In Erfüllung seiner Pflicht - Mathilda Grace - E-Book

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Mathilda Grace

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Beschreibung

Gefallen in Erfüllung seiner Pflicht. Das dachte Garrett Wilks zumindest, als sein für tot erklärter Verlobter, der Marine Tyler Mason, plötzlich quicklebendig vor seiner Tür steht. Jahrelang hat Garrett um Tyler getrauert. Jahrelang hat er Kade McQueen verflucht, der ihm die Nachricht von Tylers Tod überbrachte und gleichzeitig dessen bester Freund war. Heute haben sich beide Männer ein gemeinsames Leben aufgebaut, das mit Tylers Auftauchen auf den Kopf gestellt wird. Garrett und Kade sind mit der Situation vollkommen überfordert und Tylers auffälliges Verhalten macht ihnen schnell deutlich, dass es mehr brauchen wird als Medikamente und Besuche bei einem Traumatherapeuten, damit Tyler das, was ihm in seiner fünfjährigen Gefangenschaft angetan wurde, überstehen kann.

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Mathilda Grace

IN ERFÜLLUNG SEINER PFLICHT

Impressum

© 2017 Mathilda Grace

Am Chursbusch 12, 44879 Bochum

Text: Mathilda Grace 2016

Foto: SiNoMo; Pixabay

Coverdesign: Mathilda Grace

Korrektorat: Corina Ponta

Web: https://mathilda-grace.blogspot.de/

Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.

Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.

In Erfüllung seiner Pflicht enthält homoerotische Handlungen.

Danksagung

Mein Dank geht an Frau Mag. rer. nat. Corina Ponta, die mir in allen Fragen rund um die Themen PTBS und Traumabewältigung mit ihrer fachlichen Kompetenz beratend zur Seite stand.

Zum Thema

Die Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, ist eine ernst zu nehmende, psychische Erkrankung, der vor allem im militärischen Bereich für sehr lange Zeit kaum die dringend benötigte Aufmerksamkeit zuteilwurde. Auch heute werden immer noch zu viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Kriegseinsätzen mit ihren Problemen allein gelassen bzw. wird ihnen die Suche nach Hilfe durch bürokratische Hürden unnötig erschwert.

Verschiedene Studien (u. a. zum Vietnamkrieg) haben ergeben, dass durchschnittlich ein Drittel aller Soldaten (wobei die Dunkelziffer bedeutend höher liegen dürfte), die aus Einsätzen in den verschiedensten Kriegsländern überall auf dieser Welt nach Hause zurückkehren, anschließend an einer PTBS erkranken.

Viele von ihnen leiden ihr Leben lang unter den Folgen.

- Drama -

Gefallen in Erfüllung seiner Pflicht. Das dachte Garrett Wilks zumindest, als sein für tot erklärter Verlobter, der Marine Tyler Mason, plötzlich quicklebendig vor seiner Tür steht. Jahrelang hat Garrett um Tyler getrauert. Jahrelang hat er Kade McQueen verflucht, der ihm die Nachricht von Tylers Tod überbrachte und gleichzeitig dessen bester Freund war. Heute haben sich beide Männer ein gemeinsames Leben aufgebaut, das mit Tylers Auftauchen auf den Kopf gestellt wird. Garrett und Kade sind mit der Situation vollkommen überfordert und Tylers auffälliges Verhalten macht ihnen schnell deutlich, dass es mehr brauchen wird als Medikamente und Besuche bei einem Traumatherapeuten, damit Tyler das, was ihm in seiner fünfjährigen Gefangenschaft angetan wurde, überstehen kann.

Prolog

Wie er da steht.

In dieser schicken Uniform.

Kein Staubkorn auf dem Stoff. Seine blitzenden Abzeichen so akkurat an der Uniform befestigt, als hätte er sie mit einem Lineal gezogen. Die auf Hochglanz polierten Schuhe glänzen im untergehenden Sonnenlicht, das ihn von hinten beleuchtet und mir die Assoziation einer Halluzination vermittelt, denn genau das muss er sein.

Das Gesicht, die Augen, der harte Zug um den Mund – sein Anblick ist so vertraut und gleichzeitig so fremd. Er kann es nicht sein, denn er ist tot. Wir haben ihn beerdigt. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wir haben einen leeren Sarg beerdigt, denn es gab keine Leiche von ihm.

Abgesehen von der, die gerade vor mir steht und sich jetzt mit einer vorsichtigen Bewegung die Uniformmütze vom Kopf zieht. Er muss verletzt sein und er ist kahl geschoren. Komplett kahl. So habe ich ihn noch nie gesehen. Er hat eine rote, kaum verheilte Narbe auf der linken Kopfseite über dem Ohr, die ich nicht kenne. Zudem fehlt ihm das Ohrläppchen und ich kann eine weitere Narbe sehen, die unter dem Kragen seiner Jacke verschwindet. Großer Gott, er hat an seiner linken Hand nur noch drei Finger.

»Garrett? Wer ist es denn?«, fragt Kade aus der Küche, wo er den Tisch fürs Abendessen deckt, doch ich kann ihm nicht antworten, weil ich bloß dastehe und diesen lebenden Toten anstarre, den ich vor über fünf Jahren heiraten wollte.

Es kam nur nie dazu. Ich habe die von ihm ausgesuchten Ringe längst verkauft. Ich habe meine letzten Erinnerungen an ihn vor über einem Jahr im Kamin verbrannt, in der Hoffnung, endlich mit seinem Tod abschließen zu können. Endlich dem neuen Mann in meinem Leben die Aufmerksamkeit schenken zu können, die er verdient.

Und jetzt steht ein Toter vor meiner Tür und sieht mich an, als wäre es erst gestern gewesen, dass er aus dieser Haustür, unserer Haustür, hinaus in den Tod gegangen ist.

Friendly Fire.

Das hat Kade damals zu mir gesagt, als er drei Wochen nach Tylers Aufbruch, einen Priester an seiner Seite, wie es seit Jahren Brauch ist, an meine Tür klopfte, um mir zu sagen, dass sein bester Freund, mein Verlobter, in einer gottverdammten Wüste getötet worden ist. Gemeinsam mit einigen Kameraden, von denen es zumindest genug Überreste gab, um die Kosten für einen Sarg zu rechtfertigen.

Wir hatten uns erst kurz zuvor dieses Haus gekauft.

Es war klein, aber gemütlich. Und es lag in einem ruhigen Vorort von Chicago, mit viel Grün um uns herum. Genau wie wir es wollten, denn wir hatten viele Pläne. Eine Hochzeit, ein Hund und dann, in ein paar Jahren, ein Kind. Adoption oder Leihmutterschaft, das wollten wir nach seiner Rückkehr aus Afghanistan entscheiden.

Doch Tyler kam nicht zurück und alles, was mir blieb, war unser Haus.

Und Kade, dessen leichte Schritte jetzt in unsere Richtung kommen. »Garrett? Wer ist …?« Er verstummt mitten im Satz, genauso wie seine Schritte hinter mir. »Oh mein Gott.«

»Hallo«, sagt der Mann vor mir plötzlich leise und verzieht den Mund zu etwas, das vermutlich ein Lächeln darstellen soll, doch ich sehe nur eine schmerzerfüllte Grimasse, drei fehlende Zähne und dunkelblaue Augen, in denen nicht der Funke eines Gefühls zu erkennen ist. »Darf ich reinkommen?«

Kapitel 1

Seit über einer Stunde steht er jetzt vollkommen reglos am Fenster des Wohnzimmers, während die späte Augustsonne in der Ferne untergeht und einer rasch aufziehenden Dunkelheit Platz macht.

Genauso lange telefoniert Kade flüsternd im Flur, um für uns in Erfahrung zu bringen, wie es sein kann, dass ein offiziell für tot erklärter US-Marine ganz offensichtlich quicklebendig ist. Wobei das Wort nicht wirklich zu Tyler passt, wenn ich ihn so betrachte, doch mir fällt im Augenblick einfach kein anderes ein. Ich verstehe von Kades Telefonat mit seinem ehemaligen Vorgesetzten nicht viel, aber die Worte Kriegsgefangenschaft und Vergeltungsschlag sind selbst mir als Nicht-Marine geläufig.

Sie haben Tyler und zwei andere US-Marines, ebenfalls vor Jahren fälschlich für tot erklärt, aus irgendeiner Höhle geholt, die sie zuvor bombardiert hatten. Dass sie dabei tatsächlich auf Überlebende stoßen würden, noch dazu auf die eigenen Leute, hatte das Einsatzteam garantiert nicht geplant. Wer immer die Soldaten damals für tot erklärt hat, durfte bereits seinen Hut nehmen, kann ich aus Kades hitzigen Antworten heraushören, nachdem er wütend gefragt hat, wie das möglich ist.

Ehrlich gesagt ist mir das momentan völlig egal. Tyler ist hier. Am Leben. Der Rest kann warten. Wenigstens bis morgen, denn jetzt ist er hier.

Bei uns.

Zu Hause.

Acht Wochen nachdem sie ihn ausgeflogen haben, hat Kade mir vor einigen Minuten zugeflüstert, ehe er sein nervöses Auf- und Ablaufen im Flur wieder aufnahm. Man hat Tyler gerettet, zusammengeflickt, immer wieder verhört und schlussendlich aus dem Militärkrankenhaus entlassen, als er am Ende einfach aufhörte mit ihnen zu sprechen und stattdessen wieder und wieder verlangte, zu mir gebracht zu werden. Der dortige Psychologe hat Tylers Wunsch unterstützt und deshalb steht er nun keine zehn Meter von mir entfernt ruhig da.

Er hat Haltung angenommen, wozu auch immer. Die Beine sind leicht gespreizt und er hat beide Hände auf dem Rücken verschränkt. Er wirkt auf mich wie eine leblose Statue. Früher habe ich diesen Anblick geliebt, vor allem, wenn er dabei seine Uniform trug. Heute macht er mir Angst, weil Tyler so still ist.

Damals, als wir uns kennenlernten, hielt er seinen Mund im Normalfall nur, wenn ich ihn küsste. Er war nie wirklich still in meiner Gegenwart. Nicht einmal nachts, wenn er im Schlaf murmelte und mich an sich zog, wobei er immer lächelte und dann seufzend wieder in seinen Träumen versank. Tyler hatte praktisch rund um die Uhr etwas zu erzählen, doch seit er uns bat, reinkommen zu dürfen, hat er kein einziges Wort mehr zu Kade oder zu mir gesagt.

Ich habe überlegt, ihm ein Bier anzubieten, damit wir uns auf die Couch setzen können, um irgendwie einen Anfang zu finden, doch wenn ich ehrlich bin, traue ich mich im Moment nicht einmal ihn anzusprechen. Ich bin so froh, dass Tyler lebt und hier ist, doch gleichzeitig schreckt mich sein Verhalten ab. Er sieht so steif und angespannt aus, dass er mir immer mehr wie eine scharfe Granate vorkommt. Statt also etwas zu sagen, stehe ich stumm in der Tür, blicke auf seinen schmalen Rücken und suche jenen Mann, in den ich mich vor mehr als fünfzehn Jahren verliebt habe.

Aber er ist nicht hier und ich weiß nicht, wer dieser Mann da drüben am Fenster ist. Mein Tyler ist es jedenfalls nicht und insgeheim bin ich erleichtert, dass ich mich nicht allein mit ihm auseinandersetzen muss. Kades Anwesenheit gibt mir etwas Sicherheit, doch ich habe das ungute Gefühl, dass ich davon bald noch bedeutend mehr brauchen werde.

Ich war nie ein besonders mutiger Mensch. Im Gegenteil, ich habe Männer wie Tyler und Kade schon als kleiner Junge bewundert. Soldaten, die für ihre Heimat in den Krieg ziehen. Sie waren Helden für mich. Natürlich ist der goldene Schein mit den Jahren der Realität gewichen und mir ist bewusst, dass Soldaten keineswegs immer nur die strahlenden Supermänner sind, wie unsere Regierung sie gerne darstellt. Es gibt bei ihnen genauso viele böse Menschen, wie überall sonst auf der Welt.

Tyler war allerdings einer von den Guten. Ein Mann mit Herz und Verstand, der einen geplatzten Reifen in weniger als fünf Minuten wechseln konnte, während ich komplett ratlos danebenstand und rätselte, welche Schraube wohl zu welcher Mutter passt. Tyler fand das damals sehr komisch. Allerdings fand er mich gleichzeitig auch sehr niedlich, darum hat er mich so lange bequatscht, bis ich mit ihm essen ging.

Drei Wochen später bin ich von zu Hause aus- und bei ihm eingezogen. Es war das totale Chaos. Ich, der Nerd mitten im Studium zum Webdesigner, er, der zukünftige Marine in der Grundausbildung. Wir waren ständig Pleite, aber wir haben es irgendwie geschafft, denn wir haben uns über alles geliebt. Wir haben uns zwar manchmal so laut gestritten, dass die Wände unserer Bruchbude wackelten, die dermaßen dünn waren, dass wir den Nachbarn regelmäßig beim Sex zuhören konnten, aber wir haben uns geliebt.

So stark, dass ich an Tylers Tod garantiert zerbrochen wäre, hätte Kade mich nicht aufgefangen und verhindert, dass ich mir ein paar Wochen nach Tylers Beerdigung mit dem Messer die Pulsadern aufschneide.

»Garrett?«

Ich zucke zusammen, als Kade mich am Arm berührt. Mein Blick sucht seinen. »Und?«

Kade deutet wortlos in den Flur und ich folge ihm, obwohl mir nicht wohl dabei ist, Tyler einfach stehenzulassen. Er wird wissen, dass wir über ihn reden, er ist kein Dummkopf. Doch gleichzeitig bin ich irgendwie auch erleichtert, ihn nicht mehr im Blickfeld zu haben. Ich bin eben kein Soldat und schon gar nicht mutig. Ich bin ein Computerfreak, der zu Hause arbeitet und überaus glücklich damit ist, am Schreibtisch zu sitzen, das Haus ordentlich zu halten und sich in schöner Regelmäßigkeit von seinem Freund ins nächste Nirwana vögeln zu lassen. Seit Kade die US-Marines verlassen hat und in einer Autowerkstatt arbeitet, führen wir ein normales, langweiliges Leben und bis vor einer Stunde waren wir damit vollauf zufrieden.

»Zusammengefasst: Sie haben eine Stellung von Rebellen bombardiert, in der angeblich Unmengen von Sprengstoff und vor allem Waffen gehortet wurden. Was sich auch als wahr herausgestellt hat. Was nicht stimmte, war, dass das Lager nur von einer Handvoll Leute besetzt ist.« Kade fährt sich nervös durch sein dunkelbraunes Haar. »Genauere Details durfte mir der Captain nicht sagen, weil ich ausgestiegen bin, aber in dem Lager wurden offenbar über lange Zeit gefangen genommene Soldaten gefoltert. Sie haben neben Ty zwei andere Marines gerettet und viele persönliche Gegenstände gefunden, die auf weitere Gefangene schließen lassen, deren Leichen man weggeschafft haben muss, denn Überreste gab es keine. Tys Befragungen haben in der Hinsicht nichts ergeben, was nichts heißen muss.«

Ich runzle die Stirn. »Wie ist das gemeint?«

»Dass er kaum über seine Gefangenschaft geredet hat und der hinzugezogene Psychologe ihn für psychisch äußerst labil hält. Man hat Ty geraten, sich in Therapie zu begeben, was er wohl abgelehnt hat.« Kade sieht über meine Schulter zum Wohnzimmer und zögert.

»Was?«, hake ich nach.

»Militärische Standardprozedur.«

»Und das bedeutet?«

»Ehrenhafte Entlassung, inklusive Nachzahlung aller noch offenen Bezüge, plus einer großzügigen Abfindung. Dafür hält er in der Öffentlichkeit den Mund, was seine Gefangenschaft in Afghanistan betrifft.«

Mir bleibt im ersten Moment der Mund offenstehen. Dann werde ich sauer. »Moment mal? Sagst du mir hier gerade, dass die Army sich mit Geld sein Schweigen erkauft hat?«

»Er dürfte ohnehin keine Details über Einsätze ausplau...«

»Kade!«, unterbreche ich ihn barsch, weil ich das sehr wohl weiß und darum geht es mir auch gar nicht. »Ich rede nicht von Einsatzdetails, sondern von dem, was diese ...« Ich breche ab, als ich erkenne, dass ich laut werde. »Anders ausgedrückt, sie haben ihn mit genug Geld vor die Tür gesetzt, um sich nicht mehr um ihn kümmern zu müssen.«

Kade zieht eine Grimasse. »Ja.«

»Und das nennt ihr Standardverfahren?«, fahre ich ihn an, dabei kann Kade nichts dafür und sonderlich glücklich sieht er damit auch nicht aus. Er wirkt eher resigniert.

Andererseits, er kennt das Prozedere besser als ich, er war schließlich lange genug bei der US-Armee und hatte wie Tyler Einsätze im Ausland. Soldaten wissen, was auf sie zukommt. Besser gesagt, sie wissen, wie sie behandelt werden, wenn sie irgendwann nicht mehr so funktionieren, wie die Vorgesetzten das gerne hätten. Die Army kann ein perfektes Sprungbrett für eine Karriere sein, aber sie kann auch den großen Absturz ins Nichts bedeuten. Tausende von obdachlosen Veteranen auf den Straßen der USA beweisen das seit Jahrzehnten deutlich.

»Nicht wir, der Führungsstab. Die Regierung versucht seit Jahren alles, um das Problem mit psychisch kranken Soldaten nach Kriegseinsätzen unter den Teppich zu kehren. Und dafür nehmen sie jede Menge Geld in die Hand, das viele annehmen, weil sie sonst auf der Straße leben müssten. Auch wenn unter der Bevölkerung langsam ein Umdenken stattfindet und mehr und mehr Vereine sich um Veteranen kümmern, Männer wie Ty fallen meist durchs Raster, weil sie keinen haben, der sich für sie einsetzt. Du weißt, dass wir nie eine Familie hatten. Du bist der einzige von uns mit intaktem Elternhaus.«

Dem kann ich nicht widersprechen, denn Tyler und Kade sind im gleichen Waisenhaus aufgewachsen und dort zu besten Freunden geworden. Und sie wären auch heute noch allerbeste Freunde, wäre Tyler nicht gestorben. Angeblich, korrigiere ich mich und sehe zur Wohnzimmertür.

»Was machen wir jetzt?«

Kade seufzt. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung.«

Mir fällt das für Freitagabend geplante Treffen mit meinen Freunden ein. »Ich muss den Jungs absagen.«

»Das ist doch erst übermorgen.«

Ich schaue zurück zu Kade. »Na und? Glaubst du wirklich, dass er nach der langen Zeit ausgerechnet zu uns gekommen ist, um nach einem Hallo wieder zu gehen?«

»Nein«, gibt Kade leise zu und seufzt erneut. »Wir sollten herausfinden, ob er ein Dach über dem Kopf hat. Wenn nicht, besorge ich ihm ein Hotelzimmer.«

Ich runzle die Stirn. »Wir haben ein Gästezimmer.«

»Nein!«

Die Absage kommt so schnell und kalt, dass ich verdattert einen Schritt von Kade zurücktrete. »Was soll das heißen? Tyler ist dein bester Freund.«

»Und dein Ex-Verlobter.«

»Geht es darum? Dass wir ...«

»Nein, es geht nicht darum, Garrett.«

»Worum dann, bitteschön?«

Kade flucht, als ich ihn wütend ansehe. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich komplett auf stur schalte, wenn er mir nicht gleich gute Argumente liefert, weswegen wir Tyler nicht über Nacht bei uns schlafen lassen sollten, wenn er kein Zimmer irgendwo hat. Obwohl mir bei dem Gedanken nicht ganz geheuer ist, wir können ihn nicht einfach zurück auf die Straße jagen. Er hat so viel durchgemacht und überlebt, zudem habe ich ihn geliebt und tue es immer noch, obwohl ich heute mit Kade zusammen bin.

Tyler ist am Leben und ich werde den Teufel tun, ihn aus unserem Haus zu jagen, nur weil er Kade und mir völlig fremd geworden ist. Ich bin vielleicht naiv oder ein Fantast, immerhin habe ich keine Ahnung, worauf ich mich einlasse, aber Tyler ist zurück und er ist zu uns gekommen. Ich will ihn nicht wieder wegschicken.

»Garrett, traumatisierte Soldaten können gefährlich sein«, sagt Kade in einem belehrenden Tonfall, der mich prompt auf die Barrikaden treibt.

Hält er mich für bescheuert? Ich weiß das. Dafür muss ich kein Marine sein. Im Gegenteil, dafür muss ich nur Zeitungen lesen. Erst letzte Woche hat die Polizei in Denver einen Mann erschossen, der sich im Nachhinein als Afghanistan-Veteran entpuppte. Ein junger Obdachloser, der, zumindest stand es so im Internet, gefangen in einem Flashback, glaubte, die beiden Polizisten, die auf Streife waren und unter der Brücke, wo er hauste, nur mal nach dem Rechten sehen wollten, würden ihn umbringen. Also ging er auf sie los und verletzte einen der Beamten schwer, bevor der andere ihn tötete.

Solche Schlagzeilen gibt es in unserem Land mittlerweile genauso oft wie Amokläufe oder den nächsten Polizeiskandal, wenn wieder ein weißer Cop einen Schwarzen niederschießt.

Ich bin nur ein Webdesigner, der am liebsten zu Hause vor dem Computer sitzt, aber ich bin kein Vollidiot. Dass Tyler nach fünf Jahren Gefangenschaft traumatisiert ist, weiß ich, es ändert nur nichts für mich. Er hat außer uns niemanden mehr, das muss Kade doch klar sein. Wie kann er sich hinstellen und von mir verlangen, dass wir Tyler rauswerfen?

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn Tyler kein Zimmer oder sonst was hat, bleibt er hier.«

Kade atmet tief durch, es ist offensichtlich, dass er anderer Meinung ist, aber er widerspricht mir nicht, sondern dreht sich einfach um und verschwindet mit einem »Ich mache etwas zu essen.« in der Küche. So kann man einem Streit auch aus dem Weg gehen und manchmal hasse ich diese Unart an ihm. Kade ist ein toller Kerl und ich liebe ihn wirklich, aber man kann mit diesem Mann nicht streiten. Er lässt es nicht zu. Er geht einfach und hält sich fern, bis ich mich beruhigt habe.

Was ich besser schnellstens tue, denn solange Kade sich in der Küche versteckt, muss ich mich um Tyler kümmern. Keine Ahnung, wie ich das anstellen oder was ich sagen soll, aber ich kann ihn schlecht den Rest des Abends am Fenster stehen und nach draußen sehen lassen. Mein Blick fällt auf den Rucksack, das einzige Gepäckstück, das er dabei hatte. Vielleicht zeige ich ihm erst mal das Gästezimmer? Irgendwo müssen wir ja anfangen und Tyler braucht einen Schlafplatz.

»Tyler?« Er zuckt so heftig zusammen, dass selbst ich mich erschrecke. Du lieber Himmel, was ist nur aus ihm geworden? Nicht jetzt, schiebe ich die Frage sofort energisch zur Seite und räuspere mich. »Wir haben ein Gästezimmer. Willst du heute Nacht bei uns schlafen?«

Es dauert eine Weile, bis er reagiert, was mich noch weiter irritiert, weil es überhaupt nicht seinem mir bekannten Verhalten entspricht. Ich schätze, ich werde diesen Mann völlig neu kennenlernen müssen. Sein Nicken ist kaum zu erkennen, aber schließlich nimmt er seine Hände vom Rücken und dreht sich zu mir um.

»Ja. Danke.«

Zwei Worte. So höflich und zugleich so kalt ausgesprochen, dass es mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper treibt. Ich unterdrücke ein Schaudern und deute Tyler an, mir zu folgen. Was er dann auch tut, ich höre seine festen Schritte hinter mir auf der Treppe.

»Weißt du noch, wie wir es damals eingerichtet haben?«

Seine Antwort kommt, als ich die Tür zum Gästezimmer bereits geöffnet und gar nicht mehr damit gerechnet habe.

»Nein.«

Ich frage mich, ob Tyler die Gänsehaut auf meinen Armen sehen kann. Dick genug dürfte sie mittlerweile sein. Mein erster Gang führt mich zum Schrank, um frisches Bettzeug für ihn zu holen und ihm Zeit zu geben, sich umzuschauen.

»Kade macht etwas zu essen. Willst du vielleicht duschen? Ich könnte derweil schon das Bett beziehen und deine Sachen einräumen. Hast du Schlafzeug dabei? Wir können dir was von uns leihen.« Er sagt kein Wort und ich drehe mich zu ihm um. Tyler steht mitten im Raum und sieht zu Boden. »Tyler?« Keine Reaktion. Ich weiß nicht mal, ob er mich gehört hat. »Ist alles in Ordnung?«

»Nein.«

Diesmal kommt seine Antwort sofort und ich verkneife mir jedes weitere Wort, denn Tylers Tonfall, das unausgesprochene »Lass mich in Ruhe.«, ist unverkennbar für mich.

Ich lasse die Schranktür offen, damit er das Bettzeug sehen kann und verlasse das Zimmer so schnell es geht, ohne dass es wie eine Flucht wirkt, denn genau das ist es und ich will nicht, dass er merkt, dass ich Angst vor ihm habe.

Vielleicht hatte Kade recht. Vielleicht hätten wir Tyler doch lieber im nächsten Hotel unterbringen sollen, überlege ich auf dem Weg in die Küche, aber noch auf der Treppe wird mir klar, dass ich das niemals fertiggebracht hätte. Tyler gehört zu mir. Nein, das stimmt nicht, er gehört zu uns beiden, zu Kade und mir. Auch wenn ich ihn nach all der Zeit nicht mehr kenne, will ich, dass er bei uns bleibt. Was auch immer das für Kade und mich bedeuten wird.

Kade weckt mich am nächsten Morgen lange vor meiner normalen Aufstehzeit. Das ist sonderbar, noch merkwürdiger finde ich nach einem Blick auf die Uhr allerdings, dass er selbst spät dran ist und trotzdem noch in Unterwäsche herumläuft. Dass ich keinen Kuss bekomme und kein 'Guten Morgen' samt einem Lächeln, setzt dem Ganzen dann die Krone auf.

»Was ist denn?«, frage ich maulig, während er meine Decke wegzieht und leise, aber äußerst eindringlich verlangt, dass ich aufstehe. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Hau ab und lass mich schlafen, du Sadist.«

»Kurz vor sechs Uhr … Ty ist weg.«

Sofort bin ich hellwach. »Was?«

»Ich wollte einen Blick ins Gästezimmer werfen, ob alles in Ordnung ist. Das Bett ist unberührt, nur die Tagesdecke fehlt. Seine Uniform hängt ordentlich gefaltet über dem Stuhl, seine Stiefel stehen daneben. Aber er ist weder im Bad noch unten, ich habe nachgesehen. Fenster und Türen sind alle geschlossen. Wenn er nicht in Unterwäsche durch Wände gehen kann, muss er irgendwo im Haus sein, ich weiß allerdings nicht wo.«

Na wunderbar. Und leider nicht sonderlich überraschend, nachdem Tyler gestern weder zum Abendessen runterkommen wollte noch ein weiteres Wort gesagt hat, als wir später erneut versuchten, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Wir sind beide mit einem mulmigen Gefühl ins Bett gegangen und haben uns erst beruhigt, als etwa gegen zwei Uhr morgens auf einmal die Dusche zu hören war. Ein kleines Zeichen von Normalität, zumindest hatte ich das geglaubt.

Ich folge Kade ins Gästezimmer. Auf den ersten Blick sieht alles aus wie immer. Das Bett links an der Wand, gegenüber ein kleiner Schreibtisch, hinter dem Bett die Kommode, auf der Tylers Rucksack liegt, und zwischen Tür und Fenster steht ein Kleiderschrank an der Wand. Als Tyler und ich das Haus damals kauften, sollte das hier irgendwann ein Kinderzimmer werden, während das kleine Zimmer direkt nebenan, das seit Jahren leersteht, als Gästezimmer für meine Familie und seine Freunde, allen voran Kade, gedacht war.

»Hast du nach ihm gerufen?«, frage ich und zucke verlegen mit den Schultern, als Kade mir einen Blick zuwirft, der mehr als eindeutig ist. Natürlich hat er Tyler gerufen, sonst hätte er mich nicht aus dem Bett geworfen, nachdem wir beide kaum geschlafen haben, weil wir bis spät in die Nacht vor meinem Laptop saßen und nach Informationen über heimgekehrte Soldaten aus Kriegseinsätzen gesucht haben.

Die Ausbeute war ziemlich mager, aber ich werde es heute nach getaner Arbeit noch einmal versuchen. Irgendwo muss es etwas geben, das mehr aussagt, als die typischen Dankesreden von Politikern und diesen ganzen Medaillen, mit denen man Veteranen gerne bewirft und ihnen medienwirksam vor einer Kamera die Hand schüttelt.

»So groß ist unser Haus nicht. Er muss irgendwo sein.«

»Ich war in jedem Raum. Selbst nebenan, wo außer einem Berg Staubflusen nichts zu finden ist.«

Mir kommt ein Gedanke, der so abstrus ist, dass ich ihn im ersten Moment einfach zur Seite schieben will, aber dann sehe ich doch zum Bett und überlege.

»Was?«, fragt Kade, der mir meine Grübelei ansieht.

»Hast du unter dem Bett nachgesehen?«, will ich wissen und schaue zu ihm. Kade runzelt die Stirn und ich kann mir zu gut vorstellen, was ihm gerade durch den Kopf geht, aber statt loszulachen, tritt er an mir vorbei und sieht nach. Das folgende Kopfschütteln, bevor er sich wieder aufrichtet, lässt mich leise seufzen. »Sollen wir die Polizei rufen?«

»Und was sagen wir denen? Dass ein ehemaliger Marine in Unterwäsche auf der Straße rumläuft, obwohl wir nicht einmal wissen, wie er aus dem Haus gekommen ist?« Kade tritt neben mich. »Muss man nicht ohnehin erst einen Tag warten, bis man eine Vermisstenanzeige aufgeben kann?«

Gute Frage, ich weiß es nicht. Mit so etwas musste ich mich noch nie befassen. Ich glaube, verschwundene Kinder sucht die Polizei sofort, aber Tyler ist ein Erwachsener. Vielleicht sollten wir noch mal durchs Haus gehen. Irgendwo muss er sein. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Tyler in Unterwäsche nach draußen geht und dabei noch daran denkt, hinter sich die Tür zu schließen. Das Ganze ist einfach nur seltsam.

Ein gedämpftes Rascheln lässt mich plötzlich aufmerken. Kade hat es auch gehört und deutet mit verwundertem Blick in Richtung Kleiderschrank. Es ist ein ganz einfacher Schrank mit zwei Türen, hinter denen eine Kleiderstange hängt. Eine dritte Tür führt zu mehreren Fächern und unten gibt es Schubladen. Nichts besonderes und abgesehen von der Bettwäsche und ein paar Handtüchern, die ich vor einer Ewigkeit in das schmale Fach über der Kleiderstange geräumt habe, ist er leer.

War das eben ein Seufzen? Ich sehe verblüfft zu Kade, doch der starrt schockiert den Schrank an. Kann es sein, dass Tyler die Nacht im Kleiderschrank verbracht hat? Aber warum sollte er das tun? Warum sollte überhaupt jemand in einem Schrank die Nacht verbringen wollen? Bevor wir die Chance haben, auf die Frage eine Antwort zu finden, wird die linke Tür ein Stück aufgeschoben und ein Zipfel der Tagesdecke fällt raus.

Großer Gott, er hat tatsächlich im Schrank geschlafen. Mir fehlen die Worte.

»Ty?«, fragt Kade leise und geht langsam zum Schrank, um sich neben die Tür zu hocken. »Wie wär's mit Kaffee?«

Es dauert eine Weile, bis Tyler antwortet. »Ja … Danke.«

Kade erhebt sich wieder. »Er ist in ein paar Minuten fertig«, sagt er und schiebt mich kurzerhand aus dem Zimmer. Erst als er die Tür hinter sich zugezogen hat, treffen sich unsere Blicke. »Bevor du fragst … Ich weiß es nicht, aber ich habe so einiges über verschiedene Traumata nach Kriegseinsätzen gehört, als ich noch im Dienst war.«

»Kade, er ...«

»Ich weiß und wenn er im Schrank schlafen muss, weshalb auch immer, dann lassen wir ihn dort schlafen.«

»Aber ...«

Kades Kopfschütteln lässt mich verstummen. »Warten wir erst mal ab. Er ist wieder hier, bei uns. Er lebt und im Moment ist mir, ehrlich gesagt, alles andere egal.«

Das sind ja ganz neue Töne. »Gestern wolltest du ihn noch rauswerfen«, erinnere ich ihn und Kade sieht mich verlegen an.

»Ja, ich weiß, und das tut mir leid. Ich war nur ...«

Er bricht ab und zuckt in einer sichtlich ratlosen Geste mit den Schultern. Kade ist genauso aufgewühlt wie ich, wird mir klar, darum nehme ich einfach seine Hand und ziehe ihn nach unten in die Küche. Wir haben Tyler Kaffee versprochen, also soll er seinen Kaffee bekommen, und vielleicht mag er ja auch etwas essen. Ich beginne nach Toast zu suchen, während Kade sich um die Kaffeemaschine kümmert und dabei seinen Boss anruft, um ihn kurzerhand um einen freien Tag zu bitten. Das verblüfft mich anfangs, aber dann erzählt er offen, was bei uns gerade los ist und am Ende bekommt er von Richie eine Woche bezahlten Urlaub zugestanden. Ich kenne den Mann nicht, aber er scheint tatsächlich der anständige Kerl zu sein, für den Kade ihn hält.

Der Kaffee beginnt durchzulaufen und ich verschwinde ins kleine Bad, das wir hier unten haben. Falls Tyler oben vielleicht noch mal duscht oder gerade auf der Toilette sitzt, will ich ihn nicht stören. Als ich wieder in die Küche komme, ist er schon da und steht mit dem Rücken zu mir im offenen Durchgang, der die Küche mit dem Essbereich im Wohnzimmer verbindet. Lächelnd gehe ich zu ihm, eine Hand erhoben, um sie auf seine Schulter zu legen, so wie früher, und ihm einen Guten Morgen zu wünschen.

In der nächsten Sekunde drückt er mir mit einer Hand die Luft ab und drängt mich nach hinten, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand knalle.

»Tyler! … Verdammt, lass ihn los!« Ich höre Kades Schreie, doch Tyler reagiert überhaupt nicht. In seinen Augen steht die blanke Mordlust. Großer Gott, er wird mich erwürgen. »Sofort aufhören, Soldat!«, befiehlt Kade auf einmal lautstark und das funktioniert.

Plötzlich bin ich wieder frei und Tyler starrt mich entsetzt an. Er weicht hektisch zurück, als Kade an ihm vorbeistürmt und mich hinter sich zieht, während ich laut hustend nach Luft ringe. Doch statt eines neuen Angriffs, sackt Tyler vor unseren Augen zusammen, drängt sich dabei mit seinem Rücken an die Küchenzeile und zieht die Beine an den Oberkörper. Er beugt sich vor, bis sein Gesicht auf den Knien liegt und dann bedeckt er seinen Kopf mit beiden Händen, um sich zu schützen. Vor uns. Er schützt sich vor Kade und mir. Eindeutig. Er hat Angst, dass wir ihn schlagen.

»Oh mein Gott«, flüstert Kade vollkommen schockiert und nimmt mir damit die Worte aus dem Mund. Gerade eben hatte ich so große Angst, wie niemals zuvor in meinem Leben, und jetzt stehe ich hier und frage mich fassungslos, was aus dem Mann geworden ist, den ich vor langer Zeit als Tyler Mason kennen- und lieben gelernt habe.

Was ist in Afghanistan nur mit ihm passiert? Ich will Tyler danach fragen, aber gleichzeitig will ich nur noch weg von ihm und Kade zögert nicht, als ich nach seiner Hand greife und ihn mit mir in den Flur ziehe. Weg von Tyler. So weit weg, wie es nur irgendwie geht.

»Und?«, frage ich leise, als Kade eine Stunde später zu mir ins Schlafzimmer kommt, wo er mich hingebracht hat, als der Husten endlich nachließ und ich stattdessen anfing zu zittern.

Danach hat er sich um Tyler gekümmert und ihn nach oben ins Gästezimmer gebracht. Ich habe ihn leise reden hören, als würde er mit einem verängstigten Kind sprechen, und ich weiß immer noch nicht, was schlimmer war. Die Tatsache, dass Kade so mit einem Erwachsenen redet oder dass Tyler auf dieselbe Art und Weise geantwortet hat. Mit einer Stimme, so hoch und weinerlich, wie ich sie noch nie zuvor gehört habe.

»Er hat die Tablette genommen und schläft jetzt«, antwortet Kade und reicht mir das Handtuch für meinen Hals, in das er jetzt zum dritten Mal neue Eiswürfel gepackt hat.

»Gut«, murmle ich und lasse mich in Kades Arme ziehen, als er sich zu mir setzt. »Hat er irgendetwas gesagt? Ich meine, etwas Vernünftiges?«

»Kein Wort.«

»Scheiße«, ist alles, was mir dazu einfällt, dabei habe ich in der letzten Stunde ausgiebig über Tylers Angriff nachgedacht. Er hat vorhin in der Küche nicht mich gesehen, davon bin ich mittlerweile fest überzeugt. Keine Ahnung, wen Tyler wirklich angegriffen hat, aber ich war es eindeutig nicht. »Das war einer von diesen Flashback, oder?«

»Ich denke schon.«

»Wir müssen unbedingt mehr über traumatisierte Soldaten in Erfahrung bringen, und zwar schnellstens.«

Kade schweigt, was in dem Fall mehr sagt als tausend oder mehr Worte es könnten. Er hat seine Meinung wieder geändert und würde Tyler jetzt am liebsten mit einem Tritt vor die Tür setzen. Heute Morgen war er fast soweit, ihm eine Chance zu geben, obwohl er sich damit nicht wohlfühlt, das ist mir nicht entgangen, aber mir zuliebe hätte er es versucht. Doch das hat Tyler innerhalb weniger Sekunden zerstört und so wie sich mein Hals gerade anfühlt, bin ich wieder einmal unsicher, ob Kade nicht doch recht hat.

Allerdings ist mir ebenfalls klar, dass ich es nicht tun kann. Tyler ist verletzt und damit meine ich nicht nur körperlich. Ich will ihn nicht einfach aus unserem Leben verjagen. Was wären wir denn für Freunde, wenn wir das täten?

Wenn er wenigstens mit uns reden würde. Ich verlange gar nicht, dass er gleich jedes Detail seiner Gefangenschaft erzählt, aber dieses Schweigen macht mich vollkommen verrückt. Und es macht mir immer mehr Angst, weil ich einfach nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ich wollte diesen Mann heiraten und jetzt fürchte ich mich vor ihm? Das ist doch nicht normal, genauso wie Tyler nicht mehr normal ist.

Großer Gott, was sollen wir jetzt nur tun?

Kapitel 2

Am nächsten Morgen, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, sitze ich gähnend vor meinem Laptop. In einer Hand eine Tasse mit frisch aufgebrühtem Kaffee, in der anderen die E-Mail mit den Änderungswünschen meines Kunden für seine neue Webseite. Es sind nur ein paar Kleinigkeiten, er war im Großen und Ganzen begeistert von meiner Arbeit, aber selbst dieser Kleinkram, er will eine größere Schrift für den Fließtext auf der Seite und die Farbe aller Links soll einen Tick dunkler sein, überfordert mich heute.

Ich habe einfach zu wenig geschlafen und zu viel gegrübelt. Kein Wunder nach dem, was gestern passiert ist. Tyler hat sich seither keinen Millimeter aus dem Zimmer getraut und er hätte auch nichts gegessen und getrunken, wenn Kade nicht später auf die Idee gekommen wäre, ihm etwas vor die Tür zu stellen.

Mich wollte er anfangs nicht mal alleine durch den Flur ins Badezimmer gehen lassen, aber mittlerweile hat er sich ebenso beruhigt wie ich. Ich bin immer noch nervös, wer wäre das in unserer Situation nicht, aber Kade und mir ist bewusst, dass es weder uns noch Tyler hilft, wenn wir uns jetzt völlig verrückt machen. Darum haben wir beschlossen, Tyler einige Tage Zeit zu geben, damit er 'ankommen' kann, wie Kade es genannt hat, um dann in aller Ruhe mit ihm darüber zu reden, wie es jetzt weitergehen soll.

Noch nicht entschieden haben wir allerdings, ob wir meine Familie und meine Jungs einweihen sollen, mit denen ich heute Abend zu unserem monatlichen Treffen verabredet bin. Soll ich es nicht doch lieber absagen? Ich werde eh keinen Kopf dafür haben und das wäre ihnen gegenüber nicht fair. Andererseits ist es auch nicht fair, mir irgendeine Ausrede zu überlegen, nur um ihnen nicht sagen zu müssen, dass Tyler am Leben ist. Die drei haben schließlich hautnah miterlebt, wie schlimm es nach der Beerdigung mit mir bergab ging. Sie waren für mich da, bis Kade den Job übernahm, und sie sind es immer  noch. Genauso wie ich immer für sie da war, wenn es Probleme gab. Deshalb sind wir vier auch seit unserem Studium beste Freunde.

Aber kann ich sie noch mal mit dem Chaos und Drama um Tyler belasten, das Kade und mir mit seiner Rückkehr jetzt mit Sicherheit ein zweites Mal ins Haus steht? Einer von ihnen ist mittlerweile Vater und ich fühle mich nicht gerade gut bei dem Gedanken, alles wieder aufzuwühlen. Anlügen will ich sie aber auch nicht. Das würden sie mir verdammt übel nehmen, und zwar zu Recht. Freunde belügen einander nicht. Ich weiß nur nicht, ob ich es schaffe, ehrlich zu sein.

Herrgott, meine Gedanken drehen sich völlig im Kreis. Ich bin übermüdet und das wird sich bis heute Abend nicht legen, was keine gute Ausgangsposition für einen Männerabend ist. Am besten schiebe ich eine Grippe vor. Irgendetwas harmloses, um mein schlechtes Gewissen möglichst klein zu halten, bevor ich sie nächste oder übernächste Woche anrufe und beichte. Bis dahin hat sich vielleicht auch schon Tylers Zukunft geklärt, wie immer seine Pläne in der Hinsicht aussehen mögen. Sofern er überhaupt welche hat. Egal. Erst mal die Jungs. Ich gönne mir einen Schluck Kaffee, nehme die Brille ab, die ich für die Arbeit am Bildschirm brauche, und greife zum Telefon.

»Wen rufst du an?« Kade tritt hinter mich und drückt mir mit einem neckenden »Schlafmütze.« einen sanften Kuss auf den Scheitel, ehe er sich auf die Schreibtischkante setzt, was ich hasse wie die Pest, das weiß er genau. Auf meinen tadelnden Blick reagiert er mit einem frechen Grinsen. Mistkerl.

»Guten Morgen.« Ich versuche seinen Hintern auf meinem Schreibtisch ebenso zu ignorieren wie seine morgendliche gute Laune. Er war wie so oft längst aufgestanden, als ich, noch halb im Tiefschlaf, vorhin aus dem Bett gestiegen bin. »Ich rufe die Jungs an und sage unser Treffen für heute Abend ab.«

»Nein.« Kade nimmt mir das Telefon weg. »Geh ruhig hin. Ihr seht euch nur einmal im Monat.«

»Und Tyler?«

Kade zuckt mit den Schultern. »Es ist doch bloß ein Abend und er hockt sowieso die ganze Zeit oben in seinem Zimmer. Wir kommen schon klar.«

»Ich will dich nicht mit ihm alleine lassen«, wende ich ein, doch Kade schüttelt den Kopf.

»Und ich kann nicht ewig Urlaub nehmen.«

»Was hat das …?« Ich breche ab, als mir klar wird, worauf er hinauswill. »Kommt nicht infrage.«

Kades Blick verfinstert sich bedenklich. »Du wirst nicht mit ihm alleine im Haus bleiben, wenn ich nächste Woche wieder arbeiten gehe.«

»Ach, aber dass du heute Abend mit ihm allein bleibst ist in Ordnung, oder was?«

»Ich kann mich wenigstens gegen ihn verteidigen, wenn er mich angreift.« Das war unter der Gürtellinie und das erkennt Kade auch. »Tut mir leid, so war das nicht gemeint.«

Natürlich war es so gemeint und das Schlimme daran ist, er hat recht. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich es mir ohne Widerwort gefallen lasse, von Kade als hilflos hingestellt zu werden. Es ist beschissen genug, dass wir uns überhaupt über so etwas Gedanken machen müssen, immerhin reden wir hier von Tyler. Er ist schließlich kein Psychopath oder Mörder. Wobei ich darauf vielleicht lieber keine Wetten abschließe. Sein Blick, als er mich gewürgt hat, war … Ohne Worte. Ich kämpfe gegen eine Gänsehaut und sehe Kade verärgert an.

»Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich nicht mit eurer tollen Marines-Ausbildung mithalten kann, aber deshalb werden wir Tyler nicht vor die Tür setzen.«

»Wir?«

»Ja, wir!«, zische ich erbost. »Wir leben beide hier und es ist unser Haus, Kade. Er ist unser Freund.«

»Du meinst wohl mein Freund und dein Verlobter.«

»Ex! Ich bin heute mit dir zusammen, Kade«, fahre ich ihn an und rolle meinen Stuhl zurück, um aufzustehen. Langsam werde ich ernsthaft sauer. Außerdem mag ich es nicht, zu ihm aufzusehen, wenn wir diskutieren. Mit seinen 1,90m muss ich ohnehin immer zu Kade hochsehen, was mich normalerweise nicht kümmert. Es sei denn, wir sind auf dem direkten Weg in einen Streit. Den er wie immer abwürgen will, das sehe ich ihm deutlich an, als er sich vom Schreibtisch abstößt. Aber das kann er heute vergessen. Ich stelle mich Kade direkt in den Weg, als er zur Tür will.

»Garrett«, murrt er und drängelt sich einfach an mir vorbei. Es ist nicht zu fassen. Dieser Dickschädel.

»Du kannst nicht immer abhauen, wenn es mal schwieriger wird«, rufe ich ihm wütend nach und ignoriere sein gezischtes »Du machst es schwierig, nicht ich.«, als er an der Treppe zum Obergeschoss vorbei zur Haustür eilt. »Wo willst du jetzt hin? Du hast frei.«

»Einkaufen!«, knurrt er, dann fällt die Tür mit einem Knall hinter ihm ins Schloss und ich stöhne auf. Eines Tages trete ich ihm dafür in seinen sturen Hintern. Kopfschüttelnd will ich in mein Arbeitszimmer zurück, als ich plötzlich leise Schritte auf der Treppe höre. Ich kann Tyler nicht sehen, er kommt auch nicht bis nach unten, aber ich weiß, dass er da ist.

»Ich bin nicht sauer auf dich, Tyler.«

Schweigen.

»Ich weiß, dass du nicht mich angegriffen hast. Es ist okay, hörst du?« Ich stutze. Was rede ich da eigentlich für Blödsinn? Natürlich ist es nicht okay. »Also ich meine, es ist …« Weil ich nicht weiß, wie ich mich ausdrücken soll und Angst habe, ihn noch viel mehr zu verschrecken, wenn ich etwas Falsches sage, breche ich ab.

»Ich wollte das nicht«, höre ich Tyler auf einmal sagen und starre verdutzt zur Decke hoch. »Es tut mir leid.«

Sag' was. Sag' irgendwas. Schnell. »Ich weiß«, ist nur leider alles, was mir einfällt, und kurz darauf fällt dann auch die Tür des Gästezimmers ins Schloss.

Resigniert stöhnend lehne ich mich mit dem Rücken an den Türrahmen. Das war wieder eine grandiose Leistung. Ganz toll gemacht, Garrett, beglückwünsche ich mich selbst sarkastisch. Wahrscheinlich kommt Tyler jetzt gar nicht mehr aus seinem Zimmer raus, während Kade sich heute mit Sicherheit viel Zeit beim Einkaufen lassen wird, um mir möglichst lange aus dem Weg zu gehen.

Ich hasse Tage, an denen alles schiefgeht, ehe sie überhaupt richtig angefangen haben. Am besten gehe ich wieder ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und stehe vor morgen nicht mehr auf.

Und ich behalte leider recht, denn als mein laut knurrender Magen mich gegen Mittag schließlich aus dem Arbeitszimmer in die Küche treibt, ist weder Kade mit den Einkäufen wieder zu Hause aufgetaucht, noch hat sich Tyler ein Stockwerk über mir weiter als bis ins Bad gewagt. Und auch das weiß ich nur, weil ich einmal die Toilettenspülung gehört habe.

Ein Gutes hatte die Ruhe bisher allerdings, denn ich habe in den letzten Stunden mehrere Kunden glücklich gemacht und kann heute Abend beruhigt ins Wochenende starten. Oder zum Männertreffen gehen, von dem ich immer noch nicht weiß, ob ich das wirklich tun soll oder nicht. Doch statt erneut darüber zu grübeln, mache ich für Tyler und mich ein paar Sandwichs, stelle ihm seine mit einem Klopfen vor die Tür und verziehe mich mit meinen zurück an den Schreibtisch. Kade würde mir einen Vortrag darüber halten, wenn er mich sehen könnte, weil wir einen großen Esstisch haben, aber wozu soll ich mich allein an selbigen setzen? Da kann ich genauso gut vor dem Laptop essen und mir dabei Videos auf Youtube ansehen.

Eine einzelne Sonnenblume erscheint auf einmal in meinem Blickfeld und lässt mich erschrocken zusammenzucken. Kade legt sie neben meinen Teller auf den Schreibtisch, dann finden seine Hände meine Schultern und beginnen sie zu massieren.

»Du bist total verspannt.«

»Ich habe gearbeitet«, kontere ich und greife demonstrativ nach dem letzten Sandwich. So einfach wird er mir damit nicht davonkommen. Dass er mir eine Blume gekauft hat, ist für ihn zwar ein eindeutiges Schuldeingeständnis, aber ich bin immer noch sauer und das soll er ruhig spüren.

»Es tut mir leid.«

Ich schmelze wie die berühmte Butter in der Sonne, obwohl ich es nicht will. Nur leider haben seine Entschuldigungen, die seltener sind als eine Sonnenfinsternis, immer diese Wirkung auf mich, denn er sagt das nur, wenn er es auch wirklich meint. Kade gehört nicht zu den Menschen, die sich ständig für jeden Mist entschuldigen, nur um dann loszuziehen und gleich den nächsten Blödsinn anzustellen. Er meint, was er sagt und steht dann auch dazu. Mit allen Konsequenzen.

Seine Hände bearbeiten weiter meine Schultern, während ich zu Ende esse und danach die Sonnenblume ansehe. »Keine Rose?« Er schnaubt abfällig, was mich zum Grinsen bringt. Ich kann Rosen nicht ausstehen, das weiß er. »Es hätte mindestens eine langstielige rote sein müssen.«

»Geh' mal in die Küche.«

Ich drehe mich auf meinem Schreibtischstuhl verblüfft zu ihm um. »Du hast keine Rosen gekauft, oder?«

»Nein.«

»Sondern?«

»Geh' in die Küche«, wiederholt er und da hält mich nichts mehr an meinem Schreibtisch.

Kurz darauf bleibt mir vor Staunen der Mund offenstehen. Wie hat er es geschafft, die alle ins Haus zu bringen, ohne dass ich ihn gehört habe? Die vier prallvollen Einkaufstüten auf der Arbeitsplatte registriere ich eher nebenbei, während ich völlig überrumpelt auf die unzähligen, langstieligen Sonnenblumen starre, die er in drei Vasen auf dem Boden verteilt hat, weil sie zu hoch sind, um auf der Arbeitsplatte zu stehen.

Wie viele sind das, um Himmels willen? Dreißig? Vierzig? Schwer zu sagen, bei den fast tellergroßen Blüten. Ich bin mehr als nur sprachlos, um ehrlich zu sein. So was hat Kade noch nie gemacht. Es wäre auch gar nicht nötig gewesen. Mir hätte die eine Sonnenblume auf meinem Schreibtisch gereicht. Das ist … Mir fehlen die Worte.

»Sieh in den Essbereich.«

Ich drehe mich nicht zu Kade um, sondern tue einfach, was er sagt und finde dort zwei weitere Vasen mit Sonnenblumen auf dem Tisch. Er muss einen Blumenladen überfallen haben, anders kann ich mir das nicht erklären. Die Vasen sind nämlich nicht unsere, ich wüsste nicht mal, dass wir eine hätten. Er hat ein Vermögen für eine Entschuldigung ausgegeben und wenn ich diesen Kerl, stur hin oder her, nicht sowieso schon so lieben würde, spätestens jetzt wäre er mich nie wieder losgeworden.

»Falls das ein Heiratsantrag werden soll, ich sage Ja.«

Endlich lacht er. Leise zwar, aber er tut es, und das löst die unangenehm angespannte Stimmung zwischen uns. »Gut zu wissen, aber nein, ich habe dir keinen Ring gekauft. Nur diese fünfzig Sonnenblumen, weil ich eine Stunde vor diesem blöden Blumenladen stand und mich über dich, aber vor allem über mich geärgert habe. Dann kommt plötzlich diese Lieferung mit Sonnenblumen für eine abgesagte Hochzeit, was ich weiß, weil der arme Ladeninhaber fast einen Herzinfarkt bekommen hat, er ist nämlich leider der gehörnte Bräutigam, und ehe ich mich versehe, stehe ich vor ihm und erkläre ihm, dass ich ihm diese Sonnenblumen abkaufe, wenn ich sie mir leisten kann, weil ich mich bei meinem Freund entschuldigen muss. Tja, eine halbe Stunde später war meine Rückbank voller Vasen und Blumen und ich auf dem Heimweg. Den Rest kennst du.«

Das ist so verrückt und spontan, dass es eigentlich gar nicht zu Kade passt und gerade deshalb einfach perfekt ist. »Du bist vollkommen irre.«

»Ich weiß, aber du wirst mich trotzdem nicht los.«

»Gott sei Dank.«

Wir schweigen eine Weile und ich betrachte kopfschüttelnd und gleichzeitig völlig von den Socken die ganzen Blumen. Er hat fünfzig Sonnenblumen gekauft. Für mich. Das ist so … Mir fehlen immer noch oder eher schon wieder die Worte.

»Ich will nicht mit dir streiten, Garrett«, sagt Kade plötzlich und tritt hinter mich, um die Arme um mich zu legen. Er seufzt an meinem Rücken. »Im Waisenhaus gab es ständig irgendwo Streit. Immerzu haben sich Kids angebrüllt oder die Erzieher schrien herum, um ihren Willen durchzusetzen. Ich habe das gehasst. Ich hasse es heute noch.«

Das erklärt eine Menge. »Das hast du mir nie erzählt«, sage ich leise und streiche über seine Finger, was mir einen sanften Kuss in den Nacken beschert.

»Ich dachte, Ty hätte ...«

Er führt den Satz nicht zu Ende und ich schüttle den Kopf. »Nein. Er hat nicht gerne über das Waisenhaus gesprochen.«

»Kein Wunder«, nuschelt Kade in den Stoff meines T-Shirts und auch wenn ich gerne mehr darüber hören würde, frage ich nicht. Nicht jetzt. »Hat er sich blicken lassen?«

Damit ist Tyler gemeint. »Nein. Er war auf der Toilette und hat unseren Streit gehört. Na ja, den Fast-Streit. Er hat sich bei mir entschuldigt, dass er mich angegriffen hat.«

»Hat er gesagt, wen er wirklich attackiert hat?«

»Nein.«

Kade seufzt erneut, drückt mich dabei fester an sich, und in der Sekunde fasse ich einen Entschluss. Er will nicht streiten, damit kann ich leben, jetzt, wo ich verstehe, warum. Aber wir müssen reden, wir müssen Entscheidungen treffen, und beides können wir genauso gut gleich tun. Dieses Abwarten ist keine Lösung, jedenfalls keine gute.

»Kade? Ich will, dass er hierbleibt. Und ich will den Jungs heute Abend von ihm erzählen. Ich will meine Eltern und Cord anrufen. Sie haben damals alle geholfen, als er tot war, und ich finde, sie haben das Recht zu wissen, dass er überlebt hat.«

»Garrett ...«

»Du willst nicht streiten, ich weiß, aber wir müssen darüber reden. Wir können nicht nur dasitzen und abwarten, was er als nächstes tut. Falls Tyler überhaupt etwas tut. Wir müssen uns erst mal einig sein, was wir beide wollen.«

»Ich will nicht, dass du in Gefahr bist«, sagt Kade ernst und damit ist er nicht allein.

»Dito.«

»Er schläft im Schrank. Er braucht Hilfe.«

»Das ist mir bewusst«, kontere ich nickend. »Das Problem ist nur, er muss diese Hilfe auch wollen, sonst bringt es nichts. Und momentan bezweifle ich ernsthaft, dass er überhaupt mit einem Therapeuten oder einem Psychologen, wer auch immer für einen Fall wie Tylers zuständig ist, reden würde. Er spricht ja schon kaum mit uns. Vorhin hat er zwei Sätze zu mir gesagt. Das ist mehr, als er im Ganzen mit uns gesprochen hat, seit er wieder hier ist.«

»Willst du deshalb mit Cord reden?«

Ich stutze irritiert, weil ich das von der Warte aus noch gar nicht gesehen habe. »Eigentlich wollte ich meinem Bruder nur sagen, dass sein ehemaliger Fastschwager noch am Leben ist. Andererseits ist es keine üble Idee, ihn nach seiner fachlichen Meinung zu fragen. Wozu ist er schließlich Psychologe?«

»Und dann?«

Jetzt bin ich derjenige von uns, der seufzt. »Keine Ahnung.« Ich drehe mich in Kades Armen herum und suche seinen Blick. »Er braucht ein Zuhause, Kade.«

»Ich weiß.« Er schweigt kurz. »Na schön. Aber nicht ohne Schutz.«

»Wie meinst du das?«, frage ich verständnislos und wenig später bleibt mir zum zweiten Mal heute vor Überraschung der Mund offenstehen.

Tampa, Philli und Angel sitzen bereits an unserem Tisch in unserer Stammkneipe und winken mir mit ihren Bierflaschen zu, als sie mich an der Tür entdecken. Mir ist zwar nicht nach Grinsen zumute, aber ich tue es trotzdem, weil es gut ist, sie zu sehen. Ein Abend alle vier Wochen ist viel zu wenig, aber wir haben schlicht nicht die Zeit für häufigere Treffen. Das kommt davon, wenn man in der Uni zu den Besten gehörte und schon lange vor dem Abschluss von den großen Firmen angeworben wurde. Das trifft zumindest auf Angel und Philli zu, denn Tampa hat sich wie ich selbstständig gemacht. Doch während ich mich weiter allein durchschlage, führt er heute eine Firma mit über einhundert Mitarbeitern.

Eigentlich heißen die Jungs Bradley, Malcolm und Maxwell, aber auf der Uni fingen wir irgendwann an, uns nur noch nach den Orten zu rufen, wo wir ursprünglich herkommen. Bradley hat seine ganze Kindheit in Tampa unten in Florida verbracht, Malcolm stammt aus Philadelphia und Maxwell wurde in Los Angeles geboren. Ich komme aus Chicago und bin bisher auch nicht aus der Stadt herausgekommen. Meine Eltern und mein Bruder leben ebenfalls hier und wie ich sie kenne, wird sich daran auch niemals etwas ändern.

Auf meinem Platz warten ein Bier und eine Schüssel voller Knabberkram auf mich, also geselle ich mich zu meinen besten Freunden, lasse mich umarmen, klopfe auf breiter gewordene Schultern und erkläre Angel feixend, dass dieser fusselige Bart in seinem Gesicht eine dämliche Idee war. Wir lachen und das tut richtig gut. Genauso gut tut danach das Austauschen von Neuigkeiten und dem aktuellen Klatsch und Tratsch, der nach vier Wochen immer anfällt. Und obwohl ich ebenfalls erzähle, bin ich einfach nicht bei der Sache, weil ich mich ständig frage, ob Kade und Tyler zurechtkommen. Natürlich brauchen meine Jungs nicht lange, um zu merken, dass meine Gedanken sonst wo sind, nur nicht hier bei ihnen.

»Was ist los, Chicago?«, fragt Tampa schließlich belustigt und stößt mich unter dem Tisch mit dem Fuß an. »Gab's Streit mit deinem heißen Ex-Marine?«

Ich schnaube nur. Die Jungs wissen genau, dass Kade jeder Auseinandersetzung aus dem Weg geht, immerhin mussten sie sich deswegen schon oft genug mein Genörgel anhören. Nach unserem Gespräch heute, dürfte sich das zwar wahrscheinlich erledigt haben, aber das will ich meinen Freunden nicht gleich auf die Nase binden. Sie werden schon sauer genug sein, wenn sie erfahren, was Kade in Bezug auf Tyler beschlossen hat, und womit ich mich einverstanden erklärte, weil wir irgendeinen Kompromiss brauchten und ich mich insgeheim dadurch jetzt sogar ein bisschen sicherer fühle.

Philli grinst breit. »Ah, er hat sich also mal wieder aus dem Staub gemacht, nachdem er dich verärgert hat.«

Ich wünschte, es wäre so einfach. »Tyler ist wieder da.«

Schweigen.

Gefolgt von ungläubigen Blicken erst zu mir und hinterher untereinander. Irgendwann stellt Angel sein Bier zur Seite und räuspert sich bedeutsam. Sein Gesichtsausdruck spricht Bände und er entlockt mir ein zynisches Grinsen, weil wir uns gerade beide an die Anfangszeit nach Tylers Beerdigung erinnern. Ich habe oft davon geträumt, dass sein Tod ein Versehen war und er plötzlich wieder vor meiner Tür steht. Ich hätte nur niemals erwartet, dass aus dieser Wunschvorstellung nach fünf Jahren doch noch Realität wird.

»Nein, ich habe nicht von ihm geträumt. Ich bin auch nicht komplett durchgedreht, keine Sorge. Ich meine das genau so, wie ich es eben gesagt habe.«

»Moment mal ...« Tampa runzelt die Stirn. »Du erzählst uns hier gerade, dass dein toter Ex-Verlobter wieder da ist? Dass er, verstehe ich das richtig, nicht tot ist?«

»Du hast es erfasst.«

Auf einmal reden sie alle durcheinander und es dauert eine Weile, bis sie sich wieder soweit beruhigt haben, dass ich ihnen nach und nach erzählen kann, was vor zwei Tagen passiert ist. Dass Tyler im Moment mit Kade allein ist und dass ich mir um beide Sorgen machen, weil mein Partner seinem besten Freund misstraut und der dieses Misstrauen leider Gottes verdient, das ist mir in den vergangenen 48 Stunden klar geworden. Aber ich kann ihn trotzdem nicht aus unserem Haus jagen, obwohl Kade und ich deswegen mit Sicherheit nicht zum letzten Mal diskutiert haben.

»Sekunde … Was soll das heißen, er hat dich angegriffen?«, fragt Tampa und flucht unflätig, nachdem ich schweigend den Kragen meines Pullovers ein Stück nach unten gezogen habe, um ihnen die Abdrücke von Tylers Fingern zu zeigen, die nach seinem Griff entstanden sind. Und auch wenn ich weiß, dass es keine Absicht war, bekomme ich von der Erinnerung an Tylers Blick immer noch eine Gänsehaut.

Darum hat Kade vorhin auch äußerst eindringlich darauf bestanden, dass ich zu unserem allmonatlichen Männertreffen gehe. Damit ich für eine Weile aus dem Haus komme, um den Kopf freizukriegen, wie Kade es genannt hat. Aber so sehr ich es auch versuche, ich kann Tylers furchtbaren Anblick einfach nicht vergessen, als er begriff, was er mir angetan hat. Wie er auf dem Boden hockte, die Knie hochgezogen und die Hände über dem Kopf haltend, um sich vor den Schlägen zu schützen, die er von Kade und mir erwartet hat.

Auch darüber haben Kade und ich gesprochen. Wir haben fast den gesamten Nachmittag nichts anderes getan und dabei am Ende weit mehr Fragen als Antworten bekommen. Was hat man Tyler nur angetan? Das ist momentan die wichtigste aller Fragen, nur wollen wir sie ihm beide nicht stellen, weil wir uns vor der Antwort fürchten. Kade genauso wie ich. Aber ich habe das ungute Gefühl, dass wir gar keine andere Wahl haben, als früher oder später Antworten von Tyler zu verlangen, falls wir wirklich verstehen wollen, was in ihm vorgeht. Und vor allem, wenn wir verhindern wollen, dass sich so ein Vorfall wie in der Küche wiederholt.

Zwölf Stunden.

Länger hat Tyler nicht gebraucht, um vor unseren Augen auszuticken, und ich habe jetzt noch Kades fassungslosen Blick vor Augen, der meinem mit Sicherheit in nichts nachstand. Wir wussten beide nicht, was wir machen sollten, als Tyler anfing den Oberkörper langsam vor- und zurückzuwiegen und dabei wie ein kleines Kind weinte.

»Ihr habt ihn auf dem Boden sitzen lassen?«, fragt Philli in einer Mischung aus Vorwurf und Schock, nachdem ich ihnen den Vorfall geschildert habe, und ich kann ihn verstehen.

Mittlerweile schäme ich mich dafür, wie wir reagiert haben, aber gestern wollte ich nur noch aus der Küche raus. Ich wollte so weit wie möglich von Tyler weg, weil ich Angst hatte und immer noch habe. Auch das erzähle ich meinen Freunden und anschließend schweigen wir alle für eine ganze Weile.

»Chic... Garrett? Habt ihr euch mal überlegt, ob es für Tyler nicht besser wäre, ihn in eine Klinik zu bringen?«, fragt Tampa mich irgendwann ruhig und nickt auf meinen gequälten Blick hin. »Verstehe.«

Und das tut er tatsächlich. Er hat mich schon sehr oft ohne weitere Erklärung verstanden, denn ja, über diese Frage haben Kade und ich gesprochen, und dabei entschieden, dass wir das auf keinen Fall wollen. Jedenfalls nicht, solange es eine andere Möglichkeit gibt.

Wenn Tyler erst mal in den Mühlen unseres Rechtsstaates festsitzt, weil ich ihn wegen seines tätlichen Angriffs auf mich angezeigt habe, kommt er da vielleicht nie mehr raus, und das kommt für uns nicht infrage. Er braucht psychologische Hilfe und im Gefängnis, denn dort würde er vermutlich landen, bis ein Psychiater irgendwann feststellt, dass Tyler dringend eine Therapie nötig hat, die er vielleicht nicht machen will, besteht die Gefahr, dass er Mitgefangene angreift und möglicherweise, falls es ganz schlimm kommt, sogar jemanden tötet.

Und das werde ich Tyler nicht antun. Er ist seelisch schwer angeschlagen, das weiß ich, aber ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen. Das haben schon zu viele Menschen getan, allen voran die US-Army, für die er fast sein Leben gegeben hat.

»Na wenigstens hat er jetzt genügend Geld, um sich einen guten Seelenklempner zu leisten«, murrt Angel, nachdem ich den dreien schließlich alles erzählt habe.

»Vielleicht kann dein Bruder ihm helfen«, schlägt Philli vor und nimmt einen Schluck von seinem Bier. »Ich meine, Cord ist doch Psychologe.«

»Für Kinder«, erinnere ich ihn, aber das lässt Philli nicht gelten und winkt ab.

»Na und? Seine Ausbildung dürfte dieselbe sein. Es würde ja schon reichen, wenn er Tyler davon überzeugen kann, eine Therapie zu machen. Oder wollt ihr, Kade und du, in Zukunft mit 'ner Knarre unterm Kopfkissen schlafen?«

Mein Blick sagt Philli alles, denn diese Waffe war besagter Kompromiss, um den Kade und ich fast eine Stunde gerungen haben. Am Ende konnte ich sein Argument, dass wir uns mit einer Waffe sicherer fühlen werden, einfach nicht mehr von der Hand weisen. Es geht uns nicht darum, wie John Wayne in der Gegend herumzuballern. Es geht darum, nachts wieder ruhig zu schlafen, ohne die Tür abzuschließen, denn das war für uns erst recht keine Lösung, falls Tyler nachts Albträume bekommt, freiwillig unsere Hilfe sucht und dann vor verschlossener Tür steht. Da akzeptiere ich lieber eine gesicherte Waffe in Kades Nachtschrank, denn er kann mit ihr umgehen.

»Nee, oder? Das ist doch nicht dein Ernst. Chicago!«

»Die Waffe gehört Kade.«

»Macht es das besser? Du weißt genau, was wir von Waffen halten. Was du selbst von ihnen hältst. Nämlich gar nichts. Ist schlimm genug, dass du dich nach Tyler noch mal mit einem aus diesem Verein eingelassen hast ...«

»Hey!«, fahre ich Philli wütend über den Mund, denn das geht zu weit. Er hält nichts von der Armee, okay, das bleibt ihm überlassen und hat mich auch nie gestört. Aber ich werde ihm nicht erlauben, Kade oder Tyler deswegen zu beleidigen. Was denkt er sich eigentlich?

»Tschuldige.« Philli fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »So war das nicht gemeint. Kade ist schon in Ordnung.«

»Ach, und Tyler nicht?«, frage ich giftig.

»Ganz offensichtlich nicht, sonst wäre er ja wohl kaum auf dich losgegangen«, blafft Philli mich daraufhin an, doch bevor ich ihn anschreien kann, ertönt ein lauter Pfiff von der Bar und wir sehen zu Spencer, dem die Kneipe gehört.

»Wenn ihr streiten wollt, macht das draußen.«

Wenn ein zwei Meter großer Kerl mit den Ausmaßen eines Schranks, der jahrelang beim Wrestling gearbeitet hat, einen so ansieht, wie Spencer uns gerade, besteht man nicht auf seiner Meinung. Ich jedenfalls nicht. Meine Freunde auch nicht, stelle ich nach einem kurzen Rundblick fest, denn auf einmal halten wir uns alle an unseren Bierflaschen fest und sind sehr schwer damit beschäftigt, uns ja nicht zufällig in die Augen zu sehen.

»Vielleicht hat er recht.«

»Tampa!«, flucht Philli verärgert.

»Überleg' doch mal«, spricht Tampa ungerührt weiter und sieht Philli an. »Du bist Kade und dazu gezwungen, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und deinen Freund zu Hause mit dem Ex-Verlobten alleinzulassen, der zufällig ein schweres Trauma hat. Ganz ehrlich, ich an seiner Stelle, würde Chicago jede Stunde, ach was, alle zehn Minuten, daheim anrufen, um zu prüfen, ob er okay ist.« Tampa stutzt kurz. »Zumindest für ein paar Tage, bis ich mich beruhigt habe oder weiß, dass Tyler keine tickende Zeitbombe mehr ist.«

»Er ist keine ...« Weiter komme ich nicht.

»Kade denkt das aber und du auch, streite es nicht ab, sonst hättest du dich nie auf diese Waffe eingelassen. Du hast selbst zugegeben, dass du Angst vor Tyler hast.«