchen, kommt für mich auch nicht infrage, ein Toter reicht mir völlig aus.“

Ich nickte ihr zu, da waren wir uns fast einig, bis auf eine Kleinigkeit.

„Wenigstens du könntest doch noch zurück, Nadia, dir drohen bei Weitem nicht so schlimme Dinge wie mir, warum willst du dein Leben so sinnlos wegwerfen?“

Diesmal wurde sie zu meiner Erleichterung nicht wieder wütend, sondern eher nachdenklich.

„Weißt du es denn wirklich nicht? Es gibt sogar zwei sehr gute Gründe für mich, hierzubleiben. Erstens war das doch kein Leben, wir sind in unseren Zimmern dahinvegetiert, schon eher wie eine Topfpflanze als ein Tier. Ich will richtig leben, und zweitens will ich mit dir leben! Ein Leben ohne dich ist kein Leben für mich. War es nie, wird es nie sein. Ich liebe dich Selen, was dachtest du denn, weißt du es denn wirklich nicht, was ich für dich empfinde?“

Ihre Beichte ließ mein Herz bis zum Hals klopfen, trotzdem protestierte ich leise dagegen, obwohl mir eigentlich nach etwas ganz anderem war.

„Wir können uns doch aber nicht lieben, jedenfalls nicht körperlich, wir sind doch Schwestern. Und was ist, wenn wir zu weit gehen, falls am Ende sogar eine von uns schwanger wird?“

„Ich kann keine Kinder bekommen, und du auch nicht. Also, was machst du dir nur immer nur für Sorgen?“

„Haben sie uns jedenfalls erzählt, aber ob es wirklich stimmt?“

Sie zuckte mit den Schultern und legte ihre Hände auf meine Wangen.

„Ach Selen, lass es doch einfach und mach dir keine Sorgen. Wir sind eh bald tot, also, beruhige dich und entspann dich. So gut es gerade geht jedenfalls.“

Kurz nach diesen Worten wurde sie wieder grün im Gesicht und war vorerst mit sich selbst beschäftigt, genau wie ich ein paar Minuten später. Das beendete unsere Diskussion sehr gründlich fürs Erste, keine von uns hatte danach noch sehr viel Lust auf reden. Ich war jedoch trotz des miesen körperlichen Zustands im siebten Himmel, denn endlich hatte ich die Bestätigung, nach der ich so lange gesucht hatte, ohne Wenn und Aber, meine Nadia liebte mich!

Nach mehreren Stunden, die uns beiden deutlich länger als so einige andere Stunden in unserem Leben vorkamen, war der Spuk jedoch für uns vorbei. Keine von uns fragte in dem Moment, wieso wir einen als tödlich eingestuften Entzug kalt überlebt hatten, wir waren einfach nur froh darüber, dass es uns besser ging.

Wir fühlten uns so schwach, wie neugeborene Kätzchen, allerdings auch lebendiger, empfindsamer und gefühlvoller wie noch nie zuvor in unserem Leben, jedenfalls so weit wir uns zurückerinnern konnten. Ich konnte ihre Gefühle und ihre Liebe für mich fast sehen, so intensiv strahlte sie von ihr aus, und sie nahm vermutlich genau die gleichen Dinge bei mir wahr. Wir waren uns noch dazu auch der sonstigen Umwelt um uns herum sehr viel stärker bewusst, als wären alle unsere Sinne auf einmal zum Leben erwacht, zu einer völlig ungedämpften Existenz, die wir so noch nicht kannten.

Ein Schauer rann mir über den ganzen Körper, als sie mich anfasste, woraufhin ich die Geste erwiderte und lächelnd ihre Miene beobachtete, die mir verriet, dass sie das Gleiche wie ich erlebte. Die Welt hatte sich auf einmal verwandelt, es war ein völlig neuer und aufregender Ort geworden, voller unbekannter Eindrücke, die alle auf unsere frisch erwachten Sinne einstürmten und uns wegen der Heftigkeit und Intensität schier blendeten, wobei die Augen natürlich nur eines der betroffenen Sinnesorgane waren. Irgendwann seufzte sie dann, offenbar trunken vor neuer Eindrücke, auf und meinte:

„Wir müssen weiter, wir haben noch einen ordentlichen Weg vor uns. Ich bin jetzt schon echt froh, dass ich mit dir gegangen bin. Dämmert dir jetzt vielleicht, was ich damit meinte, als ich dir sagte, dass das kein Leben für uns war?“

Ich nickte nur, zu einer vernünftigen Antwort war ich in dem Moment nicht in der Lage, zu sehr hatten mich meine eigenen Impressionen überwältigt.

Wir löschten das Feuer sorgfältig mit Wasser, packten unsere wenigen Sachen zusammen und brachen zum Bahnhof auf. Wieder einmal unglaublich müde, erschöpft und fertig, aber wir klammerten uns so fest aneinander, dass wir kaum noch laufen konnten, und genossen das Leben, die Wärme und den Körperkontakt der Anderen.

Zwei Stunden später, die wir frierend und immer wieder für ein paar Sekunden einnickend auf dem Bahnhof verbrachten, konnten wir endlich in einen Zug einsteigen und setzten die Reise fort. Zu unserem Glück war der Zug völlig überheizt und kurze Zeit später schliefen wir bereits fest. Es war ein völlig erschöpfter Schlaf, den nur ein flüchtiger Zwischenstopp in Hamburg unterbrach, dann saßen wir wieder in einem Regionalzug nach Bremen und von dort aus ging es weiter nach Hannover. Diese Fahrt dauerte eine ganze Weile, die wir ebenfalls schlafend verbrachten, nur unterbrochen von wirren Träumen und gelegentlichen Besuchen eines Schaffners, der uns nach der Fahrkarte fragte.

Als wir in Hannover ankamen und uns in der Nähe des Bahnhofs in einem Supermarkt etwas zu Essen kauften, ging es uns beiden bereits deutlich besser als jemals zuvor in unserem Leben, allerdings gab es in dem Gedränge all der Menschen auch eine Schattenseite. Wir sahen die Leute nicht nur mit den Augen, wir wussten, was sie fühlten, was ihre Träume waren, wer gefährlich war und wer nicht. Wir nahmen Frauen wahr, die unglücklich neben ihren Männern herliefen, Menschen, die ein Verbrechen planten, brutal und furchteinflößend aussehende Rocker mit einem butterweichen Herz und noch so unglaublich viele mehr. Die auf uns einstürmenden Emotionen waren überaus verwirrend und völlig überwältigend für uns.

Der einzige Halt, den ich in diesem Durcheinander der Gedanken und der Gefühle anderer Menschen noch hatte, war die vertraute Hand in meiner, sie gab mir die Sicherheit eines Ankers, sie sorgte dafür, dass ich nicht davonflog oder in den Boden versank. Die auf uns einstürmenden Impressionen wurden schnell zu intensiv, es waren einfach zu viele davon gleichzeitig. Nachdem ich der Supermarktkassiererin fast unser ganzes Geld als Trinkgeld gegeben hätte, wovon mich die nette Kassiererin selbst abgehalten hatte, zog mich Nadia auf eine Bank in der Nähe und schob mich in eine sitzende Position.

„Okay versuche das, es hat mir gerade ziemlich geholfen. Stell dir einen Energieschirm vor, so einen, wie sie die Raumschiffe in den alten Sciencefiction Romanen hatten. Und den legst du um deinen Kopf herum, und dazu stellst du dir vor, dass er die Gefühle der Menschen aussperrt und blockiert. Dann wird es einfacher. Du kannst sogar die Größe verändern, und nur mich mit in den Schirm hineinnehmen, geht das für dich?“

Ich tat, wie sie verlangte, und sofort hörten die Eindrücke von außen auf, allerdings nicht nur alle um uns herum, sondern auch ihre. Es störte mich, dass ich ihre Liebe nicht mehr spüren konnte, also tat ich genau das, was sie vorgeschlagen hatte, ich steckte uns beide unter den Schirm, worauf ich ihre warme Präsenz auf der Stelle wieder fühlte. Überwältigt vor Dankbarkeit küsste ich sie spontan auf den Mund. Sie erwiderte meinen Kuss sofort äußerst leidenschaftlich, wobei sie dabei von der Wildheit und Heftigkeit unserer Emotionen selbst dermaßen überrascht wurde, dass sie irgendwann erschrocken zurückzuckte.

„So intensiv, das ist ...“

„Schön“, beendete ich ihren Satz lächelnd. Trotzdem wechselten wir das Thema, das sich für uns beide ungewohnt und unkontrollierbar zugleich anfühlte.

„Outfit?“, fragte sie mich kurz danach einsilbig, wirklich viele Wörter brauchten wir nicht, um uns zu verständigen, und ich nickte. Also besorgten wir uns Haarfärbemittel und änderten die Kleidung, und zwar in kurze Jeanshosen und -röcke, mehr oder weniger blickdichte Strumpfhosen und ein paar billige T-Shirts, die nicht so durchsichtig wie Rüdigers Blusen waren. Transparente Tops kamen in der Tat auch in diesem Jahrtausend nicht ganz so häufig vor, wie er mir hatte weismachen wollen. Okay, erfolgreich untergejubelt. Aber ich hatte bei ihm keine Wahl gehabt, nur zu meiner Verteidigung.

Unsere Haare zu färben, und zwar von hellblond zu jeweils rot und schwarz dauerte ein wenig länger als gehofft, aber auch das bekamen wir irgendwann in einer öffentlichen Toilette hin. Der Geruch war nicht sehr angenehm dabei, da hatte sich anscheinend in den letzten Jahrzehnten nicht viel getan, wobei sich dafür das Ergebnis durchaus sehen lassen konnte. Danach war von Rüdigers Geld nicht mehr wirklich viel übrig, aber wir hatten wenigstens erst einmal etwas zu essen und waren auch nicht mehr auf Anhieb mit den beiden strohblonden Anstaltsflüchtlingen vergleichbar.

Als wir wieder im Zug saßen, diesmal nach Frankfurt, und wir uns unserem endgültigen Ziel näherten, kam so langsam auch die Frage auf, von der ich am meisten Angst hatte. Sie vermutlich ebenfalls, aber natürlich hatte sie recht, wir mussten uns der Problematik ja irgendwann stellen.

„Wir brauchen Geld, wie kommen wir da ran? Auf eine kriminelle Karriere habe ich keine Lust und auf Prostitution erst recht nicht. Also, was machen wir? Wir können doch nichts, vor allem nicht in diesen Zeiten? Welche Fähigkeiten aus den Siebzigern sind denn heute noch etwas wert?“

Diesmal war es offenbar Nadia, die von einer völligen Hoffnungslosigkeit ergriffen wurde, und es war offensichtlich an mir, sie ein bisschen aufzuheitern, nur leider hatte ich überhaupt keine Idee wie, und genauso wenig hatte ich eine vernünftige Antwort auf ihre Frage.

Stattdessen zog ich sie zu mir und hielt sie einfach nur fest, was ihr aber offenbar in diesem Moment auch erst einmal reichte. Sie umarmte mich und vergrub ihr Gesicht zwischen meinen Brüsten, die seit der Umziehaktion von keinem BH mehr bedeckt wurden.

---ENDE DER LESEPROBE---