IM ANFANG WAR DER TOD - Eberhard Weidner - E-Book

IM ANFANG WAR DER TOD E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Erneut wird Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg mitten in der Nacht von ihren Kollegen der Mordkommission zu einem Tatort gerufen. An sich kein ungewöhnlicher Vorfall für die Ermittlerin der Vermisstenstelle der Kripo München, denn immer wieder muss sie unbekannte Leichen identifizieren, bei denen es sich möglicherweise um einen ihrer Vermissten handelt. Doch als sie erfährt, wohin sie kommen soll, beginnt sie bereits zu ahnen, dass es in diesem Fall um etwas ganz anderes geht. Denn unmittelbar vor dem Anruf des Kollegen erwachte sie aus einem schrecklichen Albtraum, in dem sie aus der Perspektive des Mörders in sämtlichen blutigen Details miterleben musste, wie sie einen alten Mann brutal ermordete. Einen Mann, den sie gekannt hat, als sie noch ein Kind war. Doch es kommt noch schlimmer, denn mehrere Indizien, die am Tatort gefunden wurden, weisen ebenfalls eindeutig in Anjas Richtung. Nicht nur einer ihrer Kollegen hält sie daraufhin für dringend tatverdächtig. Auch sie selbst kommt allmählich zu der furchtbaren Überzeugung, dass sie eine Mörderin ist. Vor allem, nachdem sie weitere handfeste Beweise für ihre Schuld findet. Anja will unbedingt herausfinden, warum sie den Mann getötet hat, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gleichzeitig muss sie aber auch belastende Beweise und Indizien verschwinden lassen und verhindern, dass sie verhaftet wird. Eine Gratwanderung, die für die Polizistin immer schwieriger wird, denn die vermeintlichen Albträume und die Mordserie gehen weiter ...

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Seitenzahl: 859

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

1. TEIL

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

2. TEIL

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

3. TEIL

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

4. TEIL

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

PROLOG

1

1. TEIL

Im Anfang war der Tod …

KAPITEL 1

Der erste Messerstich kam wie aus dem Nichts. Er traf den alten Mann in die linke Schulter.

Die Klinge bohrte sich nur ein, höchstens zwei Zentimeter tief in den Körper. Beinahe so, als steckte zu wenig Kraft hinter dem Stoß; oder als wäre er nur halbherzig ausgeführt worden. Dennoch floss augenblicklich Blut, sobald das lange Messer zurückgezogen wurde. Der dunkle Lebenssaft wurde gierig von der Kleidung des Mannes aufgesaugt. Das schwarze Kollarhemd färbte sich rund um die Einstichstelle rasch noch dunkler. Der kreisrunde Fleck vergrößerte sich stetig. Er glänzte feucht und sah im Licht der Kerzen wie flüssiges Öl aus.

Auf dem Gesicht des Priesters erschien ein fragender, geradezu verblüffter Ausdruck. Noch schien er den Schmerz überhaupt nicht wahrzunehmen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Klinge des Fleischmessers, das wie durch Zauberei in der Hand seines Gegenübers aufgetaucht war. Sie blitzte einmal kurz auf, als sie das Kerzenlicht reflektierte. An ihrer Spitze hing ein einsamer Tropfen Blut.

Zweifellos war der alte Mann durch die plötzliche Attacke überrumpelt worden, nachdem sie sich bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen zivilisiert unterhalten hatten. Obwohl es beileibe keine nette Plauderei, sondern am Ende ein Streitgespräch gewesen war, war der heimtückische Angriff für ihn gleichwohl aus dem Nichts gekommen.

Erst ganz allmählich dämmerte in seinen dunkelbraunen Augen die Erkenntnis herauf, dass das Blut an der Klinge von ihm stammen musste und er verletzt worden war. Sein Gesicht verzerrte sich, als er nach dieser Erkenntnis nun auch den stechenden Wundschmerz spürte. Es war, als durchbohrte ihn das Messer in diesem Moment erneut. Seine rechte Hand zuckte unwillkürlich nach oben zur Schulter. Sie legte sich auf die Stichwunde, als könnte er dadurch den schwachen, aber dennoch stetigen Blutfluss eindämmen.

Schließlich hob er den Blick von dem Messer, das diesen bislang gefangen gehalten hatte, und sah seinem Angreifer in die Augen.

»Was soll das?«

Seine Stimme, die sonst stets tief und wohlklingend durch das Gotteshaus schallte, klang jetzt unnatürlich hoch und schrill. Sie verriet die Angst und das Unverständnis des Mannes und durchschnitt die nächtliche Stille in der Kirche ebenso mühelos, wie zuvor die Messerklinge seine Kleidung und Haut durchbohrt hatte.

Er bekam allerdings keine Antwort. Zumindest nicht in verbaler Form. Doch was er stattdessen in den Augen seines Gegenübers entdeckte, ließ ihn gleichwohl erschaudern.

Den zweiten Stich sah er daher ebenfalls nicht kommen. Denn sein Angreifer hielt nicht etwa inne, sondern stieß in diesem Augenblick erneut zu.

Dieses Mal drang das Messer in den Bauch des weißhaarigen Mannes und grub sich wesentlich tiefer hinein, als hätte der Angreifer aus seinem ersten Versuch gelernt und wollte das Gelernte sogleich in die Tat umsetzen.

Es schien sich zunächst nur wie ein heftiger Faustschlag in den Magen anzufühlen. Der Geistliche krümmte sich, beugte sich nach vorn und stöhnte laut, während er die Augen sogar noch weiter aufriss. Das Stöhnen klang in der leeren nächtlichen Kirche unheimlich und ließ den Angreifer erschaudern.

Als die blutige Klinge erneut zurückgezogen wurde, folgte der alte Pfarrer mit den Augen unwillkürlich der raschen Bewegung. Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass dies alles tatsächlich geschah; oder als wollte er es einfach nicht wahrhaben. Doch der einsetzende Schmerz dieser zweiten, wesentlich schwerwiegenderen Verletzung belehrte ihn zweifellos eines Besseren. Die stechenden Schmerzen signalisierten ihm, dass ihm dies alles wirklich widerfuhr. Es war kein Traum, aus dem er jeden Moment erwachen würde, um sich dankbar zu bekreuzigen und anschließend auf die andere Seite zu drehen und weiterzuschlafen. Dies alles war real! Und es würde zweifellos noch viel schlimmer werden, wenn er nicht bald etwas dagegen unternahm.

Mittlerweile wurde der Baumwollstoff seines Hemdes auch in der Bauchgegend vom ausströmenden Blut durchtränkt. Es breitete sich dort sogar wesentlich rascher aus als bei der an sich harmlosen Schulterwunde. Außerdem wurde der Geruch nach frischem Blut so intensiv, dass der Geistliche das Gefühl haben musste, er könnte es sogar auf seiner Zunge schmecken. Er taumelte leicht, als spürte er bereits den Blutverlust, obwohl dieser noch nicht wirklich dramatisch und lebensbedrohlich war.

Dennoch schien der Gedanke, dass er hier verbluten könnte, noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren, die in seinem schlanken Körper steckten. Denn mit einer Geschwindigkeit, die ihm sein Gegenüber überhaupt nicht mehr zugetraut hätte, wirbelte er plötzlich herum und rannte davon.

Er lief gebückt und wirkte dadurch von hinten wesentlich kleiner, als er tatsächlich war. Dabei presste er beide Hände gegen die Körpermitte, auch wenn er die Blutung dadurch nicht verringern, geschweige denn stoppen konnte.

Sein Angreifer hingegen hatte keine Eile. Er sah sich um, als interessierte er sich plötzlich mehr für das Innere des Sakralbaus als für sein Opfer oder als hielte er nach Zeugen seiner Tat Ausschau. Doch um diese Uhrzeit war die Kirche bis auf sie beide menschenleer. Und außerhalb des Gebäudes waren die Stimme des Pfarrers und sein Stöhnen gewiss nicht zu hören gewesen.

Es gab also keinen einzigen Zeugen der Tat.

Zufrieden richtete die Person mit dem Messer in der behandschuhten Hand ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr flüchtendes Opfer. Sie trug dunkle Kleidung und hatte die Kapuze ihres Pullis über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen.

Der schwer verletzte Geistliche hatte inzwischen beinahe die Stufen zum Altarraum erreicht. Es war jedoch deutlich zu erkennen, dass er mit seinen Kräften am Ende und vom starken Blutverlust geschwächt war. Er rannte längst nicht mehr, sondern taumelte nur noch voran. Es erschien wie ein Wunder, dass er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.

Vermutlich würde er ohnehin verbluten, auch wenn der Angreifer plötzlich beschlossen hätte, von einer Verfolgung abzusehen und den verletzten alten Mann sich selbst zu überlassen. Doch daran verschwendete dieser überhaupt keinen Gedanken. Stattdessen setzte er sich nun ebenfalls in Bewegung und folgte dem Priester. Und obwohl er nicht rannte, sondern gemessenen Schrittes ging, war er dennoch schneller als sein waidwundes Opfer.

Als der Pfarrer schließlich die Stufen erreichte, hob er die blutbesudelte rechte Hand, um sich an der weiß getünchten Wand abzustützen. Dann blieb er schwer atmend stehen, als fehlte ihm nun doch die Kraft, um auch nur eine einzige der sechs Stufen zu bewältigen. Er hatte allem Anschein nach nicht einmal mehr genug Energie, um den Kopf zu drehen und sich nach seinem Verfolger umzusehen.

Beim Näherkommen konnte dieser die angestrengten, pfeifenden Atemzüge des alten Mannes hören, mit denen er verzweifelt nach Luft schnappte. Es war das einzige Geräusch in der Kirche, denn er selbst bewegte sich absolut lautlos voran.

Der alte Mann hörte ihn daher nicht kommen, obwohl er damit rechnen musste, dass sein Angreifer die Sache hier und jetzt zu einem Ende bringen würde. Aber vielleicht hatte er nun, am Ende sowohl seiner Kräfte als auch seines Lebens, letztendlich resigniert und sich mit seinem Schicksal abgefunden.

Der Verfolger stach, ohne einen Augenblick zu zögern, ein drittes Mal zu. Die Klinge blitzte im Kerzenlicht auf, bevor sie sich tief in den ungeschützten Rücken vor ihm bohrte.

Der Geistliche stieß daraufhin ein weiteres lang gezogenes Stöhnen aus. An diesem Ort und zu dieser Uhrzeit klang es noch gespenstischer als beim ersten Mal und bescherte dem Angreifer ein weiteres Erschaudern.

Dann verstummte das Opfer abrupt und sackte in sich zusammen, als hätten sich sämtliche Knochen seines Skeletts in Gelatine verwandelt. An der Kirchenwand, an der er sich abgestützt hatte, blieb wie eine stumme Mahnung der blutige Abdruck seiner Hand zurück.

Der Angreifer beugte sich zu dem reglosen Körper hinunter.

Der Priester lebte noch, wenn auch nur gerade so. Die Messerklinge hatte sein Herz knapp verfehlt und stattdessen einen Lungenflügel durchbohrt. Bei jedem seiner schwächer werdenden Atemzüge bildeten sich blutige Luftbläschen zwischen seinen geöffneten Lippen.

Der Angreifer stellte befriedigt fest, dass die verbliebene Lebenszeit des alten Mannes gezählt war. Allerdings nicht länger in Jahren, Monaten, Wochen, Tagen und Stunden, sondern allenfalls in Minuten, wenn nicht sogar in Sekunden. Doch scheinbar genügte das der Person mit dem blutigen Fleischmesser nicht. Entweder wollte sie auf Nummer sicher gehen und nichts dem Zufall überlassen. Oder ihr lag daran, das Leid des Geistlichen zu beenden. Wie auch immer. Auf jeden Fall setzte sie die Klinge an den Hals ihres bewusstlosen, sterbenden Opfers und schnitt ihm mit einer raschen Bewegung kurzerhand die Kehle durch.

KAPITEL 2

I

Sie wurde von einem schrillen Schrei geweckt.

Anja war von einem Augenblick zum anderen hellwach. Ruckartig setzte sie sich auf. Gehetzt und schwer atmend sah sie sich um. In der Finsternis konnte sie allerdings nichts erkennen.

Ihr Herz klopfte so rasch und heftig, dass es schon beinahe wehtat. Sie fühlte sich, als hätte sie nach einem der Extremmarathons, die ihr Kollege mit Vorliebe lief, gerade die Ziellinie überquert.

Schließlich realisierte sie, dass sie selbst es gewesen war, die geschrien hatte. Sie war von ihrem eigenen Schrei geweckt worden.

Anja hob die Hände und vergrub ihr schweißnasses Gesicht darin.

Nur ein Albtraum!

Zweifellos.

Aber was für einer!

Die Bilder ihres Traums standen ihr noch immer so deutlich und lebhaft vor Augen, als handelte es sich nicht nur um bloße Traumbilder, die ihr Unterbewusstsein während des Schlafs produziert hatte, sondern als wären es reale Geschehnisse, die sie selbst erlebt hatte und die sich wegen ihrer Brutalität und Abscheulichkeit in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten.

Und wie eine ungeliebte Erinnerung spielte sich die schreckliche Szene nun erneut vor ihrem inneren Auge ab. Sie erschauderte unter dem Ansturm der Albtraumbilder, war aber unfähig, ihn zu stoppen, und musste die brutale Ermordung des Priesters noch einmal miterleben. Und erneut sah sie alles aus der Perspektive und durch die Augen des Mörders. Als wäre sie selbst die Mörderin gewesen und hätte das tödliche Messer eigenhändig geführt, um ihrem Opfer einen Stich nach dem anderen zu versetzen; bis hin zum letzten, dem finalen, lebensbeendenden Schnitt durch die Kehle des alten Mannes.

Anja schüttelte den Kopf. Sie wollte diesen furchtbaren Gedanken abschütteln, bevor er sich in ihrem Verstand verwurzeln und sie weiter quälen konnte.

Nur ein Albtraum!, wiederholte sie trotzig den einzig tröstlichen Gedanken, der ihr in diesem Augenblick einfiel.

Dennoch!

Woher kam dieser Traum? Warum ließ ihr Unterbewusstsein sie die brutale Ermordung eines Geistlichen erleben? Und dann auch noch ausgerechnet aus der Perspektive seines Mörders.

Sie hätte das Ganze als belanglos abtun können. Schließlich war es nur ein Traum. Doch so einfach war die Sache dann doch nicht. Sie hatte einen kleinen, aber entscheidenden Haken: Anja kannte das Opfer!

II

Sie kannte den alten Mann, der in ihrem Albtraum ermordet worden war!

Oder besser gesagt: Anja hatte ihn zumindest früher einmal gekannt, als sie noch ein Kind gewesen war. Doch seit damals waren viele Jahre vergangen, in denen sie den Geistlichen weder gesehen noch gesprochen hatte.

Aber wieso träumte sie dann ausgerechnet jetzt von ihm, gewissermaßen aus heiterem Himmel und ohne jeden konkreten Anlass? Und dann auch noch seine Ermordung in Breitbild und Technicolor.

Anja nahm die Hände vom Gesicht und schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. Sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Am liebsten hätte sie den Albtraum so schnell wie möglich vergessen und die dazugehörigen Bilder wie eine Leiche, die man loswerden musste, in einem abgelegenen Winkel ihres Verstandes verscharrt. Aber das ging natürlich nicht! Die Traumbilder waren hartnäckig und widersetzten sich jeglichem Versuch, sie zu verdrängen.

Sie atmete einmal ganz tief durch. Anschließend verlagerte sie ihre Aufmerksamkeit von innen nach außen und überprüfte den Zustand ihres Körpers. Anja stellte fest, dass sich ihr Herz inzwischen wieder beruhigt hatte. Es schlug nun wieder ruhig und gleichmäßig, ohne dass sie das unangenehme Gefühl haben musste, es würde jeden Moment ihren Brustkorb sprengen. Und auch ihre Atmung war wieder normal. Ihr ganzer Körper war zwar weiterhin in kalten Schweiß gebadet, sodass es sie unwillkürlich fröstelte, aber wenigstens schwitzte sie nicht länger.

Anja wunderte sich nicht, dass sie sich körperlich so rasch von ihrem schrecklichen Traumerlebnis erholt hatte. Schließlich hatte sie Erfahrung mit Albträumen; sie war gewissermaßen Expertin darin.

Seitdem sie im Alter von elf Jahren ihren Vater erhängt in seinem Arbeitszimmer gefunden hatte, verfolgte sie dieses traumatische Erlebnis, indem es sie regelmäßig im Schlaf heimsuchte und quälte. Und seit sie vor drei Monaten bei den Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers die Leiche ihres Ehemannes Fabian entdeckt hatte, der zwar erdrosselt, aber wie ihr Vater im Arbeitszimmer seines Hauses aufgehängt worden war, vermischten sich die beiden Erlebnisse zu einem einzigen furchtbaren, immer wiederkehrenden Super-Albtraum.

Doch auch das war nichts, über das sie in diesem Moment gründlicher nachdenken wollte.

Stattdessen wurde sie sich plötzlich darüber bewusst, dass sie leichte Kopfschmerzen hatte. Außerdem hatte sie großen Durst und einen unangenehmen Geschmack im Mund, der sie an die Zeit erinnerte, als sie entschieden zu viel Alkohol getrunken hatte. Doch das gehörte zum Glück der Vergangenheit an; inzwischen rührte sie keinen Tropfen mehr an.

Anja hob den Kopf und sah sich erneut um. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt. Und so konnte sie nun die Konturen ihrer Umgebung besser erkennen. Sie runzelte irritiert die Stirn. Die Schattenrisse, die sie umgaben, kamen ihr fremd vor und waren ihr nicht vertraut.

Wo bin ich?

Sie hatte keine Antwort auf diese Frage. Sie wusste nur, dass sie nicht in ihrem Schlafzimmer aufgewacht war, denn dessen Anblick war ihr sogar in der Dunkelheit vertraut.

Ein starkes Gefühl der Desorientierung überkam sie.

Bin ich etwa bei Konstantin?

Konstantin Steinhauser und sie waren seit knapp einem Monat ein Liebespaar. Soweit seine Dienstpläne als Unfallchirurg und Notarzt es ihnen erlaubten, verbrachten sie nach Möglichkeit mindestens zwei bis drei Nächte in der Woche gemeinsam in seiner oder ihrer Wohnung.

Doch Anja erkannte rasch, dass es sich auch nicht um das Schlafzimmer in Konstantins Eigentumswohnung im Münchener Stadtteil Obermenzing handelte. Außerdem befand sie sich, wie sie erst jetzt feststellte, nicht einmal in einem Bett, sondern saß aufrecht auf einer Couch.

Das ist mein Wohnzimmer!

Die Konturen, die zunächst so fremd und rätselhaft auf sie gewirkt hatten, nahmen endlich vertraute Formen an. Das Gefühl der Desorientiertheit verschwand, und Anja atmete erleichtert auf.

Sie war nicht an einem unbekannten Ort, wie sie zunächst befürchtet hatte, sondern zu Hause in ihrer eigenen Wohnung.

Aber warum lag sie nicht in ihrem Bett, sondern hatte auf der Couch geschlafen? Es kam zwar hin und wieder vor, dass sie nach einem anstrengenden Arbeitstag vor dem Fernseher einschlief. Aber wenn sie dann ein paar Stunden später wieder aufwachte, waren das Licht und das Fernsehgerät noch immer an. Doch jetzt war beides ausgeschaltet.

Ein Stromausfall?

Anja blickte unwillkürlich zum Fernseher und bemerkte, dass das rote Standby-Licht brannte. Also doch kein Stromausfall!

Was war dann der Grund, dass sie hier und nicht in ihrem Bett geschlafen hatte?

Sie zuckte mit den Achseln. Schließlich war es auch nicht so wichtig, dass sie sich darüber lange den Kopf zerbrach. Vermutlich gab es eine einfache und logische Erklärung. Und irgendwann, wenn sie nach ein oder zwei Tassen Kaffee endlich richtig wach war, würde ihr diese auch einfallen.

Anja schwang die Beine von der Couch und stöhnte dabei leise. Der Schmerz in ihrem Kopf hatte sich durch die abrupte Bewegung verstärkt. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die quälenden Kopfschmerzen während des Apokalypse-Killer-Falls. Damals hatte sie sogar zeitweise ernsthaft befürchtet, sie hätte einen Gehirntumor und sollte das vierte Opfer des Serienkillers werden, der sich Johannes genannt und todkranke Frauen umgebracht hatte.

Doch der heutige Kopfschmerz war anders. Ebenso wie der ekelhafte Geschmack und die staubige Trockenheit in ihrem Mund und der quälende Durst erinnerte er sie an längst vergangene Zeiten, in denen sie fast regelmäßig mit einem Kater aufgewacht war.

Aber das kann nicht sein! Oder etwa doch?

Die Angst des trockenen Alkoholikers vor einem Rückfall griff nach Anjas Herz und ließ sie erschaudern.

Sie stand rasch auf. Zu rasch, denn augenblicklich wurde ihr schwindelig und gleichzeitig schwarz vor Augen. Sie schwankte hin und her. Halt suchend griff sie nach dem Couchtisch, um nicht nach vorn zu kippen und auf der Tischplatte zu landen. Ihre Finger stießen gegen einen Gegenstand, der klirrend umfiel. Dann gelang es ihr endlich, sich an der Tischplatte abzustützen und dadurch einen Sturz zu verhindern. Sie wartete darauf, dass sich die Schwärze vor ihren Augen lichtete und das Schwindelgefühl, das sie erfüllte, verschwand.

Zum Glück kehrte ihre Sehkraft schon nach wenigen Augenblicken zurück. Und auch der Schwindel legte sich allmählich. Anja richtete sich wieder auf und ging mit langsamen, vorsichtigen Schritten zur Tür, um das Licht anzumachen.

Als es hell wurde, schloss sie geblendet die Lider; die Helligkeit intensivierte den Schmerz in ihrem Schädel. Dann öffnete sie die Augen behutsam, um sie an das Licht zu gewöhnen. Blinzelnd sah sie sich um.

Es war tatsächlich ihr Wohnzimmer, in dem sie sich befand. Es sah im Wesentlichen auch so aus wie immer. Das einzig Ungewöhnliche und Unerwartete war die Wodkaflasche, die auf dem Couchtisch lag, weil Anja sie umgestoßen hatte. Allerdings war kein Alkohol verschüttet worden, denn die Flasche war leer!

III

Als sie die umgekippte Flasche sah, hatte sie das unangenehme Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in einen Abgrund zu stürzen.

Sie hatte mittlerweile neun Monate lang keinen Tropfen Alkohol angerührt. Ein halbes Jahr davon hatte sie sogar eine volle Wodkaflasche in der Küche aufbewahrt, um ihre Willensstärke auf die Probe zu stellen. Doch selbst in dieser Zeit hatte sie der Versuchung nie nachgegeben. Und nach den schrecklichen Ereignissen im Rahmen der Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers hatte sie den Alkohol ohnehin in den Abfluss geschüttet und die leere Flasche entsorgt.

Woher kam also jetzt diese Wodkaflasche? Und was eigentlich noch viel wichtiger war, hatte Anja sie ganz allein ausgetrunken? Es erweckte zumindest den Eindruck, als wäre es so gewesen, denn auf dem Couchtisch stand nur ein einziges halbvolles Glas. Und auch der bohrende Schmerz in ihrem Kopf, der mit jedem Atemzug intensiver wurde, und all die anderen Begleiterscheinungen sprachen dafür, dass sie eine Menge Alkohol getrunken hatte. Aber doch keine ganze Flasche!

Oder etwa doch?

Anja wandte sich rasch ab und eilte ins Badezimmer. Ihr war plötzlich schlecht geworden. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, Klodeckel und -brille nach oben zu klappen, bevor sie sich übergeben musste.

Als der Würgereiz endlich nachließ, spülte sie das stinkende Ergebnis ihres Übelkeitsanfalls rasch hinunter. Allerdings war der Geschmack in ihrem Mund um keinen Deut besser.

Während sie sich aufrichtete, wurde ihr erneut schwarz vor Augen. Doch dieses Mal lichtete sich die Schwärze sofort wieder, ohne dass ihr schwindelig wurde und sie umzufallen drohte. Sie ging auf wackligen Beinen zum Waschbecken und wurde dort mit ihrem Ebenbild im Spiegelschrank konfrontiert.

»Na prima!«, sagte sie mit krächzender Stimme, denn sie sah exakt so aus, wie sie sich fühlte.

Die verschwitzte Haut ihres herzförmigen Gesichts mit den markanten Wangenknochen war bleich und sah ungesund aus. Die grünen Augen waren blutunterlaufen und glänzten fiebrig. Und ihre kurzen, dunkelblonden Haare standen auf der linken Seite wie beim Struwwelpeter ab, während sie auf der anderen Seite angeklatscht waren und schweißfeucht glänzten.

Gut, dass Konstantin heute Nacht nicht bei mir übernachtet hat, dachte sie. Ein solcher Anblick hätte ihn ansonsten vielleicht dazu bringen können, sein Heil in der Flucht zu suchen.

Anjas Mund, der, wenn sie ein Mitspracherecht gehabt hätte, gern etwas schmaler hätte sein können, verzog sich zur Andeutung eines Grinsens. Es verschwand allerdings augenblicklich wieder, als sie sich an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer erinnerte.

Ich dachte, der Traum, den ich hatte und in dem der Pfarrer ermordet wurde, wäre der Albtraum, dachte sie. Aber ich habe mich getäuscht. In Wahrheit ist das hier der echte Albtraum!

Als sie den Blick vom Spiegel abwandte und an sich heruntersah, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie nicht wie sonst in T-Shirt und Schlüpfer geschlafen hatte, sondern eine schwarze Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli trug. Kein Wunder also, dass sie so stark geschwitzt hatte. Die Sachen waren feucht und klebten teilweise auf ihrer Haut.

Sie zog den Pulli über den Kopf. Darunter hatte sie ein dunkelgraues T-Shirt an. Es war völlig durchgeschwitzt. Sie fröstelte, als der Schweiß auf ihrer Haut trocknete und ihr dadurch kalt wurde.

Rasch entledigte sich Anja der übrigen Kleidungsstücke einschließlich ihres verschwitzten Schlüpfers und der Socken, bis sie nackt und frierend vor dem Waschbecken stand.

Aus Gewohnheit öffnete sie den Teil des Spiegelschranks, in dem sich ihre karge Hausapotheke befand.

Bis zum Fall des Apokalypse-Killers, der damit geendet hatte, dass sie ihn auf dem Waldfriedhof in Notwehr getötet hatte, hatte sie nach ihren regelmäßig wiederkehrenden Albträumen stets wie unter Zwang nach einer Schachtel Schlaftabletten gegriffen. Sie waren ihr wegen ihrer zeitweiligen Schlaflosigkeit aufgrund ihrer damaligen Eheprobleme verschrieben worden; doch Anja hatte sie nie eingenommen. Stattdessen hatte sie die Pillen für den Fall aufbewahrt, dass ihr irgendwann einmal alles zu viel werden und sie nach einem leichten Ausweg suchen sollte. Beim Anblick der Tabletten hatte sie stets den Lockruf des Abgrunds vernommen, der jenseits der Schwelle lag, die der Tod für die Lebenden darstellte. Doch zum Glück hatte sie dem Sirenengesang nie nachgegeben, sondern das Rendezvous mit dem Sensenmann, das allen Menschen früher oder später bevorstand, ein ums andere Mal aufgeschoben. Nach den Erlebnissen mit dem Serienkiller Johannes war der Lockruf dann endlich verstummt. Anja hatte die Tabletten am Grab ihres Vaters ins regennasse Gras fallen lassen. Und den Wodka, mit dem sie die Tabletten im Fall des Falles hatte hinunterspülen wollen, hatte sie weggeschüttet.

Fast erwartete sie nun, die Schlaftabletten wären ebenso wie die Wodkaflasche in ihr Leben zurückgekehrt. Doch das war zum Glück nicht der Fall. Die Stelle, an der sie früher immer gelegen hatten, war noch immer verwaist. Und auch der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes, den sie früher beim Anblick des Einschlafmittels verspürt hatte, blieb ihr erspart. Sie hatte nicht länger das Gefühl, der Tod wäre eine einfache und praktikable Möglichkeit, all ihre Probleme auf einen Schlag zu lösen. Die Begegnung mit dem Apokalypse-Killer, so schrecklich sie auch gewesen war und so vielen Leuten er den Tod gebracht hatte, hatte ihr zumindest den unbedingten Willen zum Weiterleben zurückgegeben. Und dafür war sie zutiefst dankbar.

Dennoch fragte sie sich, als sie den Spiegelschrank wieder schloss, was hier eigentlich los war. Woher kam die Wodkaflasche? Hatte sie selbst sie besorgt, ohne dass sie sich daran erinnern konnte? Und hatte sie dann die Flasche ausgetrunken und auf der Couch das Bewusstsein verloren, um in einem der fürchterlichsten Albträume mitzuerleben, wie ein Geistlicher, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte, ermordet wurde?

Das kann doch alles nicht wahr sein!, dachte Anja. Wie an einen Strohhalm klammerte sie sich verzweifelt an den plötzlich in ihr aufkeimenden Einfall, dass sie noch immer träumte. Dass sie weiterhin tief und fest schlief und der Albtraum noch gar nicht zu Ende gegangen war.

Doch dann überzeugte der Schmerz in ihrem Kopf sie davon, dass sie wach war und nicht träumte.

Ihr wurde erneut bewusst, dass sie großen Durst hatte und fror. Außerdem stank sie nach dem Schweiß, der zum größten Teil auf ihrem Körper getrocknet war. Alles in ihr sehnte sich nach einer heißen Dusche. Sie wusste zwar nicht, wie spät es war, doch ihre innere Uhr sagte ihr, dass es noch ein paar Stunden dauern würde, bis der neue Tag heraufdämmerte. Und da sie ohnehin so schnell keinen Schlaf finden würde, weil ihr so viele beunruhigende und beängstigende Gedanken durch den Kopf gingen, konnte sie genauso gut duschen, sobald sie sich die Zähne geputzt hatte, um den üblen Geschmack loszuwerden, und etwas Wasser getrunken hatte, um ihren Durst zu stillen.

Wenn sie hinterher immer noch nicht müde war, wollte sie einen großen Becher Kaffee trinken und anschließend eine Runde durch den Westpark joggen. Vielleicht kam sie dabei auf andere Gedanken.

KAPITEL 3

I

Doch aus dem Laufen wurde leider nichts.

Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich schon erheblich besser. So als hätte sie damit nahezu alle körperlichen Nachwirkungen des Alkoholkonsums und des Albtraums einfach wegwaschen können. Obwohl sie sich noch immer lebhafter, als ihr lieb war, an die Ermordung des katholischen Priesters erinnerte, standen ihr die Bilder nicht mehr ständig anklagend vor Augen. Und auch die Kopfschmerzen waren wesentlich schwächer geworden. Deswegen verzichtete sie auch darauf, eine Schmerztablette zu nehmen.

Die Welt sah also schon wieder etwas besser aus, als Anja, lediglich in einem Bademantel gehüllt, in der Küche saß und den ersten Becher Kaffee des Tages trank.

Um das angenehme Gefühl, das sie erfüllte, nicht sofort wieder im Keim zu ersticken, vermied sie es bewusst, an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer zu denken. Oder sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum sie sich nicht daran erinnern konnte, dass sie diese gekauft und den Alkohol getrunken hatte. Denn jedes Mal, wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung lenkte, stieß sie nicht auf die fraglichen Erinnerungen, sondern nur auf eine blanke, leergefegte Fläche.

Ein Blackout!

Aus der unrühmlichen Phase ihres Lebens, als sie zu viel und zu regelmäßig getrunken hatte, um ihre Sorgen und Probleme im Alkohol zu ertränken, kannte sie solche Blackouts. Doch irgendwie fühlte es sich heute anders an als früher. Es fühlte sich nicht richtig an! Allerdings konnte Anja zu ihrem Bedauern nicht sagen, was genau sie daran störte. Sie wusste nur, dass es nicht so war, wie es eigentlich sein sollte. Und das beunruhigte sie.

Deshalb vermied sie für den Moment nach Möglichkeit alle Überlegungen, die in diese Richtung gingen. Sie wusste ohnehin, dass sie augenblicklich noch nicht einmal ansatzweise in der Lage war, dieses Rätsel zu lösen. Also war es besser, sie ließ es vorerst bleiben und grübelte nicht dauernd fruchtlos darüber nach. Damit verschwendete sie nur ihre Zeit; und die konnte sie auf andere Art und Weise wesentlich besser nutzen.

Anja trank den Kaffeebecher aus und überlegte, ob sie sich erst noch einen zweiten genehmigen oder sich stattdessen gleich ihre Joggingsachen anziehen sollte. Doch noch bevor sie sich entschieden hatte, intonierte ihr Handy das Lied »Engel« von Rammstein und signalisierte ihr damit, dass sie einen Anruf bekam.

Nachdem sie den leeren Becher abgestellt hatte, stand sie auf und ging in den Flur, aus dem der Klingelton ihres Smartphones kam. Es lag auf dem Schuhschrank neben der Garderobe. Anja konnte sich zwar nicht erinnern, es gestern dorthin gelegt zu haben, aber da sie das oft tat, wunderte sie sich auch nicht darüber.

Sie erkannte die Nummer, die angezeigt wurde, und verzog unweigerlich das Gesicht. Ein Anruf dieses Mannes war für sie gleich in zweifacher Hinsicht unangenehm. Erstens mochte sie Anton Krieger nicht besonders. Und zweitens bedeutete es prinzipiell nie etwas Gutes, wenn ein Kollege von der Mordkommission sie zu einer derart nachtschlafenden Zeit anrief.

II

Anja Spangenberg war ebenfalls bei der Kriminalpolizei München tätig. Allerdings arbeitete sie nicht in der Mordkommission, sondern als Kriminalhauptkommissarin im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle. Diese war für Vermisste und unbekannte Tote zuständig. Da Anja allerdings keine besondere Vorliebe für, sondern im Gegenteil eine ausgeprägte Abneigung gegen Leichen hatte, war sie froh, dass sich ihr Zuständigkeitsbereich auf vermisste Personen beschränkte.

Gleichwohl wurde sie immer dann von den zuständigen Mord- oder Todesermittlern umgehend darüber informiert und an den Tatort oder in einen Sektionsraum des Instituts für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße gebeten, wenn einer ihrer Vermissten als Leichnam wieder auftauchte. Dort mussten sie dann gemeinsam einen Abgleich der Beschreibungsmerkmale der unbekannten Leiche mit den Angaben über die vermisste Person aus der Vermisstenanzeige durchführen, um zu klären, ob es sich bei dem Leichnam tatsächlich um die gesuchte Person handelte. Sofern die vorhandenen Merkmale für eine zweifelsfreie Identifizierung nicht ausreichten, erfolgte zusätzlich ein DNA-Abgleich. Erst wenn die Leiche eindeutig als die vermisste Person identifiziert werden konnte, konnten auch die Angehörigen benachrichtigt werden. Damit war der Vermisstenfall für Anja erledigt.

Obwohl es zum Glück nicht oft vorkam, weil die überwiegende Anzahl der Vermisstenfälle sich dadurch erledigte, dass die Vermissten früher oder später von selbst nach Hause zurückkehrten oder dank der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen gefunden wurden, hatte Anja einen wahren Horror vor den sporadischen Besuchen im Keller des rechtsmedizinischen Instituts.

Als sie nun die Nummer des Anrufers erkannte, brach ihr daher erneut der Angstschweiß aus. Und obwohl sie gerade einen ganzen Becher Kaffee ausgetrunken hatte, wurde ihr Mund so trocken, als hätte sie einen Spaziergang durch die Wüste unternommen.

Wenn Kriminaloberkommissar Anton Krieger um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass eine unbekannte Leiche aufgetaucht war und die routinemäßige Recherche in der Datei für »Vermisste/Unbekannte Tote« einen Zusammenhang mit einem ihrer Vermisstenfälle ergeben hatte. Anja erschauderte daher schon beim bloßen Gedanken daran, dass sie demnächst erneut mit einer Leiche konfrontiert werden würde.

Das hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt!

Als wenn sie im Augenblick nicht schon genug eigene Probleme hätte. Erst das Erwachen aus dem allzu realistischen und detaillierten Albtraum über die Ermordung des Geistlichen, den sie als Kind gekannt hatte. Anschließend die Feststellung, dass sie eine Flasche Wodka geleert hatte, obwohl sie seit einem Dreivierteljahr keinen Alkohol mehr angerührt hatte. Dann die Gedächtnislücke, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, die Wodkaflasche gekauft und ausgetrunken zu haben. Und jetzt, gewissermaßen als krönender Abschluss des Ganzen, auch noch ein nächtlicher Besuch in der Rechtsmedizin, auf den sie auch an besseren Tagen gut und gerne verzichten konnte.

Na prima!, dachte Anja missmutig. Wenn ein Tag schon so hundsmiserabel anfing, dann ging es ihrer Erfahrung nach auch munter so weiter und wurde kein Stück besser, sondern immer schlimmer.

Sie erinnerte sich automatisch an ihren letzten Besuch in einem der Sektionsräume, die ihr jedes Mal erneut das Gruseln lehrten. Er lag mittlerweile drei Monate zurück und hatte zu ihren Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers geführt. Und am Ende beinahe dazu, dass ihre Cousine Tanja und sie selbst ihr Leben verloren hätten.

Als sie sich schließlich wieder des Mobiltelefons in ihrer Hand bewusst wurde, das noch immer unermüdlich den Rammstein-Song spielte, seufzte sie leise, ergab sich jedoch in ihr Schicksal und nahm den Anruf widerwillig entgegen.

III

»Wunderschönen guten Morgen, hochverehrter Kollege Krieger«, flötete sie ins Gerät, obwohl ihr eher danach zumute war, ihn anzuschnauzen, was ihm eigentlich einfalle, sie um diese Uhrzeit anzurufen, und dass er das gefälligst nie wieder tun solle. Doch sie beherrschte sich. Wenn sie entgegen ihrer wahren Gefühle und ihrer Natur freundlich zu ihm war, nahm sie ihm damit vermutlich noch am ehesten den Wind aus den Segeln.

Und es funktionierte tatsächlich. Es kam nicht oft vor, dass Anton Krieger sprachlos war. Doch diesmal war das der Fall. Vermutlich hatte er damit gerechnet und sogar darauf gehofft, er könnte Anja mit seinem Anruf aufwecken, und insgeheim seine diebische Freude daran gehabt. Dass Anja wach und augenscheinlich auch noch bestens gelaunt war, vermieste ihm hoffentlich die Schadenfreude.

»Was ist los, Krieger?«, fragte Anja nach, als er nichts erwiderte. »Hat es dir die Sprache verschlagen?« Sie wünschte sich, das wäre tatsächlich der Fall. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn sie ein einziges Mal mit ihm telefonieren könnte, ohne sich seine dummen Sprüche und abfälligen Bemerkungen anhören zu müssen.

Doch der Kollege von der Mordkommission erholte sich rasch wieder. »Natürlich nicht. Ich war nur für einen kurzen Augenblick überrascht, dass du um diese Uhrzeit schon wach bist.«

Zu Anjas Überraschung beließ er es dabei. Sie hatte damit gerechnet, dass er noch etwas Anzügliches von sich geben würde. Dass er stattdessen ausnahmsweise darauf verzichtete, irritierte sie daher.

Was ist denn mit dem los?

Anton Krieger war die unangenehmere Hälfte eines Mordermittlerteams, mit dem Anja schon mehrmals zusammengearbeitet hatte. Zuletzt im Fall des Apokalypse-Killers. Sein Kollege war Kriminalhauptkommissar Peter Englmair. Die beiden Männer arbeiteten beim Kommissariat 11 und waren für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig. Während Englmair der freundliche und väterliche Typ war, mit dem Anja immer wieder gern zusammenarbeitete, verkörperte Krieger wie die andere Seite einer Medaille das exakte Gegenteil. Unter anderem hatte er eine Gabe dafür, die empfindlichsten Punkte anderer Menschen zu entdecken, um sie dann gekonnt gegen sie zu verwenden. Beim Verhör eines Verdächtigen war das natürlich hilfreich. Doch dadurch, dass er es nahezu gegenüber jedermann einsetzte, machte er sich bei seinen Bekannten und Kollegen keine Freunde.

»Ich bin aufgestanden, um zu joggen«, log Anja, ohne von ihm danach gefragt worden zu sein, warum sie schon wach war. Allerdings war es gar keine hundertprozentige Lüge, denn ohne seinen Anruf wäre sie vielleicht schon unterwegs. »Als du angerufen und mich gestört hast, wollte ich gerade meine Joggingklamotten anziehen und ein paar Runden im Westpark drehen.«

»Ach ja? Laufen wolltest du also.« Es klang argwöhnisch, so als glaubte er ihr nicht.

Anja runzelte verwirrt die Stirn. Sein merkwürdiges Verhalten war absolut untypisch für ihn. Normalerweise hätte er schon längst ein paar dämliche Sprüche und die eine oder andere anzügliche Bemerkung zum Besten gegeben. Dass er das völlig unterließ und stattdessen so ungewohnt ernst und vernünftig klang, machte sie unwillkürlich nervös. Um die aufkeimende Nervosität zu überspielen, versuchte sie es ihrerseits mit Humor.

»Ja, laufen. Du weißt schon, das ist eine Fortbewegungsart, bei der man die Beine abwechselnd nach vorne und nach hinten bewegt. Mir ist natürlich klar, dass dir dieses Konzept nicht bekannt ist, weil du dich am liebsten mit dem Auto fortbewegst. Dabei solltest auch du dich mehr bewegen, Krieger, wenn du nicht in ein paar Jahren an einem Herzinfarkt sterben willst.«

Doch Krieger sprang nicht darauf an. Seine Stimme klang normalerweise immer etwas ölig und einschleimend und erinnerte an einen Gebrauchtwagenhändler oder Versicherungsvertreter unmittelbar vor dem Vertragsabschluss; vor allem, wenn er mit Frauen oder Vorgesetzten sprach. Doch dieses Mal war nichts davon herauszuhören. Stattdessen klang seine Stimme geradezu geschäftsmäßig ernst.

»Ich weiß, was laufen ist«, sagte er humorlos.

Anja seufzte. Sonst ärgerte sie sich immer über Kriegers dumme und geradezu primitive Kommentare. Aber wenn er wie jetzt vollkommen darauf verzichtete, war ihr das dann auch wieder nicht recht, weil es alles andere als normal war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte und er sich deshalb so seltsam verhielt. Sie wusste allerdings nicht, was nicht stimmte. Vermutlich hatte es mit dem Grund seines Anrufs zu tun. Deshalb wollte sie endlich wissen, worum es eigentlich ging.

»Wie wär’s, wenn du mir endlich sagst, warum du mich um diese Uhrzeit anrufst? Bestimmt nicht nur, um mit mir zu plaudern. Vor allem, weil du heute anscheinend nicht zum Plaudern aufgelegt bist.«

»Stimmt«, war alles, was er darauf erwiderte.

Seine ungewohnte Wortkargheit trieb Anja allmählich zur Weißglut. Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und wusste noch nicht einmal, was eigentlich genau passiert war. Da konnte sie so etwas nicht auch noch gebrauchen. Sie stöhnte daher laut, sodass er es hören musste. »Ich verliere wirklich bald die Geduld mit dir, Krieger. Entweder lässt du mich mit deinem Partner reden, damit ich endlich mit einem vernunftbegabten Erwachsenen sprechen kann, oder du sagst mir gefälligst, was los ist.« Sie wartete seine Antwort jedoch gar nicht erst ab, sondern fuhr unverzüglich fort: »Lass mich raten: Ihr habt ein neues Mordopfer. Und nach einem Blick in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen beim BKA habt ihr festgestellt, dass es sich um einen meiner Vermissten handelt. Und jetzt rufst du mich an, damit ich zu euch ins Institut für Rechtsmedizin komme, um die Leiche zu identifizieren. Und? Habe ich recht oder habe ich recht?«

»Teilweise«, erwiderte Krieger knapp. Welche Laus auch immer ihm über die Leber gelaufen war, sie musste riesig gewesen sein.

»Was meinst du damit?« Anja runzelte die Stirn, während sie darüber nachdachte. »Jetzt lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen und rede gefälligst in ganzen und verständlichen Sätzen mit mir!«

»Wir haben tatsächlich ein neues Mordopfer …«

»Aber …?«

»Wir kennen bereits seine Identität. Und ausnahmsweise handelt es sich nicht um einen deiner Vermisstenfälle.« Damit wollte er vermutlich darauf anspielen, dass sie im Fall des Apokalypse-Killers gleich mehrere vermisste Frauen verloren hatte, weil der Täter sie zunächst entführt und anschließend getötet hatte. »Außerdem sollst du nicht ins Institut für Rechtsmedizin, sondern zum Tatort kommen.«

»Aber wieso? Was habe ich mit eurem Mordopfer zu schaffen, wenn es keiner meiner Fälle ist? Und wozu braucht ihr mich dann am Tatort, wenn ich euch ohnehin nicht bei der Identifizierung helfen muss?«

Einerseits war Anja erleichtert, dass sich nicht schon wieder einer ihrer Fälle durch den Tod der vermissten Person erledigt hatte. Andererseits beunruhigte sie Kriegers Anruf über alle Maßen. Sie musste an den Albtraum und den Wodka denken und hatte das unangenehme Gefühl, dass dieses Telefonat nichts anderes war als eine Fortsetzung der Katastrophenserie, mit der dieser Tag begonnen hatte.

»Das erzählen wir dir, wenn du hier bist.«

Anja sah ein, dass sie von einem ungewöhnlich wortkargen und ernsten Krieger keine weiteren Informationen bekommen würde. Es schien ihm im Gegenteil geradezu einen Mordsspaß zu bereiten, sie weiterhin im Unklaren und zappeln zu lassen, auch wenn er sich davon nichts anmerken ließ.

Sie seufzte. »Na schön, ich komme. Wo finde ich euch?«

Als der Mordermittler ihr die Adresse nannte, überlief es sie eiskalt. Die düstere Vorahnung, die sie bislang erfüllt hatte, verwandelte sich jäh in eine schreckliche Gewissheit und ließ sie erschaudern.

KAPITEL 4

I

Als sie sich dem Altarraum der Kirche näherte, fiel ihr als Erstes der einzelne blutige Handabdruck an der weißen Wand auf. Er wirkte auf sie wie ein unheimliches Vorzeichen für das, was sie an diesem Ort erwartete.

Sie musste sich zwingen, nicht erschrocken innezuhalten. Beklommen ging sie näher heran und war darum bemüht, sich ihre Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. Während sie das tat, erkannte sie weitere Einzelheiten.

Unmittelbar unterhalb des roten Abdrucks lag der leblose Körper, der ihn verursacht hatte, vor den sechs Stufen, die zum erhöhten Altarbereich der Kirche führten. Er war mit einem weißen Tuch abgedeckt, sodass Anja sein Anblick fürs Erste erspart blieb.

Krieger und Englmair, die beiden Mordermittler, standen in der Nähe der Leiche und unterhielten sich flüsternd. Es sah so aus, als wären sie unterschiedlicher Meinung. Während Krieger auf ihn einredete und dabei mit den Händen gestikulierte, schüttelte Englmair, der einen Notizblock und einen Kugelschreiber hielt, immer wieder entschieden den Kopf. Auch das halbe Dutzend Kollegen von der Kriminaltechnik in ihren weißen Overalls, die das Kirchenschiff gründlich unter die Lupe nahmen, sowie zwei uniformierte Beamte verhielten sich ungewohnt leise. Obwohl sich also fast ein Dutzend Personen in der Kirche aufhielten, war es ungewöhnlich ruhig. Das lag vermutlich in erster Linie daran, dass sie sich in einem Gotteshaus aufhielten. In Kirchen senkten die meisten Menschen automatisch ihre Stimmen, als wäre es ein Sakrileg, laut zu sprechen.

Obwohl Anja sich bemühte, leise aufzutreten, verursachten die Absätze ihrer schwarzen Lederstiefel dennoch laut klackende Geräusche auf den Bodenfliesen und kündigten den beiden Mordermittlern ihre Ankunft an. Sie verstummten daher in diesem Augenblick und wandten synchron die Köpfe in ihre Richtung, als die Kollegin von der Vermisstenstelle den Mittelgang verließ und sich ihnen und dem Leichnam näherte.

Wegen der herbstlichen Kühle an diesem frühen Morgen trug Anja über ihrer schwarzen Jeanshose und dem dunkelgrauen Rollkragenpullover einen schwarzen Mantel. Sie begrüßte zuerst Englmair und dann etwas widerwilliger auch Krieger wortlos mit einem Nicken. Zwei Meter von der zugedeckten Leiche entfernt blieb sie schließlich bei den beiden Mordermittlern stehen.

Obwohl sie charakterlich absolute Gegensätze waren, wodurch sie wie die beiden Seiten einer Münze wirkten und sich in ihrer Arbeit als Mordermittlerteam so hervorragend ergänzten, wurden sich die beiden Männer äußerlich von Jahr zu Jahr immer ähnlicher. Beide waren leicht übergewichtig und hatten rasierte Köpfe. Sie unterschieden sich vor allem in ihrer Kleidung und ihrer Körpergröße. Der einundvierzigjährige Englmair war mit seinen eins achtzig nämlich ganze zehn Zentimeter größer als sein drei Jahre jüngerer Kollege. In der Dienststelle wurden die beiden oft als siamesische Zwillinge bezeichnet, da man einen von ihnen fast nie allein, sondern beide in der Regel nur im Doppelpack antraf.

Ein weiterer Unterschied, der Anja in diesem Augenblick besonders bewusst wurde, bestand in ihren Gesichtsausdrücken. Denn während der gutmütig wirkende Englmair Anja mit einem freundlichen Lächeln begrüßte, sah der missmutige Krieger sie mit düsterer Miene so argwöhnisch und vorwurfsvoll an, als wäre sie die Hauptverdächtige in einem Mordfall.

Der Gedanke, der ihr ungewollt und ungebeten in den Sinn gekommen war, machte ihr unwillkürlich Angst. Anja schluckte, bemühte sich aber, sich von ihren wahren Gefühlen nichts anmerken zu lassen.

»Da bin ich!«, sagte sie, als sähen ihre Kollegen das nicht selbst, und breitete die Arme aus. »Könnt ihr zwei mich jetzt endlich darüber aufklären, warum ich um diese Uhrzeit unbedingt hierherkommen musste.« Sie vermied es, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen, obwohl durch die Decke nur die Umrisse eines auf der Seite liegenden Menschen zu erkennen waren. Stattdessen richtete sie ihren fragenden Blick auf Englmair, von dem sie sich eher eine vernünftige Antwort auf ihre Frage erhoffte.

Doch es war Krieger, der ihr antwortete: »Wegen ihm hier natürlich.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Leichnams.

Anja folgte der Bewegung automatisch mit den Augen und starrte die verdeckte Leiche an.

Seit Krieger ihr gesagt hatte, wohin sie kommen sollte, hatte sich die düstere Ahnung, um wen es sich bei dem Mordopfer handelte, in schreckliche Gewissheit verwandelt. Doch sie ließ sich davon nichts anmerken und spielte weiterhin die Ahnungslose. Noch wusste sie schließlich nicht, was hier eigentlich los war.

Bis zum gestrigen Tag war ihr Leben im Grunde noch halbwegs in Ordnung gewesen. Dann hatte sie im Traum aus der Perspektive des Täters die Ermordung eines Priesters miterlebt, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte. Anschließend hatte sie auch noch feststellen müssen, dass sie nach Monaten der Abstinenz wieder trank. Das alles hatte dazu geführt, dass Anja sich mittlerweile so fühlte, als säße sie in einem führerlosen Fahrzeug, das sie in halsbrecherischer Fahrt an ein unbekanntes Ziel beförderte, ohne dass sie eine Möglichkeit gehabt hätte, den Kurs zu beeinflussen oder den Wagen abzubremsen.

»Wer ist das?«

»Jetzt tu bloß nicht so, als wüsstest du das nicht schon längst«, sagte Krieger und funkelte sie zornig an.

»Und woher soll ich das bitte schön wissen? Ich bin schließlich gerade erst gekommen. Und außerdem ist der Leichnam zugedeckt.«

»Verarsch uns bloß nicht, Spangenberg!«

Anja wandte den Blick ab und sah stattdessen Englmair an. »Kannst du mir vielleicht sagen, was in deinen Kollegen gefahren ist? Hat er gerade seine Tage oder was?«

»Weißt du, wo wir hier sind?«, reagierte Englmair mit einer Gegenfrage.

Anja machte sich gar nicht erst die Mühe, sich genauer umzusehen. Sie wusste ganz genau, wo sie sich befanden. »Wir sind in einer katholischen Kirche im Stadtteil Obermenzing. Sie heißt Leiden Christi.«

Englmair nickte bestätigend. »Warst du schon mal hier?«

Anja nickte seufzend und sah sich jetzt doch um. Zusätzlich zu den Decken- und Wandlampen hatten die Kriminaltechniker mobile Scheinwerfer aufgestellt, sodass der Innenraum der Kirche taghell ausgeleuchtet wurde. So hatte sie diesen Ort noch nie gesehen. Dennoch war er ihr noch immer vertraut, denn seit ihrer Kindheit hatte sich hier drin kaum etwas verändert.

»Ich bin in der Nähe aufgewachsen und wurde an diesem Ort getauft«, sagte sie. »Als Kind bin ich hier oft zum Gottesdienst gegangen. Und hier habe ich auch meine Erstkommunion gefeiert.«

»Wenn du diesen Mordschauplatz schon so gut kennst, dann kannst du doch sicherlich auch erraten, wer hier ermordet wurde«, sagte Krieger und grinste höhnisch.

Anja sah erneut auf den zugedeckten Leichnam. Auch wenn sie heute Nacht nicht von der Ermordung eines Geistlichen geträumt hätte, hätte sie allein aufgrund des Fundorts als Erstes darauf getippt, dass der Pfarrer dieser Kirchengemeinde das Mordopfer war.

»Ich nehme mal an, dass es sich um den Pfarrer handelt«, sagte sie daher.

»Du nimmst es also mal an.« Krieger schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er gehört hatte. »Oder ist es nicht eher so, dass du ganz genau weißt, wer das Opfer ist, weil du ihn kennst.«

»Was soll das hier eigentlich werden, Englmair?«, beschwerte sie sich. »Bin ich etwa plötzlich die Verdächtige in einem Mordfall? Wenn ja, sollten dieser Knallkopf und du mir besser erst einmal meine Rechte vorlesen.«

»Quatsch!«, sagte der Angesprochene und schüttelte den Kopf. »Du bist keine Verdächtige.«

»Ach, ist sie das nicht?« Krieger sah seinen Kollegen verärgert an.

»Nein!«, antwortete Englmair entschieden und schränkte dann ein. »Zumindest im Moment noch nicht. Sie ist noch immer eine geschätzte Kollegin von der Vermisstenstelle. Und alle Verdachtsmomente, die sich hinsichtlich dieses Mordfalls gegen sie ergeben, werden wir klären. Oder traust du der Kollegin wirklich zu, einen derartig kaltblütigen und brutalen Mord zu begehen?«

»Warum nicht?«, erwiderte Krieger wie aus der Pistole geschossen und sah Anja finster an. »Schließlich hat sie auch den Apokalypse-Killer getötet.«

»Das war Notwehr!«, sagten Anja und Englmair wie aus einem Mund.

»Behauptet sie«, sagte Krieger trotzig, als wollte er unbedingt das letzte Wort behalten.

Anja schüttelte den Kopf. Mit jeder weiteren Minute, die verging, wuchs ihre Beunruhigung. Was zum Henker war hier bloß los? Krieger hielt sie für eine Verdächtige in diesem Mordfall und traute ihr zu, einen kaltblütigen, brutalen Mord zu begehen. Er bezweifelte sogar, dass sie den Apokalypse-Killer in Notwehr getötet hatte. Englmair hielt zwar zu ihr, hatte jedoch einschränkend gemeint, dass sie noch keine Verdächtige wäre. Außerdem hatte er von Verdachtsmomenten ihr gegenüber gesprochen.

Welche Verdachtsmomente?

Sie erinnerte sich natürlich sofort wieder an den allzu realistisch wirkenden Albtraum, der ausgerechnet an diesem Ort stattgefunden und den Mord an dem Geistlichen gezeigt hatte. War es etwa mehr als nur ein Traum gewesen? Aber wie konnte sie dann davon geträumt haben? Das hieße doch, dass sie zumindest persönlich anwesend gewesen sein musste, um hinterher überhaupt davon träumen zu können.

Der Gedanke machte ihr Angst, deshalb verfolgte sie ihn nicht weiter. Ihr wurde immer mulmiger zumute. Sie wollte endlich Gewissheit darüber haben, was hier geschehen war und was sie damit zu tun hatte.

»Was ist jetzt?«, fragte sie. »Handelt es sich bei dem Opfer um den Pfarrer oder nicht?«

»Sieh es dir am besten selbst an«, sagte Englmair und nickte Krieger zu. Der ging umgehend zur Leiche, bückte sich und zog wie ein Zauberkünstler auf der Bühne mit einem Ruck die Decke zur Seite. Fehlte eigentlich nur noch, dass im Hintergrund eine Kapelle einen Tusch spielte.

II

Anja hätte am liebsten die Augen geschlossen, um dem furchtbaren Anblick zu entgehen oder ihn zumindest hinauszuzögern, damit sie sich mental darauf vorbereiten konnte. Doch dafür war es zu spät. Wie ein Kind, das ins Wasser geworfen wird, damit es auf die harte Tour schwimmen lernt, wurde sie mit dem Anblick der Leiche konfrontiert.

Ihre üblichen Reaktionen beim Anblick eines toten Menschen setzten umgehend ein. Ihr wurde schlecht, ihr Herzschlag beschleunigte sich, und der Schweiß brach ihr aus. Alles in ihr, jede einzelne Faser ihres Körpers, schrie danach, sich herumzuwerfen und aus der Kirche zu rennen. Doch wie immer widersetzte sie sich dem Fluchtimpuls standhaft und blieb an Ort und Stelle, so schwer ihr das auch fiel. Obwohl sie in ihrer Laufbahn schon mehrere Leichen gesehen hatte, wurde es nicht besser, sondern war jedes Mal mindestens genauso schlimm wie zuvor.

Dann legte sich ihre panische Angst endlich ein wenig, sodass sie wieder in der Lage war, vernünftig zu überlegen.

Er ist es tatsächlich!, war ihr erster Gedanke. Aber wie ist das möglich? Wie konnte ich in der Nacht, als er starb, von seiner Ermordung träumen, so als hätte ich selbst das Messer geführt, ohne dabei gewesen zu sein?

Ihre Gedanken wirbelten wie ein Schwarm Schmetterlinge durcheinander, während sie über diese Fragen nachdachte. Die einzig logische Schlussfolgerung, die sich zwangsläufig daraus ergab, ließ sie erschaudern und sorgte dafür, dass sich ein eisiger Klumpen aus ungetrübter Angst in ihrem Magen bildete.

Ich konnte nur davon wissen und den Mord so lebhaft und detailliert im Traum erleben, wenn ich tatsächlich dabei gewesen war!, gab sie sich schließlich selbst die Antwort auf ihre Fragen.

Aber war das wirklich so undenkbar, wie es ihr erschien?

Während ihr all diese Überlegungen blitzartig durch den Kopf schossen, ruhte ihr fassungsloser Blick weiterhin auf dem Leichnam des Mannes, dessen Ermordung sie geträumt hatte.

Er sah exakt so aus wie in ihrem Albtraum, was den Eisklotz aus Angst in ihren Eingeweiden sofort erheblich anwachsen ließ. Seit sie ihn vor dreiundzwanzig Jahren zum letzten Mal bewusst gesehen hatte, war er sichtlich gealtert. Er musste mittlerweile Ende fünfzig oder Anfang sechzig sein. Das kurz geschnittene Haar war ergraut, aber immer noch voll. Zahlreiche Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben, das ihr als junges Mädchen stets so gütig und mitfühlend erschienen war. Jetzt, im Tod, war davon allerdings nichts mehr zu sehen. Er war nur noch ein toter alter Mann. Außerdem war er schlanker, als sie ihn aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte, trug ansonsten aber die gewohnte Kleidung, bestehend aus schwarzen Halbschuhen, einer schwarzen Hose und einem Kollarhemd.

Als Anjas Blick über seinen Körper wanderte, sah sie, dass er exakt die Verletzungen aufwies, die ihm auch in ihrem Albtraum zugefügt worden waren. Sie registrierte die beiden Stiche in die Schulter und in den Bauch. Außerdem war natürlich nicht zu übersehen, dass ihm die Kehle durchgeschnitten worden war. Nur die Stichwunde in seinem Rücken konnte Anja von ihrem Standort aus nicht sehen. Sie zweifelte allerdings nicht daran, dass sie ebenfalls da war, und erschauderte erneut, als sie sich unwillkürlich fragte, woher sie das alles wusste. Die Wunden hatten teilweise heftig geblutet. Das Kollarhemd hatte sich überall dort, wo es durchbohrt worden war, dunkler verfärbt; vor allem im Bauchbereich. Darüber hinaus hatte sich unter dem Geistlichen eine Blutlache gebildet. Sie war längst geronnen und hatte sich braun verfärbt; der Mord musste also schon ein paar Stunden her sein.

»Und? Kennst du ihn?« Trotz der Verdachtsmomente gegen sie, von denen Englmair zuvor gesprochen hatte, klang seine Stimme sanft.

Seine Frage riss sie aus ihren Überlegungen. Sie dachte fieberhaft darüber nach, was sie darauf antworten sollte.

Du musst ihnen die Wahrheit sagen!

Widerwillig musste Anja zugeben, dass die Stimme der Vernunft in ihrem Inneren wie immer recht hatte. Wieso sollte sie auch abstreiten, dass sie den Pfarrer als Kind gekannt hatte? Die Mordermittler würden es früher oder später ohnehin herausfinden. Und wenn sie die Kollegen schon in dieser Beziehung belog, verlor sie bei ihnen jegliche Glaubwürdigkeit, die sie momentan vielleicht noch besaß.

Aber sollte sie ihnen auch von dem Albtraum erzählen?

Tu das bloß nicht!

Erneut war sie mit ihrer inneren Stimme einer Meinung. Englmair und Krieger – vor allem Krieger, dieser Idiot! – würden es nicht verstehen. Wie auch? Sie verstand es ja selbst nicht einmal!

Wenn Anja also erzählte, dass sie die Ermordung des Geistlichen im Schlaf aus der Perspektive des Mörders miterlebt hatte, würde man sie höchstwahrscheinlich umgehend in eine Zwangsjacke stecken und in die nächste Klapsmühle verfrachten. Und das ihrer Meinung nach völlig zu Recht. Kriegers Misstrauen würde sich in dem Fall sofort in selbstgerechte Überzeugung verwandeln. Und selbst Englmair, der noch zu ihr stand und nicht glauben mochte, dass sie zu so einer Tat fähig war, müsste sich dem Druck der Tatsachen beugen.

Ihr wurde bewusst, dass sie schon viel zu lange über eine an sich simple Frage nachdachte. Das war verdächtig!

Sie wandte daher den Blick von den Toten, sah Englmair an und nickte mit ernster Miene. »Das ist Pfarrer Paul Hartmann. Ich kannte ihn als Kind. Er taufte mich, obwohl ich mich daran natürlich nicht erinnern kann. Außerdem war er ein oder zwei Jahre lang mein Religionslehrer in der Grundschule. Bis zum Tod meines Vaters besuchte ich mehr oder weniger regelmäßig seinen Gottesdienst in dieser Kirche. Und hier spendete er mir auch die Erstkommunion.«

»Und wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«

Darüber musste Anja gar nicht lange nachdenken, denn die Antwort war ihr sofort präsent. »Als ich elf Jahre alt war.« Sie seufzte. Über diese extrem schwierige Phase nach dem Tod ihres Vaters sprach sie nur ungern. Doch nun war es unumgänglich, auch wenn es ihr schwerfiel. »Nachdem mein Vater damals gestorben war, weigerte ich mich, weiterhin in die Kirche zu gehen. Daraufhin kam Pfarrer Hartmann zu uns nach Hause, um mit mir darüber zu sprechen. Doch ich wollte mir gar nicht erst anhören, was er zu sagen hatte. Dafür war ich einfach viel zu wütend. In erster Linie natürlich auf meinen Vater, weil ich …« Sie seufzte ein weiteres Mal. »Ich hatte damals das Gefühl, von ihm im Stich gelassen worden zu sein. Aber ich war auch furchtbar zornig auf Gott, weil er es zugelassen hatte, dass mein Vater sich und mir das angetan hatte. Als der Pfarrer bei uns war, entlud sich dieser Zorn, der sich in mir aufgestaut hatte, natürlich auf ihn. Ich … ich sagte ihm, dass ich an keinen Gott glauben könne, der es zugelassen hatte, dass mein Vater starb, und dass ich auch ihn hassen würde, weil er mir ständig die Lüge eines gütigen, barmherzigen Gottes erzählt hatte. Er solle bloß nie wieder kommen, schrie ich unter Tränen. Dann rannte ich nach oben und schloss mich in meinem Zimmer ein. Der zutiefst enttäuschte, traurige und auch verletzte Ausdruck auf seinem Gesicht ist das Letzte, was ich von ihm in Erinnerung habe.«

Zumindest, bis ich ihn heute Nacht im Traum wiedersah und ermordete!, dachte sie, behielt diesen Gedanken aber wohlweislich für sich.

»Und seit damals willst du ihn also nicht mehr gesehen haben?«, fragte Krieger in einem Tonfall, als wäre es das Dämlichste, was er seit Langem gehört hatte.

Anja wandte ruckartig den Kopf und sah ihn wütend an. »Willst du etwa behaupten, dass ich lüge? Wieso sollte ich das tun?«

»Ja, wieso solltest du das tun?« Krieger grinste bösartig, als wüsste er im Gegensatz zu Anja die Antwort auf diese Frage.

»Was ist hier eigentlich los, Englmair?«, wandte sich Anja an den Vernünftigeren der beiden Mordermittler. »Ihr habt mich doch nicht um diese Uhrzeit hierher bestellt, nur weil ich den Pfarrer als Kind kannte und hier zum Gottesdienst ging. Irgendetwas ist doch hier im Busch.«

Englmair seufzte schwer und gab Krieger erneut einen Wink. Dieser grinste noch immer, als verschaffte ihm das alles eine innere Befriedigung. Eifrig, als hätte er die ganze Zeit nur auf die Erlaubnis dazu gewartet, zog er eine Beweismitteltüte aus der Jackentasche. Er ging zu Anja, die ihn argwöhnisch beobachtete, blieb zwei Schritte vor ihr stehen und hielt ihr den transparenten Plastikbeutel vors Gesicht, sodass sie mühelos dessen Inhalt erkennen konnte.

Anja sah, dass es sich um eine Visitenkarte handelte. Es war jedoch nicht irgendeine, sondern ihre eigene Karte. Auf der Vorderseite, die ihr zugewandt war, standen ihr Name, ihr Dienstgrad und ihre Dienststelle. Darunter die Adresse und die Durchwahlnummer ihres dienstlichen Telefonanschlusses. Anja hatte, seit sie in der Vermisstenstelle arbeitete, Hunderte dieser Karten verteilt. Allerdings war bislang noch nie eine am Tatort eines Mordes aufgetaucht. Die Karte in der Beweismitteltüte war zerknittert, als hätte sie jemand in seiner Faust zerknüllt oder gedankenlos in die Hosentasche gesteckt. Außerdem war eine Ecke mit Blut in Berührung gekommen. Es war mittlerweile getrocknet und hatte sich braun verfärbt. Der Fleck bildete einen ausgefransten Viertelkreis, der die letzten vier Buchstaben ihres Nachnamens verdeckte.

Anja hatte schon die ganze Zeit geahnt, dass es etwas Stichhaltiges geben musste, das sie mit dem Mordopfer in Verbindung brachte. Ansonsten hätten Englmair und Krieger sie nicht um diese Uhrzeit hierher beordert. Allerdings hätte es auch schlimmer sein können. Sie hatte nämlich schon befürchtet, Krieger könnte ihr die Mordwaffe zeigen, die aus ihrer Wohnung stammte und ihre Fingerabdrücke aufwies. Obwohl sie sich äußerlich nichts anmerken ließ, atmete sie daher erleichtert auf.

»Kommt dir das unter Umständen bekannt vor?«, fragte Krieger in einem inquisitorischen Tonfall, den er vermutlich einem Filmschauspieler abgeschaut hatte, der einen knallharten Kommissar spielte und den er insgeheim bewunderte.

Anja verdrehte genervt die Augen. »Natürlich kommt mir das bekannt vor, Dumpfbacke. Das ist eine meiner dienstlichen Visitenkarten. Das kann schließlich jeder sehen, der im Gegensatz zu dir mehr als nur einen Funken Verstand hat, weil mein Name darauf steht. Wo habt ihr sie gefunden?«

»Sie befand sich im Besitz des Toten.« Diesmal versuchte Krieger, seine Stimme besonders dramatisch klingen zu lassen. Fehlte nur noch eine packende Hintergrundmusik, und die Szene wäre perfekt gewesen.

Anja seufzte. »Und deshalb glaubst du jetzt also tatsächlich, ich hätte Pfarrer Hartmann umgebracht?«, fragte sie in ungläubigem Tonfall. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, in den letzten Jahren habe ich so viele von diesen Karten verteilt, dass mittlerweile vermutlich mehrere Hundert davon im Umlauf sein müssen.« Sie wandte den Kopf und sah Englmair an. »Diese Visitenkarte beweist doch rein gar nichts!«

»Wenn es nur die Karte wäre, dann würde ich dir sogar recht geben«, sagte er und seufzte schwer.

Anja verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Wieso? Was habt ihr noch?«

»Sieh dir mal an, was auf der Rückseite steht!«, sagte Krieger und grinste hämisch.

Als Anja wieder auf den Beweismittelbeutel sah, hatte Krieger ihn umgedreht. Nun war die Rückseite der Visitenkarte sichtbar. Jemand – möglicherweise der Pfarrer – hatte mit blauem Kugelschreiber das gestrige Datum und »23:00 Uhr« darauf notiert. Daneben standen ihr Vorname, der eingekringelt worden war, und ihre Handynummer.

»Und? Was sagst du jetzt? Willst du etwa immer noch behaupten, du hättest den Pfarrer zum letzten Mal gesehen, als du ein kleines Mädchen warst?« Kriegers Tonfall verdeutlichte, für wie lächerlich er diese Vorstellung hielt.

»Es ist keine Behauptung, sondern die Wahrheit.« Anja verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wandte sich wieder an Englmair, von dem sie sich Unterstützung gegen seinen Kollegen erhoffte. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich so etwas …« Sie wies, ohne hinzusehen, auf den Leichnam. »… tun könnte, oder?«

Er schüttelte zwar den Kopf, doch sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er sich nicht hundertprozentig sicher war, was er glauben sollte.

Anja wurde schlagartig bewusst, dass es noch mehr geben musste, das gegen sie sprach. Die Visitenkarte allein, selbst wenn auf der Rückseite das gestrige Datum, ihr Vorname und ihre Handynummer vermerkt waren, hätte nicht ausgereicht, um Englmair derart an ihr zweifeln zu lassen. Vielleicht, so dachte sie, spielt die Uhrzeit eine Rolle. »Wisst ihr schon, wann er gestorben ist?«

»Nachdem Dr. Brenner den Leichnam untersucht hatte, meinte er, der Pfarrer sei zwischen einundzwanzig Uhr abends und drei Uhr morgens ermordet worden«, antwortete Englmair.

»Du siehst also, es passt alles perfekt zusammen und ergibt einen Sinn«, sagte Krieger geradezu triumphierend. »Der Pfarrer notierte sich ausgerechnet auf der Visitenkarte, die du ihm gegeben hast, den Tag und die Uhrzeit eures Treffens. Keine Ahnung, worum es dabei ging. Auf jeden Fall seid ihr vermutlich in Streit geraten. Dann musst du die Kontrolle verloren und wie eine Wahnsinnige zweimal auf ihn eingestochen haben. Und als er schwerverletzt flüchten wollte, hast du ihm zuerst das Messer in den Rücken gerammt und anschließend, als er hilflos am Boden lag, die Kehle durchgeschnitten.« Seine letzten beiden Worte begleitete er, als wollte er sie dadurch noch verdeutlichen, mit der weltweit verständlichen Geste für eine durchgeschnittene Kehle.

»Hörst du dir eigentlich manchmal selbst zu, wenn du redest, Krieger?«, fragte Anja und schüttelte den Kopf. »Wenn nicht, ist es höchste Zeit, dass du damit anfängst. Dann würdest du nämlich endlich merken, wie viel Blödsinn du ständig von dir gibst.«

»Und wieso soll das Blödsinn sein?«

Anja überlegte. »Erstens«, sagte sie dann und hob den Daumen der linken Hand. »Wann soll ich ihm die Visitenkarte denn gegeben haben? Etwa gestern Nacht um dreiundzwanzig Uhr, als wir uns angeblich trafen? Wenn ja, wie konnte er dann den Termin auf der Karte notieren? Und wieso hätte er das überhaupt noch tun sollen?«

Doch Krieger ließ sich von ihrem Einwand nicht irritieren. Er schien davon überzeugt zu sein, dass er auf der richtigen Spur war, und ließ sich davon partout nicht abbringen. »Wahrscheinlich hast du ihm die Visitenkarte schon vorher zukommen lassen. Würde mich gar nicht wundern, wenn das sogar deine Schrift auf der Rückseite ist.«

Sie schüttelte energisch den Kopf. Auch wenn sie das meiste, was ihr in den letzten Stunden widerfahren war, noch immer nicht nachvollziehen konnte, so wusste sie wenigstens mit absoluter Sicherheit, dass es sich nicht um ihre Schrift handelte. »Das habe ich nicht geschrieben! Und das lässt sich im Zweifelsfall auch durch ein grafologisches Gutachten nachweisen.«