Im Sturm der Erinnerung - Nora Roberts - E-Book

Im Sturm der Erinnerung E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Spannend, romantisch, sexy und geheimnisvoll!

Die junge Antiquitätenhändlerin Laine Tavish hat schwer dafür gekämpft, ihrer Vergangenheit zu entkommen und sich ein neues Leben aufzubauen.

Doch ihr ruhiges Dasein wird jäh unterbrochen, als der beste Freund ihres Vaters bei einem mysteriösen Autounfall direkt vor ihrem Laden ums Leben kommt. Jetzt ist klar: Ihre Vergangenheit hat sie bereits eingeholt, und sie ist zur Zielscheibe eines skrupellosen Killers geworden. Hilfe bekommt sie unerwartet von Max Gannon, einem hinreißenden Detektiv – und es dauert nicht lang, bis zwischen den beiden gewaltig die Funken sprühen …

Dieser Roman ist bereits als Teil des Doppelbands „Ein gefährliches Geschenk“ veröffentlicht worden.

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Seitenzahl: 384

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Buch

Die junge Antiquitätenhändlerin Laine Tavish hat schwer darum gekämpft, ihrer Vergangenheit zu entkommen. Endlich hat sie sich ein eigenes Leben aufgebaut. Doch ihr ruhiges Dasein wird jäh gestört, als der beste Freund ihres Vaters bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kommt. Jetzt ist klar: Ihre Vergangenheit hat sie eingeholt. Sie wird zur Zielscheibe eines skrupellosen Killers, der vermutete, dass sie ein Geheimnis lüften kann – ein millionenschweres Geheimnis, das mit einem spektakulären Diamantenraub zusammenhängt. Und noch ein weiterer Mann geht davon aus, dass Laine mehr weiß, als sie zugibt: der hinreißende Versicherungsdetektiv Max Gannon. Wenn Laine und Max auch nur die geringste Chance haben wollen, ihr Leben miteinander zu verbringen, müssen sie die Diamanten finden und den Killer ausschalten …

Autorin

Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte sie 1979 ein eisiger Schneesturm in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.

Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.

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Nora Roberts

Im Sturmder Erinnerung

Roman

Deutsch von Margarethe van Pée

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2003 als Teil des Titels»Remember When« bei G. P. Putnam’s Sons, a member of Penguin Group (USA) Inc., New York.
»Im Sturm der Erinnerung« erschien 2005 bereits als Teil des Buches »Ein gefährliches Geschenk«.
Copyright © der Originalausgabe 2003 by Nora Roberts Published by Arrangement with Eleanor Wilder Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Copyright © 2003 der deutschsprachigen Ausgabe in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Petra Zimmermann Umschlaggestaltung und -abbildung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung eines Motivs von photocase.de LH ∙ Herstellung: wag Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-20451-8V002
www.blanvalet.de

Auf Fremdes aus, mit Eigenem verschwenderisch.

SALLUST

Wer in aller Welt bin ich denn dann?Ja, das ist das große Rätsel!

LEWIS CARROLL

1

Ein dumpfes Donnergrollen folgte dem seltsamen kleinen Mann in den Laden. Er blickte sich entschuldigend um, als sei er und nicht die Natur für den Lärm verantwortlich, und klemmte sich sein Päckchen unter den Arm, damit er seinen schwarz-weiß gestreiften Regenschirm schließen konnte.

Schirm und Mann tropften irgendwie traurig auf die Fußmatte hinter der Tür, während draußen ein kalter Frühlingsregen auf die Straße und den Bürgersteig herniederprasselte. Zögernd verharrte er an Ort und Stelle, als sei er sich nicht sicher, wie er empfangen würde.

Laine schenkte ihm ein freundliches, einladendes Lächeln, das ihre Freunde immer als ihr höfliches Geschäftslächeln bezeichneten.

Nun ja, sie war eben eine höfliche Geschäftsfrau – was allerdings im Moment auf eine harte Probe gestellt wurde.

Wenn sie gewusst hätte, dass bei dem Regen die Kunden den Laden stürmen würden, statt einfach zu Hause zu bleiben, dann hätte sie Jenny heute nicht freigegeben. Aber eigentlich machte ihr die Arbeit nichts aus, schließlich eröffnete man keinen Laden, wenn man keine Kunden haben wollte, ganz gleich, wie das Wetter war. Und man hatte auch kein Geschäft in einem kleinen Nest in den USA, wenn man nicht bereit war, mit den Kunden zu schwatzen, zuzuhören und zu diskutieren, während man verkaufte.

Und das war ja auch in Ordnung so, dachte Laine. Wenn allerdings Jenny heute nicht gemütlich zu Hause säße, sich die Fußnägel lackieren und Soaps im Fernsehen anschauen würde, dann hätte sie jetzt die Zwillinge am Hals.

Darla Price Davis und Carla Price Gohen hatten ihre Haare beide im selben Aschblond gefärbt. Sie trugen identische glänzende blaue Regenmäntel und die gleichen Umhängetaschen. Jede beendete den Satz der anderen, und sie kommunizierten miteinander in einer Art von Geheimsprache, zu der hochgezogene Augenbrauen, geschürzte Lippen, Schulterzucken und Nicken gehörten.

Was bei Achtjährigen vielleicht süß gewesen wäre, wirkte bei achtundvierzigjährigen Frauen einfach nur blöd.

Aber, rief sich Laine ins Gedächtnis, sie kamen nie ins Remember When, ohne etwas zu kaufen. Es mochte manchmal Stunden dauern, aber letztendlich klingelte die Registrierkasse. Und es gab nur wenig, was Laines Herz so erwärmte wie dieses Geräusch.

Heute waren sie auf der Jagd nach einem Verlobungsgeschenk für ihre Nichte, und weder die Regenfluten noch der grollende Donner hatten sie aufhalten können. Auch das durchnässte junge Paar hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Sie hatten, wie sie sagten, aus einer Laune heraus auf ihrem Weg nach D. C. einen Abstecher nach Angel’s Gap gemacht.

Und dann stand da noch der nasse kleine Mann mit dem gestreiften Schirm, der in Laines Augen ein wenig verloren und ängstlich wirkte.

Sie lächelte ihn noch ein bisschen freundlicher an. »Ich bin gleich bei Ihnen«, rief sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Zwillingen zu.

»Schauen Sie sich doch einfach noch ein wenig um«, schlug sie ihnen vor. »Überlegen Sie noch einmal. Sobald ich …«

Darla umklammerte ihr Handgelenk, und Laine war klar, dass sie ihnen nicht entkommen würde.

»Wir müssen es jetzt entscheiden. Carrie ist ungefähr in Ihrem Alter, Schätzchen. Was würden Sie sich denn zur Verlobung wünschen?«

Laine brauchte den Code gar nicht erst zu entschlüsseln, um zu begreifen, dass es ein Wink mit dem Zaunpfahl war. Schließlich war sie schon achtundzwanzig und immer noch nicht verheiratet. Noch nicht einmal verlobt. Noch dazu hatte sie momentan auch keinen Freund. Was in den Augen der Price-Zwillinge ein Verbrechen wider die Natur war.

»Wissen Sie«, zwitscherte Carla, »Carrie hat ihren Paul letzten Herbst beim Spaghettiessen im Kawanian’s kennen gelernt. Sie sollten wirklich mehr ausgehen, Laine.«

»Ja, da haben Sie Recht«, gab sie mit gewinnendem Lächeln zu. Wenn ich mir einen kahlköpfigen, geschiedenen Buchhalter mit chronischer Nasennebenhöhlenentzündung angeln will. »Ich bin mir sicher, dass Carrie alles gefallen wird, was immer Sie aussuchen. Allerdings sollte ein Verlobungsgeschenk von ihren Tanten vielleicht etwas persönlicher sein als die Kerzenständer. Sie sind sehr hübsch, aber das Frisierset ist so feminin.« Sie ergriff die Haarbürste mit dem Silberrücken. »Bei dieser Bürste stelle ich mir vor, dass eine andere Braut sich damit vor ihrer Hochzeitsnacht die Haare gebürstet hat.«

»Persönlicher«, begann Darla. »Mädchen…«

»…hafter. Ja! Die Kerzenleuchter könnten wir …«

»… als Hochzeitsgeschenk nehmen. Aber vielleicht sollten wir uns noch einmal den Schmuck ansehen, bevor wir das Frisierset kaufen. Irgendetwas mit Perlen? Etwas …«

»… Altes, das sie am Hochzeitstag tragen könnte. Legen Sie die Kerzenleuchter und das Frisierset beiseite, Liebchen. Wir schauen uns noch mal den Schmuck an, bevor wir uns entscheiden.«

Das Gespräch sprang wie ein Tennisball zwischen den beiden Damen hin und her, und Laine gratulierte sich insgeheim zu ihrer Fähigkeit, ihnen konzentriert folgen zu können.

»Gute Idee.« Sie griff nach den prachtvollen, alten Dresdener Kerzenleuchtern. Niemand konnte den Zwillingen nachsagen, sie hätten keinen Geschmack oder Angst vorm Geldausgeben.

Sie wollte die Leuchter gerade zur Theke tragen, als der kleine Mann auf sie zutrat. Seine blassblauen Augen waren gerötet – von Schlafmangel, Alkohol oder Allergien, überlegte Laine. Am wahrscheinlichsten war Mangel an Schlaf. Die schweren, müden Tränensäcke waren nicht zu übersehen. Seine dichten grauen Haare waren klatschnass vom Regen. Er trug einen teuren Burberry-Regenmantel, aber der Schirm, den er bei sich hatte, konnte unmöglich mehr als drei Dollar gekostet haben. Die grauen Stoppeln an seinem Kinn deuteten darauf hin, dass er sich heute früh nur hastig und oberflächlich rasiert hatte.

»Laine.«

Er sprach ihren Namen so drängend und intim aus, dass ihr Lächeln einer höflichen Verwirrung wich.

»Ja? Entschuldigung, kenne ich Sie?«

»Du erinnerst dich nicht an mich.« Seine Schulter sackten herunter. »Es ist lange her, aber ich dachte …«

»Miss!« Die Frau auf dem Weg nach D. C. rief nach ihr. »Verschicken Sie die Ware auch?«

»Ja, natürlich.« Im Hintergrund hörte sie die Zwillinge über Ohrringe und Broschen debattieren, und sie spürte förmlich, dass das Paar aus D. C. einen Spontankauf tätigen würde. Dazu starrte der kleine Mann sie mit einer hoffnungsvollen Intimität an, die ihr Gänsehaut verursachte.

»Es tut mir leid, ich bin heute früh nicht ganz auf der Höhe.« Sie stellte die Kerzenleuchter auf der Theke ab. Intimität, rief sie sich ins Gedächtnis, gehörte zum Rhythmus von Kleinstädten. Der Mann war wahrscheinlich früher schon einmal im Laden gewesen, und sie konnte ihn bloß nicht einordnen. »Kann ich Ihnen behilflich sein, oder möchten Sie sich einfach nur ein wenig umschauen?«

»Ich brauche deine Hilfe. Wir haben nicht viel Zeit.« Er zog eine Karte aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand. »Ruf mich unter dieser Nummer an, sobald du kannst.«

»Mister …« Sie blickte auf die Karte und las seinen Namen. »Peterson. Ich verstehe nicht. Möchten Sie etwas verkaufen?«

»Nein, nein.« Sein Lachen klang fast hysterisch, und Laine war dankbar dafür, dass der Laden voller Kundschaft war. »Nicht mehr. Ich erkläre dir alles, aber nicht jetzt.« Er blickte sich im Laden um. »Und nicht hier. Ich hätte nicht hierherkommen sollen. Ruf mich unter der Nummer an.«

Er schloss seine Finger so fest um ihre Hand, dass Laine gegen den Impuls ankämpfen musste, sich loszureißen. »Versprich es.«

Er roch nach Regen, Seife und … Brut, stellte sie fest. Bei dem Duft des Rasierwassers flackerte eine winzige Erinnerung in ihrem Kopf auf. Sein Griff wurde fester. »Versprich es«, flüsterte er heiser, und sie sah nur noch einen komischen kleinen Mann in einem nassen Mantel.

»Natürlich.«

Sie sah ihm nach, als er zur Tür ging und seinen billigen Regenschirm aufspannte. Als er hinauseilte, seufzte sie erleichtert auf. Komisch, dachte sie, betrachtete aber die Karte doch ein paar Sekunden.

Sein Name, Jasper R. Peterson, war aufgedruckt, aber die Telefonnummer war handschriftlich hinzugefügt und zweimal unterstrichen worden.

Sie steckte die Karte in die Tasche und wollte sich gerade dem Pärchen auf dem Weg nach D. C. zuwenden, als draußen Bremsen auf dem nassen Pflaster kreischten. Sie fuhr herum. Entsetzte Aufschreie ertönten, und dann hörte sie ein grässliches Geräusch, einen dumpfen Knall, den sie nie mehr vergessen sollte, genauso wenig wie den Anblick des kleinen Mannes in seinem teuren Mantel, der gegen ihr Schaufenster prallte.

Sie stürzte hinaus in den strömenden Regen. Leute kamen angerannt, und ganz in der Nähe splitterte Glas, knirschte Metall auf Metall.

»Mr. Peterson.« Laine griff nach seiner Hand und beugte sich vor, in dem jämmerlichen Versuch, sein blutüberströmtes Gesicht vor dem Regen zu schützen. »Bewegen Sie sich nicht. Holen Sie einen Krankenwagen!«, schrie sie und zog sich die Jacke aus, um ihn ein wenig zu schützen.

»Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gesehen. Hätte nicht kommen sollen, Laine.«

»Gleich kommt Hilfe.«

»Hab’s für dich dagelassen. Er wollte, dass ich es dir gebe.«

»Ist schon gut.« Sie schob sich die tropfenden Haare aus den Augen und nahm den Schirm entgegen, den ihr jemand hinhielt. Er zupfte an ihrer Hand, und sie beugte sich dichter zu ihm herunter.

»Sei vorsichtig. Es tut mir leid. Sei vorsichtig.«

»Ja, natürlich. Reden Sie nicht so viel, versuchen Sie durchzuhalten, Mr. Peterson. Der Krankenwagen kommt gleich.«

»Du erinnerst dich nicht.« Blut tröpfelte aus seinem Mund, als er lächelte. »Kleine Lainie.« Zitternd holte er Luft und hustete Blut. Sie hörte schon die Sirenen, als er mit dünner, keuchender Stimme zu singen begann.

»Pack up all my care and woe, here I go, singing low. Bye, bye, blackbird.«

Sie starrte in sein blutüberströmtes Gesicht, und ihre Haut begann zu prickeln. Tief vergrabene Erinnerungen stiegen in ihr auf. »Onkel Willy? O mein Gott!«

»Das hab ich immer besonders gerne gemocht, es machte so fröhlich«, röchelte er. »Tut mir leid. Dachte, es wäre ungefährlich. Hätte nicht kommen sollen.«

»Ich verstehe nicht.« Tränen brannten ihr in der Kehle, strömten über ihre Wangen. Er starb. Er starb, weil sie ihn nicht erkannt und in den Regen hinausgeschickt hatte. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

»Er weiß, wo du jetzt bist.« Seine Augäpfel verdrehten sich. »Versteck den Köter.«

»Was?« Sie beugte sich so dicht über ihn, dass ihre Lippen seine fast streiften. »Was?« Die Hand, die ihre umklammert hielt, wurde schlaff.

Sanitäter schoben sie beiseite. Sie hörte ihren kurzen, prägnanten Dialog – medizinische Ausdrücke, die sich durch das Fernsehen so eingeprägt hatten, dass sie sie beinahe schon selbst rezitieren konnte. Aber dies hier war real. Das Blut, das der Regen davonschwemmte, war real.

Sie hörte eine Frau schluchzen und immer wieder mit erstickter Stimme sagen: »Er ist mir direkt vors Auto gelaufen. Ich konnte nicht mehr bremsen. Er ist mir direkt vors Auto gelaufen. Ist er in Ordnung? Ist er in Ordnung? Ist er in Ordnung?«

Nein, hätte Laine am liebsten geschrien. Er ist nicht in Ordnung.

»Kommen Sie hinein, Liebchen.« Darla legte Laine den Arm um die Schultern und zog sie zurück. »Sie sind ja völlig durchnässt. Hier draußen können Sie sowieso nichts mehr tun.«

»Ich sollte aber etwas tun.« Sie blickte auf den zerbrochenen Regenschirm, dessen fröhliche Streifen jetzt voller Schmutz und Blut waren.

Sie hätte ihn vors Feuer setzen sollen. Ihm etwas Heißes zu trinken geben und ihn vor dem kleinen Ofen warm und trocken sitzen lassen sollen. Dann wäre er jetzt noch am Leben und würde ihr Geschichten und alberne Witze erzählen.

Aber sie hatte ihn nicht erkannt, und deshalb starb er jetzt.

Sie konnte nicht hineingehen und ihn alleine mit fremden Leuten draußen im Regen liegen lassen. Aber sie konnte auch nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, während die Sanitäter vergeblich um das Leben des Mannes kämpften, der früher einmal über ihre Kinderwitze gelacht und alberne Lieder gesungen hatte. Er starb genau vor dem Laden, den sie mit harter Arbeit aufgebaut hatte, und ließ an ihrer Türschwelle all die Erinnerungen zurück, denen sie entkommen zu sein glaubte.

Sie war eine Geschäftsfrau, ein solides Mitglied der Gemeinde und eine Betrügerin. Als sie im Hinterzimmer ihres Ladens zwei Tassen Kaffee einschenkte, wusste sie genau, dass sie gleich einen Mann anlügen würde, den sie als Freund betrachtete. Und sie würde abstreiten, den Mann zu kennen, den sie geliebt hatte.

Mühsam rang sie um Fassung, fuhr sich durch die feuchte Masse leuchtend roter Haare, die sie normalerweise in einem schulterlangen Bob trug. Sie war blass. Der Regen hatte das Make-up, das sie stets so sorgfältig auftrug, abgewaschen, und auf ihrer schmalen Nase und den Wangenknochen traten die Sommersprossen hervor. Ihre Augen, von einem hellen Wikingerblau, waren glasig vor Schock und Trauer, und ihr Mund, der nur eine Spur zu breit für ihr eckiges Gesicht war, hätte am liebsten gebebt.

In dem kleinen Spiegel mit vergoldetem Rahmen, der an der Wand ihres Büros hing, musterte sie ihren Gesichtsausdruck. Sie machte sich nichts vor. Sie würde tun, was nötig war, um zu überleben. Willy würde das bestimmt verstehen. Erst das eine, sagte sie sich, und dann denkst du über den Rest nach.

Sie holte tief Luft und stieß sie zitternd wieder aus, dann ergriff sie die Kaffeebecher. Ihre Hände waren beinahe ruhig, als sie in den Verkaufsraum trat. Sie war auf ihre Falschaussage vor dem Polizeichef von Angel’s Gap vorbereitet.

»Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat.« Sie lächelte schief, als sie Vince Burger, der an dem kleinen, verklinkerten Kamin stand, seinen Becher reichte.

Er war gebaut wie ein Bär, mit dichten, weißblonden Haaren, die fast senkrecht hochstanden, als seien sie überrascht darüber, sich über einem so breiten, freundlichen Gesicht zu befinden. Aus seinen blassblauen Augen, die von Lachfältchen umgeben waren, blickte er Laine mitfühlend an.

Er war Jennys Mann und für Laine fast so etwas wie ein Bruder. Aber jetzt, dachte sie, war er in erster Linie Polizist. Und alles, wofür sie gearbeitet hatte, stand auf dem Spiel.

»Willst du dich nicht setzen, Laine? Du hast einen schlimmen Schock erlitten.«

»Ich fühle mich wie betäubt.« Das zumindest stimmte – sie brauchte also nicht nur zu lügen. Sie wich jedoch seinem Blick aus und trat ans Fenster, um in den Regen hinauszustarren. »Danke, dass du extra hierhergekommen bist, um meine Aussage aufzunehmen, Vince. Ich weiß, dass du viel zu tun hast.«

»Ich hab mir gedacht, es ist angenehmer für dich.«

Man lügt besser einen Freund als einen Fremden an, dachte sie bitter. »Ich weiß gar nicht, was ich dir sagen soll. Den eigentlichen Unfall habe ich ja nicht gesehen. Ich hörte … ich hörte Bremsen, Schreie, einen schrecklichen Aufprall, dann sah ich …« Sie schloss die Augen nicht. Wenn sie sie zumachte, würde sie alles wieder vor sich sehen. »Ich sah, wie er gegen das Fenster prallte, als hätte ihn jemand dagegengeworfen. Ich rannte hinaus und blieb bei ihm, bis die Sanitäter kamen. Sie waren schnell da. Mir kam es zwar wie Stunden vor, aber es hat nur Minuten gedauert.«

»Er war vor dem Unfall hier drin.«

Jetzt schloss sie doch die Augen, entschlossen, das zu tun, was sie tun musste, um sich zu schützen. »Ja. Ich hatte heute früh eine Menge Kunden – was beweist, dass ich Jenny nie einen Tag hätte freigeben dürfen. Die Zwillinge waren hier und ein Pärchen auf der Durchfahrt nach D. C. Ich hatte zu tun, als er hereinkam. Deshalb schaute er sich ein bisschen um.«

»Die Frau, die nicht von hier war, sagte, sie hätte geglaubt, ihr beide kennt euch.«

»Tatsächlich?« Laine drehte sich um und zauberte ein verwirrtes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie trat zu den beiden Lehnstühlen, die sie vor den Kamin gestellt hatte, und setzte sich. »Wie kommt sie darauf?«

»Sie hatte nur den Eindruck«, erwiderte Vince achselzuckend. Bedächtig und vorsichtig setzte er sich in den anderen Stuhl. »Sie sagte, er hat deine Hand genommen.«

»Nun, wir schüttelten uns die Hände, und er hat mir seine Karte gegeben.« Laine zog sie aus der Tasche, wobei sie sich zwang, Vince in die Augen zu schauen. Das Feuer prasselte, und obwohl sie die Hitze auf den Wangen spürte, war ihr kalt. Sehr kalt. »Er sagte, er würde gerne mit mir sprechen, wenn ich nicht so viel zu tun hätte. Er habe mir etwas zu verkaufen. Das passiert häufig«, fügte sie hinzu und reichte Vince die Karte. »So bleibe ich im Geschäft.«

»Klar.« Er steckte die Karte in seine Brusttasche. »Ist dir irgendetwas an ihm aufgefallen?«

»Nur dass er einen teuren Regenmantel trug und einen albernen Schirm dabeihatte – und dass er sich normalerweise wohl nicht in Kleinstädten aufhielt. Er hatte etwas Großstädtisches an sich.«

»Das war bei dir vor ein paar Jahren auch so. Eigentlich …«, er kniff die Augen zusammen und rieb ihr mit dem Daumen über die Wange, »klebt es irgendwie immer noch an dir.«

Sie lachte, weil er das erwartete. »Ich wünschte, ich könnte hilfreicher sein, Vince. Es ist eine so grauenhafte Geschichte.«

»Das kann ich dir sagen. Wir haben vier Zeugenaussagen. Alle haben gesehen, wie der Typ direkt auf die Straße gerannt ist, genau vor das Auto. Als ob ihn etwas erschreckt hätte. Kam er dir ängstlich vor, Laine?«

»Darauf habe ich nicht geachtet. Um ehrlich zu sein, Vince, ich habe ihn abgewimmelt, als ich merkte, dass er nichts kaufen wollte. Ich hatte Kundschaft im Laden.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme brach. »Jetzt kommt es mir so gefühllos vor.«

Sie fühlte sich elend, als Vince tröstend seine Hand über ihre legte. »Du wusstest doch nicht, was passieren würde. Und du bist als Erste zu ihm gelaufen.«

»Er lag ja direkt da draußen.« Sie musste einen großen Schluck Kaffee trinken, damit ihre Stimme nicht so traurig klang. »Fast auf der Türschwelle.«

»Er hat mit dir geredet.«

»Ja.« Sie griff erneut nach dem Kaffeebecher, damit er ihre Hand losließ. »Nichts Besonderes. Er sagte ein paarmal, es täte ihm leid. Ich glaube nicht, dass er wusste, wer ich war oder was passiert ist. Ich glaube, er war schon nicht mehr ganz bei sich. Dann kamen die Sanitäter und … und er ist gestorben. Was wirst du jetzt tun? Ich meine, schließlich ist er nicht von hier. Das ist eine New Yorker Telefonnummer. Ich frage mich, ob er hier nur durchgefahren ist, wohin er wollte und wo er her war.«

»Wir werden es schon herausfinden, damit wir seine nächsten Angehörigen benachrichtigen können.« Vince stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde dir jetzt nicht sagen, du sollst nicht mehr daran denken, Laine. Das wird dir sowieso eine Zeit lang nicht gelingen. Aber ich sage dir, dass du alles getan hast, was du konntest. Mehr hätte niemand machen können.«

»Danke. Ich schließe den Laden für heute. Ich möchte nach Hause.«

»Gute Idee. Soll ich dich mitnehmen?«

»Nein danke.« Schuldbewusstsein ebenso wie Zuneigung veranlassten sie, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. »Sag Jenny, wir sehen uns dann morgen.«

Sein Name, zumindest der Name, den sie gekannt hatte, war Willy Young gewesen. Wahrscheinlich William, dachte Laine, als sie über die holperige Kiesstraße fuhr. Er war nicht ihr echter Onkel gewesen – soweit sie wusste –, sondern nur ein Nennonkel, der für ein kleines Mädchen regelmäßig Süßholz in der Tasche gehabt hatte.

Sie hatte ihn seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Damals waren seine Haare braun gewesen und sein Gesicht ein bisschen runder. Und er hatte einen beschwingten Gang gehabt.

Es war kein Wunder, dass sie ihn in dem gebeugten, schmalen kleinen Mann, der in ihren Laden gekommen war, nicht wiedererkannt hatte.

Wie hatte er sie bloß gefunden? Und warum?

Da er, soweit sie wusste, der beste Freund ihres Vaters gewesen war, war auch er wohl – wie ihr Vater – ein Dieb, ein Trickbetrüger, ein kleiner Gauner. Solche Leute sollte eine respektable Geschäftsfrau besser gar nicht kennen.

Aber warum zum Teufel sollte sie sich deswegen schuldig fühlen?

Sie trat auf die Bremse und starrte durch das stetige Hin und Her ihrer Scheibenwischer grübelnd auf das hübsche Haus auf der hübschen Anhöhe.

Sie liebte diesen Ort. Ihren Ort. Ihr Zuhause. Das zweistöckige Holzhaus war streng genommen zu groß für eine einzelne Person. Aber ihr gefiel die Weitläufigkeit, und sie hatte jede Minute genossen, in der sie die Räume ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet hatte.

Sie wollte nie mehr, niemals in die Lage kommen, alles von einer Minute auf die andere einpacken und weglaufen zu müssen.

Sie liebte es, sich in ihrem Garten zu betätigen, Pflanzen zu setzen, Rasen zu mähen, Unkraut zu jäten. Gewöhnliche Dinge. Einfache, normale Dinge für eine Frau, die in der ersten Hälfte ihres Lebens wenig Normales getan hatte.

Darauf hatte sie doch ein Recht, oder? Sie durfte doch Laine Tavish sein, mit allem, was das bedeutete. Das Geschäft, die Stadt, das Haus, die Freunde, das Leben. Sie hatte ein Recht darauf, die Frau zu sein, zu der sie sich gemacht hatte.

Es hätte Willy nichts mehr genützt, wenn sie Vince die Wahrheit gesagt hätte. Ihn hätte es nicht mehr lebendig gemacht, aber für sie hätte es alles ändern können. Vince würde noch schnell genug herausfinden, dass der Mann im Leichenschauhaus nicht Jasper R. Peterson war, sondern William Young – oder was er sonst noch für Pseudonyme hatte.

Er stand schließlich in der Verbrecherkartei. Sie wusste, dass Willy zumindest einmal geschnappt worden war – zusammen mit ihrem Vater. Waffenbrüder, hatte ihr Vater immer gesagt, und sie hörte noch sein herzhaftes Lachen.

Wütend schlug sie die Wagentür hinter sich zu. Rasch lief sie die Eingangstreppe hinauf und suchte nach ihren Schlüsseln.

Als sich die Tür hinter ihr schloss und das Haus sie umfing, wurde sie sofort ruhig. Die Stille, der Duft nach dem Zitronenöl, das sie eigenhändig ins Holz gerieben hatte, die Süße der Frühlingsblumen, die sie im Garten geschnitten hatte, war Balsam für ihre angespannten Nerven.

Sie legte ihre Schlüssel in die Schale auf dem Tischchen in der Diele, zog ihr Handy aus der Tasche und stellte es in die Aufladestation. Dann schlüpfte sie aus ihren Schuhen, hängte ihre Jacke über den Treppenpfosten und stellte ihre Tasche auf die unterste Stufe.

Wie jeden Tag ging sie zuerst in die Küche. Normalerweise hätte sie sich jetzt Teewasser aufgesetzt und in der Zwischenzeit die Post durchgesehen, die sie aus dem Briefkasten vor der Haustür genommen hatte.

Heute jedoch schenkte sie sich ein großes Glas Wein ein.

Sie trank es stehend an der Spüle, wobei sie durch das Fenster auf ihren Garten schaute.

Als Kind hatte sie auch ein paarmal einen Garten gehabt. An einen konnte sie sich erinnern … in Nebraska, Iowa? Na, ist ja egal, dachte sie und trank einen großen Schluck Wein. Der Garten hatte ihr gefallen, weil in der Mitte ein großer, alter Baum gestanden hatte, an dem an einem dicken Seil eine Schaukel baumelte.

Er hatte sie so heftig angeschubst, dass sie gedacht hatte, sie flöge.

Sie wusste nicht mehr genau, wie lange sie dort geblieben waren … und an das Haus konnte sie sich überhaupt nicht erinnern. Der größte Teil ihrer Kindheit war eine verschwommene Abfolge von Orten und Gesichtern, Autofahrten, hektischem Einpacken. Und dazwischen ständig er, ihr Vater, mit seinem herzhaften Lachen und seinen großen Händen, mit seinem unwiderstehlichen Grinsen und seinen sorglosen Versprechungen.

Die ersten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie den Mann verzweifelt geliebt, und die nächsten Jahre hatte sie sich angestrengt bemüht zu vergessen, dass es ihn überhaupt gab.

Wenn er wieder in Schwierigkeiten steckte, so war das nicht ihr Problem.

Sie war nicht mehr Jack O’Haras kleine Lainie. Sie war Laine Tavish, eine ehrbare Bürgerin.

Nachdenklich betrachtete sie die Flasche Wein und goss sich achselzuckend ein weiteres Glas ein. Eine erwachsene Frau konnte sich schließlich in ihrer Küche betrinken, vor allem, nachdem gerade ein Gespenst aus ihrer Vergangenheit vor ihren Augen gestorben war.

Mit dem Glas in der Hand trat sie zur Hintertür, hinter der hoffnungsvolles Winseln erklang.

Er schoss herein wie eine Kanonenkugel – eine haarige Kanonenkugel mit Schlappohren. Er sprang an ihr hoch, und die lange Schnauze landete mitsamt der Zunge voller Zuneigung in ihrem Gesicht.

»Okay! Okay! Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Ganz gleich, wie schlecht sie gelaunt war – wenn Henry, der erstaunliche Jagdhund, sie zu Hause begrüßte, hob sich ihre Stimmung garantiert.

Sie hatte ihn aus dem Tierheim gerettet. Als sie vor zwei Jahren dorthin gefahren war, wollte sie sich eigentlich einen Welpen holen. Ein süßes, wackelndes kleines Bündel, das sie von vornherein richtig erziehen wollte – das hatte sie sich von klein auf gewünscht.

Aber dann hatte sie ihn gesehen, groß, ungelenk und unscheinbar mit seinem schlammfarbenen Fell. Eine Mischung, hatte sie gedacht, zwischen einem Bären und einem Ameisenbären. Sie hatte ihm noch nicht ganz in die Augen geblickt, da war sie schon rettungslos verloren gewesen.

Jeder verdient eine Chance, hatte sie gedacht und Henry mitgenommen. Sie hatte es nie bereut. Er liebte sie bedingungslos, und während sie jetzt seinen Napf füllte, äugte er sie anbetend an.

»Essenszeit, Kumpel.«

Auf ihr Signal hin wandte Henry sich seinem Napf zu und widmete sich eifrig seinem Fressen.

Sie sollte auch etwas essen, zumindest um die Wirkung des Weins zu mildern, aber sie hatte keine Lust dazu. Wenn genug Alkohol durch ihre Adern floss, konnte sie wenigstens nicht nachdenken und sich Sorgen machen.

Sie ließ die Innentür offen, trat aber in den Vorraum, um nach dem Schloss für die Tür nach draußen zu schauen. Wenn jemand unbedingt einbrechen wollte, würde es ihm sicher gelingen. Aber Henry war eine zuverlässige Alarmanlage.

Er heulte jedes Mal, wenn ein Auto die Straße entlanggefahren kam, und obwohl er jeden Eindringling freudig begrüßte – und ihn abschleckte, wenn dieser sich von seinem Schrecken erholt hatte –, konnte sie zumindest niemand überraschen. In ihren vier Jahren in Angel’s Gap hatte sie nie irgendwelche Probleme zu Hause oder im Laden gehabt.

Bis heute.

Schließlich entschied sie, die Hintertür zu verriegeln und Henry heute Abend zur Vordertür hinauszulassen.

Kurz überlegte sie, ob sie ihre Mutter anrufen sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Wozu sollte das gut sein? Ihre Mutter führte jetzt ein anständiges, solides Leben mit einem anständigen, soliden Mann. Sollte sie diese reizende Idylle etwa durchbrechen, nur um ihr mitzuteilen: Ich bin heute Onkel Willy begegnet, und danach ist er von einem Jeep Cherokee überfahren worden?

Sie nahm ihren Wein mit nach oben, begleitet von dem Hund, der sie fröhlich umtänzelte. Sie würde sich umziehen, mit Henry einen langen Spaziergang im Regen machen, sich dann etwas zu essen zubereiten, ein heißes Bad nehmen und früh zu Bett gehen.

Und sie würde nicht mehr an das denken, was heute geschehen war.

Ich habe es für dich dagelassen, hatte er gesagt. Wahrscheinlich war er schon nicht mehr bei Sinnen gewesen … Aber wenn er wirklich etwas für sie dagelassen hatte, so wollte sie es nicht.

Sie hatte alles, was sie wollte.

Max Gannon drückte dem Aufseher einen Zwanziger in die Hand. Nach Max’ Erfahrung wirkte das Bild von Andrew Jackson rascher als sämtliche Erklärungen, Formulare und bürokratischen Ebenen.

Er hatte die schlechten Nachrichten über Willy von dem Motelangestellten im Red Roof Inn, wohin er den schleimigen kleinen Bastard verfolgt hatte, erfahren. Die Polizei war zwar schon da gewesen, aber Max hatte dennoch den ersten Zwanziger des Tages für die Zimmernummer und den Schlüssel investiert.

Seine Kleidung hatten die Polizisten nicht mitgenommen. Offensichtlich hatten sie sie auch nicht besonders gründlich durchsucht. Warum sollten sie das auch bei einem Verkehrsunfall? Aber wenn sie erst einmal Willys wirkliche Identität festgestellt hatten, würden sie zurückkommen und sich alles sehr viel genauer anschauen.

Willy hatte noch nicht fertig ausgepackt, stellte Max fest, als er sich im Zimmer umblickte. Socken, Unterwäsche und zwei Oberhemden lagen noch sauber gefaltet auf dem Louis-Vuitton-Koffer. Willy war ein ganz Ordentlicher gewesen und hatte großen Wert auf Markennamen gelegt.

Einen Anzug hatte er in den Schrank gehängt. Einen grauen Einreiher. Hugo Boss. Seine schwarzen Ferragamo-Slipper standen mit Schuhspannern versehen auf dem Fußboden.

Max durchsuchte die Taschen und tastete sorgfältig die Nähte ab. Er nahm die hölzernen Schuhspanner aus den Schuhen und fuhr mit der Hand hinein.

Im angrenzenden Badezimmer öffnete er Willys Dior-Toilettentasche. Er hob den Deckel der Spülung an und kroch unters Waschbecken. Er untersuchte auch die Schubladen der Kommode, den Inhalt des Koffers und drehte die Matratze auf dem Doppelbett um.

Es dauerte noch nicht einmal eine Stunde, bis er feststellte, dass Willy nichts Wichtiges im Zimmer zurückgelassen hatte. Als Max das Zimmer verließ, sah es wieder genauso ordentlich und unberührt aus wie vorher.

Er überlegte, ob er dem Angestellten weitere zwanzig Dollar in die Hand drücken sollte, damit er seinen Besuch den Polizisten gegenüber nicht erwähnte, ließ es aber, weil er ihm damit nur Flausen in den Kopf gesetzt hätte.

Er stieg in seinen Porsche, drehte Bruce Springsteen an und fuhr zum Leichenschauhaus, um zu überprüfen, ob seine heißeste Spur auf Eis lag.

»Blöd. Verdammt, Willy, ich hätte dich für klüger gehalten.«

Max stieß die Luft aus, als er auf Willys zerschlagenes Gesicht blickte. Warum bist du abgehauen? Und was ist in diesem öden Nest in Maryland so wichtig?

Was, dachte Max, oder wer?

Da Willy es ihm nicht mehr erzählen konnte, fuhr Max nach Angel’s Gap zurück, um eine Zwölf-Millionen-Dollar-Fährte aufzunehmen.

Wenn man in einer Kleinstadt etwas erfahren wollte, ging man am besten an einen Ort, wo sich die Einheimischen trafen. Tagsüber hieß das Kaffee und etwas zu essen, abends Alkohol.

Nachdem er beschlossen hatte, zumindest ein oder zwei Tage in Angel’s Gap zu bleiben, nahm sich Max im Overlook Hotel ein Zimmer und stellte sich unter die Dusche. Es war an der Zeit, Tür Nummer zwei zu öffnen.

Während er einen wirklich anständigen Burger aß, den er sich beim Room Service bestellt hatte, surfte er an seinem Laptop durch die Homepage von Angel’s Gap. Es gab einige Bars, Clubs und Cafés. Er suchte nach einer Nachbarschaftskneipe, wo die Einheimischen am Ende des Tages ein Bier tranken und übereinander redeten.

Er fand drei heraus, schrieb sich die Adressen auf und aß dann seinen Burger zu Ende, während er den Stadtplan von Angel’s Gap studierte, den er sich ausgedruckt hatte.

Netter Ort, sinnierte er, eingebettet zwischen Bergen. Atemberaubende Aussichten, zahlreiche Sport- und Campingmöglichkeiten. Gemächliches Tempo, aber trotzdem ein paar erstklassige kulturelle Angebote – und nicht zu weit weg von großen Einkaufszentren und falls jemand sein Wochenende in den Bergen von Maryland verbringen wollte.

Der Verkehrsverein rühmte die Möglichkeiten zum Jagen, Angeln, Wandern und anderen Freizeitaktivitäten – Max war allerdings viel zu sehr Städter, als dass ihm eine davon gefallen hätte.

Wenn er Bären und Rotwild in ihrem natürlichen Lebensraum sehen wollte, schaltete er lieber auf den Discovery Channel.

Aber trotzdem hatte der Ort Charme mit seinen steil ansteigenden Straßen und den soliden, alten Ziegelgebäuden. Der Potomac floss mitten durch die Stadt, und es gab ein paar hübsche Brücken. Zahlreiche Kirchtürme, manche mit Kupferdächern, die im Laufe der Jahre mit Grünspan überzogen worden waren. Und während er in seinem Hotelzimmer saß, hörte er das lange, widerhallende Pfeifen eines vorbeifahrenden Zuges.

Im Herbst, wenn sich das Laub der Bäume färbte, bot die Gegend sicher einen atemberaubenden Anblick, und im Schnee wirkte sie bestimmt kitschig wie die schlimmste Postkarte. Aber das erklärte nicht, warum ein alter Fuchs wie Willy Young sich auf der Market Street hatte überfahren lassen.

Um das fehlende Puzzleteil zu finden, fuhr Max seinen Computer herunter, schlüpfte in seine geliebte Bomberjacke und machte sich auf den Weg in die diversen Bars.

2

An der ersten ging er vorüber, ohne stehen zu bleiben. Die zahlreichen Hogs und Harleys vor der Tür wiesen sie als Biker-Bar aus. Das war bestimmt nicht der Ort, an dem die Einheimischen sich bei einem Glas Bier austauschten.

Auch die zweite identifizierte er nach weniger als zwei Minuten als Studentenkneipe, in der seltsame alternative Musik ertönte. Zwei ernst blickende Typen spielten Schach in einer Ecke, während die meisten anderen die üblichen Balzrituale vollführten.

Bei der dritten jedoch traf er genau ins Schwarze.

Artie’s war eine Kneipe, in die man vielleicht seine Frau, jedoch nie seine Geliebte mitnehmen würde. Dort traf man sich mit Freunden oder trank auch nur ein schnelles Bier auf dem Nachhauseweg.

Max hätte wetten können, dass neunzig Prozent der Gäste einander mit Namen kannten. Wahrscheinlich waren viele sogar miteinander verwandt.

Er stellte sich an die Theke, bestellte ein Beck’s vom Fass und sah sich um. Leise Hintergrundmusik, Snacks in Plastikkörbchen, ein großer Schwarzer am Zapfhahn und zwei Kellnerinnen, die an den Tischen bedienten.

Die eine erinnerte ihn an die Bibliothekarin in seiner Highschool. Sie hatte offenbar schon alles gesehen im Leben, aber nichts hatte ihr gefallen. Sie war klein, Ende vierzig und hatte breite Hüften. In ihren Augen lag ein Ausdruck, der ihn warnte, dass sie Frechheiten nicht duldete.

Die zweite war Anfang zwanzig und der kokette Typ. Sie zeigte ihren hübschen Körper in einem engen schwarzen Pullover und Jeans, die wie angegossen saßen. Ständig warf sie ihre Haare zurück – eine Masse blonder Locken, die dringend einmal gestutzt werden mussten.

So wie sie an den Tischen stehen blieb und mit den Gästen plauderte, war sie sicher eine erstklassige Informationsquelle, die ihr Wissen gerne weitergab.

Max ließ sich Zeit und schenkte ihr dann ein gewinnendes Lächeln, als sie an der Bar eine Bestellung aufgab. »Viel zu tun heute Abend.«

Sie erwiderte sein Lächeln genauso gewinnend. »Ist nicht so schlimm.« Einladend wandte sie ihm ihren Oberkörper zu. »Woher kommen Sie?«

»Ich reise viel. Geschäftlich.«

»Sie hören sich so an, als kämen Sie aus dem Süden.«

»Erraten. Ich komme aus Savannah, war aber eine Weile nicht zu Hause.« Er streckte seine Hand aus. »Max.«

»Hi, Max. Angie. Was für ein Geschäft führt Sie nach Gap?«

»Versicherungen.«

Ihr Onkel war Versicherungsagent, doch er wirkte auf einem Barhocker bei weitem nicht so attraktiv. Ein Meter neunzig, das meiste davon Beine und gut gebaut, wenn sie sich ein Urteil erlauben konnte. Und Angie fand, sie konnte andere verdammt gut beurteilen.

Er hatte dichte braune Haare, die durch die Feuchtigkeit in Wellen um sein schmales, scharf geschnittenes Gesicht lagen. Seine braunen Augen blickten freundlich, aber es lag auch etwas Gefährliches darin. Er wirkte ein wenig verträumt und bedächtig, und der leicht überstehende Eckzahn ließ sein Lächeln einen Tick unvollkommen erscheinen.

Sie mochte Männer, die ein bisschen gefährlich und nicht ganz vollkommen waren.

»Versicherungen? Was Sie nicht sagen!«

»Eigentlich geht es dabei doch nur ums Zocken, oder?« Er schob sich eine Salzbrezel in den Mund und strahlte sie an. »Die meisten Leute spielen gern. Genauso, wie sie gern glauben, dass sie ewig leben würden.« Er trank einen Schluck Bier und beobachtete, wie sie auf seine linke Hand blickte. Wahrscheinlich suchte sie nach dem Ehering. »Aber das tun sie nicht. Ich habe gehört, dass gerade heute früh irgend so ein armer Kerl auf der Main Street überfahren worden ist.«

»Market«, verbesserte sie ihn, und er blickte sie fragend an. »Es ist heute früh auf der Market Street passiert. Er ist der armen Missy Leager direkt vors Auto gelaufen. Sie ist völlig durch den Wind.«

»Das ist ja auch übel. Klingt nicht so, als sei es ihre Schuld gewesen.«

»Nein, war es auch nicht. Viele Leute haben den Unfall gesehen, und sie hätte ihn nicht vermeiden können. Er ist ihr direkt ins Auto gelaufen.«

»Schlimm. Wahrscheinlich kannte sie ihn auch noch, die Stadt ist schließlich klein.«

»Nein, niemand kannte ihn. Ich habe gehört, er war kurz vorher im Remember When – ich arbeite dort halbe Tage. Wir verkaufen Antiquitäten, Sammlerobjekte und so etwas. Er wollte sich wahrscheinlich nur ein bisschen umschauen. Schrecklich. Einfach schrecklich.«

»Ja, das ist es. Waren Sie dabei, als es passierte?«

»Nein. Ich habe heute Morgen nicht gearbeitet.« Sie schwieg, als müsse sie sich überlegen, ob sie froh oder traurig darüber war. »Ich weiß sowieso nicht, warum so viele Leute unterwegs waren, es hat heftig geregnet. Vermutlich hat er das Auto einfach nicht gesehen.«

»Pech.«

»Das würde ich auch sagen.«

»Angie, wartest du darauf, dass sich die Getränke von alleine servieren?«

Das kam von der Bibliothekarin. Angie verdrehte die Augen. »Ich nehme sie schon.« Sie zwinkerte Max zu, als sie ihr Tablett aufnahm. »Sehen wir uns noch?«

»Bestimmt.«

Als er wieder in sein Hotelzimmer zurückwanderte, hatte er sich einen guten Überblick über Willys Bewegungen verschafft. Er hatte am Abend zuvor gegen zehn im Motel eingecheckt und im Voraus bar für drei Übernachtungen bezahlt. Zurückgezahlt werden konnte ihm jetzt nichts mehr. Am nächsten Morgen hatte er im Coffee Shop alleine gefrühstückt, war dann mit dem Mietwagen in die Market Street gefahren und hatte zwei Blocks nördlich vom Remember When geparkt.

Da Max bis jetzt keine Hinweise darauf hatte, dass er noch in irgendeinem anderen Geschäft in der Gegend gewesen war, hatte er offensichtlich aus Vorsicht so weit vom Laden entfernt geparkt. Oder er war paranoid.

Aber da er jetzt tot war, war es wohl eher aus Vorsicht geschehen.

Bloß – was hatte Willy in einem Antiquitätenladen in Angel’s Gap gewollt? Er hatte Spuren hinterlassen, jedoch alles getan, um sie zu verwischen.

War der Laden ein Treffpunkt? Ein Briefkasten?

Max fuhr den Computer hoch und klickte sich durch die Homepage der Stadt, bis er den Laden gefunden hatte. Remember When. Antiquitäten, Schmuck, Sammlerstücke. An- und Verkauf.

Er schrieb sich den Namen des Geschäfts auf einen Block und fügte hinzu: HEHLER?, wobei er die Frage zweimal umrandete.

Er las die Öffnungszeiten, Telefon- und Faxnummern, E-Mail-Adresse und den Satz, dass die Waren weltweit verschickt wurden.

Dann las er den Namen der Eigentümerin.

Laine Tavish.

Sie stand nicht auf seiner Liste, aber er überprüfte sie trotzdem noch einmal. Keine Laine, stellte er fest, niemand namens Tavish. Aber es gab eine Elaine O’Hara. Big Jacks einzige Tochter.

Max schürzte die Lippen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sie müsste jetzt … achtundzwanzig, neunundzwanzig sein. Wäre es nicht interessant, wenn Big Jack O’Haras kleines Mädchen in die Fußstapfen ihres diebischen Vaters getreten wäre, ihren Namen geändert und sich in dieses hübsche Bergstädtchen eingeschlichen hätte?

Das war ein Puzzleteil, dachte Max, das passen könnte.

Nach vier Jahren in Angel’s Gap wusste Laine ganz genau, was sie erwartete, als sie am nächsten Morgen den Laden aufschloss. Zuerst würde Jenny eintrudeln – nur eine Winzigkeit zu spät –, mit frischen Doughnuts. Da sie im sechsten Monat schwanger war, bekam sie alle zwanzig Minuten Heißhunger auf irgendetwas, das vor Zucker und Fett nur so strotzte. Laine kniff vorsichtshalber schon ein Auge zu, wenn sie sich auf ihre Badezimmerwaage stellte.

Zu den Doughnuts gehörte eine Thermoskanne mit Kräutertee, nach dem Jenny seit Beginn der Schwangerschaft süchtig war. Und dann würde sie alle Einzelheiten des gestrigen Unfalls wissen wollen. Sie war zwar mit dem Polizeichef verheiratet, aber das hielt sie nicht davon ab, sich auch von Laine auf dem Laufenden halten zu lassen.

Punkt zehn würden die Neugierigen in den Laden strömen. Manche, dachte Laine, während sie Wechselgeld in die Kasse legte, würden so tun, als wollten sie nur ein wenig stöbern, andere jedoch würden sich nicht die Mühe machen, ihre Klatschsucht zu verbergen.

Und sie würde alles noch einmal durchstehen müssen. Wieder müsste sie lügen oder zumindest so tun, als hätte sie den Mann, der sich Jasper Peterson nannte, noch nie im Leben gesehen.

Sie musste schon lange eine Maske tragen, um den Tag zu überstehen. Manchmal deprimierte es sie, wie einfach es war.

Sie war gerade fertig mit den Vorbereitungen, als Jenny hereinstürmte – fünf Minuten zu spät.

Jenny hatte ein Gesicht wie ein mutwilliger Engel. Es war rund und weich, mit hellem, rosigem Teint, und ihre klugen braunen Augen waren leicht mandelförmig geschnitten. Ihre dicken schwarzen Haare hatte sie meistens irgendwie auf dem Kopf zusammengebunden. Sie trug einen riesigen roten Pullover, der sich über ihrem Schwangerenbauch spannte, ausgebeulte Jeans und uralte Doc Martens.

Sie war alles, was Laine nicht war – unorganisiert, impulsiv, undiszipliniert, ein emotionaler Wirbelwind. Und genau die Freundin, nach der sich Laine ihre ganze Kindheit über gesehnt hatte.

Dass es Jenny in ihrem Leben gab, war für Laine eins der goldenen Geschenke des Schicksals.

»Ich sterbe vor Hunger! Du auch?« Jenny warf die Schachtel von der Bäckerei auf die Theke und riss sie auf. »In den zwei Minuten von Krosen’s bis hierher konnte ich den Duft von den Dingern kaum ertragen. Ich glaube, ich habe angefangen zu sabbern.« Sie stopfte sich den größten Teil eines mit Marmelade gefüllten Doughnuts in den Mund, redete dabei aber unverdrossen weiter. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du hast zwar gestern Abend am Telefon gesagt, es ginge dir gut, du hättest nur ein bisschen Kopfschmerzen und wolltest nicht über die Sache reden, aber Mommy hat sich Sorgen gemacht, Süße.«

»Ist schon okay. Es war scheußlich, aber mir geht es gut.«

Jenny streckte ihr die Schachtel entgegen. »Iss Zucker.«

»Gott! Weißt du eigentlich, wie lange ich trainieren muss, um das wieder vom Hintern zu kriegen?«

Jenny lächelte nur, als Laine sich ein cremegefülltes Teilchen nahm. »Du hast so einen hübschen Hintern.« Mit langsamen, kreisenden Bewegungen rieb sie sich über den Bauch. »Du siehst nicht so aus, als hättest du sonderlich viel geschlafen.«

»Nein. Ich konnte nicht einschlafen.« Gegen ihren Willen blickte sie zum Schaufenster. »Ich war wahrscheinlich die Letzte, mit der er gesprochen hat. Und ich habe ihn abgewimmelt, weil ich so viel zu tun hatte.«

»Kannst du dir vorstellen, wie sich Missy heute früh fühlt? Und dabei hat sie nicht mehr Schuld als du.« In ihrem schwangeren Watschelgang ging sie ins Hinterzimmer und kam mit zwei Bechern zurück. »Trink ein bisschen Tee zu dem vielen Zucker. Du musst dich für den Ansturm wappnen, wenn wir erst einmal geöffnet haben. Alle werden vorbeikommen.«

»Ich weiß.«

»Vince hält die Sache unter Verschluss, bis er mehr herausgefunden hat, aber es wird trotzdem durchsickern – und ich finde, du hast ein Recht, es zu erfahren.

Jetzt kommt es, dachte Laine. »Was erfahren?«

»Der Name des Mannes. Auf der Karte, die er dir gegeben hat, stand der falsche Name.«

»Wie bitte?«

»Er war auch nicht identisch mit dem Namen auf seinem Führerschein und den Kreditkarten«, fuhr Jenny fort. Ihre Augen glitzerten vor Aufregung. »In Wirklichkeit hieß er William Young, stell dir das mal vor. Er war ein Exsträfling.«

Laine konnte es kaum ertragen, dass der Mann, an den sie sich so liebevoll erinnerte, so bezeichnet wurde, als ob das alleine ihn charakterisierte. Und sie hasste sich dafür, dass sie nichts zu seiner Verteidigung sagte. »Machst du Witze? Dieser kleine Mann?«

»Diebstahl, Betrug, Besitz von Diebesgut – und das sind nur die Verurteilungen. Ich habe aus Vince herausgekitzelt, dass man ihn wegen weit mehr in Verdacht hatte. Ein richtiger Krimineller, Laine – und er war hier im Laden. Wahrscheinlich wollte er die Lage peilen.«

»Du schaust dir zu viele alte Filme an, Jenny.«

»Ach was! Und wenn du gerade alleine im Geschäft gewesen wärst? Wenn er nun eine Waffe dabeigehabt hätte?«

Laine pustete sich den Zucker von den Fingern. »Hatte er eine Waffe?«

»Nein, aber es hätte ja gut sein können! Er hätte dich ausrauben können!«

»Ein Krimineller kommt extra nach Angel’s Gap, um meinen Laden zu überfallen? Mann, du hast vielleicht eine blühende Fantasie.«

Jenny bemühte sich, ein böses Gesicht zu machen, brach dann aber in Gelächter aus. »Okay, er hat den Überfall eventuell nicht geplant, aber irgendetwas hatte er vor. Schließlich hat er dir seine Karte gegeben, oder?«

»Ja, aber …«

»Vielleicht hat er ja gehofft, er könnte dir gestohlene Ware verkaufen. Wer würde hier schon nach Diebesgut suchen? Ich habe zu Vince gesagt, wahrscheinlich hat er gerade einen Bruch gemacht, und sein üblicher Hehler kann ihm die Ware nicht mehr abnehmen oder so. Und deshalb musste er schnell jemand anderen dafür finden.«

»Und dann hat er sich von allen Antiquitätenläden auf der Welt gerade meinen ausgesucht?« Laine lachte, aber ihr saß ein Kloß im Hals. Womöglich war das ja wirklich der Grund, warum Willy zu ihr gekommen war.

»Nun, zu irgendeinem musste er ja gehen, warum also nicht zu dir?«

»Ah … wir sind doch hier nicht im Fernsehfilm der Woche.«

»Aber du musst zugeben, dass es seltsam ist.«

»Ja, es ist seltsam. Und es ist traurig. Außerdem ist es jetzt zehn Uhr, Jen. Lass uns aufsperren und sehen, was der Tag bringt.«