Heimat-Roman Treueband 48 - Monika Leitner - E-Book

Heimat-Roman Treueband 48 E-Book

Monika Leitner

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Beschreibung

Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!

Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.

Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Alpengold 206: Zuflucht im alten Kloster
Bergkristall 287: Ruf der Berge - Ruf des Herzens
Der Bergdoktor 1769: Die Erinnerung brach ihr das Herz
Der Bergdoktor 1770: Die vergessene Verwandte
Das Berghotel 143: Drei Traumfrauen und ein Geheimnis

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 569

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Monika Leitner Christina Heiden Andreas Kufsteiner Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 48

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2015/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Myvisuals / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-4466-9

www.bastei.de

www.sinclair.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Alpengold 206

Aus und vorbei! Mehr kann Lena nicht denken. Ihr Herz ist voller Tränen, und gebrochen ist es auch. Ihr Verlobter hat sie betrogen. Natürlich hat Lena die Hochzeit, für die schon alles geplant war, abgesagt.

"Aus und vorbei!", erklärt sie auch heute wieder ihren Eltern. "Ich will nie mehr etwas mit Männern zu tun haben. Nie mehr!"

Ihr Bruder lacht. "Jetzt werd nur net so dramatisch, Lenerl", meint er. "Männer gibt es nun mal überall auf der Welt. Da müsstest du schon in ein Nonnenkloster gehen!"

Die Eltern lachen mit, in der Hoffnung, Lena aufzuheitern, doch die bleibt ernst, starrt gedankenverloren auf ihren Teller. Plötzlich hebt sie den Kopf und wischt sich die letzten Tränen von den Wangen.

"Ein Kloster", murmelt sie. "Natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?"

Bergkristall - Folge 287

Aufgeregt liest Peter die Zeitungsanzeige, die ihm förmlich ins Auge gesprungen ist:  "Österreichischer Alpenverein sucht jungen Mann mit Ehrgeiz, Mut und Liebe zu den Bergen. Bieten Tätigkeit als Hüttenwirt mit interessantem Aufgabengebiet und entsprechender Bezahlung."

Peter legt die Zeitung beiseite. Das ist genau die Chance, von der er immer geträumt hat. Das Leben und Arbeiten in der Stadt gefällt ihm schon lange nicht mehr. Die Hektik, der Lärm, die Menschen - er ist es leid. Aber andererseits geht er auch ein hohes Risiko ein, wenn er alles aufgibt ...

Der Bergdoktor 1769

Ihr Kissen ist nass von Tränen, als Jenny mitten in der Nacht aufwacht. Wieder einmal hat sie von Florian geträumt, und wieder endet der Traum abrupt an dem Moment, wo er sie das letzte Mal küsst, bevor er zu seiner Reise ohne Wiederkehr aufbricht. Neun Jahre ist das inzwischen her, doch der Platz in Jennys Herzen gehört immer noch ihm ...

Dabei ist sie inzwischen mit Florians Bruder verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder. Nach außen hin wirken sie wie eine ganz normale glückliche Familie. Doch der Schein trügt. Florian, der tote Rivale, steht immer zwischen ihnen ...

Der Bergdoktor 1770

Mit dem plötzlichen Tod ihrer geliebten Mutter bricht für die neunzehnjährige Lisa Heigl eine Welt zusammen. Nun steht sie wirklich ganz allein da! Es gibt keine Großeltern, keine Geschwister, keine Tanten und Onkel. Und von ihrem Vater weiß sie gar nichts! Über alles konnte Lisa mit ihrer Mutter sprechen, nur das Thema ihrer Herkunft war stets tabu.

Da findet Lisa im Nachlass ihrer Mutter einen Hinweis auf ihren leiblichen Vater und beschließt, ihn zu suchen. Mit nichts als einem Koffer reist sie ins Zillertal. Niemand weiß von ihrem Kommen, doch als sie in St. Christoph aus dem Bus steigt, wartet dort ein junger Mann, um sie abzuholen und zu Rudolf Weidmann zu bringen ...

Das Berghotel 143

Laura, Irmi und Tanja sitzen wie jeden Freitagabend in ihrer Lieblingsbar in Graz und trinken Cocktails. Doch die schmecken nur halb so gut, denn eine fehlt mal wieder, um ihre Mädelsrunde vollständig zu machen: Sophie, die seit Wochen vor Liebeskummer Trübsal bläst und sich in ihrer Arbeit vergräbt. Die Freundinnen sind sich einig: So kann das nicht weitergehen! Eine Liebelei mit einem feschen Burschen wäre die beste Medizin für Sophies gebrochenes Herz.  Die selbstbewusste Tanja hat auch schon eine Idee: "Jede von uns sucht einen Burschen aus, der perfekt zu Sophie passen würd."

Schon stecken die drei Madeln die Köpfe zusammen und beginnen, angeregt zu diskutieren. Je länger sie über den Plan sprechen, desto besser gefällt er ihnen. In ihrem bevorstehenden gemeinsamen Tirol-Urlaub wollen sie ihre Mission angehen.  Und so begeben sich Sophies Freundinnen schon am ersten Urlaubstag auf Männerjagd ...

Heimat-Roman Treueband 48

Cover

Titel

Impressum

Über das Buch

Inhalt

Alpengold 206

Zuflucht im alten Kloster

Bergkristall - Folge 287

Ruf der Berge – Ruf des Herzens

Der Bergdoktor 1769

Die Erinnerung brach ihr das Herz

Der Bergdoktor 1770

Die vergessene Verwandte

Das Berghotel 143

Drei Traumfrauen und ein Geheimnis

Guide

Start Reading

Contents

Zuflucht im alten Kloster

Packender Roman um den gefährlichen Irrweg eines Madels

Von Monika Leitner

Aus und vorbei! Mehr kann Lena nicht denken. Ihr Herz ist voller Tränen, und gebrochen ist es auch. Ihr Verlobter hat sie betrogen. Natürlich hat Lena die Hochzeit, für die schon alles geplant war, abgesagt.

»Aus und vorbei!«, erklärt sie auch heute wieder ihren Eltern. »Ich will nie mehr etwas mit Männern zu tun haben. Nie mehr!«

Ihr Bruder lacht. »Jetzt werd nur net so dramatisch, Lenerl«, meint er. »Männer gibt es nun mal überall auf der Welt. Da müsstest du schon in ein Nonnenkloster gehen!«

Die Eltern lachen mit, in der Hoffnung, Lena aufzuheitern, doch die bleibt ernst, starrt gedankenverloren auf ihren Teller. Plötzlich hebt sie den Kopf und wischt sich die letzten Tränen von den Wangen.

»Ein Kloster«, murmelt sie. »Natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?«

»Am Telefon hat Frank gesagt, dass er mich abholt«, meinte Lena mit einem Blick auf die Uhr. »Genau um zwölf Uhr. Wir wollten in der Mittagspause irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen.«

»In letzter Zeit ist er ziemlich unpünktlich. Ist sogar mir schon aufgefallen.« Peter, Lenas Bruder, blätterte in einem Stapel Bauzeichnungen. Mit seinen achtundzwanzig Jahren hatte er bereits die ersten Auszeichnungen als Nachwuchs-Architekt eingeheimst. Kein Wunder: Sein Vater Fritz Esslinger, mit dem er seit zwei Jahren die modernen Büroräume im Zentrum von München teilte, hatte dem Sohn während des Studiums mit Tipps und Anregungen zur Seite gestanden. Das zahlte sich jetzt aus.

»Unpünktlichkeit hasse ich«, fuhr Peter fort und verstaute einen Teil der Zeichnungen in den Tiefen seiner Schreibtischschubladen. »Ich bemühe mich immer, meine Kunden nicht warten zu lassen. Um halb eins habe ich einen Termin in Bogenhausen, Baustellenbesichtigung. Das neue Haus von Professor Kühnle. Du weißt schon, er ist Geologe und ein bisschen durchgedreht. Ständig redet er nur von Erdschichten, Steinen und Mineralien, auch privat. Aber ich komme trotzdem gut mit ihm zurecht.«

»Das schaffst du nie«, sagte Lena kopfschüttelnd. »Draußen ist ein Wahnsinnsverkehr. Bei dem schönen Wetter sind wahre Menschenmassen unterwegs. Du wirst in einen Stau geraten, und Professor Kühnle hat das Nachsehen.«

»Ach was«, meinte Peter unbekümmert. »Man muss positiv denken. Jetzt ist Mittagszeit, da gibt’s keinen Stau.«

Er hatte eine bewundernswerte Art, mit seinen Terminen und der Arbeit umzugehen. Auch das war ein Verdienst seines Vaters, eines bekannten Architekten. Fritz Esslinger bewahrte selbst bei Stress und extremer Belastung die Ruhe und brachte alles irgendwie auf die Reihe.

»Ich bin dann weg«, fügte Peter hinzu, griff sich eine Mappe mit Unterlagen, winkte seiner zwei Jahre jüngeren Schwester und verschwand. Gerne hätte er noch ein paar Worte bezüglich seines zukünftigen Schwagers Frank Wehland gesagt, aber er verkniff es sich lieber. Peter konnte Frank nämlich nicht sonderlich gut leiden.

Lena arbeitete seit fünf Jahren – so lange hatte sie ihr Sekretärinnendiplom bereits in der Tasche – ebenfalls im väterlichen Büro. Peter hatte sein Architekturstudium mit glänzenden Abschlüssen hinter sich gebracht, und Fritz und Hella Esslinger konnten mit Recht stolz auf ihre Kinder sein. Das Familienleben verlief von jeher harmonisch, weshalb Lena und ihr Bruder noch immer gern in der großen elterlichen Villa in Grünwald wohnten.

Doch für Lena sollte sich nun bald alles ändern, und manchmal erschien es ihr beinahe unwirklich, endgültig aus dem »Nest« zu fliegen. Aber so war’s nun mal, wenn man vorhatte, den Bund der Ehe zu schließen … man startete gleich nach dem Jawort in ein neues Leben.

Lena seufzte still in sich hinein. Allein die Hochzeitsvorbereitungen! Ganz schön nervend! Sie spähte durch die angelehnte Tür in das Büro ihres Vaters. Die anderen Mitarbeiter waren bereits alle in der Mittagspause.

»Papa, fährst du nicht nach Hause?«, fragte sie gedämpft.

»Wie, schon Mittagszeit?« Fritz Esslinger blickte auf. »Du liebe Güte, deine Mutter wollte Forelle blau auf den Tisch bringen. Freitags gibt es doch immer Fisch. Sie hat noch zu mir gesagt: Fritz, wehe, du kommst nicht Punkt zwölf heim! Wo ist Peter?«

»Bei einer Baustellenbesichtigung in Bogenhausen. Professor Kühnle.«

»Du meine Güte, das gibt Ärger mit deiner Mutter. Peter wollte doch heute eigentlich auch daheim essen.« Vater Esslinger ließ alles stehen und liegen und spurtete zur Tür. Im Hinausgehen rief er seiner Tochter noch zu: »Und du? Willst du nicht mitkommen, damit deine Mutter nicht auf den Forellen sitzen bleibt? Peter ist vor drei Uhr auf keinen Fall zurück. Professor Kühnle wird ihn endlos lange durch den Rohbau schleppen und eine Frage nach der anderen stellen.«

»Ich warte auf Frank, Papa. Wir gehen in der Stadt etwas essen. Es ist ja so warm heute, fast wie im Sommer, dabei haben wir erst Mitte Mai. Ich bring nur einen Salat und ein Croissant runter.«

»Bestimmt nicht wegen der Wärme. Du bist aufgeregt. Kein Wunder, in drei Wochen heiratest du. Mein Gott, als deine Mutter und ich … aber das gehört jetzt nicht hierher. Grüß Frank von mir, Lenerl!«

Und damit war auch er auf und davon.

Lena setzte sich wieder an ihren Platz, starrte auf den Computer-Bildschirm und überlegte, ob sie noch eine Weile arbeiten sollte, bis Frank erschien.

Nein. Alle hatten Pause. Sie machte eh genügend Überstunden. Nun, es blieb in der Familie, aber übertreiben musste man es auch nicht! Also warten und sich einfach ein bisschen ausruhen.

Wer nicht kam, war Frank.

Nur nicht wütend werden! Hatte er ihr nicht oft genug erklärt, wie viel er als Juniorchef des großen Gartenbau- und Floristikcenters »Pflanzenparadies« zu tun hatte?

»Er könnte wenigstens anrufen«, sagte sich Lena. »Tja, wahrscheinlich denkt er nicht mal daran, dass ich hier sitze und warte.«

Pünktlichkeit und Verlässlichkeit waren nicht gerade die herausragenden Eigenschaften ihres Verlobten. Aber wenn man verliebt ist, schaut man über so manche »Schwachstelle« hinweg. In anderer Hinsicht konnte Frank nett und charmant sein, und immer wieder hatte er neue Ideen. Ab und zu musste Lena ihn ein bisschen bremsen, damit er mal zur Ruhe kam.

Wenn wir erst verheiratet sind, wird das anders, ging es ihr durch den Kopf. Dann muss er sich genug Zeit für mich nehmen. Ich sehe uns schon auf unserer Penthouse-Terrasse sitzen, mit Blick über München, zwischen lauter Grünpflanzen aus dem Gartencenter … Sie lächelte und träumte ein wenig vor sich hin.

Höchstens zwei Jahre wollten sie in dem Penthaus wohnen, danach war der Bau eines Eigenheims geplant, im Grünen am Rande von München.

Ein kinderfreundliches Haus muss es sein, dachte Lena. Mein Gott, eigene Kinder, wenn ich mir das vorstelle! Ein Bub und ein Mädchen, das wäre zu schön …

Von Frank noch immer keine Spur. Sie rief im Gartencenter an, das auch in den Mittagsstunden geöffnet hatte.

»Tut mir leid«, meinte Frau Balkner, die Sekretärin. »Ich weiß nicht, wo Herr Wehland steckt. Allerdings ist mir aufgefallen, dass er schon gegen zehn Uhr weggegangen ist. Gesagt hat er nichts. Doch, halt, einen Satz: Ich bin am frühen Nachmittag wieder hier.«

»Also nach der Mittagspause. Danke, Frau Balkner.«

Auf seinem Handy erreichte sie ihn auch nicht. Es war abgeschaltet. Sie hinterließ eine Nachricht: »Frank, lass mich doch nicht immer warten! Wo bist du, wo bleibst du?«

Wer weiß, grübelte sie, wann er die Mailbox abhört. Vielleicht ist er ja nach Hause gefahren, aus welchem Grund auch immer.

In seiner Wohnung meldete sich nur der Anrufbeantworter. Das hieß aber nicht, dass er nicht daheim war. Frank ging oft nicht ans Telefon, wenn er nicht gestört werden wollte.

Fühlte er sich vielleicht nicht gut? Hatte er nicht vor einigen Tagen über Gliederschmerzen geklagt? Am Ende eine Grippe. Man holte sich leicht einen Infekt in dieser Jahreszeit. Mal war es sehr warm wie augenblicklich, dann wieder empfindlich kühl. Zugluft, und schon war’s passiert.

Oder waren die Gliederschmerzen schlicht und einfach nach seinem ausgedehnten Tennismatch aufgetreten, von dem er ihr erzählt hatte? Frank war seit einigen Monaten Mitglied in einem Starnberger Tennisclub und fuhr so oft wie möglich zum Training.

Für seine Tennisbegeisterung habe ich ja Verständnis, sinnierte Lena. Aber dass er es gleich so übertreibt! Sie verließ das Büro. Ihr silbergrauer Wagen stand in der Tiefgarage. Bestimmt war er krank, der Ärmste. Eventuell war er sogar mit Fieber eingeschlafen, und sie telefonierte in der Gegend herum, statt gleich etwas zu unternehmen.

Franks schick eingerichtete, moderne Wohnung in einem Sechsfamilienhaus erreichte sie nach zwanzig Minuten Autofahrt durch den dichten Münchner Verkehr. Sie sah Franks Auto neben dem Bürgersteig stehen. Normalerweise fuhr er das rote Sportcabrio, auf das er sehr stolz war, immer gleich in die Garage.

Der arme Frank. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Die Eingangstür war nur angelehnt, rasch lief sie die Treppe hinauf.

Er wohnte gleich im ersten Stock. Sie klingelte nachdrücklich. Bis vor Kurzem hatte sie einen Schlüssel zu seinem großen Appartement besessen, der jedoch auf unerklärliche Weise verschwunden war. Frank behauptete, sie habe nicht aufgepasst und ihn irgendwo »verschlampert«.

Schritte im Flur. Dann wurde die Tür geöffnet, und Frank stand in einem weißen Frotteebademantel vor ihr.

Zunächst sagte er gar nichts, weil er vor Überraschung kein Wort herausbrachte. Lena fiel ihm kurzerhand um den Hals und flüsterte zärtlich: »Armer Liebling, also geht es dir wirklich nicht gut. Hast du geschlafen? Du hättest mich doch anrufen und mir sagen können, dass du krank bist. Schließlich waren wir verabredet.«

»Heute Mittag?« Frank starrte sie hilflos an. »Mein Gott, Lena, entschuldige. Hab ich völlig vergessen. Der Stress, weißt du. Im Betrieb ist dauernd was anderes los.«

»Aber sonst notierst du dir doch jeden Termin.«

Er wirkte schrecklich nervös, sah nach links und nach rechts, als sei er fremd in seiner eigenen Wohnung.

»Stimmt, Lenalein, aber ausgerechnet unsere Verabredung stand nicht in meinem Notebook. Es tut mir leid. Hör zu, ich mach dir einen Vorschlag. Wir gehen heute Abend irgendwo richtig schick essen. Jetzt wird das nichts mehr, außerdem muss ich nachher gleich wieder an die Arbeit.«

»Und warum bist du zu Hause, wenn du so viel zu tun hast? Noch dazu im Bademantel?«

Er räusperte sich. »Ich – äh – hatte plötzlich rasende Kopfschmerzen. Keine Ahnung weshalb. Frau Balkner waren mal wieder die Tabletten ausgegangen, normalerweise ist sie für die Hausapotheke zuständig. Also bin ich rasch heim. Hab zwei Pillen geschluckt und mich einen Augenblick hingelegt.«

»Hauptsache, jetzt ist es besser. Ich hatte schon die Befürchtung, dass du vielleicht eine Grippe hast.«

Wie kam es nur, dass Lena ihm die Sache mit dem Kopfweh nicht so recht glauben konnte? Noch nie war sie ihm gegenüber misstrauisch gewesen. Jedenfalls bisher nicht. Vertrauen gegen Vertrauen, so hatte sie es immer gehalten.

»Grippe?«, krächzte Frank. »Hm, eventuell sind die Kopfschmerzen das erste Anzeichen dafür. Auf keinen Fall möchte ich dich anstecken, Spatzerl. Man weiß ja nie, was man an Viren und Bakterien so mit sich herumschleppt. Besser, du gehst jetzt, und ich schlucke noch eine doppelte Dosis Vitamin C, das stärkt die Abwehr.«

»Was redest du auf einmal daher, Frank? Bisher haben dich Viren und Bakterien doch noch nie gekümmert. Da dürfte man sich ja niemals auch nur berühren, geschweige denn küssen. Man könnte immer etwas in sich tragen, was nicht grad gut für die Gesundheit ist. Aber zum Glück ist das alles bloß Theorie, und außerdem hört es sich an wie eine Schauergeschichte.«

»Klar, du hast recht. Ich fasele dummes Zeug. Trotzdem, Kleines, verzichte im Augenblick besser auf mich, ja? Ich bin einfach nicht gut drauf. Wir sehen uns dann abends. Ich ruf dich so gegen vier Uhr an, und wir besprechen, in welches Restaurant wir …« Weiter kam er nicht.

Die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete sich, ein junges Mädchen mit kastanienroten Locken in einem Hauch von Negligé erschien, und eine helle, sehr deutliche Stimme fragte: »Frank-Bärli, ist das endlich der Pizza-Service? Ich komme um vor Hunger!«

***

Schweigen.

Im Flur, ganz in edlem Weiß und Silbergrau gehalten, schien es eisig kalt zu werden. Um Lena drehte sich alles. Sie griff nach einem der verchromten Haken, die als hochmoderne Flurgarderobe dienten. Unter ihren Füßen schien sich der Boden aufzutun.

»Ich hätte wohl besser meinen Mund halten sollen«, murmelte das Mädchen und verkroch sich wieder hinter der Tür. »Das ist nicht der Pizza-Service, sondern deine Verlobte! Aber irgendwie geschieht es dir recht, Frank, dass die Sache auffliegt.«

»Wirst du wohl still sein«, zischte Frank Wehland. »Sieh zu, dass du dich – äh – fertig anziehst, und dann raus aus meiner Wohnung!«

»So plötzlich? Heute Morgen, im Orchideentreibhaus, da hast du noch ganz anders geredet!«, fauchte das Mädchen. »Dass du ganz narrisch nach mir bist, war jeder zweite Satz. Und dann dein Gesäusel, wie toll die drei Monate waren, die wir nun schon zusammen sind. Mit meiner Verlobten ist schon längst Schluss, hast du erzählt. Lügner! Betrüger! Ich kündige!«

»Mir ist schlecht«, murmelte Lena, und das stimmte. Sie hätte gerne die Flucht ergriffen, aber ihr war so elend zumute, dass sie in Franks Küche zwischen Herd, Mikrowelle und Geschirrspülmaschine auf einen Hocker sank.

»Verschwinde, Elke! Du brauchst gar nicht zu kündigen, du bist entlassen! Eine mittelmäßige Floristin wie dich finde ich doch alle Tage wieder!« Frank war außer sich. Lena hielt sich die Ohren zu, denn im Flur geriet das ertappte Pärchen erneut lautstark aneinander.

Schließlich fiel die Wohnungstür krachend ins Schloss. Danach herrschte einige Minuten lang Stille, bis Lenas Verlobter in der Küche erschien.

»Bitte, Spatzerl«, sagte er und bot das Bild eines reuigen Sünders. »Es ist nicht so, wie du denkst. Dieses aufdringliche Mädchen hat sich einfach an mich rangemacht. Du weißt, dass ich vor einem halben Jahr eine neue Floristin eingestellt habe. Eben diese Elke. Keine Gelegenheit hat sie ausgelassen, um mir nachzusteigen, glaub mir. Irgendwann ist es dann passiert. Ich bin auch nur ein Mann. In einem der Orchideentreibhäuser ist sie mir viel zu nahe gekommen. Die warme Luft, der süße Duft, das war so verwirrend. Ich weiß auch nicht, warum ich plötzlich …«

Lena sprang auf. Der Hocker fiel um und rasselte in ein Glastischchen hinein, auf dem verschiedene Flaschen mit Balsamico-Essig und geschliffene Karaffen mit Olivenöl standen. Frank liebte die mediterrane Küche, und ohne gute Zutaten ging da gar nichts. Essig und Öl ergossen sich auf den Boden und vermengten sich zu einer üppigen Soße.

»Ich will dich nie mehr in meinem Leben sehen oder hören!«, brachte Lena mühsam hervor. »Wenn ich daran denke, wie viele Lügen du mir bestimmt schon aufgetischt hast, wird mir ganz schlecht. Lass mich augenblicklich los, ich hasse diese Wohnung und ich hasse dich.«

Er hielt sie fest, als sie an ihm vorbei nach draußen entfliehen wollte.

»Bitte!«, wiederholte er. »Lena, du kannst nicht einfach weglaufen. Wir sind so gut wie verheiratet. Alle Einladungen sind verschickt, die Möbel für das Penthouse werden auch bald geliefert.«

»Ich überlasse es dir, das zu regeln. Gäste, Möbel, Hochzeitsfeier im besten Hotel am Starnberger See, Flitterwochen … ist mir egal, wie du das rückgängig machst.« Sie kämpfte entschlossen die Tränen nieder. Nein, sie wollte nicht weinen, nicht jetzt. Diesen Triumph gönnte sie Frank nicht. Auf keinen Fall sollte er denken, dass sie schwach war oder seinetwegen litt, dabei erlitt sie in diesen Momenten die reinsten Folterqualen. Betrogen, belogen, was konnte es Schlimmeres und Demütigenderes für eine Frau geben? Noch dazu kurz vor der Hochzeit!

Ihr Brautkleid hing schon im Schrank. Schneeweißer Seidentaft, Spitze, Schleier. Die Eheringe waren ausgesucht. Man erwartete siebzig Gäste. Das Menü stand fest, und für die Hochzeitsreise war ein Flug nach Portugal gebucht, in ein Luxushotel an der Algarve.

Es gelang Lena nicht, Franks Wohnung zu verlassen. Er hielt sie noch immer eisern fest. Offenbar glaubte er, es sei noch etwas zu retten.

»Ich mache gar nichts rückgängig, Lenalein. Ich denk ja gar nicht daran. Nur dich liebe ich, und nur dich will ich heiraten.«

»Du wagst es, noch von Liebe zu reden?« Sie zitterte vor Empörung und Aufregung. »Frank, gib dir keine Mühe. Und ehe ich dich heirate, verbringe ich mein Leben lieber mutterseelenallein in einer winzigen Hütte am Ende der Welt!«

»Sei nicht albern, Lena. Mein Gott, mach doch kein Drama draus. Ich bereue, was ich getan habe. Und es soll nie wieder vorkommen. Von jetzt an seh ich keine andere Frau mehr an. Diese lächerlichen Eskapaden …« Er stockte und biss sich auf die Lippen. Zu spät, er hatte sich verraten.

»Eskapaden?« Lena war so weiß wie eine frisch getünchte Wand. Die Essig-Öl-Soße floss indessen ungehindert durch die Küchentür in den Flur hinaus.

»Ach was. Ein harmloser Versprecher. Jetzt dreh mir bitte nicht aus jeder Kleinigkeit einen Strick.«

»Dieser Tennisclub in Starnberg«, flüsterte sie entsetzt. »Die Tennislehrerin, die nach deinen eigenen Worten unglaublich clever war. Deine ständigen Verspätungen, die endlosen Termine und Überstunden … Warum bin ich bloß so blöd gewesen, so vertrauensselig und nachsichtig? Klar, du hast auch was mit der Tennislehrerin gehabt. Und kürzlich war doch dieses Match draußen am See …«

»Es war nicht der Rede wert«, blaffte Frank, der sich nur noch mit Ausreden verteidigen konnte. »Heidi – meine Trainerin – und ich, wir hatten so eine Art platonische Beziehung. Man schwärmt ein bisschen füreinander, das ist alles. Sie wusste ja, dass ich in festen Händen war. Und bei dem letzten Tennismatch hat sie eh nur von der Bank aus zugeschaut.«

»Das wundert mich nicht. Du warst ja auch längst mit Elke Winter verbandelt, deiner Orchideenexpertin. Und das war auf keinen Fall platonisch. Deine Tennistrainerin wirst du auch ab und an überredet haben, ein wenig anschmiegsamer zu sein.«

»Lena, sei doch nicht so hart zu mir.« Mehr fiel Frank nicht ein. Ihm schwammen nicht nur die sprichwörtlichen Felle weg, sondern auch die tollen flauschigen Teppichfliesen im Flur. Der Salatsoßen-See versickerte nach und nach in dem teuren Material und hinterließ hässliche Flecken.

Irgendwie schien ihn diese Essig-Öl-Katastrophe völlig aus der Bahn zu werfen.

Mehr als die geplatzte Hochzeit, ging es der unglücklichen Lena durch den Kopf. Er sorgt sich um seine tolle Einrichtung. Hat alles viel Geld gekostet. Wie mir zumute ist, begreift er gar nicht.

Wie hatte sie sich in dem Mann, der doch ihr Liebster gewesen war, so furchtbar irren können?

Endlich schaffte sie es, die Tür aufzureißen und in den Hausflur zu gelangen. Frank hatte einen Augenblick lang ihren Arm losgelassen.

»Werd bloß nicht zickig!«, schrie er ihr nach und blieb wie versteinert stehen. »Nun gut, du musst vielleicht ein wenig Abstand von mir haben. Ich ruf dich an, Lenalein, und nimm das alles bitte nicht so tragisch. Mein Problem ist, dass die Frauen es mir immer zu leicht gemacht haben. Ich kann eben nicht widerstehen. Aber wie gesagt, von jetzt an werde ich ein anderer Mensch.«

Schöne Worte, die leer und hohl klangen.

»Übrigens«, sagte Lena von der untersten Treppenstufe herauf, »ich ahne, wo der verschwundene Schlüssel zu deiner Wohnungstür ist. Bei dir nämlich. Du hast gewusst, dass ich ihn in meiner Handtasche hatte. Ein Griff in einem unbeobachteten Augenblick, und du hattest ihn wieder. Auf diese Weise hast du gar nicht erst lang fragen oder eine Ausrede ersinnen müssen, um ihn zurückzubekommen. Du wolltest sicher sein, dass ich nicht plötzlich die Tür aufschließe, während du Damenbesuch hast.«

Er spielte den Gekränkten.

»Wie stellst du mich denn hin, Lena? Elke war heute zum ersten Mal bei mir. Zuvor kein einziges weibliches Wesen außer dir. Und vor deiner Zeit … na ja, es ist gar nicht der Rede wert.«

»Spar dir die Worte, Frank. Warum bist du nicht wenigstens jetzt ehrlich? Hätte ich heute den Schlüssel gehabt, wäre es so weit gewesen und ich hätte aufgeschlossen. Pech, dass du auf mein Klingeln hin geöffnet hast, weil du den Pizza-Service erwartet hast. Der kommt sicher nicht mehr.«

Damit war sie auf und davon.

Frank blieb teils ratlos, teils wütend zurück. Aber nach zwei, drei Gläsern Wein entspannte er sich. Und dann beschloss er, Lena einen unwiderstehlichen Brief zu schreiben. Dabei wollte er sich schuldbewusst geben, gleichzeitig aber seinen männlichen Charme durchblitzen lassen. In dieser Hinsicht hielt er sich nämlich selbst für einen Meister seines Fachs. Die Eroberung oder Rückeroberung schöner Frauen – kein Problem! Nein, Lena würde ihn nicht verlassen!

***

»So kommen wir nicht weiter«, regte sich Fritz Esslinger am sonntäglichen Frühstückstisch auf. »Lena, es hilft nix, du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Das Geheule kann ich nicht mehr ertragen.«

»Ich heule doch gar nicht, Papa«, flüsterte sie.

Vater Esslinger polterte ein wenig herum, rührte in seiner Kaffeetasse und gab einige Lebensweisheiten zum Besten. Tatsache jedoch war, dass er vor Mitleid mit seiner Tochter beinahe verging. Unglaublich, was dieser Bursche sich da erlaubt hatte. Zuerst war der Brautvater drauf und dran gewesen, sich den untreuen Schwiegersohn in spe einmal vorzuknöpfen, und zwar schonungslos, doch Lena hatte ihn flehentlich gebeten: »Bitte nicht, Papa, kein Wort zu Frank. Je mehr wir auf ihn eingehen, desto interessanter fühlt er sich. Ich möchte, dass er für uns alle nichts ist als Luft.«

Frank Wehland und Luft! Fritz Esslinger köpfte wütend sein Frühstücksei. Das Madel dachte doch noch immer Tag und Nacht an ihn und kam über diese schreckliche Sache nicht hinweg!

»Ich heule nicht«, wiederholte Lena trotzig. »Ich hab nur schlecht geschlafen. Deshalb schau ich müde aus und habe Schatten unter den Augen.«

»Ach Gott, Kind«, seufzte Hella Esslinger und schob ihrer Tochter den Brotkorb zu. »Mach uns nichts vor. Du weinst ständig. Iss doch wenigstens eine Kleinigkeit. Du bist in den vergangenen zwei Wochen so dünn geworden wie ein Hänfling. Ich weiß nicht, Lena, vielleicht hättest du dir einen Ruck geben und dir alles überlegen sollen. Eventuell war ja gar nichts hinter der angeblichen Affäre, die Frank mit dieser Elke hatte. Du hättest wenigstens noch mal mit ihm reden sollen.«

»Niemals, Mama.« Lena biss in eine Scheibe Toast, aber man sah ihr an, dass sie nicht den geringsten Appetit hatte. Sie aß nur, weil es sein musste. Tatsächlich hatte sie acht Pfund abgenommen. Und da sie ohnehin schon immer schlank und rank gewesen war, machte sich jedes fehlende Pfund sofort bemerkbar.

»Ein bisschen stur bist du schon, Lena«, fuhr ihre Mutter fort. Hella Esslinger war selbst ganz nervös seit jenem Tag, an dem ihre Tochter am Rande eines Nervenzusammenbruchs geschwebt hatte. »Sieh mal, wenn dir Frank inzwischen gleichgültig wäre, würdest du doch nicht so schrecklich leiden. War es nicht ein Fehler, das Brautkleid zu verkaufen? Hättest du nicht wenigstens einen seiner vielen Briefe lesen sollen? Und war es richtig, alle seine Blumenkörbe und Geschenkpakete postwendend wieder bei ihm abladen zu lassen?«

Lena schwieg. Ihr Blick ging ins Leere, und ihre schönen Augen waren feucht. Ihre Mutter vertraute immer auf das Gute im Menschen. Sie schien einfach nicht glauben zu können, dass Frank sich als hemmungsloser Casanova entpuppt hatte.

»Jetzt muss ich auch mal was sagen«, wandte sich Peter an seine Eltern. »Ich war schon immer der Meinung, dass Frank ein arroganter Typ ist, der meine tolle Schwester nicht verdient hat. Aber mich hat man ja nicht gefragt. Klar, Lena hat nur Franks gute Seiten gesehen. So ist das eben, wenn man verliebt ist. Allerdings bin ich mir nie im Klaren darüber gewesen, was an Frank so herausragend war. Natürlich ist die Aufregung im Moment groß. Diese geplatzte Hochzeit muss für Lena ein schrecklicher Schock sein. Es ist doch kein Wunder, dass sie völlig durch den Wind ist. Einerseits trauert sie diesem Heini … äh, Frank hinterher, andererseits wünscht sie ihn zum Teufel.«

Er tippte seiner geistesabwesenden Schwester sacht an die Schulter. »Komm zu dir. Der Kerl ist es gar nicht wert, dass du deine Nerven ruinierst. Vergiss ihn. Klar, das ist nicht so einfach, aber geh einfach mal aus, sieh dich um, triff dich mit Freunden und igele dich nicht dauernd hier im Haus ein. Andere Mütter haben auch nette Söhne.«

»Ich kann diesen Unsinn nicht mehr hören!« Lena sprang so heftig auf, dass das Geschirr auf dem schön gedeckten Tisch klirrte. »Ihr begreift gar nichts, keiner von euch! Frank hat mich zutiefst verletzt, und ihr redet nur oberflächliches Zeug daher! In genau einer Woche hätten wir vor dem Traualter gestanden, und ich … und ich …« Jetzt brach sie wirklich in Tränen aus.

»Es ist so peinlich«, stieß sie hervor. »Inzwischen weiß es jeder, und alle fragen mich, warum denn eigentlich nichts aus der Hochzeit wird. Ich mag niemandem sagen, dass er mich mit einer anderen betrogen hat. Ach was, nicht nur mit einer. Diese Tennistrainerin hat er doch auch vernascht! Ich will gar nicht wissen, wie viele Mädchen es noch waren. Ich hasse ihn, diesen ekelhaften Kerl! Und dabei habe ich ihn doch so geliebt …«

Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

»Jetzt ist mir auch der Appetit vergangen«, seufzte Fritz Esslinger. »Das arme Kind. Sie hasst ihn, sie liebt ihn. Was denn nun eigentlich?«

»Sie hat ihn geliebt, Fritz«, verbesserte Hella ihren Mann. »Und jetzt hasst sie ihn. Aber ich weiß nicht, ob ihr klar ist, was sie da sagt. Ist es denn zu fassen? Ich meine, dass Frank ein so gewissenloser Bursche ist? Es will mir nicht in den Kopf.«

»Begreif es endlich, Hella. Auch wir haben uns in Frank Wehland getäuscht. Für uns ist es ein Drama. Und für unsere Tochter die schwerste Tragödie ihres bisherigen Lebens. Man muss Lena in Ruhe lassen«, brummte Vater Esslinger. »Mit sechsundzwanzig hat man noch das ganze Leben vor sich. Sie wird schon über die Sache hinwegkommen, wenn man ihr genügend Zeit lässt. Ich rate zu Spaziergängen in der frischen Luft. Immer zügig laufen, das hilft. Sie soll bloß nicht mehr im Büro erscheinen. Nein, auf keinen Fall. Da sitzt sie nur am Schreibtisch und starrt vor sich hin. Ich rufe Frau Wimmer an, unsere Vertretung in Notfällen. Ab morgen bleibt das Mädel daheim.«

»Und wenn sie nicht zu Hause bleiben will, Fritz?« Hella Esslinger sah ganz blass und müde aus. Die Sorgen und Diskussionen der letzten beiden Wochen hatten auf ihrem Gesicht deutliche Spuren hinterlassen.

»Dann sorg dafür, Hella, dass sie vernünftig ist!«

»Aha. Du überlässt mal wieder alles mir, Fritz. Ich weiß auch nicht weiter, ich bin überfordert mit dieser Geschichte. Dauernd kommen Lieferanten mit irgendwelchen Sachen für die Hochzeit, ich muss telefonieren, Leute beschwichtigen … und dann noch Lenas Leidensmiene. Das geht mir dermaßen unter die Haut!«

»Wollt ihr euch jetzt am Ende auch noch streiten?«, fragte Peter kopfschüttelnd. »Wir müssen Lena ganz schnell helfen. Wie wäre es, wenn wir ihr eine tolle Reise spendieren? Ich denke mir was Interessantes aus und buche ein Ticket. Auf die Malediven zum Beispiel. Sie wollte doch schon immer mal einen Tauchkurs machen. Das wird sie von ihrem Kummer ablenken.«

»Hm. Gute Idee«, meinte Esslinger senior. »Soll’s kosten, was es will. Hauptsache, das Mädel kommt wieder auf die Beine. Lassen wir sie jetzt oben in ihrem stillen Kämmerlein ein bisschen in Ruhe und sprechen am Nachmittag mit ihr darüber. Du hast schon recht, Peter. Ablenkung ist in Lenas Fall das Wichtigste, damit sie mit dem ständigen Grübeln aufhört!«

***

Vielleicht habe ich etwas falsch gemacht und Frank in die Arme anderer Frauen getrieben, dachte die betrogene Braut unterdessen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Alles war so sinnlos geworden. Die Träume von einer herrlichen Zukunft zerplatzt wie Seifenblasen. Inzwischen begann Lena schon, sich selbst schuldig zu fühlen, so verzweifelt und durcheinander war sie, und sie kam nicht davon los:

Wie konnte er so zärtlich, so leidenschaftlich sein und mir schwören, mich immer zu lieben, wenn er doch dauernd andere Mädchen im Sinn hatte? Warum habe ich das alles nicht bemerkt? Wieso bin ich so lang auf Frank hereingefallen und habe ihm geglaubt?

Mit diesen Fragen, die sich wie ein Mühlrad in ihrem Kopf drehten, plagte sie sich unablässig herum, doch sie fand keine Antwort.

Alles, was sie wusste, war: Sie hatte ihn geliebt. Ihm vertraut. Sie war bereit gewesen, ihm alles zu schenken, vor dem Altar »Ja« zu sagen. Dann diese unendliche Demütigung!

Und er wagte es noch, immer wieder Briefe zu schicken, gewaltige Blumengebinde aus seinem Floristikcenter vors Haus karren zu lassen und Geschenkpakete in den Eingang zu stellen.

Gewissenloser Schuft! Verlogener, untreuer Mistkerl!

Und plötzlich, in krassem Gegensatz zu Wut und bitterer Enttäuschung, schlug Lenas Stimmung ins Gegenteil um. Ach … die Sehnsucht, noch einmal seinen Mund, seine Hände zu spüren, die Zärtlichkeit vergangener Tage zu fühlen. War da nicht auch ein Funken Hoffnung, irgendwie könnten sich Franks Eskapaden als Irrtum herausstellen?

Dabei hatte er doch zugegeben, in puncto Frauen kein Kostverächter gewesen zu sein. Wie trügerisch diese kleinen Hoffnungsstrahlen doch waren. Und wie quälend, sich immer wieder etwas einzureden, was nicht den Tatsachen entsprach.

Die arme Lena war übel dran. Da saß sie nun in ihrer hübsch eingerichteten Wohnung im ersten Stock der elterlichen Villa und blätterte schluchzend in einem Fotoalbum. Viele Fotos vom ersten gemeinsamen Urlaub mit Frank auf Gran Canaria. Sie beide, glücklich und verliebt, auf einer weißen Segeljacht, im Hintergrund das herrlich blaue Meer. War er nicht schon damals ein Frauenschwarm gewesen, und sie hatte diese Tatsache verdrängt? Er hatte immer ein bisschen zu gut ausgeschaut …

»Aus und vorbei, Ende«, flüsterte sie und stopfte das Album in die hinterste Ecke ihres Schreibsekretärs. »Ich werde niemals mehr einem Mann vertrauen. Am liebsten wär’s mir, wenn ich auch nie wieder einem begegnen müsste, Papa und Peter ausgenommen. Männer ähneln sich irgendwie alle. Sie taugen nichts. Vater und Peter sind die einzige Ausnahme.«

Das Mittagessen ließ sie einfach aus, obwohl ihre Mutter nachdrücklich an die Tür klopfte und etwas von »Tafelspitz mit Pariser Möhrchen« rief.

Ich bring einfach nichts mehr runter, dachte Lena. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Wenn das nicht bald aufhört, geht’s mir wie dem Suppenkasper. Egal ob Tafelspitz oder Suppe, wenn man gar nichts isst, fällt man irgendwann um und ist hinüber.

Es war ein sonniger, warmer Tag, eigentlich wie geschaffen für einen prächtigen Maiausflug. Lena zog die Vorhänge zu, legte sich hin, nahm vier Baldrian-Hopfen-Pillen und versuchte, ein bisschen zu schlafen. Nachts war’s am schlimmsten, da lag sie Stunde um Stunde wach und fragte sich immer wieder: Wieso ich? Warum musste mir das passieren? Weshalb straft mich das Schicksal so hart?

Irgendwann hämmerte jemand an die Tür. Entsetzt fuhr sie aus wirren Träumen hoch. Wie ausgedörrt fühlte sie sich.

»Was ist?«

»Meine Güte, Lena, wir machen uns Sorgen! Du hast alles verrammelt und verriegelt, und ich steh hier schon eine halbe Stunde und klopfe!« Das war Peters Stimme. »Mach auf, bitte!«

Ihr war schwindlig. Langsam öffnete sie.

»Hab geschlafen, Peter. Vier Baldriantabletten verstärkt mit Hopfen. Melisse ist auch noch drin.«

»Hör auf, Beruhigungspillen zu schlucken, auch wenn sie pflanzlich sind. Es gibt etwas Besseres zum Entspannen. Komm runter zu uns in den Garten. Wir möchten mit dir reden.« Peter fuchtelte mit einem Bogen Papier vor ihrer Nase herum. »Ich hab was für dich, Schwesterherz.«

Was wird das nur sein?, dachte sie. Am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt. Aber schließlich konnte sie sich nicht dauernd zurückziehen. Peter und die Eltern meinten es ja nur gut.

»Geh schon vor«, sagte sie leise. »Ich muss mich ein bisserl frisch machen. Sicher schau ich ganz verschwollen aus.«

»Dass du mit dem Weinen nicht aufhören kannst!« Peter schüttelte den Kopf. »Ist dieser Kerl eine einzige Träne wert? Bestimmt nicht. Aber ich hab gut reden. Du bist in einem Schockzustand, Lena. Da kann man nicht mehr klar denken.«

Die Eltern taten geheimnisvoll, auf der Terrasse standen Gläser und eine Flasche Wein, als Lena endlich erschien.

Peter zückte das Blatt und verkündete: »Aus dem Computer! Die aktuellsten Last-Minute-Flüge vom Münchner Airport aus. Lena, wir schenken dir eine tolle Reise, Vater, Mutter und ich.«

»Der Preis spielt keine Rolle«, warf Fritz Esslinger ein. »Von mir aus kann’s Neuseeland oder Australien sein. Die Hauptsache ist, du kommst auf andere Gedanken. Wir wollen, dass du wieder lachst und unsere muntere, fröhliche Lena bist.«

»Das ist unser einziger Wunsch«, fügte seine Frau hinzu.

»Ich persönlich dachte an die Malediven«, schlug Peter vor. »Ein Tauchkurs, wäre das nicht was für dich? Du könntest übermorgen Punkt zehn Uhr starten. Feinsandiger Palmenstrand, schickes Hotel mit Meerwasserpool, gepflegte Tanzbar, Clubräume. Nicht grad eine preiswerte Herberge, aber du hast ja gehört, was Vater gesagt hat.«

Ihr trauriger Blick streifte die erwartungsvoll lächelnden Familienmitglieder. »Ihr seid so lieb«, sagte sie leise. »Danke für alles. Aber ich verreise nicht. Schon gar nicht in südliche Gegenden oder an Traumstrände, wo lauter glückliche Paare herumturteln. Es würde mir das Herz brechen.«

»Sei nicht albern«, entrüstete sich Peter. »Während die anderen paarweise auftreten, kannst du solo deine Freiheit genießen. Kein Zoff, kein Beziehungsstress. Das ist doch herrlich. Davon abgesehen gibt es auch an tropischen Stränden interessante Singles.«

»Du meinst, ich soll einen anderen Mann kennenlernen?« Lena starrte ihren Bruder an, während ihre Eltern sich ratlos abwandten und das Unternehmen »Reise« bereits in den Wind schrieben.

»Wäre das so schlimm?« Peter schüttelte verständnislos den Kopf. »Es muss ja nicht gleich was Ernstes sein. Ein kleiner Urlaubsflirt wirkt erfrischend auf Herz und Gemüt. Ich spreche da aus eigener Erfahrung.«

»Ich will mit Männern nichts mehr zu tun haben!«, rief Lena. »Nie mehr. Es reicht mir!«

»Aber Kind«, warf ihre Mutter ein, »das ist doch nun wirklich Unsinn. Ich finde, Peter hat recht. Denk doch mal darüber nach.«

»Keine Männer«, wiederholte Lena störrisch. »Ich traue keinem mehr, der mir schöne Augen macht.«

»Männer sind überall«, gab Fritz Esslinger zu bedenken. »Du bist hübsch und jung, Lena. Da bleibt es nicht aus, dass der eine oder andere dich mal anspricht.«

»Anbaggern nennt man das heutzutage«, meinte Peter grinsend.

»Ein grässliches Wort«, fand Hella Esslinger. »Als ich jung war, lud ein junger Mann seine Auserwählte zum Tanzen oder ins Kino ein, und zwar mit höflichen Worten. Man machte das Ganze ein bisserl spannend, das war ja der Reiz an der Sache. Zuerst Nein sagen, dann vielleicht und schließlich …«

»Ich geh wieder nach oben«, murmelte Lena. »Seid mir nicht bös. Das Geld für die teure Reise, die ihr mir unbedingt schenken wollt, könnt ihr viel besser für den geplanten Umbau im Büro gebrauchen. Ich weiß doch, dass du mehr Platz brauchst, Peter.«

»Hat doch Zeit bis zum nächsten Jahr«, warf Peter selbstlos ein.

»Nein, hat es nicht. Der Umbau ist wichtig. Ich bleibe hier und rühre mich nicht aus dem Haus, bis ich wieder klar denken kann.« Schon wieder füllten sich Lenas Augen mit Tränen.

»Ich überlege gerade, wo es einen Ort ohne Männer gibt«, meldete sich Hella Esslinger wieder zu Wort. »Irgendein Fleckerl Erde, wo du dich erholen kannst, Lena, ohne dass dir eins von diesen Mannsbildern unterkommt.«

»Da müsste sie schon in ein Nonnenkloster gehen«, sagte Peter und lachte über seinen vermeintlichen Witz.

Seine Eltern stimmten ein in der Hoffnung, die bedrückte Lena mit der allgemeinen Heiterkeit anzustecken.

»Ein Kloster«, flüsterte sie unterdessen nachdenklich vor sich hin. »Wieso bin ich nicht selbst auf die Idee gekommen? Eine Insel des Friedens und der Harmonie, nur stille, fromme Frauen und ein bescheidenes Zimmer für mich, in dem ich zu mir finden kann.«

»Du bist übergeschnappt«, Peter hörte mit seinem Gelächter auf. »Ich hab mir grad einen Scherz erlaubt, und du nimmst die Sache mit dem Kloster für bare Münze. Jetzt hör aber auf!«

»Warum?« Auf Lenas blassem Gesicht erschien eine flüchtige Röte. »Ich will ja nicht für immer ins Kloster, sondern nur für einige Wochen. Habt ihr noch nie von der Aktion ›Gast im Kloster‹ gehört?«

»Doch«, erwiderte Fritz Esslinger zögernd. »Man kann sich in einem Gästehaus oder direkt im Kloster für eine Weile einmieten und entweder am Leben der Ordensleute teilnehmen oder sich nur entspannen. Aber das ist doch nichts für dich, Kind. Ganz sicher würde dich erst recht das heulende Elend packen. Die Stille, die Abgeschiedenheit … also, da wird man doch depressiv. Vor allem, wenn man sowieso Kummer hat.«

»Dauernd Glockengeläut, Choräle und Schweigegelübde«, regte sich Peter auf. »Kommt nicht infrage, Lena. Du passt nicht ins Kloster, nicht mal als Gast!«

»Doch. Ich brauch das jetzt. Ruhe und nochmals Ruhe, was Schöneres kann ich mir nicht vorstellen. Und in einem Nonnenkloster werd ich garantiert keine Männer treffen, allenfalls mal einen Geistlichen, der über jeden Zweifel erhaben ist! Gleich morgen besorge ich mir eine Broschüre über geeignete Klöster in Oberbayern.« Lena sprang auf. »Ich will gar nicht weit weg. Eine lange Reise wäre mir zuwider. Ich wette, wenn ich dann wieder heimkomme, bin ich wie neu. Dann werde ich über den Dingen stehen.«

»Das ist doch Quatsch!« Peter ärgerte sich, und die Eltern saßen mit betretenen Mienen da. Lena jedoch ließ sich nicht umstimmen. Ehe die anderen noch einen Versuch unternehmen konnten, war sie schon verschwunden.

***

Die mächtigen Gipfel des Karwendelgebirges umrahmten das schmucke Dorf Marienbach in eindrucksvoller Schönheit. Am Ortseingang gab es einen kleinen Aussichtsparkplatz mit einem sprudelnden Brunnen. Ein geschnitztes Schild verkündete einladend: »Unseren Besuchern ein herzliches Grüßgott!«

Lena stieg aus und atmete tief die klare Luft ein. Die Wiesen ringsum standen in voller Blüte. Herrlich, diese Bergblumen! Alle waren vertreten: rote Lichtnelken, gelber Hahnenfuß, blaue Akeleien, weiße Margeriten. Am Himmel segelten ein paar Schönwetterwolken dahin, schwebten um die mächtigen Gipfel und lösten sich dann in Nichts auf.

Es war Mittagszeit. Alles wirkte ruhig, beinahe ein bisschen schläfrig. Zu Fuß spazierte Lena ins Dorf hinein und bewunderte die großen, weiß getünchten Bauernhäuser, die um diese Jahreszeit – es war mittlerweile Anfang Juni geworden – im Schmuck roter Geranien prangten.

Die Kirche hatte einen dicken, glänzenden Zwiebelturm, gegenüber gab es den »Lindenwirt« mit zwanzig Hotelzimmern und ein Stück weiter verhieß ein Wegweiser: »Zum Landgasthof Hirschen, 500 m.«

Um den Kirchplatz herum scharten sich einige kleine Läden, die jetzt aber geschlossen waren. Alles strahlte beschauliche Ruhe aus. Das Einhalten der Mittagszeit schien hier so etwas wie ein Gesetz zu sein. Sogar die Tauben auf den Dächern dösten vor sich hin.

Lena blickte ins Schaufenster des Bäckerladens, über dem eine große, hölzerne Brezel mit der Aufschrift »Alois Huber, täglich ofenwarme Backwaren« prangte. Drinnen waren alle Körbe und Regale ordentlich abgedeckt. Aus der Backstube nebenan zogen köstliche Gerüche. Offenbar bereitete Bäckermeister Huber frisches Gebäck und knusprige Semmeln für den Nachmittagskaffee zu.

Nebenan befand sich »Emmis Zeitschriftenstüberl«. Auch hier tiefe Stille. Auf einem Schild an der Tür stand: »Mittagszeit von 12 bis 14 Uhr.«

Lena blickte auf die Uhr. Es war halb zwei; keine Chance, um diese Zeit etwas zu kaufen. Die Drogerie war geschlossen, ebenso die Fleischerei, das kleine Kunstgewerbegeschäft, der Lebensmittelladen.

»Irgendwie gefällt mir das«, sagte sie vor sich hin und dachte an die hektische Betriebsamkeit der Münchner Innenstadt. Sie überlegte, ob sie im »Lindenwirt« eine Kleinigkeit essen sollte, aber dann ließ sie es sein. Noch immer hatte sie keinen Appetit, aß nur, damit sie etwas in den Magen bekam.

Unter den mächtigen Linden am Kirchplatz standen breite, rustikale Bänke. Lena setzte sich, öffnete ihre Umhängetasche und las zum x-ten Mal den Brief, den ihr die Oberin des Marienbacher Schutzengelklosters geschickt hatte.

»Liebe Lena! Ich darf Sie doch so nennen? Ihr Anruf bei uns im Kloster hat mich sehr gefreut. Ich möchte Ihnen nun noch einmal schriftlich bestätigen, dass Sie uns ab Juni willkommen sind und so lange bleiben können, wie Sie wollen. Mit der Aktion ›Gast im Kloster‹ haben wir hier in Marienbach erst kürzlich begonnen. Der Bau eines kleinen Gästehauses auf dem Klostergrund ist noch in der Planung. Aber wir verfügen über vier Gästezimmer innerhalb des Klosters. In Kürze wird eines davon frei. Ich werde veranlassen, dass dieses Zimmer für Sie bereitsteht. Es gefällt Ihnen bestimmt. Man schaut vom Fenster aus auf den Kreuzgang und den Innenhof.

Gerne führe ich Gespräche mit Ihnen, wenn Sie das wünschen. Sie können sich aber auch mit jeder anderen Schwester hier im Kloster unterhalten. Zu uns kommen meistens Frauen, die sich in einer problematischen Lage befinden. Einige möchten ihr Herz gleich ausschütten, andere schweigen zuerst recht lange, ehe sie über sich selbst reden. Aber wir akzeptieren es natürlich auch, wenn jemand gar nichts sagen will. Obwohl ich aus Erfahrung weiß, dass dies so gut wie nie vorkommt.

Bis zu Ihrer Ankunft in unserem schönen Kloster ›Zu den Schutzengeln‹ grüße ich Sie herzlich.

Schwester Maria Valeria, Oberin.«

Ein freundlicher, aufmunternder Brief, der Lena sofort tief berührt hatte. Bemerkenswert fand sie es, dass die Oberin ihr von Hand geschrieben hatte, in einer feinen, aber sehr energischen Schrift.

Lena erinnerte sich an das allgemeine Aufseufzen daheim, als die endgültige Zusage vom Kloster in Marienbach gekommen war. Aber sie war davon überzeugt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und auch ihre Bitte an die Eltern und Peter, sich möglichst im Hintergrund zu halten und sie hier oben im Karwendel eine Weile nicht zu stören, bereute Lena nicht. Freilich hatten ihre Angehörigen ein bisschen gekränkt dreingeschaut. Papa war sogar wortlos aufgestanden und hatte sich in seinem Büro verschanzt.

Klar, er will doch immer nur mein Bestes, und nun verlange ich, dass er mich in Ruhe lässt, grübelte Lena. Aber es musste sein. Früher oder später würden die Daheimgebliebenen schon verstehen, warum sie jetzt allein sein wollte.

Irgendwo schlug laut eine Tür, ein Geräusch, das die mittägliche Stille unterbrach.

Über den Platz schlurfte ein älterer, hagerer Mann, der trotz der sommerlichen Temperaturen einen breitkrempigen, grauen Filzhut und eine Art Umhang trug.

»Entschuldigen Sie bitte!«, rief Lena und stand von der Bank unter der Linde auf. »Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Ich möchte Sie gern etwas fragen!«

Die seltsame Gestalt verharrte einen Moment reglos. Dann erschien unter der Filzkrempe ein verwittertes, sonnen- und wettergegerbtes Gesicht mit kleinen wachen Äuglein.

»Nur zu«, zischelte der Alte. »Hab Sie schon auf der Bank sitzen sehen, Fräulein. Sie sind net von hier, net einmal aus der Gegend. Ihre Schuhe. So was zieht man nur in der Stadt an.«

Unwillkürlich musste Lena lachen.

»Das sind ganz normale Sommerschuhe mit Riemchen und Absatz. Die trägt man heutzutage überall, bestimmt auch hier. Natürlich nicht, wenn man in die Berge steigt. Da braucht man feste Wanderstiefel.«

»So, so«, sagte der hagere Mann und zog seinen Lodenumhang noch fester um die Schultern, als habe er Angst, sich zu erkälten. »Da wissen Sie ja schon eine ganze Menge. Ach was, ich sag gleich du. Bei uns da heroben im Karwendel macht man keine Umständ. Ich bin der Pertler-Sebi, Mesner von Marienbach. Und wer bist hernach du, Madel?«

»Lena Esslinger aus München.«

»Aha. Da schau her. Ein echtes Münchner Kindl. Und was führt dich her an diesem schönen Tag? Eigentlich kommen die Ausflügler nur zum Wochenend. Aber was red ich. Wirst halt Urlaub haben und deine Nase ein paar Stunden in den Bergwind halten wollen.«

Ein echtes Original, dachte Lena und war zum ersten Mal seit der Tragödie mit Frank wieder vergnügt.

»So ähnlich«, erwiderte sie. »Ich will aber länger bleiben, Herr Pertler, nicht nur ein paar Stunden. Es könnten Wochen werden.«

»Sebi heiß ich, Madel. Noch nie hat mich jemand Herr Pertler genannt. Wo willst du denn wohnen? Im Lindenwirt? Oder im Hirschen? Es gibt auch noch ein paar Privatpensionen im Dorf, alle blitzsauber. Sogar ich hätt in meinem Mesnerhäusl drüben noch ein Kammerl frei, unterm Dach zwar, aber recht gemütlich.« Bei diesen Worten stieß der Sebi ein Gelächter aus, verstummte dann jedoch plötzlich und meinte: »Ein Kreuz, dass ich’s net lassen kann mit meinen Witzen. Dabei werd ich heuer schon siebzig. Der Herr Pfarrer meint auch, dass es sich für einen alten Mann net gehört, Scherze zu machen.«

»Ich finde Sie sehr nett, Sebi«, versicherte Lena. »Ein bisserl Humor kann nicht schaden. Kann ich jetzt meine Frage stellen?«

»Jessas, ich red und red, dabei willst du ja was wissen, Madel. Nur zu.«

»Es ist bloß eine Kleinigkeit. Wie erreiche ich am schnellsten das Kloster?«

»Nix leichter als das. Man fährt durchs Dorf bis zum Brückl, dann rechts, dann links die Straße hinauf durch die Wiesen. Hinterm Brückl sieht man das Kloster schon auf dem Hügel liegen, man kann’s gar net verfehlen. Und ein Hinweisschild gibt’s auch.« Nun war der Alte aber erst recht neugierig geworden. »Wenn du die Klosterkirche besichtigen willst, Madel«, nuschelte er, »dann musst du bis um vier Uhr warten. Da ist dann eine Führung. Oder hast du was anderes vor da droben im Kloster?«

»Ich werd dort Urlaub machen«, verriet Lena dem Alten. »Und bestimmt sehen wir beide uns demnächst wieder. Marienbach ist ja nicht groß. Wir laufen uns gewiss bald über den Weg.«

»Mei, das will ich hoffen! Schau doch einfach mal herein bei mir, drüben im Mesnerhäusl. Ich wohn ganz allein, bin verwitwet. Viel Besuch krieg ich net.« Der Sebi musterte Lena noch einmal von Kopf bis Fuß und setzte dann hinzu: »Ferien droben im Kloster, warum net! Wenn du hinaufkommst, dann grüß die Schwester Alfonsa recht schön von mir, sie ist an der Pforte. Früher hat sie in der Nachbarschaft gewohnt, bevor sie in den Orden eingetreten ist.«

In diesem Moment schlug es vom Turm der Pfarrkirche zwei Uhr, und der Mesner schrak zusammen.

»Ich muss mich sputen! Die Mittagszeit ist um. Gleich ist eine Andacht. Bis dahin soll alles gerichtet sein, die Kerzen und der Blumenschmuck. Behüt dich Gott, Madel!«

Damit eilte der Sebi in seinem grauen Umhang davon, nahm einen Schritt vor der Kirchentür den Filzhut ab und verschwand im Inneren des Gotteshauses.

Während Lena sich umdrehte und zurück zum Parkplatz spazierte, ging mit dem Dorf eine plötzliche Wandlung vor sich. Türen öffneten sich, Leute erschienen, lachten und plauderten. Die Geschäfte wurden aufgeschlossen, und auf der Terrasse beim »Lindenwirt« deckten zwei Kellnerinnen die Tische für den Nachmittag ein.

Sieh an, dachte Lena amüsiert. Marienbach liegt also doch nicht im tiefen Dornröschenschlaf. Die Mittagszeit ist vorbei, und schon wird’s lebendig.

Geschwind stieg sie in ihr Auto und schlug den von Sebi beschriebenen Weg ein.

***

Die doppeltürmige Barockkirche auf dem Hügel grüßte jeden Besucher schon von Weitem. Hinter dem Kloster »Zu den Schutzengeln« bildete die Bergkette eine imposante Kulisse. Das weiße Haupthaus trug ein ziegelrotes Dach und sah aus, als habe man es frisch gescheuert. Ringsum spendeten große, alte Bergahornbäume Schatten.

Hier oben wird es herrlich ruhig sein, dachte Lena und parkte außerhalb der Klostermauern. Sie nahm Koffer und Reisetasche und klingelte an der Pforte. Ein Summton erklang, und sie fand sich in einem kühlen Gewölbe wieder. Drei Engel aus poliertem Holz zierten die Eingangshalle. Lena blieb stehen und bestaunte die meisterhaft gearbeiteten, lebensgroßen Skulpturen.

»Herzlich willkommen«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Ja, unsere drei Erzengel werden immer wieder bewundert. Die sind schon zweihundert Jahre alt, jedenfalls geht das aus der Chronik des Klosters hervor. Ein Künstler aus dem Wettersteingebirge hat sie einst geschnitzt.«

Eine freundlich lächelnde Nonne streckte Lena die Hand entgegen. »Ich bin Schwester Alfonsa, und wenn ich net da drinnen in meinem Pfortenstüberl sitze und außerdem noch Schreibarbeiten mache, betätige ich mich im Garten. Sie sind bestimmt Lena Esslinger, unser Gast aus München, net wahr?«

»Ja, das bin ich. Grüß Gott, Schwester Alfonsa. Und ehe ich’s vergesse: Ich soll Sie vom Sebi unten aus dem Dorf grüßen. Der ist mir zufällig begegnet.«

Ein vergnügtes Lachen war die Antwort.

»Ach, der Sebi. Ein bisserl verschroben ist er, aber er hat ein goldenes Herz, und darauf kommt’s an. Jahr und Tag läuft er in seinem Umhang herum, denn den hat ihm seine Frau zum fünfundsechzigsten Geburtstag geschenkt. Ein halbes Jahr später ist sie gestorben. Seither ist der Umhang für ihn so eine Art Heiligtum. So, Lena, dann wollen wir mal. Ich gehe voraus und zeige Ihnen Ihre Stube.«

Schwester Alfonsa, die Anfang vierzig sein mochte, wirkte vital und gut gelaunt. Sie trug ein kurzärmeliges dunkles Kleid mit Kragen, ein gar nicht streng aussehendes Häubchen mit einem gefältelten Einsatz aus blütenweißem Stoff und eine Kette, die durch den großen Kreuzanhänger sehr eindrucksvoll wirkte. Das Kleid reichte bis zur halben Wade.

»Die meisten Leute denken, wir laufen den ganzen Tag in der Nonnentracht herum«, meinte die Ordensschwester, während sie mit einem Schlüsselbund hantierte. »Ein Irrtum! Jede von uns hat ihre Arbeit. Da würde so ein wallendes Gewand nur stören. Nur sonntags und an den kirchlichen Festen, also zu besonderen Anlässen, kleiden wir uns richtig ein, mit Schleier und so. Sie sollten mal unsere Schwester Irmgardis sehen, wenn sie auf dem Traktor durch die Gegend rattert. Dagegen schaut ja der Sebi in seinem grauen Filzloden noch fesch aus!«

»Hier im Kloster gibt es einen Traktor?«, fragte Lena erstaunt und erntete herzliches Gelächter. Von irgendwelchen »Schweigegelübden« konnte hier nicht die Rede sein. Schwester Alfonsa sah nicht so aus, als sei sie still und in sich gekehrt.

»Wir haben neben unserer Klosterbrauerei auch noch zwanzig Rindviecher und eine recht ansehnliche Landwirtschaft«, meinte sie vergnügt und nickte Lena zu. »Wussten Sie das nicht? Und erst unsere Obstwiesen! Sie werden staunen. Schwester Irmgardis wird Ihnen alles zeigen, was sich außen herum ums Kloster abspielt. Bis auf die Brauerei, die ist Sache von Schwester Paulina, unserer Braumeisterin. Wehe, es will sich jemand Zutritt verschaffen, der nicht an den Sudkessel oder ins Lager gehört.«

»Ins Lager?«, staunte Lena.

»Lager und Vertrieb. Schließlich ist unser Klosterbier begehrt. Wir beliefern ausgesuchte Hotels und Gaststätten, natürlich vor allem drunten im Dorf. Und wenn jemand heraufkommt und sich ein, zwei Tragerl ins Auto laden will, der kriegt einen Sonderpreis.«

Daraufhin verschlug es Lena zunächst einmal die Sprache. Ganz so beschaulich, wie sie sich das gedacht hatte, schien es hier auf dem Klosterhügel nun doch nicht zuzugehen.

Schwester Alfonsa schloss eine Tür auf. Inzwischen befanden sie sich in einem breiten, hell getünchten Gang, die Decke aus gemauerten Rundbögen zeigte leicht verblasste Gemälde. Man erkannte jedoch deutlich, dass es sich um eine Schar Engel handelte.

»Die Schutzengel der Menschen«, erklärte die Ordensschwester. »Die Deckengemälde müssen demnächst dringend restauriert werden. Billig wird das nicht. Sie stammen aus dem siebzehnten Jahrhundert. So, und hier haben wir nun Ihr Kammerl, Lena. Schauen Sie mal aus dem Fenster. Sie blicken mitten hinein in den Innenhof unseres Klosters, und sogar den Kreuzgang können Sie sehen!«

»Wunderschön ist’s hier«, entfuhr es Lena.

»Das stimmt. Und jetzt lasse ich Sie eine Weile allein. Ruhen Sie sich ein bisserl aus, in etwa einer Stunde schicke ich Ihnen Schwester Benedikte. Die ist nicht viel älter als Sie. Wir nennen sie schlicht und einfach Schwester Beni. Unsere ehrwürdige Mutter Oberin ist überraschend ins Dekanat nach Freising gereist und wird erst in den nächsten Tagen zurückkommen. Es gibt Probleme mit den finanziellen Zuschüssen für unser Kloster, vor allem die notwendigen Renovierungen verschlingen viel Geld. Aber unsere Oberin ist sehr diplomatisch und kann gut verhandeln. Sie erreicht immer alles, was sie sich in den Kopf gesetzt hat.«

Damit verschwand Schwester Alfonsa. Nicht nur ihr Pfortenstüberl wartete, auch die Schreibarbeiten duldeten keinen Aufschub.

Das war ja eine richtige kleine Welt für sich hier oben auf dem Schutzengelberg. Lena sah sich in dem kleinen, mit hellen Kiefernholzmöbeln eingerichteten Raum um, der nun ihr Zuhause sein würde. Alles wirkte schlicht, aber dennoch war die Stube wohnlich und gemütlich. Über dem weiß bezogenen Bett hing ein geschnitztes Kreuz, an der Wand gegenüber gab es zwei Aquarelle zu bewundern: das Kloster im Licht der untergehenden Sonne und die bezaubernde Landschaft rings um das Dorf Marienbach. Auf dem kleinen Tisch stand eine Schale mit Obst, ein blühendes Rosenstöckerl in einem Steingutgefäß zierte die Fensterbank. Blassblaue Vorhänge bewegten sich leise im Wind, das Fenster war weit geöffnet.

Auch im Innenhof blühten Rosen, über und über: rosa Heckenröschen, dunkelrote Edelrosen. Süßer Duft wehte in Lenas Stube. Ein steinerner Engel bewachte Hof und Kreuzgang, er hatte die Arme ausgebreitet, und die Flügel waren an den Spitzen ein wenig bemoost. Auch diese Figur stand sicher schon seit mehr als hundert Jahren an dieser Stelle.

Und war es nicht traumhaft, dass auch im Innenhof ein Brunnen sprudelte? Zwei einfache, ebenfalls steinerne Bänke vollendeten den Anblick, der sich Lena von ihrem Stüberl aus bot.

Sie setzte sich in einen der kleinen Sessel am Fenster. Auf dem Nachtkastl lag eine uralte Bibel mit goldgeprägtem Einband. Die Schranktüren waren einladend geöffnet, damit sie ihre Sachen hineinhängen konnte. Es roch ganz zart nach Lavendel.

Dies alles war in seiner Schlichtheit so schön und anrührend, dass Lena plötzlich die Tränen über die Wangen liefen. Ihre Nerven waren noch immer strapaziert, obwohl sie sich ständig bemühte, nicht mehr an Frank und die geplatzte Hochzeit zu denken.

Aber es ließ sich eben doch nicht vermeiden. Da saß sie nun und schluchzte, obwohl sie es doch gar nicht wollte. Einerseits weinte sie vor Erleichterung, weil sie nun hier war in diesem Kloster, das ihr wie eine Zufluchtsstätte erschien. Andererseits war es noch immer die Enttäuschung, die ihr die Tränen in die Augen trieb.

Nach einer Weile beruhigte sie sich zwar, aber immer wieder kamen ihr die Tränen. Sie packte ihre Sachen aus und stellte fest, dass in jedem Fach des Schrankes duftende Lavendelsäckchen lagen, aus weißer Spitze mit schmalen Goldborten. Wie liebevoll alles zurechtgemacht war!

Es klopfte.

»Störe ich?«, fragte eine helle Frauenstimme. »Ich kann auch nachher noch mal hereinschauen.«

Lena öffnete die Tür. Eine junge Frau stand im Klostergang, genauso gekleidet wie Schwester Alfonsa.

»Ich bin Schwester Benedikte«, sagte sie und zeigte ein strahlendes Lächeln. »Wenn Sie mögen, führe ich Sie ein bisschen durchs Kloster. Sicher haben Sie auch Hunger und Durst, im Refektorium steht ein Imbiss bereit. Aber was seh ich denn da? Tränen?«

***

Schwester Beni erwies sich nach all den steinernen, gemalten und hölzernen Engeln, die dem Kloster auf dem Berg seinen Namen gegeben hatten, als quicklebendiger Engel aus Fleisch und Blut.

Lena stellte rasch fest, dass sie in der schlanken Frau mit dem offenen Lächeln eine verständnisvolle Ansprechpartnerin, wenn nicht sogar eine Freundin gefunden hatte. Denn schon nach einem kurzen Gespräch, in dem sie der jungen Nonne den Grund ihres Kummers verraten hatte, brachte es Schwester Beni fertig, die richtigen Worte zu finden und Lena aus ihrem Seelentief herauszuhelfen.

»Man darf seine Traurigkeit nicht unterdrücken«, meinte Benedikte tröstend. »Es muss alles ausgelebt werden. Unsere Oberin sagt immer: Es gibt eine Zeit zum Trauern und eine Zeit zum Freuen. Sie werden schon sehen, Lena, bei uns atmen Sie bald auf. Ein paar Nächte fest schlafen, keine Albträume mehr haben, das ist schon viel wert. Wir essen alle gemeinsam im Refektorium, dreißig Nonnen sind wir hier oben auf dem Berg. Wenn Sie mögen, können Sie sich an unserem Leben beteiligen oder auch nicht, ganz nach Wunsch. Langweilig wird es bei uns jedenfalls nie.«

Lena nickte. Der Rundgang durch das Kloster war vorerst beendet. Sie hatte die Bibliothek gesehen, die Aufenthaltsräume, den wunderschönen alten Kreuzgang und die prächtige Barockkirche. Der Speisesaal, das sogenannte Refektorium, lag neben dem Kreuzgang. Es war ein holzgetäfelter Raum mit langen Tischen und hochlehnigen Stühlen, Bilder mit Motiven aus dem Leben des Heiligen Franz von Assisi schmückten die Wände. Schließlich zählten die Nonnen des Schutzengelklosters zum Orden der Franziskanerinnen.

Schwester Emilia, »Küchenengel« genannt, hatte für den Gast aus München eine Platte mit hausgebackenem Brot, Butter, Bergkäse und frischem Topfen vorbereitet. Wie es sich für eine Köchin gehörte, so war auch Emilia rundlich und eine Spur zu rot im Gesicht.

»Das kommt von der Hitze in der Küche«, verriet sie. »Ich bereite nämlich für morgen eine Sülze zu. Schmeckt herrlich. Man muss nur recht lange am Herd stehen!«

Zuerst hatte Lena Mühe, auch nur einen Bissen herunterzuschlucken. Aber Schwester Emilia wäre bestimmt beleidigt gewesen, wenn sie nichts von der appetitlichen kleinen Mahlzeit zu sich genommen hätte. Und siehe da, plötzlich schmeckte das knusprige Brot so gut, dass Lena sogar noch ein bisschen mehr vertragen hätte. Als Getränk gab es einen erfrischenden Apfelmost, der wie Sekt perlte, aber nur ganz wenig Alkohol enthielt.

»Den Most keltern wir selbst«, erläuterte Schwester Beni, unter deren Nonnenhäubchen weiches, braunes Haar hervorlugte. »Wir machen überhaupt fast alles in eigener Regie. Einige Schwestern arbeiten in der Näherei, da werden Messgewänder angefertigt, und kleine Stoffreste verarbeiten sie zu …«

»Lavendelsäckchen«, ergänzte Lena.

Beni lachte. »Richtig. Oder zu Stoffpuppen, die werden dann an Kinderheime verschenkt. Ich bin so eine Art Sekretärin hier bei uns im Kloster. Mein Reich ist das Büro mit Computer und jeder Menge Ordnern. Allein schaffe ich das oft gar nicht. Schwester Walburga und Schwester Bonifatia unterstützen mich bei Bedarf. Man darf nicht vergessen, dass wir eine richtige Firma sind!«

»So hab ich mir das gar nicht vorgestellt.« Lena schob den Teller beiseite. »Es ist alles so lebendig. Und ich dachte, ein Kloster sei eine Welt der Stille, der Abgeschiedenheit.«