Hitlers Wien - Brigitte Hamann - E-Book

Hitlers Wien E-Book

Brigitte Hamann

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Beschreibung

Adolf Hitler, so hat Brigitte Hamann nachgewiesen, ist ohne Wien nicht denkbar. Es ist die Erfahrung der habsburgischen Metropole, die das Denken des Diktators zutiefst prägte. Oliver Rathkolb und Johannes Sachslehner legen diesen Meilenstein der Hitler-Biografik nun in völlig überarbeiteter Form vor, lassen die aktuellsten Forschungsergebnisse zu Wort kommen, bringen wichtige Ergänzungen anhand neuer Quellen und zeichnen ein Bild von großer Eindringlichkeit. Bewunderung erfüllte den jungen Mann, als er zum ersten Mal in die »Riesenstadt« Wien kam. Doch rasch wich ihr Zauber der Enttäuschung und dem Hass: Adolf Hitler scheiterte bei der Aufnahmeprüfung für die Akademie, es begann ein zielloses Leben am Rande der Gesellschaft. Die Wiener »Leidensjahre« haben jedoch, wie Hitler später verkündete, das »granitene Fundament« seiner Überzeugungen geschaffen.

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Inhalt

»Unter der Schule der härtesten Wirklichkeit« • Vorwort von Oliver Rathkolb

Vorwort zur ersten Ausgabe

1 Aus der Provinz in die Hauptstadt

2 Das Wien der Moderne

3 Die »undeutsche« Haupt- und Residenzstadt

4 Nationalitätenstreit im Reichsrat

5 Die Kluft zwischen Arm und Reich

6 Als Kunstmaler im Männerheim

7 Rassentheoretiker und Welterklärer

8 Der Führer und der Volkstribun: die politischen Leitbilder

9 Repressionen gegen die tschechische Minderheit

10 Der Judenhass in Wien

11 Der junge Hitler und die Frauen

12 Vor dem großen Krieg

Zwei Stunden sprach der »Führer«

Anmerkungen

Archivverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Impressum

Junger Dandy aus der oberösterreichischen Provinz: Porträtskizze des 16-jährigen Adolf Hitler, angefertigt 1905 von seinem Steyrer Mitschüler Armin Sturmberger.

»Unter der Schule der härtesten Wirklichkeit«

Vorwort von Oliver Rathkolb

Johannes Sachslehner ist es zu verdanken, dass die 1996 erschienene Pionierstudie Brigitte Hamanns über die prägende Wiener Phase Adolf Hitlers in erweiterter und korrigierter Form neu aufgelegt werden kann. Die leider bereits 2016 verstorbene Erfolgsautorin zahlreicher meist biografischer historischer Studien zur Geschichte Österreichs hatte erstmals umfassend versucht, Hitlers Jahre in Wien stärker mit der Kultur- und Sozialgeschichte der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt in Beziehung zu setzen. Als Ergebnis konnte sie die Wiener Lebenswelt des jungen Hitlers mit bisher nicht gekannter Genauigkeit zeigen.

Schon in der ersten unveröffentlichten internationalen Biografie Hitlers unter der Autorenschaft des US-Psychoanalytikers Walter C. Langer stellte sich für diesen und seine drei amerikanischen Kollegen das zentrale Problem, Hitlers Jugendjahre in Oberösterreich und in Wien anhand der spärlichen Quellen und Zeitzeugenberichte kritisch bewerten zu müssen. Dazu kam, dass Adolf Hitler selbst in seiner 1924 verfassten ideologischen Programmschrift MEIN KAMPF, die 1944 eine Auflage von elf Millionen Exemplaren erreichte, sein Leben bereits zum Führermythos umgedeutet hatte. Dieser wurde in weiterer Folge in vielen Veröffentlichungen vor 1945 weiter verdichtet: Beispielsweise in der Broschüre HITLER WIE IHN KEINER KENNT (1931) mit den entsprechenden Bilder-Welten seines Leibfotografen Heinrich Hoffmann. In vielen Hitler-Biografien nach 1945 wirkten diese propagandistischen Inszenierungen des »Führers« nach.

Auch der erste kritische Hitler-Biograf, der sozialdemokratische Journalist Konrad Heiden, der vor seiner Flucht 1933 intensiv in der nationalsozialistischen Szene Deutschlands recherchiert und Informanten im Umfeld Hitlers hatte, musste sich mit diesen schwierigen Rahmenbedingungen zur Frühgeschichte des »Führers« auseinandersetzen, als er seine gewichtige zweibändige Hitler-Biografie 1936 und 1937 im Exil in Zürich veröffentlichte. Immerhin war es ihm gelungen, mit Reinhold Hanisch eine Schlüsselfigur für die Wiener Zeit Hitlers ausfindig zu machen. Brigitte Hamann hat dann dieses persönliche Umfeld des späteren Diktators mit großer Sorgfalt erforscht und dargestellt.

In den letzten Jahren tauchten aber doch eine Reihe von neuen Primärquellen auf und nicht zuletzt durch die grandiose Volltextdigitalisierung von zahlreichen Zeitungen durch die Österreichische Nationalbibliothek, die auf der Internet-Plattform Anno frei zugänglich sind, konnten neue biografische Mosaiksteine gefunden werden. Vor allem Roman Sandgruber sowie Hannes Leidinger und Christian Rapp präsentierten in ihren jüngst publizierten Arbeiten neue Bewertungen und versuchten, das private Umfeld Hitlers in Schule und Freizeit in Oberösterreich sowie die Prägungen der Wiener Zeit präziser zu analysieren. Das jeweilige politische und soziale Umfeld Hitlers wurde so schärfer sichtbar, es gelang, den von ihm geschaffenen Mythos deutlich zu erschüttern.

Typisch für die geschickte Selbstdarstellung Hitlers, der sich immer als einfacher Mann aus dem »Volk« präsentierte, ist folgende autobiografische Skizze in einem privaten Schreiben vom 21. November 1921:

»Ich bin am 20. April 1889 in Braunau am Inn als Sohn des dortigen Postoffizials Alois Hitler geboren. Meine gesamte Schulbildung umfaßte fünf Klassen Volksschule und vier Klassen Unterrealschule. Ziel meiner Jugend war, Baumeister zu werden, und ich glaube auch nicht, daß, wenn mich die Politik nicht gefaßt hätte, ich mich einem anderen Beruf jemals zugewandt haben würde. Da ich, wie Sie wahrscheinlich wissen, bereits mit 17 Jahren väterlicher- und mütterlicherseits verwaist war, im übrigen ohne jedes Vermögen dastand, mein gesamter Barbetrag bei meiner Reise nach Wien betrug rund 80 Kronen, war ich gezwungen, sofort als gewöhnlicher Arbeiter mir mein Brot zu verdienen.

Ich ging als noch nicht 18-Jähriger als Hilfsarbeiter auf einen Bau und habe nun im Verlaufe von 2 Jahren so ziemlich alle Arten von Beschäftigungen des gewöhnlichen Taglöhners durchgemacht. Nebenbei studierte ich, soweit meine Mittel es zuließen, Kunstgeschichte, Kulturgeschichte, Baugeschichte und beschäftigte mich nebenbei mit politischen Problemen. Aus einer mehr weltbürgerlich empfindenden Familie stammend, war ich unter der Schule der härtesten Wirklichkeit in kaum einem Jahr Antisemit geworden.

Unter unendlicher Mühe gelang es mir, mich nebenbei als Maler soweit auszubilden, daß ich durch diese Beschäftigung von meinem 20. Lebensjahr ab ein, wenn auch zunächst kärgliches, Auskommen fand. Ich wurde Architektur-Zeichner und Architektur-Maler und war praktisch mit meinem 21. Lebensjahr vollkommen selbständig. 1912 ging ich in dieser Eigenschaft dauernd nach München.«

Typisch für diesen Versuch, bereits 1921 die Basis für seinen späteren Helden-Mythos zu legen, ist Hitlers Tendenz, sich als einfacher Mann aus dem Volk zu gerieren, der in Wien unter großen Entbehrungen gelitten und sich als Genie verkannt gesehen hatte. Die »Schule der härtesten Wirklichkeit« bestand jedoch, so jedenfalls im ersten Wiener Jahr, aus Müßiggang. Auch dass er als Stellungsflüchtling gesucht worden war, verschwieg er. Nachdem er sich in Österreich der Wehrpflicht entzogen hatte, meldete er sich in München als Kriegsfreiwilliger. Im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet, verwundet und kurzzeitig erblindet, hätte er erkannt, dass es seine Berufung war, als Retter des deutschen Volkes zu agieren. Letztlich hatte er aber die meiste Zeit im Hinterland und nicht an der Front verbracht.

Viele Biografen sind in diese Falle getappt und haben seine Selbstdarstellung aufgenommen, nicht aber Brigitte Hamann, die begonnen hat, diesen Mythos aufzulösen. Sie erkannte, dass es die wenigen vorhandenen Quellen zu den frühen Jahren Hitlers in Oberösterreich und Linz sowie in Wien bis 1913 besonders kritisch zu bewerten gilt – spiegeln sich doch in ihnen auch die persönlichen Interessenslagen der einzelnen Urheber.

Zu einem Sonderfall wurden allerdings die 1953 unter dem Titel ADOLF HITLER MEIN JUGENDFREUND erschienenen »Erinnerungen« von August Kubizek zu, der mit Hitler von Ende 1905 bis Mitte 1908 befreundet war. So wie praktisch alle anderen Biografen hat auch Brigitte Hamann zahlreiche Kubizek-Zitate weitgehend unkritisch übernommen, ein genauer Blick auf die Genese von Kubizeks Buch zeigt jedoch, dass auch hier unbedingt Vorsicht geboten ist. Die Bearbeiter der Erstfassung, Karl Springenschmid und Dr. Franz Mayrhofer, waren ehemalige NS-Funktionäre, wobei der Salzburger Volksschullehrer und erfahrene Buchautor Springenschmid bereits 1936 den Text zur ersten Hitler-Biografie für Kinder verfasst hatte. Illustriert wurde dieses Kinderbuch von Poldi Wojtek, der Schöpferin des Logos der Salzburger Festspiele.1 Die beiden linientreuen ehemaligen Nationalsozialisten holten aus den 60 Druckseiten füllenden, 1943 verfassten Erinnerungen Kubizeks, 352 Seiten heraus. Brigitte Hamanns Darstellung blieb dennoch der Perspektive Kubizeks verpflichtet, daher auch der Effekt einer gewissen »Verklärung« Hitlers.

Franz Jetzinger, ein ehemaliger Priester, der aber dann in Oberösterreich für die Sozialdemokratie kandidierte und 1932 sogar Landrat wurde, veröffentlichte sein Buch HITLERS JUGEND 1956. Gestützt auf eine umfangreiche Quellenforschung, konnte Jetzinger, der bis 1945 Hitlers Militärakt auf einem Dachboden versteckt gehalten hatte, wichtige Vorgänge wie die Stellungsflucht Hitlers aus dem habsburgischen Österreich exakt dokumentieren. Zum Unterschied von Kubizek kannte Jetzinger Hitler nicht persönlich, sprach aber mit vielen Zeitzeugen und verfügte über wichtiges Quellenmaterial, das bis heute verschwunden ist. Da er sich in seinem Buch durchgehend äußerst polemisch, ja, hasserfüllt über Kubizeks Werk, das drei Jahre zuvor erschienen war, äußerte, lehnte ihn Brigitte Hamann entschieden ab – auch hier galt für die Neuausgabe, eine neue Gewichtung zu finden. Das gilt auch für die Berichte des aus dem böhmischen Gablonz stammenden Kleinkriminellen Reinhold Hanisch, der in der Männerheimzeit Hitlers Aquarelle verkaufte und von diesem wegen Betrugs einige Tage ins Gefängnis gebracht wurde. Hanisch starb 1937 unter mysteriösen Umständen in Haft, seine Geschichte sorgte aber in den USA für eine Sensation, als sie im April 1939 im NEW REPUBLIC als Serie unter dem Titel »I Was Hitler’s Buddy« veröffentlicht wurde und sich Hanisch darin als engster Freund Hitlers in Wien verkaufte.2

Weiters galt es, wichtige Quellen zu ergänzen wie die Aussage des Kunsthändlers Otto Schatzker, der von Hamann nicht erwähnt wird und »Geschäftspartner« Hitlers war. Insgesamt konnte so das Bild von Hitlers Wiener Jahren weiter differenziert werden – es war keineswegs so, dass er nur im Männerheim saß und malte. Die geschäftlichen und sozialen Kontakte waren insgesamt vielfältiger, als bislang vermutet, und beschränkten sich nicht nur auf die Rahmenhändler Samuel Morgenstern und Jakob Altenberg. Das von Brigitte Hamann nachdrücklich herausgestellte Argument, Hitler wäre in Wien noch kein Antisemit gewesen, weil er Geschäfte mit jüdischen Kaufleuten gemacht hätte, wurde fallen gelassen.

Die wichtige Frage zur Genese von Hitlers radikal antisemitischer Prägung wird mit ausführlichen Hinweisen auf den »Bund der Antisemiten« um Josef Gregorig und Karl Nagorzanski, der Hamann noch nicht bekannt war, sowie auf die Aussage von Elisabeth Grünbauer, der Tochter seines Quartiergebers in München, neu gestellt. In diesem Zusammenhang erfolgt auch eine Neugewichtung von Hitlers »Erkenntnis«, dass die Führer der Sozialdemokratie Juden wären. Damit ist auch die Frage verbunden, ob Hitler jemals »am Bau« gearbeitet hat – das kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Hamanns gern verwendeter Begriff der »Legenden« wird etwas vorsichtiger verwendet.

In dieser Neubearbeitung finden sich zahlreiche ergänzende Hinweise auf in der Forschung diskutierte Erklärungsmodelle der Triebkräfte, die Adolf Hitler geprägt haben – etwa zum »Geniewahn«, der in der Hitler-Biografik bisher viel zu wenig berücksichtigt und zuletzt von der Kunsthistorikerin Birgit Schwarz sowie von Wolfram Pyta, dem Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg, zu Recht vertieft wurde. Aber auch die sehr wichtigen Fragen zur Sexualität (Homosexualität) des »Führers« werden neu thematisiert, ohne zu versuchen, eine psychoanalytische Ferndiagnose vorzunehmen. Dieser Bereich, der vor allem in den frühen Biografien und daran anschließend in den psychologischen Studien über Hitler breiten Raum einnimmt, wurde offensichtlich sehr früh von Gegner Hitlers in der NSDAP – vermutlich aus der Gruppe um Gregor und Otto Strasser kommend – mit Gerüchten und Fake News angeheizt. Es wird gezeigt, dass zum komplexen Bereich von Hitlers Sexualität eine kritische Zusammenschau aller Belege unerlässlich ist.

Überdies wurden wichtige neue Forschungsergebnisse und Quellenfunde eingearbeitet – etwa die neu entdeckten Briefe von Hitlers Vater im Zusammenhang mit dem Kauf des Bauernhofs in Hafeld.3 Sie dokumentieren, dass letztlich Hitler durchaus aus einer Familie stammt, die sich einen gewissen soliden bürgerlichen Status erarbeitet hatte und über entsprechende Geldmittel verfügte. Hitlers Selbstdarstellung vom mittellosen und verkannten Künstler wird so noch einmal deutlich relativiert. Es zeigte sich, dass er im Umgang mit Geld keine Erfahrung hatte und zunächst als Müßiggänger in den Tag hineinlebte.

Zu diesen Dekonstruktionen gehört auch die nunmehr endgültig als Erfindung enttarnte Geschichte seines Jugendfreundes Kubizek, dass Hitler gemeinsam mit ihm an einer Oper WIELAND DER SCHMIED gearbeitet hätte. Tatsächlich wollte Kubizek, wie sein Enkel Leonhard Kubizek zeigen konnte, den Parteigenossen rund um Albert Bormann damit eine gute Story bieten. Hitler hatte in Linz nur ein paar Klavierstunden genommen, war aber ein begeisterter Stehplatzbesucher von Opernaufführungen im Linzer Landestheater und in der Wiener Hofoper. Noch viel später konnte er Besetzungen und Inszenierungen memorieren und so Mitte der 1920er Jahre sogar Carl von Schirach, den ehemaligen Intendanten des Hoftheaters von Weimar, beeindrucken. Mit einem Wort: Hitler war auch in diesem Feld ein geschickt agierender Blender, dem aber eine solide Ausbildung und Wissensbasis fehlten.

In der formalen Biografie des jungen Hitler konnte Sachslehner eine Reihe von Fehlern und Unschärfen aus früheren Veröffentlichungen richtigstellen. In dem Zusammenhang wertvoll ist eine aktualisierte Zusammenschau von Hitlers Wiener Wohnadressen, vor allem zur Frage seiner möglichen Aufenthalte in der Simon-Denk-Gasse 11 im neunten Bezirk und im Meidlinger Obdachlosenasyl, die letztlich auch ein Spiegelbild seiner wechselnden Einkommenssituation darstellen.

Der von Brigitte Hamann groß herausgestellte Einfluss der völkischen Esoteriker Guido von List und Lanz von Liebenfels auf die spätere Politik Hitlers wurde etwas relativiert, gleichzeitig aber Hitlers grundsätzliches Interesse für okkulte Themen betont. Erstmals wird dabei auch die Rolle von August Kubizek neu gedeutet, der offenbar noch stärker als Hitler dem Okkultismus verfallen war und seinen Freund in diese damals in Wien sehr präsente Welt hineinzog.

Deutlich manifestiert sich auch in der Neubearbeitung Hitlers entschiedene Ablehnung der Habsburgermonarchie und sein bereits in Linz stark ausgeprägter Hass gegen die Tschechen und das Slawentum insgesamt. Den Einfluss der alldeutschen Politiker und Ideologen auf Hitler hat bereits Brigitte Hamann mit großer Eindringlichkeit dargestellt.

Die meiner Meinung nach offene Frage bleibt, wie Hitlers Antisemitismus in der Linzer und vor allem Wiener Zeit zu bewerten ist. Sicher ist, dass antisemitische Sprache und Bilder bereits in seinem deutschnationalen Umfeld in Oberösterreich eine markante Rolle spielten. Die von Hamann und auch in Ergänzung von Sachslehner präsentierten Kontakte zum Milieu der Kunsthändler jüdischer Herkunft oder dem jüdischen Arzt Eduard Bloch sprechen jedenfalls nicht gegen eine antisemitische Grundhaltung in dieser Zeit. Aber war dies noch ein Antisemitismus nach der Prägung des christlichsozialen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, den er politisch nicht schätzte, aber bezüglich seines Antisemitismus in MEIN KAMPF hervorhob? Gleichzeitig lobte Hitler Luegers Rolle als »Volkstribun« der Massen, auch wenn diese später von persönlichem Opportunismus geprägt ist – bezeichnend dafür Luegers angeblicher Spruch »Wer ein Jud’ ist, bestimme ich«. Zweifellos haben der Erste Weltkrieg und vor allem die frühe Nachkriegszeit zu einer Radikalisierung Hitlers als kompromissloser Antisemit und Rassist beigetragen. Der Grundstein für Hitlers menschenfeindliche Einstellungen, die zur zentralen ideologischen Leitlinie des NS-Regimes wurden und zur Ermordung von rund 6 Millionen Menschen in der Shoa führten und eine gewaltige Fluchtbewegung auslösten, wurde aber in Wien und durchaus schon in Oberösterreich gelegt.

Eine wichtige Ergänzung bildet die Darstellung von Hitlers erster Rückkehr nach Wien im Oktober 1920. Als noch unbekannter Wahlkämpfer der NSDAP hatte er Auftritte im berühmten Veranstaltungsetablissement Gschwandner in der Hernalser Hauptstraße und im Praterwirtshaus »Zum Marokkaner«, die Begegnungen mit Schwester Paula bzw. Angela Raubal und deren Tochter Geli führten zu einer gewissen Aussöhnung mit der Familie. Die Eindrücke dieses Aufenthalts fanden Eingang in das in MEIN KAMPF gezeichnete Wien-Bild.

Die Neubearbeitung hat meiner Meinung nach das gesetzte Ziel wirklich erreicht: ein Buch, das verlässlich den neuesten Forschungsstand abbildet und die zentralen Fragen ausgewogen und differenziert anspricht. Die klare Gesamtbotschaft – »Die Wiener Jahre waren für Hitler von elementarer Bedeutung« – werden so überzeugend und mit spannenden neuen Details präsentiert. Dabei soll den Leserinnen und Lesern durchaus bewusst werden, dass noch immer zahlreiche Fragen und Rätsel bleiben.

Johannes Sachslehner hat mit großer Akribie rund fünfzehn Prozent des vorliegenden Textes neu verfasst, und versucht mit einem kritischen heuristischen Zugang die fragmentarischen und teilweise völlig erfundenen biografischen und autobiografischen Publikationen und Quellen neu zu gewichten und zu interpretieren. In wichtigen Bereichen hat er auch Brigitte Hamann korrigiert, ohne ihre Leistung zu schmälern.

Wenn Brendan Simms in seiner »globalen Biographie« behauptet, dass »Hitlers Weg« in München begann,4 so ist das schlichtweg falsch und zeugt von Unverständnis für die komplexe Lebenswirklichkeit Hitlers in den Wiener Jahren und deren Bedeutung für die politische Laufbahn des späteren »Führers«. Der erste Teil von MEIN KAMPF ist nicht zufällig eine intensive Auseinandersetzung mit den in Wien gemachten Erfahrungen – so propagandistisch verlogen und verzerrt diese auch sein mag. Es war das große Verdienst von Brigitte Hamann, die Vielfalt dieser Wiener Welt im Zusammenspiel mit Hitlers Persönlichkeit und seinen politischen Überzeugungen erstmals umfassend darzustellen – eine Leistung, die bis heute Bestand hat.

Blick über den Stephansplatz Richtung Rotenturmstraße. Ansichtskarte, um 1905.

Vorwort zur ersten Ausgabe

Dieses Buch ist der Versuch einer Kultur- und Sozialgeschichte Wiens für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, gesehen aus dem Blickwinkel eines alleinstehenden jungen Gelegenheitsarbeiters aus der Provinz: Adolf Hitler. Es ist gleichzeitig eine Biografie dieses jungen Mannes bis zu dem Zeitpunkt, als er 24-jährig nach München zog.

Ich habe diese beiden Themen hier deshalb miteinander verbunden, um anschaulich zu machen, wie stark Hitler durch Wien geprägt wurde. Vor allem seine »Weltanschauung«, die er später zur Grundlage und zum Kernpunkt seiner Politik machte, stammt aus der von ihm gehassten Hauptstadt des Habsburgerreichs.

Hitlers Wien ist nicht das künstlerisch-intellektuelle »Fin-de-Siècle-Vienna«, also jenes längst zum Klischee erstarrte Wien, das durch Sigmund Freud, Gustav Mahler, Arthur Schnitzler oder Ludwig Wittgenstein repräsentiert wird – welch letzterer immerhin Hitlers Schulkamerad in Linz war. Hitlers Wien stellt eher ein Gegenbild zu dieser glanzvollen Kunstmetropole dar. Es ist das Wien der »kleinen« Leute, die der Wiener Moderne voll Unverständnis gegenüberstanden, sie als »entartet«, zu wenig volksverbunden, zu international, zu »jüdisch«, zu freigeistig ablehnten. Es ist das Wien der Einwanderer, der Zukurzgekommenen, der Männerheimbewohner, oft Menschen voller Ängste, die für alle möglichen obskuren Theorien anfällig waren, vor allem für jene, die ihnen das Gefühl vermittelten, trotz allen Elends in Wahrheit doch eine »Elite«, »etwas Besseres« zu sein. Dieses »Bessere« bestand für sie darin, im »Rassenbabylon« des Vielvölkerstaates dem »deutschen Edelvolk« anzugehören und eben nicht Slawe oder Jude zu sein.

Um diesem speziellen Bild von Wien nahezukommen, habe ich jene Stichworte aufgegriffen, die Hitler sowohl in MEIN KAMPF als auch in seinen Monologen und Erzählungen über Wien gegeben hat. So wurde etwa die Tatsache, dass er in seinem ersten Wiener Jahr häufig als Zuschauer ins Parlament ging, zum Anlass genommen, dieses in der Welt einzigartige Vielvölkerparlament ausführlich zu schildern. Die von Hitler erwähnten Wiener Persönlichkeiten wurden nach Möglichkeit identifiziert und charakterisiert, wobei ich besonderes Gewicht auf die Darstellung der vielfältigen Beziehungen des jungen Hitler zu Juden legte.

Angesichts des geradezu zeitungssüchtigen Hitler habe ich zur Illustrierung der Wiener Ereignisse vor allem aus jenen Zeitungen zitiert, die ihn beeinflussten, also eben nicht aus den berühmten intellektuellen Blättern, sondern den Blättern der Schönerianer, der Deutschradikalen und Christlichsozialen, wobei ich die Bezirksblätter in Hitlers Wohnbezirken besonders berücksichtigt habe – dies auch deshalb, um einen Eindruck von der ganz speziellen Ausdrucksweise dieser in der Hitler-Forschung bisher kaum bekannten Quellen zu geben.

Das Hauptproblem einer Biografie des jungen Hitler besteht in der desolaten Quellenlage. Dieser Mangel an Quellen geht darauf zurück, dass Hitler alle Spuren seiner Linzer und Wiener Zeit nach Kräften verwischte. Rigoros ließ er die schriftlichen Zeugnisse aus dieser Zeit beschlagnahmen, verbot Veröffentlichungen über seine Jugend und seine Familie. Die einzige Quelle zu seiner Biografie sollte MEIN KAMPF sein, also seine im Nachhinein konstruierte Lebensgeschichte. Viele weitverbreitete Hitler-Anekdoten erweisen sich als Legenden. Die wenigen erhaltenen Augenzeugenberichte sind durchwegs problematisch. Erst auf der Basis einer kritischen Abklärung der Quellen ist es überhaupt möglich, sich an eine Hitler-Biografie zu wagen. Deshalb bildet die ausführliche Quellenkritik einen Schwerpunkt dieses Buches.

In voller Absicht habe ich eine deskriptive Methode gewählt, um zunächst eine solide Faktengrundlage für nötige weiterführende Arbeiten zu schaffen. Die zahlreichen Quellenzitate sollen auch den »Zeitgeist« Wiens vor dem Ersten Weltkrieg anschaulich machen.

Freilich: Das Unternehmen, sich auf den jungen Hitler zu konzentrieren und ihn aus dem historischen Umfeld heraus zu sehen, birgt ein Problem. Denn der spätere Hitler, also der Diktator, der Politiker wie der Verbrecher, ist in diesen Jugendjahren nicht zu erkennen. Nichts, weder eine besondere Begabung noch ein Hang zum Verbrecherischen, hebt den jungen Hitler aus der Masse der Wiener Männerheimbewohner hervor. Im Gegenteil: Er gehört selbst in diesem Kreis zu den Untüchtigen. Er lässt sich treiben und bringt kaum die Energie und Arbeitskraft auf, sich mit seiner Malerei auch nur notdürftig über Wasser zu halten, geschweige denn, sich für sein Lebensziel zu qualifizieren, einmal Baumeister zu werden.

Dass die sechs Wiener Jahre trotzdem Lehrjahre für den Politiker Hitler waren, zeigt sich erst im Nachhinein. Denn als er ab 1919 in Deutschland in die Öffentlichkeit ging, tat er dies vor allem mit jenen Parolen, die er in Wien lernte, und mit jenen Methoden, die er von seinen Wiener politischen Leitbildern übernahm.

Bei meiner langen Arbeit habe ich manche Hilfe erfahren, für die ich herzlichen Dank sagen will, vor allem den Mitarbeitern der konsultierten Archive und Sammlungen. Hervorheben möchte ich Herrn Hermann Weiß vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, der mir viele nützliche Ratschläge gab und einen Weg durch die Wirrnisse der Kujau-Fälschungen wies. Herr Amtsrat Herbert Koch vom Wiener Stadt- und Landesarchiv hatte besonders viel Mühe mit der Suche der für diese Arbeit so wertvollen Daten aus dem Wiener Meldearchiv.

Dann möchte ich zwei Augenzeuginnen danken: Frau Prof. Dr. Marie Jahoda in Sussex für ihre Erzählungen über das Haus ihres Onkels Rudolf Jahoda, das der junge Hitler besuchte. Und Frau Marianne Koppler, der Tochter des Hitler-Freundes Rudolf Häusler, die es mir ermöglichte, diesen in der Literatur so gut wie Unbekannten hier einzubringen.

Nicht zuletzt bin ich jenen Freunden dankbar, die sich der Mühe unterzogen, das werdende Manuskript kritisch zu lesen. Für besonders konstruktive Vorschläge in verschiedenen Phasen der Arbeit danke ich Herrn Prof. Dr. Hans Mommsen, Herrn Prof. Dr. Günter Kahle, Frau Dr. Gertrud Lütgemeier und meiner Tochter Sibylle. Mit dem sich heftig ändernden Manuskript hatte der Setzer, Herr Uwe Steffen, viel Mühe, der er sich aber mit großer Geduld bei gleichbleibender Präzision unterzog.

Um politischen Missverständnissen in Österreich vorzubeugen, betone ich hier das eigentlich Überflüssige: Der Leser möge sich bitte bewusst sein, dass es sich in diesem Buch nicht um das heutige – vorwiegend deutschsprachige – Österreich handelt, sondern um ein Vielvölkerreich mit nichtdeutscher Mehrheit. Die Volkszugehörigkeit wurde in diesem Staat laut Gesetz durch die Umgangssprache definiert. Wenn von Tschechen, Slowenen, Italienern, Deutschen und all den anderen Nationalitäten die Rede ist, handelt es sich um verschiedensprachige Bürger der k. u. k. Monarchie. Der Begriff »deutsch« hat also nichts mit einem politischen Bekenntnis etwa zum Deutschen Reich zu tun. Denn die k. u. k. Deutschen waren in ihrer überwiegenden Mehrheit loyale Bürger der Vielvölkermonarchie, freilich mit Ausnahme der winzigen Partei der Schönerianer (Alldeutschen), der Hitlers Sympathien galten.

Wien, im Sommer 1996Brigitte Hamann

Mein Kampf etablierte sich als »Parteibibel« (Volker Ullrich): Luxusausgabe mit Goldschnitt sakral überhöht am Lesepult Hermann Görings in Carinhall. Die Behauptung vom »ungelesenen Bestseller« trifft, wie Othmar Plöckinger zeigen konnte, nicht zu – Hitlers autobiografische Programmschrift wurde viel gelesen.

Die »wahre Geschichte« Hitlers (Stuttgart 1936), erzählt vom Salzburger Lehrer Karl Springenschmid, illustriert von Poldi Wojtek, schrieb weiter am Mythos.

Es war einmal ein Junge …

»Eine wahre Geschichte« – so nannten die Illustratorin Poldi Wojtek und Textautor Karl Springenschmid vorsorglich ihr Kinderbuch, das 1936, drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung, in Stuttgart erschien und rasch zum Bestseller wurde. Ja, es sollte, was Hitlers Kinder- und Jugendjahre betraf, nur mehr eine Wahrheit geben. Die »Wahrheit«, die Hitler in MEIN KAMPF verkündet hatte, die jedoch tatsächlich eine Lüge war.

Mit dem »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich bot sich die Möglichkeit, alles zu eliminieren, was diese fragwürdige Darstellung zu gefährden drohte. Da waren unliebsame Fakten, deren quellenmäßige Überprüfbarkeit unmöglich gemacht werden sollte. Und da waren die Menschen, die den jungen Hitler gekannt hatten und manches wussten, was nicht ins Bild des »Führers« passte.

Die Gestapo bekam den Auftrag, die Spuren zu verwischen, und ging mit großer Gründlichkeit vor: So kassierte man in der Linzer Realschule, heute das Bundesrealgymnasium Fadingerstraße, die Hitler betreffenden Schulakten ein, nur einige Konferenzprotokolle übersah man. Ein zweiter wunder Punkt, den es zu verbergen galt, waren die Akten zum »Stellungsflüchtling« Hitler: Pflichtbewusst machten sich die Gestapobeamten auf die Suche nach dem »Militärakt«, der seltsamerweise wie vom Erdboden verschwunden war.

Im Fokus der Nachforschungen standen bald auch die Wiener Jahre, denen zweifellos eine Schlüsselstellung zukam: In MEIN KAMPF hatte Hitler verkündet, dass Wien die »schwerste, wenn auch gründlichste Schule« seines Lebens gewesen sei, hier hätten sich ihm »ein Weltbild und eine Weltanschauung« geformt, die »zum granitenen Fundament« seines Handelns geworden seien. Diese Erzählung durfte auf keinen Fall erschüttert werden, Hitler wollte Herr über seine Vergangenheit bleiben …

Angeblich ein »Hitler-Bild«, tatsächlich wohl eine Fälschung: Platz Am Hof, Aquarell, signiert mit »A. Hitler«, datiert 1908.

Auch die Echtheit dieses »Hitler-Bildes« ist umstritten: Naschmarkt mit dem Freihaus, signiert »A. Hitler«.

Schon kurz nach Hitlers Machtergreifung kam es in Wien im Juli 1933 zu einem ersten Prozess um Fälschungen von Aquarellen des »Führers«, die von Reinhold Hanisch in Umlauf gebracht worden waren. Nachdem die NS-Propaganda durch Heinrich Hoffmann 1935 noch eine Mappe mit sieben Farbfotos von Aquarellen herausgebracht hatte, untersagte Hitler 1938 jede weitere Veröffentlichung seiner Bilder. Reichsamtsleiter Ernst Schulte Strathaus aus dem Stab des Stellvertreters des Führers wurde beauftragt, Hitlers Kunstwerke zu sammeln und sicherzustellen. In Zusammenarbeit mit dem Hauptarchiv der NSDAP in München sowie der Wiener Dienststelle des Hauptarchivs unter Leitung von Walter Lohmann recherchierte und erwarb Schulte Strathaus Hitler-Aquarelle aus Privatbesitz und dem Kunsthandel. Die gesammelten Aquarelle wurden Hitler zur Prüfung vorgelegt, allerdings ist unbekannt, ob er diese auch tatsächlich vornahm. Der texanische Unternehmer und Sammler von Bildern Adolf Hitlers, Billy. F. Price, veröffentlichte 1982 einen Werkkatalog zu Adolf Hitlers künstlerischem Schaffen. Von den 723 abgebildeten angeblichen Hitler-Originalen ist beim Großteil die Echtheit stark in Zweifel zu ziehen. (Freundliche Mitteilung von Provenienzforscher Gregor Derntl)

Der Auftakt zur Richard-Wagner-Faszination: »Mit einem Schlag war ich gefesselt«, schrieb Hitler in MEIN KAMPF über »Lohengrin«. Szenenbild von Alfred Roller, 1. Akt, 1. Szene, 1906, Theatermuseum, Wien.

Für seine Grußkarte an August Kubizek vom Juli 1908 wählte Hitler eine Ansicht des Grabens.

Inspirierte den »Führer« auch in späteren Jahren: Gralsmystik im »Parsifal«. Bühnenbildentwurf von Alfred Roller zur letzten Szene, 1934, Theatermuseum, Wien.

»Ganz Wien wartet schon. Also komme bald.« Ansichtskarte Hitlers an Kubizek vom 18. Februar 1908 mit der Waffensammlung des Kunsthistorischen Museums als Motiv.

Hitler nimmt die Prüfung an der Kunstakademie nicht auf die leichte Schulter: Plakat der Kunstschule Rudolf Panholzer in der Gurkgasse 11. Entwurf von Josef Danilowatz, um 1910, Albertina Wien.

Die Meldezettel legen eine sichere Spur durch Hitlers Wiener Jahre.

Waschgelegenheit in den Stockwerken des Männerheims.

Hitler lässt zwar kein gutes Haar am Habsburgerstaat, nützt aber seine Wohlfahrtseinrichtungen nur allzu gerne: das Männerheim in der Meldemannstraße 27. Zeichnung nach einer Fotografie von Erwin Pendl, Ansichtskarte 1906.

Die winzigen Schlafabteile.

Der Hauptkorridor zu den Schlafsälen.

1 Aus der Provinz in die Hauptstadt

In seinen Gedanken weilte er oft gar nicht mehr in Linz, sondern lebte bereits mitten in Wien.

August Kubizek, Adolf Hitler, mein Jugendfreund

Der Traum von Linz

Eines der letzten Fotos zeigt Hitler kurz vor dem Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei: Während draußen die Rote Armee in das zertrümmerte Berlin vorrückt, sitzt er sinnend vor dem pompösen Baumodell der oberösterreichischen Provinzhauptstadt Linz, dessen geplante Kolossalbauten er sich mit Scheinwerfern raffiniert ausleuchten lässt: Linz im Morgenlicht, bei Mittag, im Abendschein und bei Nacht. »Gleich zu welcher Zeit, ob Tag oder Nacht, sobald sich in diesen Wochen die Möglichkeit bot, saß er vor dem Modell«, berichtet der Architekt Hermann Giesler. Er habe darauf gestarrt wie auf »ein verheißenes Land, in das wir Eingang finden« würden.5

Besucher, denen oft zu ungewöhnlichsten Nachtzeiten das Modell vorgeführt wird, sind verwirrt und entsetzt über den Realitätsverlust des Mannes, der Europa in Schutt und Asche gelegt hat und kaum zur Kenntnis nimmt, wie viele Menschen in diesen letzten Wochen noch in seinem Namen und nach seinem Willen sterben. Denn weiterhin weigert er sich, dem Grauen durch die Kapitulation ein Ende zu machen. Was Linz betrifft, so bleibt Hitler sich selbst treu – die Linzfantasien begleiten in seit seiner Jugend, jetzt, knapp vor dem unausweichlichen Ende, schließt sich der Kreis zu den Wunschträumen von damals. Dazu hat August Kubizek in der Erstfassung seiner »Erinnerungen« von einer bezeichnenden Episode berichtet: Hitler hat – wohl im Sommer 1906 – um zehn Kronen ein Los der Staatslotterie erworben und träumt nun vom Haupttreffer und wälzt sehr konkrete Pläne darüber, was er mit dem gewonnenen Geld alles anstellen könne: »Im zweiten Stock des großen Hauses in Urfahr unmittelbar bei der Brücke wollte mein Freund den ganzen Stock mieten für uns beide. Die Wohnung, die überaus geräumig und weitläufig war, bot einen schönen Ausblick einerseits auf den Pöstlingberg, anderseits auf die Stadt Linz. Den größeren Flügel würde mein Freund bewohnen, während der kleinere für mich reserviert bleibt. Die beiden Arbeitszimmer sind räumlich am weitesten getrennt, damit ich meinen Freund mit der Musik nicht störe. Die Einrichtung unserer Wohnung besorgt zur Gänze mein Freund, der auch die Pläne dafür entwirft, sogar die Wandmuster für die Malerei ausführen wird. Die Möbel werden nach den von ihm entworfenen Plänen bei einem tüchtigen Handwerksmeister in Arbeit gegeben, jedenfalls kommt Schablonenabeit für unsere Wohnung nicht in Betracht.

Er beabsichtigte, einen Kreis von Kunstbeflissenen um sich zu bringen, die wir dann in unserer Wohnung empfangen würden. Daheim wollten wir musizieren, studieren, lesen und vor allem lernen; das Gebiet der deutschen Kunst ist so groß, daß man mit dem Studium dieser Werke nie zu Ende kommen kann. Das schulmäßige Studium betreiben wir in Wien, woselbst wir auch Theater und Konzerte erleben, während unser dauernder Aufenthalt Linz ist und bleibt.«6 Ein Leben, das der Kunst gewidmet ist mit Linz als Zuhause – dieser große Traum des 17-Jährigen wird bleiben, im Führerbunker 1945 kehrt er noch einmal mit aller Macht zurück. Den Haupttreffer, von dem er so fest überzeugt ist, macht Hitler nicht, auf die Enttäuschung reagiert er mit einem gewaltigen Tobsuchtsanfall, von dem Kubizek später zu Jetzinger meinte: »Diesen Tobsuchtsanfall hätten Sie erleben sollen!«7 Nicht übersehen werden darf, dass auch Wien in diesen Wunschfantasien des Jugendlichen bereits einen fixen Platz zugeordnet bekommen hat: als Ort des »schulmäßigen Studiums« und der Theater- und Konzerterlebnisse. Wien ist durchaus ein Sehnsuchtsort des 17-Jährigen und seines Freundes.

Doch gegen Ende seiner Herrschaft träumt Hitler immer intensiver von Linz, seiner Heimatstadt, die er zur »Patenstadt des Führers« ernannt und zur Kulturhauptstadt des Großdeutschen Reiches hat machen wollen, zur »schönsten Stadt an der Donau«, zur »Weltstadt«, zur Stein gewordenen Verherrlichung seiner Person und seiner Politik: Linz verdankt alles, was es hat und was es noch bekommt, dem Reich. Deshalb muß diese Stadt Trägerin des Reichsgedankens werden. Auf jedem Bau in Linz müßte stehen »Geschenk des Deutschen Reiches«.8

Auf der linken Donauseite in Urfahr, gegenüber der Altstadt, soll ein Partei- und Verwaltungszentrum entstehen mit einem Aufmarschplatz für 100.000 und einer Festanlage für 30.000 Menschen, ein Ausstellungsgelände mit einem Bismarck-Denkmal, eine Technische Hochschule. Die geplante »Gauanlage« – mit einem neuen Rathaus, dem Haus des Reichsstatthalters, der Gau- und Parteileitung, dem Haus der Linzer Bürgerschaft – soll um eine nationale Weihestätte gruppiert sein: das Grabmal von Hitlers Eltern mit weit sichtbarem Turm, dessen Glockenspiel, freilich nicht für alltäglich, ein Motiv aus der »Romantischen Symphonie« von Anton Bruckner spielen soll.9 Dieser Turm soll höher sein als der des Wiener Stephansdoms. Damit mache er ein altes Unrecht wieder gut, so Hitler, denn zum Ärger der Linzer hätte Wien einst beim Bau des neugotischen Linzer Doms die Turmhöhe reduziert, damit der Stephansturm der höchste Turm des Landes blieb.10 Und ein Denkmal »zur Gründung des Großdeutschen Reiches« soll entstehen, verbunden mit einem großen Stadion. Hitler zum Gauleiter von »Oberdonau«, August Eigruber: Die Steine hierfür liefert das K.Z. Mauthausen.11

»Hierbei hat der Führer festgestellt, dass die Straße in Linz unbedingt breiter als die Ringstraße in Wien sein muss.«12 Ein Hotel für mehr als 2.000 Gäste mit direkter U-Bahn zum Bahnhof soll gebaut werden, modernste Krankenhäuser und Schulen, darunter eine »Adolf-Hitler-Schule«, eine Gaumusikschule und eine Reichsmotorflugschule des NS-Fliegerkorps. Musterwohnsiedlungen für Arbeiter wie für Künstler sind geplant – und zwei Heime für SS- und SA-Invaliden. Natürlich neue Straßen, eine Zufahrt zur Autobahn. Um sein Linz reich zu machen, fördert Hitler die Industrialisierung, bringt Stahl- und Chemiewerke nach Linz. Diese Umstrukturierung der bäuerlichen Stadt in eine Industriestadt ist fast das Einzige, was verwirklicht wird. Die »Hermann-Göring-Werke« existieren als VOEST-Werke noch heute.13

Weltstadtausmaße soll das geplante Kulturzentrum haben, laut Tagebuch von Joseph Goebbels »schon als Gegenpol gegen Wien, das allmählich etwas ausgeschaltet werden muß«.14 Hitlers Lieblingsprojekt ist das Linzer Kunstmuseum, das er noch einen Tag vor seinem Tod in seinem Testament erwähnt: Ich habe meine Gemälde in den von mir im Laufe der Jahre angekauften Sammlungen niemals für private Zwecke, sondern stets nur für denAusbau einer Galerie in meiner Heimatstadt Linz a. d. Donau gesammelt. Dass dieses Vermächtnis vollzogen wird, wäre mein herzlichster Wunsch.15

Tatsächlich ist für dieses Projekt immer Geld da, auch als die Devisen im Krieg knapp werden. Allein von April 1943 bis März 1944 werden 881 Kunstwerke angekauft, darunter 395 Holländer aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Bis Ende Juni 1944 kostet das Museum 92,6 Millionen Reichsmark.16 Goebbels: »Linz kostet uns viel Geld. Aber der Führer legt ja so großen Wert darauf. Und es ist auch wohl richtig, Linz als Kulturkonkurrenz gegen Wien zu unterstützen.«17 Denn, so Hitler energisch: Nach Wien gebe ich keinen Pfennig und auch das Reich wird nichts dorthin geben.18

Die edelsten Stücke für das Linzer Museum werden in Privatgalerien, Museen und Kirchen des von Hitler-Truppen besetzten Europas beschlagnahmt, so der Veit-Stoß-Altar in der Marienkirche von Krakau oder der Van-Eyck-Altar in der Kathedrale von Gent. Mit besonderer Genugtuung transferiert Hitler Bestände aus Wien, so aus den großen »undeutschen« Wiener Sammlungen, etwa des Barons Nathaniel Rothschild oder des polnischen Grafen Karl Lanckoronski: Er hat immerhin zwei Rembrandts, darunter DIE JUDENBRAUT, und als Hans-Makart-Mäzen die bedeutendste Sammlung dieses von Hitler verehrten Malers. Auch das ehemals kaiserliche Kunsthistorische Museum steuert Werke für Linz bei, was seinen lieben Wienern durchaus nicht in den Kram gepaßt habe, meint Hitler 1942, seine lieben Wiener, die er ja genau kenne, seien so krampfig, daß sie ihm bei der Besichtigung einiger beschlagnahmter Rembrandtbilder in ihrer gemütvollen Art klarzumachen versucht hätten, daß alle echten Bilder eigentlich in Wien verbleiben müßten, man diejenigen aber, deren Meister unbekannt seien, gerne Galerien in Linz oder Innsbruck zukommen lassen wolle. Die Wiener hätten große Kulleraugen gemacht, als er anders entschieden habe.19

Auf dem Freinberg oberhalb der Altstadt plant Hitler seinen Alterssitz im Stil eines oberösterreichischen Vierkanthofes: An diesen Felswänden kletterte ich in meiner Jugend. Auf dieser Kuppe hing ich, mit dem Blick über die Donau, meinen Gedanken nach. Hier möchte ich meinen Lebensabend verbringen.20 Und noch vor dem Krieg erklärte er Albert Speer, wie er sich diesen Rückzug nach Linz vorstelle: Außer Fräulein Braun nehme ich niemanden mit; Fräulein Braun und meinen Hund. Ich werde einsam sein. Wie soll es auch jemand freiwillig lange bei mir aushalten?21

Angesichts dieser Aussichten meinte der Linzer Bürgermeister im November 1943 in einer Ratsherrenversammlung, der »Führer« liebe seine Heimat mehr »als irgendein anderer Deutscher seine engere Heimat« und habe das Ziel, aus Linz »die schönste Stadt an der Donau zu machen. Er kümmert sich um jedes Detail, er kümmert sich auch im Krieg um jede Einzelheit, er kümmert sich um jeden Splitterschutzgraben, Feuerlöschteich, genauso um kulturelle Veranstaltungen. Es kommen in der Nacht Fernschreiben, in denen er verbietet, daß Veranstaltungen im Volksgarten stattfinden, da der Volksgarten doch eine schlechte Akustik hat und daher besonders bekannte Künstler im Vereinshaus auftreten sollen.« Dann fügte der Bürgermeister hinzu: »Die Selbstverwaltung der Stadt ist in erheblichem Maße eingeschränkt.«22

So sehr Hitler sein Linz liebt, so sehr zeigt er seine Abneigung gegen Wien, die alte Haupt- und Residenzstadt, die er zu entmachten gedenkt. Wien ströme ein ungeheuerliches, geradezu kolossales Fluidum aus. Es sei daher eine ungeheure Aufgabe, Wiens Vormachtstellung auf kulturellem Gebiet in den Alpen- und Donaugauen zu brechen.23

Hitlers übersteigerte Liebe zu Linz ironisiert Albert Speer, freilich erst nach 1945, als »provinziale Mentalität« und meint, dass Hitler »eigentlich immer ein Kleinstädter blieb, fremd und unsicher in den großen Metropolen. Während er politisch fast zwanghaft ins Gigantische dachte und plante, waren die überschaubaren Verhältnisse einer Stadt wie Linz, wo er zur Schule gegangen war, sein soziales Zuhause.« Diese Liebe habe »Fluchtcharakter« gehabt.24

Doch da spielt weit mehr mit als der Gegensatz zwischen Provinz und Hauptstadt: Es ist das national geschlossene, »deutsche« Linz hier und das multinationale Wien dort. Außerdem wird der bäuerliche Charakter der Provinzstadt als ehrlich-bodenständig empfunden gegenüber der raffinierten, intellektuellen und selbstbewussten Metropole. Goebbels meint denn auch als Sprachrohr seines Herrn nach einem Linzbesuch im März 1941: »Echte deutsche Männer. Keine Wiener Schlawiner.«25

Biografisch betrachtet, ist Linz für Hitler der Schauplatz einer geordneten, sauberen, kleinbürgerlichen Jugend, zusammen mit der geliebten Mutter, Wien dagegen der Zeuge einsamer, erfolgloser, schmutziger Jahre. Von politischer Bedeutung ist aber vor allem Hitlers Ziel, die alte Hauptstadt des Habsburgerreiches zu entmachten und der Hauptstadt Berlin unterzuordnen. In der Sprache Goebbels’: Wien muss »allmählich etwas ausgeschaltet werden«.26

Komplizierte Familienverhältnisse

Linz, die ländliche Hauptstadt Oberösterreichs, Bischofsresidenz und Schulzentrum, in einer heiteren Landschaft am rechten Donauufer gelegen, hatte in Hitlers Jugend knapp 68.000 Einwohner und war damit – nach Wien, Prag, Triest, Lemberg, Graz, Brünn, Krakau, Pilsen und Czernowitz – die zehntgrößte Stadt Cisleithaniens, wie der westliche Teil der Doppelmonarchie hieß.27

Ohne Stadtmauern fügt sich die Stadt in die hügelige Landschaft und wirkt trotzdem übersichtlich: Die lange Hauptstraße (»Landstraße«) durchquert die Stadt und endet im barocken Hauptplatz, dem »Franz Joseph-Platz«, von 1938 bis 1945 »Adolf Hitler-Platz«, mit dem alten Dom und der barocken Dreifaltigkeitssäule.

Seit Römerzeiten ein Kreuzungspunkt von Handelswegen, erhielt Linz im 19. Jahrhundert Bedeutung durch die Eisenbahn, die »Kaiserin Elisabeth-Westbahn«, die Wien mit München, der Heimat der Kaiserin, verband. Zur alten Schiffswerft bekam Linz eine Lokomotivfabrik. Der Handelsakademie wurde eine Eisenbahnfachschule angegliedert. Die Eisenbahn brachte einen Hauch von Welt nach Linz: Dreimal wöchentlich fuhr der Orientexpress Paris–Konstantinopel durch. Der Zuzug vieler Bahnarbeiter brachte den Sozialismus in die kleine Stadt.

Adolf Hitler wohnt nur kurz in seiner »Heimatstadt«: Vom Mai 1894 bis zum Mai 1895 ist die Familie Hitler in Urfahr gemeldet, zurück nach Linz kommt sie dann erst wieder im Juni 1905 und wohnt bis Mai 1907 in der Humboldtstraße 31, anschließend bis zum Februar 1908 in Urfahr, und zwar in der Hauptstraße 46 bzw. der Blütenstraße 9. Als Kind des k. k. Zollbeamten Alois Hitler erlebt er so immer wieder Übersiedlungen. Der Grenzort Braunau am Inn, wo er am 20. April 1889 geboren wird und den er als Dreijähriger verlässt, erhält erst später Bedeutung, als Hitler ihn in MEIN KAMPF als glückliche Bestimmung deuten kann: Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!28

Die Familienverhältnisse sind kompliziert. Adolf stammt aus der dritten Ehe des Vaters mit der um 23 Jahre jüngeren Klara, geborene Pölzl. Er ist das vierte und erste überlebende Kind seiner Mutter. Im Haushalt leben zwei Halbgeschwister aus der zweiten Ehe des Vaters mit der 1884 an Tuberkulose verstorbenen Bauerntochter Franziska »Fanny« Matzelsberger: der 1882 geborene Alois jun. und die 1883 geborene Angela. Zur Familie zählt außerdem noch die 1863 geborene »Hanni-Tante«, Johanna Pölzl, die bucklige und wahrscheinlich etwas geistesschwache Schwester der Mutter, die im Haushalt hilft.29

Es ist nicht immer ein friedliches Familienleben: Der Vater ist jähzornig und misshandelt den ältesten Sohn Alois mit Prügeln. Dieser wiederum ist eifersüchtig auf Adolf, den die junge Mutter verhätschelt. Der Halbbruder über Adolf: »Er wurde vom frühen Morgen bis in die späte Nacht verwöhnt, und die Stiefkinder mussten sich endlose Geschichten anhören, wie wunderbar Adolf war.« Aber auch Adolf sei vom Vater geprügelt worden. Einmal habe der Vater sogar gefürchtet, den Buben getötet zu haben.30 Schwester Paula bestätigte diese Gewalttätigkeiten des Vaters 1945/46 gegenüber den US-Militärbehörden: »Mein Bruder Adolf forderte meinen Vater zu extremer Strenge heraus und erhielt dafür jeden Tag eine richtige Tracht Prügel.«31 Der Leondinger Bauer Josef Mayrhofer, nach dem Tod des Vaters Hitlers Vormund, brachte die Rolle des Familienoberhaupts auf den Punkt: »Der alte Hitler war ein richtiger Tyrann.«32

1892 bis 1894 arbeitet der Vater in Passau, auf der deutschen Seite der Grenze. Der drei- bis sechsjährige Knabe erwirbt sich in dieser Zeit seinen speziellen bayerischen Tonfall: Mein Deutsch der Jugendzeit war der Dialekt, den auch Niederbayern spricht; ich vermochte ihn weder zu vergessen, noch den Wiener Jargon zu lernen.33 Am 1. April 1894 wurde Alois Hitler nach Linz versetzt und im Mai dieses Jahres übersiedelte die Familie Hitler nach Urfahr, zunächst wohnte man in der Kreuzstraße 9, ab November 1894 in der Kaarstraße 27. Hausbesitzer ist der reichste Bürger Urfahrs, der jüdische Branntwein-, Likör- und Essigfabrikant Leopold Mostny – die Wohnadresse wird deshalb später von den NS-»Führer«-Gedenkstättenindustrie, die alle anderen ehemaligen Wohnhäuser des jungen Hitler in Oberösterreich unter Denkmalschutz stellte, verschwiegen.34

Am 25. Juni 1895 geht der 58-jährige Alois Hitler nach 40 Dienstjahren in Pension. Zuvor kauft er noch ein Bauernhaus, das sogenannte Rauscher- oder Schrottaugut, im winzigen Ort Hafeld in der Gemeinde Fischlham nahe Lambach in Oberösterreich, um sich hier als Landwirt und Bienenzüchter zu versuchen. Das Anwesen, das Klara und Alois Hitler am 4. Februar 1895 zu gleichen Teilen erwerben, trägt heute die Adresse Almsteg 29.35 Der Sohn 1942 über die Imker-Leidenschaft seines Vaters: Bienenstich war bei uns so selbstverständlich wie nur etwas. Die Mutter hat meinem alten Herrn oft 45, 50 Stacheln herausgezogen, wenn er vom Waben-Ausnehmen kam. Der Vater habe sich lediglich durch Rauchen gegen die Bienen geschützt.36 In Hafeld muss der 13-jährige Alois jun. nach heftigem Streit mit dem Vater das Haus verlassen und wird zu einem Linzer Gastwirt in die Lehre geschickt. Angeblich ist es Stiefmutter Klara, die den Jungen aus dem Haus drängt und dafür sorgt, dass er keine finanzielle Unterstützung mehr bekommt.37 Unmittelbarer Anlass für diesen Konflikt war das Schulversagen von Alois junior – bereits im ersten Semester hatte er die Linzer Realschule wegen einer »minderentsprechenden« Sittennote verlassen müssen. Im Haushalt bleiben die 13-jährige Angela, Adolf und der 1894 geborene Edmund. 1896 wird Paula, das jüngste Kind der Familie, geboren.

Im Mai 1895 kommt der sechsjährige Hitler in die einklassige Dorfschule von Fischlham, die nur aus einem etwa 60 Quadratmeter großen Raum und einem kleinen Vorraum besteht: Ich hörte dort, als ich in der untersten Klasse war, schon immer bei den Schülern der zweiten Klasse mit, und später bei der dritten und vierten. Gott sei Dank, daß ich dann weg kam. Sonst hätte ich die letzte Klasse 2 bis 3 Jahre lang durchsitzen müssen.38 Der Bub vom Rauscherhof erweist sich als guter Schüler – das erste Zeugnis weist lauter Einser auf.

Eine Erfindung des dubiosen ehemaligen Nazi-JournalistenJohannes von Müllern-Schönhausen ist die Reise, die Hitler angeblich im Sommer 1912 nach Hafeld unternommen hätte, um, angetrieben von »guten Erinnerungen«39 und auf der »Suche nach seiner Kindheit«40 diese Stätte zu besuchen. Das dabei angeblich entstandene Ölbild der Volksschule Fischlham sowie eine Federzeichnung der »Schlossmühle« in Fischlham, beide abgedruckt von Müllern-Schönhausen in seinem Machwerk DIE LÖSUNG DES RÄTSELS ADOLF HITLER, sind plumpe Fälschungen. J. Sidney Jones, der sich wie manch andere Biografen in die Irre führen ließ, urteilte: »Von diesen beiden Bildern hat man den Eindruck, dass es eine schöne Reise für Hitler gewesen sein muß, von der er ausgeruht und entspannt ins Männerheim zurückgekehrt ist.«41

Da das 17,27 Hektar große Bauerngut mit der Beamtenpension nicht zu finanzieren ist und die Fähigkeiten des Vaters als Landwirt trotz der Lektüre einschlägiger Fachliteratur nicht ausreichen, wird es im Juni 1897 wieder verkauft. Die Familie bezieht eine Übergangswohnung im Ort Lambach. Der Achtjährige wechselt nun in die Volksschule von Lambach und besucht auch für kurze Zeit das Sängerknabeninstitut des Benediktinerstiftes. Dort habe er Gelegenheit gehabt, sich oft und oft am feierlichen Prunk der äußerst glanzvollen kirchlichen Feste zu berauschen.42 Auch später rühmt er, trotz aller Kritik an der Kirche, dass diese das natürliche Bedürfnis der Menschen nach etwas Übernatürlichem … wundervoll ausgenützt habe. Sie habe es verstanden, mit ihrem mystischen Kult, den großen erhabenen Domen, mit weihevoller Musik, feierlichen Riten und mit Weihrauch auf die Menschen zu wirken.43

Das Leben der Familie Hitler ist wohl nicht von allzu großer Frömmigkeit geprägt, allerdings darf man die Bedeutung religiöser Rituale und Konventionen auch nicht unterschätzen. So geht die Mutter, die geprägt ist von den Traditionen ihrer katholischen Waldviertler Heimat, regelmäßig in die Sonntagsmesse. Der antiklerikale Vater, geleitet von den Parolen der deutschnationalen Presse, hält sich zurück und begleitet seine Familie höchstens zu den Festtagen und an Kaisers Geburtstag, dem 18. August. Denn dies ist die einzige Gelegenheit, zu der er seine Beamtenuniform ausführen kann, die das übrige Jahr unbenutzt im Schrank hängt.44 Als Mitglied der Sängerknaben musste sein Sohn Adolf aber wohl auch als Ministrant an diversen Messen und kirchlichen Feiern teilnehmen, zweifellos absolvierte er in Lambach auch seine erste Beichte und seine Erstkommunion.45

Im Februar 1899 übersiedelt die Familie in das Dorf Leonding südlich von Linz, wo Alois Hitler mit Kaufvertrag vom 14. November 1898 für 7.700 Kronen ein kleines Haus neben dem Friedhof erstanden hat.46 Goebbels notierte über seinen ersten Besuch in diesem zur »Ehrenstätte des ganzen deutschen Volkes« gewordenen Haus 1938: »Ganz klein und primitiv. Man führt mich in das Zimmer, das sein Reich war. Klein und niedrig. Hier hat er Pläne geschmiedet und von der Zukunft geträumt. Weiter die Küche, in der die gute Mutter kochte. Dahinter der Garten, in dem der kleine Adolf sich nachts Äpfel und Birnen pflückte … Hier also wurde ein Genie. Mir wird ganz groß und feierlich zu Mute.«47

Hitler als Volksschüler in Leonding

Der Neunjährige kommt nun in die dritte Klasse der Volksschule Leonding und verlebt im Kreis der Landbuben eine sonnige Lausbubenzeit48 und sieht sich später stolz als jungen Wildfang: Ich war eben schon als Junge kein »Pazifist«, und alle erzieherischen Versuche in dieser Richtung wurden zu Nieten.49 Einer der Leondinger Schulkameraden, der spätere Abt Balduin von Wilhering, meint dazu später, keineswegs unfreundlich: »Kriegspielen, immer nur kriegspielen, uns Buben wurde das schon langweilig, aber er fand immer wieder einige, insbesondere jüngere, die mittaten.«50Ansonsten betreibt der junge Hitler seinen »Lieblingssport«: Er schießt auf dem Friedhof neben dem Elternhaus mit dem Flobertgewehr auf Ratten.51

Um 1900 erregte der Burenkrieg die Gemüter, als die südafrikanischen Burenrepubliken sich gegen die Eroberung durch die Engländer wehrten. Der erbitterte »Kampf Davids gegen Goliath«, der »Freiheitskampf der armen Bauern« gegen den britischen Imperialismus fand vor allem bei den Deutschnationalen große, ja begeisterte Zustimmung. Es gab Unterschriftenaktionen, Geldsammlungen zur Unterstützung der Buren. Burenmärsche und Burenlieder wurden komponiert. Burenhüte, Burenheringe und – die heute noch in Wien beliebten – Burenwürste kamen in Mode.52

Für den jungen Hitler ist der Burenkrieg ein wahres Wetterleuchten: Ich lauerte jeden Tag auf die Zeitungen und verschlang Depeschen und Berichte und war schon glücklich, Zeuge dieses Heldenkampfes wenigstens aus der Ferne sein zu dürfen.53 Die Buben bevorzugen nun das Spiel »Buren und Engländer«, wobei niemand Engländer und jeder Bure sein will. Noch 1923 meint Hitler: Auf Burenseite gerechter Wunsch nach Freiheit, auf Englands Seite Gier nach Geld und Diamanten.54

Als der sechsjährige Bruder Edmund am 29. Februar 1900 in Leonding an Masern stirbt, ist der elfjährige Adolf der einzige Sohn der Familie. Die Schwierigkeiten mit dem Vater nehmen zu. Hitlers Mitschüler schildern Alois Hitler später als »wenig einnehmend, weder seiner äußeren Erscheinung noch seinem Wesen nach«.55 Der alte Herr Alois forderte unbedingten Gehorsam. Der Schulkamerad Max Sixtl – sein Vater war der Klassenlehrer Hitlers –, erzählte dazu 1933 Folgendes: »Oft steckte er zwei Finger in den Mund, stieß einen scharfen Pfiff aus und Adolf, wo immer er gewesen sein mag, lief rasch zum Vater … Er beschimpfte ihn oft und Adolf litt sehr unter der Strenge des Vaters. Adolf las gern, der Alte aber war sparsam und gab kein Geld für Bücher her.«56 Alois Hitler habe als einziges Buch eines über den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 besessen: »Adolf sah sich die Bilder in diesem Buch gern an und schwärmte sehr für Bismarck.«57 Hitler selbst freilich erwähnt in MEIN KAMPF eine väterliche Bibliothek, die allerdings nie auftaucht.58

Max Sixtl schildert seinen ehemaligen Schulfreund, der nun deutscher Reichskanzler ist, als »blaßen, schwachen Knaben«, das hätte Hitler jedoch nicht gehindert, sich als »Führer« und »leitender Geist« in Szene zu setzen: »Wir sind Soldaten, sagte er uns, und wir müssen kämpfen. Wenn das Vaterland ruft, müssen wir für das Vaterland sterben. Wir dürfen nur als Sieger ins Dorf zurückkehren. (…) Wir hielten ihn alle für ein wenig teppert, aber er gefiel uns und wir folgten ihm gern.«59

Bäuerliches Intermezzo in Hafeld

Im winzigen Ort Hafeld in der Gemeinde Fischlham kaufen Alois Hitler und seine Frau Klara mit Kaufvertrag vom 4. Februar 1895 das sogenannte Rauscher- oder Schrottaugut, einen Bauernhof von ansehnlicher Größe: Immerhin 17,27 Hektar umfasst der zum Hof gehörende Grund – also kein »Kleinbetrieb«, wie bei Franz Jetzinger und den ihm folgenden Hitler-Biografen zu lesen ist. Hier will Alois Hitler seinen Traum von einem Leben als Bauern- und Bienenzüchter verwirklichen. Sohn Adolf ist damals knapp sechs Jahre alt, in MEIN KAMPF wird er später über diesen Plan des Vaters schreiben: »Da er endlich in den Ruhestand ging, hätte er doch diese Ruhe keinen Tag als ›Nichtstuer‹ zu ertragen vermocht. Er kaufte in der Nähe des oberösterreichischen Marktfleckens Lambach ein Gut, bewirtschaftete es und kehrte so im Kreislaufe eines langen, arbeitsreichen Lebens wieder zum Ursprung seiner Väter zurück.«(MEIN KAMPF, 2, Kritische Edition, 95 f.)

Verkäufer des Anwesens ist der pensionierte Straßenmeister Josef Radlegger, der das Bauernhaus erst ein Jahr zuvor bei einer Versteigerung erworben hat. Der Kaufpreis wird mit 7.250 Gulden festgeschrieben, ein Betrag, der für die Familie nicht einfach zu finanzieren ist. Das Jahresgehalt des Vaters beträgt 1.100 Gulden, zu dem noch 250 Gulden Ortszuschlag kommen – mit der bevorstehenden Pensionierung am 25. Juni 1895 wird diese wegfallen, die Familie muss dann mit 1.100 Gulden jährlich auskommen. Alois Hitler hofft daher auf Erträge aus dem landwirtschaftlichen Betrieb, doch bald wird sich zeigen, dass der Bauernhof die Kräfte der Familie überfordert. Mit den Dienstboten gibt es Schwierigkeiten, es fehlen Maschinen und Geräte. Alois Hitler, der auf neue Viehrassen und besseres Saatgut setzen möchte, sieht seine großen Hoffnungen bald enttäuscht, es fehlt ihm an praktischer Erfahrung. So geht das bäuerliche Intermezzo der Hitlers bald zu Ende: Am 20. September 1896 inseriert Alois Hitler in der LINZER TAGES-POST das Rauschergut wieder zum Verkauf, im Juni 1897 kann er den Hof dann tatsächlich verkaufen – gerade rechtzeitig vor dem großen Hochwasser Ende Juli 1897, das auch die Felder und Wiesen des Rauscherguts schwer in Mitleidenschaft zieht.

Licht in die Vorgänge rund um den Kauf des Rauscherguts warf zuletzt ein sensationeller Quellenfund: Auf dem Dachboden eines Hauses wurde ein Bündel vergilbter Briefe entdeckt: Insgesamt 31 Briefe und Karten von Alois Hitler an den Straßenmeister Josef Radlegger eröffneten einen neuen authentischen Blick auf die Lebensumstände der Familie Hitler – der Historiker Roman Sandgruber konnte anhand dieser Schriftstücke in seiner Studie über HITLERS VATER ihre »Ökonomie« und ihren Alltag präzise nachzeichnen.

Der Sensationsfund vom Dachboden: 31 Briefe und Karten bringen Licht ins Dunkel um die Familie Hitler.

Klara Hitler wird von allen Zeugen als ruhige, liebevolle Mutter und gute Hausfrau geschildert. Eine Leondinger Schülerin, die täglich am Hitler-Haus vorbeiging, erinnert sich, wohlgemerkt nach 1945: Wenn die kleine Paula in die Schule ging, habe die Mutter sie jedes Mal »bis zum Zauntürl begleitet und ihr einen Kuß gegeben; mir ist das deshalb aufgefallen, weil das bei uns Bauernmädchen nicht üblich war, es hat mir aber gut gefallen, ich habe die Paula fast etwas beneidet«.60

Der Vater bestimmt den Sohn für eine Beamtenkarriere und schickt ihn nach fünf Volksschuljahren im Herbst 1900 in die Linzer Realschule, die in einem rund einstündigen Fußweg von Leonding aus zu erreichen ist. Der täglich aus einem rauen Landleben in die Strenge der städtischen Schule wechselnde Elfjährige fügt sich nicht ein und lernt nicht. Gleich im ersten Jahr bleibt er mit zwei »Nicht genügend« in Mathematik und Naturgeschichte sitzen. Außerdem erhält er laut Konferenzprotokollen jedes Jahr einen Tadel, abwechselnd in Betragen und in Fleiß. Trotzdem ist er im Schuljahr 1902/03 als einziger seiner Klasse vom Schulgeld befreit, was auf Bedürftigkeit der Familie hindeutet.61

Der gutmeinende Französischlehrer Dr. Huemer stellte in einem Schreiben anlässlich des Hochverratsprozesses gegen Hitler 1924 über seinen ehemaligen Schüler fest: »Er war entschieden begabt, wenn auch einseitig, hatte sich aber wenig in der Gewalt, zum mindesten galt er als widerborstig, eigenmächtig, rechthaberisch und jähzornig, und es fiel ihm sichtlich schwer, sich in den Rahmen einer Schule zu fügen. Er war auch nicht fleißig, denn sonst hätte er bei seinen unbestreitbaren Anlagen viel bessere Erfolge erzielen müssen. Hitler war nicht nur ein flotter Zeichner, sondern wußte auch in den wissenschaftlichen Fächern Entsprechendes zu leisten, nur pflegte seine Arbeitslust sich immer rasch zu verflüchtigen.« »Belehrungen und Mahnungen« seiner Lehrer habe er »nicht selten mit schlecht verhülltem Widerwillen entgegengenommen«, von seinen Mitschülern habe er »unbedingte Unterordnung« verlangt, habe sich »in der Führerrolle« gefallen und sei offenbar »von den Karl-May- und Indianergeschichten angekränkelt« gewesen.62

Über seinen Lieblingsautor Karl May erzählt Hitler später gerne und häufig: Ich habe ihn bei Kerzenlicht gelesen und mit einer großen Lupe bei Mondlicht! … Der erste Karl May, den ich gelesen habe, war »Der Ritt durch die Wüste«. Ich bin weg gewesen! Dann stürzte ich mich drauf. Was sich sofort mit dem Sinken meiner Noten bemerkbar machte! May verdanke er seine ersten geographischen Kenntnisse.63 1943 zeigt er seinen Begleitern stolz das Linzer Hotel »Roter Krebs« an der Oberen Donaulände, wo der verehrte Schriftsteller im März 1901 und Oktober 1902 kurz gewohnt hatte.64

Der junge Hitler macht offenbar keine Anstrengungen, in der Schule weiterzukommen. Die Mutter muss, so ein Mitschüler, oft in die Schule kommen, um »nachzufragen«.65 In MEIN KAMPF erklärt Hitler, er habe sich absichtlich in der Schule nicht angestrengt, um nicht Beamter werden zu müssen. Er kritisiert später jene Eltern, die ihre Kinder vorzeitig auf bestimmte Berufe festlegen und, wenn dann etwas nicht klappe, sofort vom verlorenen oder mißratenen Sohn zu sprechen beginnen. Man – das heißt der Vater — habe ihn mit 13 Jahren in das Linzer Hauptzollamt, einen wahren Staatskäfig geschleppt, in dem die alten Herren aufeinander gehockt gesessen seien, so dicht wie die Affen. So sei ihm die Beamtenlaufbahn verekelt worden.66

Die Beziehung zum Vater spitzt sich zu. Schwester Paula erinnert sich: »Adolf … hat jeden Abend seine Tracht Prügel gekriegt, weil er nicht pünktlich zu Hause war.«67 Und Hitler über diese Zeit: Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich … in Opposition gedrängt. So hart und entschlossen auch der Vater sein mochte in der Durchsetzung seiner einmal ins Auge gefassten Pläne und Absichten, so verbohrt und widerspenstig war aber auch sein Junge.68

Im privaten Kreis zeichnet Hitler später ein negatives Bild vom Vater. Goebbels in seinem Tagebuch: »Hitler hat fast genau dieselbe Jugend durchgemacht wie ich. Der Vater Haustyrann, die Mutter eine Quelle der Güte und Liebe.«69 Zu seinem späteren Rechtsanwalt Hans Frank soll Hitler gesagt haben, er habe schon als zehn- bis zwölfjähriger Bub den betrunkenen Vater aus dem Gasthaus nach Hause bringen müssen: »Das war die gräßlichste Scham, die ich je empfunden habe. Oh, Frank, ich weiß, was für ein Teufel der Alkohol ist! Er war – über meinen Vater – eigentlich mein größter Feind in meiner Jugend.«70 Die neuen Quellen zu Hitlers Vater erschüttern jedoch Hans Franks Darstellung vom Trinker nachhaltig – wie Roman Sandgruber darlegt, deuten Alois Hitlers »private Interessen und seine Aktivitäten nach der Pensionierung« genau auf das Gegenteil. Die täglichen Gasthausbesuche des Pensionisten gehörten zum »politischen Geschäft«, der Stammtisch ersetzte sozusagen das Parteilokal.71 Häufig trifft er den Bauern Josef Mayrhofer zur gemeinsamen politischen Arbeit für die Deutschnationalen.72 Es könnte sich hier um eine der »Tischgesellschaften« handeln, kleinste Parteigruppen im Familien- und Freundeskreis, wie sie manche deutschnationalen Parteien unterhielten. In einem Gespräch mit dem Wiener Korrespondenten des MANCHESTER GUARDIAN stellte Mayrhofer über Hitler senior 1933 fest: »Er war ein griesgrämiger, wortkarger alter Mann, ein strammer Freisinniger und wie alle Freisinnigen in dieser Zeit stramm deutschnational gesinnt, ein Pangermane, dabei merkwürdigerweise doch kaisertreu. Diese Gegend hier ist sehr klerikal, um so mehr ist der Freisinn des alten Hitler aufgefallen.«73

Freisinnig, deutschnational, antisemitisch und kaisertreu war in Oberösterreich damals die regierende DVP, die »Deutsche Volkspartei«. Aus dem Kreis um den extremen Deutschnationalen Georg Schönerer entstanden, hatte sie sich 1896 unter dem Kärntner Reichsratsabgeordneten Otto Steinwender (1847–1921), der an einem Wiener Gymnasium Latein und Griechisch unterrichtete, von der alldeutschen Bewegung Schönerers abgespalten. Sie vertrat nun eine gemäßigte deutschnationale Richtung, blieb aber antisemitisch ausgerichtet. Dennoch gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Hitler in MEIN KAMPF die Unwahrheit sagt, wenn er über seinen Vater schreibt, dieser habe im Antisemitismus eine kulturelle Rückständigkeit erblickt und mehr oder minder weltbürgerliche Anschauungen … bei schroffster nationaler Gesinnung gehabt.74

Die Geschichte mit dem Ziegenbock

In die Leondinger Zeit soll auch ein Ereignis gefallen sein, das – unabhängig davon, ob Wahrheit oder Fiktion – zumindest einem, vielleicht auch zwei Menschen das Leben gekostet hat. Dokumentiert hat es der Berliner Rechtsanwalt und Strafverteidiger Dietrich Wilde (1909–1984), der unter dem Pseudonym Dietrich Güstrow in seinem Buch TÖDLICHER ALLTAG darüber berichtete. Im Herbst 1943 wurde Wilde von einem Geschäftsmann in Heilbronn gebeten, die Verteidigung seines Onkels zu übernehmen, dem ein Verfahren wegen Heimtücke und Wehrkraftzersetzung vor dem Zentralgericht des Heeres in Berlin drohe. Dieser Onkel, ein gewisser Eugen Wasner, vom Beruf Buchhalter, sei ein Mitschüler des »Führers« in Leonding gewesen und habe sich bei seinen Kameraden in einer Infanteriekompanie an der Ostfront mit folgender Geschichte wichtig gemacht: »Ach, der Adolf! Der ist ja deppert schon von kleinauf, wo ihm doch ein Ziegenbock den halben Zippedäus abgebissen hat! Jawohl, ich bin doch selbst dabeigewesen. Eine Wette hat er gemacht, der Adi, daß er einem Ziegenbock ins Maul pinkeln würde. Als wir ihn ausgelacht haben, hat er gesagt: ›Kommt’s mit, wir gehen auf die Wies’, da ist ein Ziegenbock.‹ Auf der Wies’ hab’ ich den Ziegenbock festgehalten zwischen meinen Beinen, ein andrer Freund hat dem Ziegenbock mit ’nem Stock das Maul aufgesperrt, und der Adolf hat dem Bock ins Maul gepinkelt. Grad’ als er dabei war, hat der Freund den Stock weggezogen, der Bock hat hochgeschnappt und dem Adolf in den Zippedäus gebissen. Geschrien hat der Adi da aber fürchterlich und ist heulend davongelaufen!«75

Der Kompanieführer habe die Geschichte als erfundenen Scherz abtun wollen, doch Wasner habe darauf bestanden, dass sie wahr sei: »Nein, das habe ich mir nicht ausgedacht. Was wahr ist, muß wahr bleiben.« – Es kam, wie es kommen musste: Der Kompanieführer schickte seinen Bericht an den Regimentskommandanten, zwei Tage später wurde Wasner verhaftet und ins Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Spandau überführt. Alle Versuche Wildes, Wasner zur Widerrufung seiner Aussage zu bewegen, scheitern – er sei, so Wasner, ein gläubiger und wahrheitsliebender Katholik und »was er gesagt habe, sei wahr, und wenn er deshalb sterben müsse, so würde er eben unschuldig verurteilt wie Jesus Christus«. Der »andre Freund«, der den Stock gehalten habe, ein gewisser Bruno Kneisel, kann als Zeuge nicht mehr beigebracht werden, da er laut Auskunft des Standesamts Wien bereits 1939 an einer Lungenentzündung verstorben sei. Wilde macht sich seinen eigenen Reim auf diese Nachricht: »… mich beschlich der hartnäckige Verdacht, daß sein früher Tod mit dem Ziegenbock-Erlebnis seines Jugendfreundes Adolf Hitler etwas zu tun gehabt haben könnte. Der Arm des Führers war lang und unerbittlich, wenn es um sein Vorleben ging; dafür gab es genügend Beispiele.«76

Als auch der Versuch scheitert, Wasner durch ein psychiatrisches Gutachten für »geistesgestört« erkären zu lassen, sind die Rechtsmittel der Verteidigung ausgeschöpft – Eugen Wasner, der fest bei seiner Aussage bleibt – »Er hat’s aber doch getan, der Adi!« –, wird in der Verhandlung vor dem Zentralgericht des Heeres wegen »heimtückischer und gemeiner Verleumdung des Führers und Reichskanzlers und wegen Wehrkraftzersetzung« zum Tode verurteilt. Das Urteil wird vom Oberkommando der Wehrmacht im Auftrag von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel auffallend schnell bestätigt, Eugen Wasner wird laut Wilde im November 1943 in Berlin-Plötzensee auf dem Schafott hingerichtet. Wilde verabschiedet sich in der Todesnacht von seinem Mandanten, sein Resümee zu diesem Fall: »Wenn ich heute an Wasner denke, so will mir scheinen, daß solche Verirrungen eines Jugendlichen, wie sie Wasner vom achtjährigen Hitler berichtet hat, einen kleinen Mosaikstein zur Aufschlüsselung eines Mannes geben, der vielleicht Genie, sicher Monster gewesen ist. An dem Wahrheitsgehalt von Wasners Bericht, der ein naiver, aber tief gottesfürchtiger Mensch war, habe ich nie einen Zweifel gehabt.«77

Man möchte der Geschichte von Dietrich Wilde alias Dietrich Güstrow gerne glauben, wären da nicht die ernüchternden Fakten: Im November 1943 wird in Plötzensee kein »Egon Wasner« hingerichtet und der Name taucht in keiner Schreibweise in der Gefangenenkartei des Strafgefängnisses Plötzensee auf. Die Karteikarten des Gefängnisses in Spandau sind leider nicht mehr vorhanden. Im Zeitraum Oktober bis Dezember 1943 gab es in Plötzensee keine Hinrichtungen nach Verurteilungen des Zentralgerichts des Heeres. Ein »Eugen Wasner« taucht in den Berliner Standesamtsunterlagen, die auch die Hinrichtungen durch die Militärjustiz enthalten, in der Zeit zwischen 1933 und 1945 nicht auf.78 Andererseits hat Dietrich Wilde in seinem Buch ausdrücklich betont, dass der Name im Fall Wasner von ihm nicht geändert worden sei – es müsste sich also irgendeine Spur finden lassen, bislang vergeblich. Was steckt wirklich hinter dieser Geschichte? Hat sie Wilde von A–Z erfunden und welches Motiv sollte ihn dabei bewegt haben?