INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Drei - Eberhard Weidner - E-Book

INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Drei E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Als Michael Institoris von der bayerischen Inquisitionsabteilung in München von einem Informanten die Mitteilung erhält, dass ein Hexenzirkel noch in dieser Nacht eine Beschwörung durchführen will, beschließt er kurzerhand, sich ganz allein um die Sache zu kümmern. Schließlich stellen ein paar Hexen für einen ausgebildeten Inquisitor kein großes Problem dar. Außerdem soll er in wenigen Tagen in Rom vom Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Leo XIV., zum Oberinquisitor ernannt werden, spätestens dann dürften seine geliebten Alleingänge der Vergangenheit angehören. Doch sobald Institoris in das vermeintliche Hexenhaus eingedrungen ist, muss er feststellen, dass er in eine Falle gelockt wurde und es mit einer tödlichen Übermacht aller nur denkbaren Kreaturen der Finsternis zu tun hat, die sich ihm von allen Seiten nähern. Auf der Suche nach einem Ausweg findet der Inquisitor nicht nur die Leiche seines Informanten, sondern trifft auch auf einen Besessenen. Der Dämon im Körper des Besessenen behauptet, Institoris bei einem Hexensabbat mit einer Hexe gezeugt zu haben, und will ihn dazu zwingen, bei der bevorstehenden Papstaudienz im Vatikan den Pontifex zu ermorden, um die Welt dadurch in den Abgrund zu stürzen. Doch Institoris widersetzt sich dem Dämon und kommt einer groß angelegten Verschwörung der Mächte der Finsternis auf die Spur, die schon vor seiner Geburt seinen Anfang nahm und nicht nur in die Zentrale der bayerischen Inquisition, sondern bis nach Rom führt ...

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Seitenzahl: 432

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

Dritter Teil: DIE EWIGE STADT

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

Dritter Teil

DIE EWIGE STADT

Rom

11. Kapitel

Als er erwachte, geschah es phasenweise, als wollten ihm Körper und Verstand nach dem langen Schlaf Zeit geben, sich langsam und behutsam an die neue Situation zu gewöhnen. Und auch seine Erinnerungen und Sinneseindrücke kamen nach und nach, als wäre er überfordert, wenn alles wie eine Sturzflut über ihn hereinbrach.

In der ersten Phase seines allmählichen Erwachens kam er sich merkwürdig schwerelos vor, als schwebte er im All oder im stark salzhaltigen Wasser des Toten Meeres. Er fühlte sich wohl und geborgen wie im Mutterleib. Er spürte keinerlei Schmerzen, und jegliches Leid und alle Sorgen waren unendlich fern.

Dann kamen die Erinnerungen zurück, fluteten seinen Verstand wie einen trockengelegten Teich und begruben gnadenlos jegliches Wohlbefinden unter sich. Er sah den Wachmann in der Tiefgarage des Glaspalastes, der seine Waffe auf ihn richtete und schoss. Bin ich getroffen?, fragte er sich, noch benommen von der langen Bewusstlosigkeit. Doch sogleich wusste er die Antwort, da es nur eine Erinnerung und all das bereits geschehen war. Ja, ich bin getroffen!, stellte er erstaunlich nüchtern fest und spürte den Schmerz, der ihn wie ein weiß glühender Stachel durchbohrte.

Die Muskeln seines Körpers zuckten wie nach einem Stromstoß – ein erster Hinweis auf seine eigene Körperlichkeit und der Beweis, dass er nicht tot, sondern noch am Leben war –, beruhigten sich aber umgehend wieder, da auch der Schmerz nur eine Erinnerung war, die mit den Bildern an die Oberfläche seines Bewusstseins geschwemmt worden war.

In abrupt wechselnden Einzelbildern erlebte er erneut, wie er verwundet in einem Wagen mitfuhr. Er erhaschte einen Blick auf den Fahrer – eine Frau, die ihm zunächst unbekannt war. Aber umgehend füllten weitere Erinnerungen die klaffenden Lücken, und er war in der Lage, in Gedanken ihren Namen zu flüstern: Marcella! Er sah in den Vergangenheitsbildern, wie er die Hand hob – auch wenn er nicht mehr wusste, warum er es getan hatte –, und bemerkte entsetzt das Blut auf seiner Hand. Gleichzeitig spürte er, wie ihn im langsamer werdenden Rhythmus seines schlagenden Herzens allmählich das Leben verließ, bis sich undurchdringliche Finsternis über seinen Verstand senkte, als fiele nach der letzten Vorstellung der Vorhang.

Doch die Dunkelheit, die folgte, war nicht so lückenlos und vollkommen wie erwartet, sondern ließ ihn wie durch feine Risse im Stoff undeutliche Bilder erkennen. Wirre und unzusammenhängende Szenen, bei denen es sich um Traumbilder handeln musste, derart substanzlos wirkten sie: Ein Mann in weißer Tenniskleidung beugt sich über ihn; Marcella sieht ihn besorgt an und legt ihre Hand auf seine Stirn; der Gestaltwandler Butcher, den er vom Glaspalast ins Freie verfolgte, steht ein paar Meter entfernt, spricht mit einer Frau, die von hinten zu sehen ist und bewegt wie in Zeitlupe den Mund, aber nur ein dumpfes unverständliches Lallen ist zu hören; abschließend neuerliche undurchdringliche Schwärze, während ein Motor in der Nähe stetig brummt und er das klaustrophobische Gefühl von Beengtheit hat, als sei er lebendig begraben.

Als die Schwärze wich und alle Erinnerungen und Traumsequenzen mit sich nahm, folgte die nächste Phase des Erwachens: Er öffnete die Augen. Endlich wurde er sich wieder seines Körpers und seiner eigenen Persönlichkeit vollständig bewusst. Er wusste sofort, wer er war, was vor seinem Blackout geschehen war und dass er trotz der erlittenen Schusswunde keinerlei Schmerzen hatte.

Er hatte jedoch keine Ahnung, wo er zu sich gekommen war. Er hob den Kopf und wandte ihn nach rechts und nach links, um die Einrichtung des Zimmers in Augenschein zu nehmen. Nach der langen Ruhepause war seine Nackenmuskulatur ein wenig steif. Es knirschte, als rieben Knochen gegeneinander, doch danach hatte er keine Probleme mehr. Er versuchte, sich anhand der Einrichtung des Raumes ein Bild von dem Ort zu machen, an dem er sich aufhielt. Ein Krankenhaus, wie er zunächst logischerweise angenommen hatte, war es nach seiner Einschätzung eher nicht – außer es handelte sich um eine sündhaft teure Privatklinik. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie er an einen solchen Ort gekommen sein sollte. Er hatte eher den Eindruck, im Schlafzimmer eines Hotels oder eines privaten Haushaltes zu liegen, da die Ausstattung – ein großes Bett, Nachttisch, Schrank, Kommode, ein kleiner Tisch und zwei Stühle – im Grunde nur diese Möglichkeiten zuließ. Das Mobiliar machte allerdings nicht nur einen außerordentlich geschmackvollen, sondern auch einen luxuriösen und kostspieligen Eindruck. Also befand er sich entweder in einem Hotel der gehobenen Preisklasse oder im Haus wohlhabender Leute. Diese Feststellung beantwortete aber noch nicht die Frage, wie er hierhergekommen war.

Nachdem er das Rätsel um den Ort seines Erwachens zumindest ansatzweise, wenn auch nicht zu seiner vollen Zufriedenheit geklärt hatte, richtete er sein Augenmerk wieder auf sich selbst und seinen körperlichen Zustand. Alles andere konnte er später noch klären, sobald er aufgestanden war. Doch dazu musste er zunächst überprüfen, wie sein Körper die erlittene Verwundung überstanden hatte.

Erneut sah er wie einen Film vor seinem inneren Auge die Bilder, die ihm während seines Erwachens als Erstes in den Sinn gekommen waren. Allerdings geschah alles lautlos wie in einem Stummfilm und wirkte deshalb noch erschreckender: Der Wachmann legt die Waffe auf ihn an, ein greller Mündungsblitz, er sieht sich um und bemerkt die zertrümmerte Autoscheibe mit den drei Einschusslöchern, dann die Erkenntnis, dass er getroffen wurde. Der Phantomschmerz aus seiner Erinnerung durchzuckte ihn erneut und wies ihm wie ein inneres Navigationsgerät den Weg zu der Stelle, an der die Kugel ihn getroffen hatte.

Er schlug die leichte Decke zurück und stellte fest, dass er einen hellblauen Schlafanzug trug. Der dünne Seidenstoff fühlte sich angenehm und kühl auf seiner Haut an. Er erinnerte sich an seine eigenen Sachen, von denen er im Zimmer keine Spur entdeckt hatte. Ein weiteres Fragezeichen, dem er sich hernach widmen wollte. Doch eins nach dem anderen. Er schob das Oberteil des Schlafanzugs hoch und entblößte seinen Bauch und den unteren Teil des Brustkorbs. Er hatte erwartet, einen Wundverband zu finden, doch davon war nichts zu sehen. Stattdessen erblickte er das Eintrittsloch der Kugel: Eine kraterförmige Narbe von der Größe einer Eineuromünze, die den Eindruck machte, als wäre sie mehrere Wochen alt. Er hob das Becken und drehte es leicht zur Seite, sodass er einen Blick auf den unteren Teil seines Rückens werfen konnte. Zusätzlich befühlte er die Stelle mit den Fingern, um sich Gewissheit zu verschaffen. Hier bot sich ein ganz ähnliches Bild, auch wenn die Austrittswunde bedeutend größer gewesen war. Doch auch sie war mittlerweile komplett verheilt und nur noch eine flache Mulde inmitten des vernarbten Geflechts aus gesundetem Fleisch.

Er zog die Hand zurück und ließ seinen Körper auf das seidige Laken zurücksinken. Er konnte kaum glauben, was er gesehen und gefühlt hatte. Kein Wunder, dass er sich genesen fühlte und keine Schmerzen hatte, wenn die Verletzungen längst verheilt waren. Er fühlte sich geschwächt und hatte großen Hunger, aber das war nach dem langen Erholungsschlaf kein Wunder. Er fragte sich unwillkürlich, wie lange er außer Gefecht gesetzt und ohne Bewusstsein gewesen war. Die Narben sahen aus, als wären sie mehrere Wochen alt. Lag er tatsächlich schon so lange hier? Doch da kam ihm seine erstaunliche Selbstheilungsfähigkeit in den Sinn, die ihm erst nach der Begegnung mit dem Dämon bewusst geworden war und seitdem mehrmals Gelegenheit gehabt hatte, ihre wundersamen Kräfte zu entfalten und seine Verletzungen zu heilen. War sie erneut am Werk gewesen und hatte es vollbracht, ihn sogar von diesen ernsthaften Schusswunden in phänomenaler Geschwindigkeit genesen zu lassen? Allerdings beschränkte sich ihre Wirkung allem Anschein nach auf die Heilung selbst und erstreckte sich nicht auf die Beseitigung der Narben, die er wohl als ständige Erinnerung an jene Nacht behalten würde.

Wenn das alles war, was zurückblieb, konnte er sich glücklich schätzen. Er war kein eitler Mensch und machte sich um sein Erscheinungsbild gerade mal genug Gedanken, wie erforderlich waren, um gepflegt auszusehen. Deshalb störten ihn die Narben nicht. Außerdem sagte ihm eine innere Stimme oder sein Bauchgefühl, dass die Sache leicht anders hätte ausgehen können. Er hatte den vagen Eindruck, dass die Schussverletzung weitaus ernsthafter gewesen war, als es im Nachhinein und auf den ersten Blick erschien, und dass er zeitweise sogar auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod balanciert war. Vermutlich war es vor allen Dingen der besonderen Fähigkeit seines Körpers, die Verwundung rasch zu heilen, zu verdanken, dass er noch am Leben war.

Michael seufzte leise. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass er seine Genesung und sein Leben einer Befähigung verdankte, die ihm womöglich sein dämonischer Erzeuger vererbt hatte. Aber wie auch immer man darüber denken mochte, war es nun einmal geschehen und konnte – außer durch Selbstmord; ein Gedanke, der für ihn jedoch unvorstellbar war – nicht mehr rückgängig gemacht werden. Er konnte sich lediglich bemühen, das Beste aus der Situation zu machen und seine wiederhergestellte körperliche Unversehrtheit zu nutzen, um den Kampf gegen die Luziferianer und die Dämonen weiterzuführen, und zwar unerbittlicher denn je. Vielleicht hatte der Dämon durch Michaels Zeugung ja seinen größten Fehler begangen und auf gewisse Weise ein Eigentor geschossen.

Michael schob das Schlafanzugoberteil nach unten, um die Narbe und seine Blöße zu bedecken, und setzte sich auf. Die Bewegung, die ihm ansonsten keine nennenswerte Kraft gekostet hätte, sorgte jetzt für den ersten Schweißausbruch. Erst da wurde ihm seine körperliche Schwäche so richtig bewusst. Gleichzeitig knurrte sein Magen, als wäre dieser soeben wach geworden und wollte rein vorsorglich seine Bedürfnisse anmelden.

Etwas zu essen wäre jetzt wirklich nicht schlecht, dachte der Inquisitor. Anschließend würde er wieder zu Kräften kommen. Er wusste zwar noch immer nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch sein Instinkt sagte ihm, dass es nicht so lange gewesen sein konnte. Würde er keinen Vollbart tragen, hätte er anhand der Länge seiner Bartstoppeln die verstrichene Zeit abschätzen können. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die erste Person zu fragen, die ihm über den Weg lief. Seit seinem Erwachen hatte aber noch niemand sein Zimmer betreten. Die Tatsache, dass er erwacht war, war wohl bislang unbemerkt geblieben.

Er beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und auf sich aufmerksam zu machen, indem er das Zimmer verließ. Aber vorher, das spürte er plötzlich, musste er dringend die Toilette aufsuchen und sich Erleichterung verschaffen.

Er schwang die Füße aus dem Bett, vorsichtiger und langsamer als gewohnt, um seine Kräfte zu schonen und nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein leichtes Schwindelgefühl und eine Trübung seines Blicks ließen ihn auf der Kante des Betts innehalten. Feine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und er musste tief durchatmen, als hätte er einen längeren Fußmarsch hinter sich und nicht nur die Kleinigkeit, aus dem Bett zu steigen. Die ungewohnte eigene Schwäche irritierte und ärgerte ihn gleichermaßen, doch er ermahnte sich zu mehr Geduld. Immerhin konnte er von Glück reden, dass er noch in der Lage war, aufzustehen. Alles Weitere brauchte eben seine Zeit.

Er gönnte sich eine kurze Pause, bis der Schwindel nachließ und er wieder klar sehen konnte, bevor er behutsam aufstand. Seine Beinmuskeln zitterten unter der Belastung, trugen das Gewicht aber ohne Probleme. Es fühlte sich dennoch ungewohnt an, als er auf merkwürdig wackligen Beinen durch den Raum stakste – wie ein Storch, der erst noch das Laufen lernen musste.

Er stolperte ins angrenzende Badezimmer, das eine direkte Verbindung zu seinem Zimmer besaß, und verschaffte sich Erleichterung. Er seufzte dankbar, als der enorme Druck in seinem Unterleib nachließ. Anschließend wusch er sich die Hände und benetzte sein Gesicht. Er hatte großen Durst, ließ das angenehm kühle Wasser in seine gewölbte Handfläche laufen und trank es in großen, gierigen Zügen. Als er nicht mehr konnte, drehte er das Wasser ab, trocknete sich ab und kehrte ins Schlafzimmer zurück.

An einem Garderobenständer neben dem Fenster hing ein Morgenmantel, ebenfalls aus Seide, den er sich überzog. Er verknotete den Stoffgürtel vor dem Bauch und trat ans Fenster, um einen Blick nach draußen zu werfen. Vielleicht konnte er sich so einen ersten Überblick über den Ort verschaffen, an dem er sich befand.

Plötzlich flatterte direkt vor ihm ein Vogel auf, der es sich auf dem Fensterbrett gemütlich gemacht und den er aufgescheucht hatte. Er flog so schnell davon, dass ihn Michael nicht deutlich erkennen konnte und nur einen flüchtigen Eindruck schwarzer und weißer Federn bekam. Schon wieder eine Elster?, fragte er sich und erinnerte sich an den schlafenden Vogel auf dem Gelände der ehemaligen Gärtnerei in München, bevor er sich auf den Anblick vor dem Fenster konzentrierte und das Tier vergaß.

Die Sonne stand hoch am Himmel und badete die Landschaft in ihrem kraftvollen, wärmenden Schein. Es musste gegen Mitte des Tages sein, mutmaßte Michael anhand des Sonnenstandes. Das Zimmer, in dem er erwacht war, befand sich im Obergeschoss des Hauses. Als er nach unten blickte, sah er auf eine ausgedehnte Rasenfläche, die inmitten eines parkähnlichen Gartens lag, der in Blickrichtung leicht abfiel, da das Grundstück an einem Hang lag. Hinter einer Buschgruppe konnte er den oberen Teil eines Pavillons entdecken, der wie eine fernöstliche Pagode aussah. Der Anblick erinnerte ihn an den Ausblick aus seinem Büro auf den Englischen Garten, wo er, wenn die Bäume ihr Laub verloren hatten, den Chinesischen Turm sehen konnte, dem diese wesentlich kleinere Pagode ähnelte. An dem Abend, als er zum letzten Mal aus dem Fenster seines Büros gesehen hatte, hatte er den Turm in der Mitte des Englischen Gartens zwar nicht entdecken können, doch damals hatte die verhängnisvolle Abfolge von Ereignissen mit dem Klingeln des Telefons seinen Anfang genommen und ihn bis zu diesem unbekannten Ort geführt. Wie lange war das her? Er konnte die Stunden und Tage momentan nicht ermessen, aber aufgrund der Vielzahl dramatischer Situationen und Wendungen, die sein Leben seitdem genommen hatte, kam es ihm vor, als läge der Anruf seines Informanten Wochen zurück.

Michael ließ seinen Blick über die großzügige Anlage und das üppig in allen Schattierungen wuchernde Grün wandern. Kein Mensch war zu sehen. Er genoss die Ruhe dieses Ortes, sog sie wie einen tiefen Atemzug in sich hinein. Obwohl er einen tiefen und erholsamen Schlaf unmittelbar hinter sich hatte, waren die dramatischen Ereignisse, bevor er aufgrund seiner Schusswunde das Bewusstsein verloren hatte, noch in ihm präsent und erinnerten ihn daran, dass diese Phase der Ruhe eventuell nur kurze Zeit währen würde. Und die an einen Lustgarten erinnernde Umgebung des Hauses, die zum Umherschlendern und Ausruhen einlud, verstärkte den Eindruck, sich in einem Sanatorium zu befinden.

Noch wusste er nicht, ob er sich überhaupt noch in München befand. Seine ganze Umgebung – die Atmosphäre, der Geruch, sogar die Position der Sonne am blauen Himmel – sagte ihm, dass er woanders war, weit weg von seinem Zuhause, irgendwo im … Süden. Und schließlich, wie magnetisch angezogen, fiel sein Blick auf die Stadt, die sich unter ihm am Fuß des Hügels in alle Richtungen erstreckte. Es waren nur wenige markante Gebäude nötig, um ihn erkennen zu lassen, wo er sich befand, während seine staunenden Augen ruhelos weiterwanderten und ständig neue charakteristische Merkmale wahrnahmen, die ihm von früheren Aufenthalten an diesem Ort bekannt waren. Doch schon lange vorher wusste er: Irgendwie war er in Rom gelandet – Ewige Stadt und Sitz des Vatikans.

Als Marcella von ihrem Familiaris Ragazzo die mentale Nachricht erhielt, dass der Mensch im oberen Stockwerk erwacht war, stand sie auf der Terrasse der Villa, die dem Nekromanten Nero gehörte, hielt eine leere Espressotasse in der Hand und sah nachdenklich auf ihre Heimatstadt hinab. Sie ahnte nicht, dass sie den Anblick in diesem Moment mit dem Inquisitor teilte, der ebenfalls aus dem Fenster auf Rom hinunterschaute.

Doch obwohl beide nahezu dieselbe Perspektive hatten, sah die Hexe die Stadt dennoch aus einem ganz anderen Blickwinkel. Nicht aus der eines Besuchers, für den die Ewige Stadt eine Myriade geheimnisvoller Orte und unentdeckter Plätze bereithielt, sondern aus der einer Einheimischen, die an diesem Ort geboren und aufgewachsen war und den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte. Ihre Heimatstadt lag ihr zwar gewissermaßen zu Füßen, nur ein paar Hundert Meter entfernt, doch sehnte sie sich danach, als wäre sie in Wirklichkeit Tausende von Kilometern weit weg und unerreichbar. Und in einem gewissen Sinne war sie das auch, da nichts ferner lag als ihr früheres Leben, seit sie zugesagt hatte, Butchers Auftrag zu erledigen.

In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in ihre eigene winzige Wohnung, in Signora Consolinis Buchladen in der engen Seitengasse in der Nähe der Piazza Campo de’Fiori und in ihr altes, wenngleich bescheidenes, so doch entschieden weniger gefährliches und dramatisches Leben zurückkehren zu können. Weder dieser Ort, die Villa eines steinreichen Immobilienmaklers und mächtigen Nekromanten, noch die Gesellschaft, in der sie sich seit Neuestem befand, gefielen ihr. Doch sie konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen und davonlaufen. Sie musste standhaft bleiben und ihre Aufgabe erledigen. Andernfalls würde sie alles verlieren, was ihr je etwas bedeutet hatte, einschließlich ihres Lebens.

Sie war daher dankbar, als Ragazzos Nachricht sie aus ihren grübelnden Überlegungen riss und auf andere Gedanken brachte. Sie verließ sofort die Terrasse und machte nur einen kleinen Umweg, der sie in die Küche führte, die ausnahmsweise verlassen war. Dort ließ sie ihre schmutzige Tasse neben der Spüle stehen, anstatt sie in die Maschine zu räumen, wie sie es sonst tat. Sie wollte jedoch schnell nach oben, und außerdem würde sich eine von Neros zahlreichen Hausangestellten darum kümmern – ein Luxus, den sie bisher nicht gekannt hatte, an den sie sich aber erschreckend leicht gewöhnen könnte. Dennoch würde sie in Zukunft gern darauf verzichten, wenn sie dafür ihr altes Leben zurückbekam.

Durch einen langen, zentralen Flur, der durch einen großen Teil des weitläufigen Hauses führte, gelangte sie in die riesige Eingangshalle, von der eine breite Treppe ins obere Stockwerk führte. Während sie leichtfüßig und eilig die Stufen emporstieg, bereitete sie sich innerlich auf das Zusammentreffen mit Michael Institoris vor.

Sie konnte ihre Aufregung nur mühsam im Zaum halten. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit der Inquisitor nach ihrer Flucht das Bewusstsein verloren hatte, obwohl in Wahrheit nicht einmal achtundvierzig Stunden vergangen waren. Und einen Teil davon hatte sie in einem Leichenwagen auf der Fahrt hierher in der Gesellschaft eines Gestaltwandlers verbracht, der die meiste Zeit erfolgreich den Eindruck erweckt hatte, er wäre taubstumm.

Sie erinnerte sich noch gut an die Fahrt, obwohl es daran nichts gab, das des Erinnerns würdig gewesen wäre.

Nachdem sie bereits kurz nach Antritt der Fahrt aufgrund ihrer starken Übermüdung eingeschlafen war, hatte Wolfgang den Leichenwagen aus der bayerischen Metropole und in südliche Richtung gelenkt.

Exakt zwei Stunden später wurde sie geweckt, als jemand sie grob an der Schulter packte und kräftig schüttelte.

»Che cosa …?«, fragte sie schläfrig und öffnete die Augen.

»Wach auf! Sieh nach, wie es dem Inquisitor geht!«

Marcella blinzelte und blickte sich verwirrt um. Zunächst erkannte sie die tonlose Stimme nicht, die auf Deutsch zu ihr sprach, doch als ihr Blick auf dem Sprecher zu ruhen kam, fielen ihr schlagartig wieder sämtliche Ereignisse der letzten Stunden ein. Sie sah auf die Uhr und erkannte, dass sie erst zwei Stunden geschlafen hatte, insgesamt und vor allem unter diesen Umständen zu wenig, als dass es ihr ausreichend Erholung gebracht hätte. Auch aus diesem Grund war sie noch verwirrt und orientierungslos, nachdem der Gestaltwandler sie so rücksichtslos und grob geweckt hatte.

Wolfgang saß reglos wie ein Crash-Test-Dummy hinter dem Steuer und kopierte auch mimisch die Ausdrucksfähigkeit einer Puppe. Er hatte den Leichenwagen von der Autobahn herunter und auf einen abgelegenen Waldweg gelenkt. Ein gutes Stück innerhalb des dichten Waldstücks, wo sie vor zufälligen Zeugen geschützt waren, hatte er angehalten und den Zündschlüssel gedreht. Anschließend hatte er Marcella geweckt. Wenn er dabei Schadenfreude oder eine andere Art von Vergnügen empfunden hatte, war ihm davon nichts anzumerken.

Nachdem der Motor verstummt war, herrschte eine ungewohnte Stille. Während der Fahrt musste Wolfgang das Radio abgestellt haben. Sogar die Natur ringsherum schien den Atem anzuhalten, als hätte ihr das überraschende Auftauchen eines Leichenwagens die Vergänglichkeit ihrer eigenen Existenz vor Augen geführt.

Marcella gähnte hinter vorgehaltener Hand, schenkte ihrem Begleiter einen mürrischen Blick, den dieser ihrer Meinung nach verdient hatte, zur Steigerung ihres Verdrusses aber nicht einmal zur Kenntnis nahm, und stieg aus dem Wagen. Die frische Luft belebte immerhin ihre Lebensgeister. Sie streckte ihre steifen Gliedmaßen und ging an der Seite des langen schwarzen Fahrzeugs entlang nach hinten. Da Wolfgang hinter dem Steuer sitzen blieb, ging sie davon aus, dass die Hecktüren unverschlossen waren.

Sie legte ihre Hand auf den Griff des rechten Türflügels und öffnete ihn. Er leistete keinen Widerstand und schwang geräuschlos nach außen. Obwohl der Anblick nicht unerwartet kam und kaum geeignet war, sie zu erschrecken, hielt sie unwillkürlich den Atem an, als ihr Blick auf den Sarg fiel. Es war ein Anblick, an den sie sich nur schwer gewöhnen konnte.

Auf den ersten Blick sah alles unverändert und in Ordnung aus. Die zentrale Frage lautete aber, wie es dem Inquisitor in seinem ungewöhnlichen Bett ergangen war. Hatte Cora genug Löcher ins Holz gebohrt, damit Institoris ausreichend Luft bekam? Es hätte der zickigen Gestaltwandlerin ähnlich gesehen, Marcella einen gehässigen Streich zu spielen, indem sie den Inquisitor qualvoll ersticken und Marcella die Leiche finden ließ. Allerdings hätte sie damit auch die Pläne ihres Anführers ruiniert und nicht nur seine Gunst, sondern ihr eigenes Leben verspielt. Damit war also eher nicht zu rechnen. Vielmehr ging Marcella davon aus, dass Cora auch in dieser Hinsicht übereifrig gewesen und eher zu viele als zu wenige Löcher gebohrt hatte. Dennoch kam sie nicht darum herum, es zu überprüfen und sich mit eigenen Augen vom Wohlbefinden des Inquisitors zu überzeugen, auch wenn sie bei dem Gedanken, Institoris tot vorzufinden, erneut weiche Knie bekam.

Sie bückte sich und kletterte auf die Ladefläche. Es war nicht notwendig, die zweite Hecktür zu öffnen, da sie den Sarg nicht entladen, sondern nur öffnen wollte. Allein war es ihr ohnehin unmöglich, die Totenkiste mitsamt dem schlafenden Mann anzuheben. Durch die getönten Scheiben und die geöffnete Hecktür fiel genügend Licht, sodass sie alles gut erkennen konnte. Sie bewegte sich zwischen Sarg und Seitenwand nach vorn und kauerte sich neben das Kopfende. Anschließend griff sie nach dem Sargdeckel und hob ihn ein Stück nach oben. Obwohl der Deckel nicht fest mit dem unteren Teil verbunden war, löste er sich nur widerwillig und mit einem schmatzenden Geräusch, das einen Hauch von Ekel in Marcella auslöste. Außerdem war das Teil schwerer, als es auf den ersten Blick aussah.

Marcella verfluchte lautlos jeden Gestaltwandler, den sie persönlich kannte – zum Glück waren das nicht viele. Sie stöhnte leise, als sie den Deckel, der auch aufgrund ihrer ungünstigen, gebückten Körperhaltung Tonnen zu wiegen schien, mit beiden Händen knapp unterhalb der Wagendecke in der Luft hielt. Sie blinzelte und schaute in den Sarg. Der Inquisitor schien tief und fest zu schlafen, doch aufgrund der für ihre Zwecke ungünstigen Lichtverhältnisse konnte sie auch nicht ausschließen, dass er tot war. Ihre Armmuskeln begannen schon, aufgrund des ungewohnten Kraftaktes heftig zu zittern. Sie musste sich also beeilen, denn lange konnte sie den Deckel nicht mehr halten.

Sie überlegte, ob sie Wolfgang rufen sollte, damit er ihr half, beschloss aber, sich vor dem Gestaltwandler keine Blöße zu geben. Allerdings stand für sie fest, dass nächstes Mal er an der Reihe war, nach dem Inquisitor zu sehen. Sie strengte sich etwas mehr an und beobachtete den Mann im Sarg noch aufmerksamer. Und da bemerkte sie, dass sich sein Brustkorb gleichmäßig hob und senkte. Darüber hinaus konnte sie eine rasche Bewegung seiner Augen hinter den geschlossenen Lidern erkennen, so als träumte er. Sie schnappte erschrocken nach Luft, als seine Lider ruckartig nach oben klappten. Doch die Augen starrten blicklos ins Leere und nahmen scheinbar nichts von seiner Umgebung wahr. Sogleich fielen sie wieder zu, und der Inquisitor träumte weiter.

Marcella stieß den angehaltenen Atem aus und seufzte erleichtert. Der Anblick, wie Michael Institoris mit offenen Augen im Sarg lag, war unheimlich gewesen, aber jetzt hatte sie Gewissheit, dass er noch am Leben war. Und nachdem ihre Aufregung abgeklungen war, konnte sie auch die Löcher entdecken, die Cora hinter dem Kopf des Inquisitors ins Holz der Totenkiste gebohrt hatte. Ihrer Meinung nach waren es genügend Öffnungen, um eine angemessene Luftzufuhr zu gewährleisten und den Mann am Leben zu erhalten.

Sie ließ den Sargdeckel sachte herunter, bis er wieder seine alte Position eingenommen hatte und beinahe nahtlos auf dem unteren Teil des Sarges auflag, sodass niemand, der einen zufälligen Blick darauf warf, auf den Gedanken kommen konnte, dass damit etwas nicht stimmte und etwas anderes als eine Leiche darin lag. Anschließend kroch sie wieder ins Freie, schloss die Hecktür und nahm auf den Beifahrersitz Platz.

Wolfgang fragte nicht einmal nach, ob Institoris noch lebte. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sie es ihm von sich aus mitteilen würde, falls etwas nicht stimmte. Wortlos griff er nach dem Zündschlüssel und startete den Wagen.

»Soll ich nicht das Steuer übernehmen?«, fragte Marcella.

Der Gestaltwandler schüttelte den Kopf, sagte aber keinen Ton. Er fuhr los und wendete bei nächster Gelegenheit.

Marcella schaltete wieder das Radio ein, weil sie unvermittelt das starke Bedürfnis hatte, eine menschliche Stimme zu hören. Außerdem hoffte sie, ihren Begleiter dadurch ein wenig ärgern zu können, wenn ihn schon sonst nichts aus der Ruhe brachte.

Wolfgang nahm es ohne Kommentar und ausdruckslos zur Kenntnis. Und so ging die Fahrt nach Süden weiter, wie sie begonnen hatte.

Obwohl Marcella noch müde war, gelang es ihr während der restlichen Fahrt trotzdem nicht, wieder einzuschlafen. Sie hörte Radio – erst einen deutschen, dann einen österreichischen und schließlich einen italienischen Sender –, während Wolfgang stumm am Steuer saß. Pünktlich wie eine Stechuhr brachte er den Leichenwagen alle zwei Stunden an einem abgeschiedenen Ort zum Stehen. Abwechselnd sahen sie nach dem Inquisitor, dessen Zustand sich kein einziges Mal gravierend verändert hatte.

Bis sie letzten Endes Rom erreichten, wo Wolfgang aufgrund der Wegbeschreibung, die Butcher ihm gegeben hatte, zielsicher zu Neros Villa fand, ohne Marcellas Ortskenntnisse ein einziges Mal in Anspruch zu nehmen.

Neros Grundstück lag in einem exklusiven Villenviertel auf dem Aventin, einem der historischen sieben Hügel, auf denen das antike Rom einst erbaut worden war. Es gab eine Alarmanlage und zahlreiche Überwachungskameras an der Außenmauer, die das gesamte Gelände zu umspannen schien, doch menschliche Wachtposten benötigte der Immobilienmakler allem Anschein nach nicht. Sein Ruf genügte wohl, um sämtliche Diebe und Einbrecher abzuschrecken.

Als Marcella und Wolfgang spät in der Nacht von Freitag auf Samstag endlich an ihrem Ziel ankamen, mussten sie zunächst vor dem verschlossenen Tor warten. Wie sie im Nachhinein erfuhren, war der Hausherr nicht da, sondern befand sich auf Geschäftsreise und wurde erst am nächsten Vormittag zurückerwartet. Nero hatte ihr Erscheinen jedoch telefonisch angekündigt und das Personal angewiesen, sich um seine »Gäste« zu kümmern, sodass es ihnen an nichts fehlen würde. Nachts hielt sich allerdings auf dem Anwesen mit Ausnahme des Eigentümers und etwaiger Gäste in der Regel niemand auf. Das fest angestellte Personal – die Köchin mit ihren Küchenhilfen, eine Haushälterin, mehrere Putzfrauen und ein alter Gärtner – kamen morgens zur Arbeit und verließen das Anwesen am Abend wieder, um in den Kreis ihrer Familien unten in der Stadt zurückzukehren.

Um zu verhindern, dass seine Gäste vor verschlossener Türe standen, hatte Nero einen jungen Mitarbeiter seines Immobilienbüros beauftragt, in der Villa auf Marcellas und Wolfgangs Ankunft zu warten, ihnen das Tor zu öffnen und anschließend alles zu zeigen, damit sie sich zurechtfanden. Doch der Mann war während des Wartens eingeschlafen und konnte erst nach mehrmaliger ausdauernder Betätigung des Klingelknopfes am Tor geweckt werden. Verschlafen und schuldbewusst öffnete er ihnen schließlich, sodass Wolfgang den auffälligen Leichenwagen endlich auf das Grundstück lenken konnte.

Der junge Mann lief vor dem Auto her und führte sie zur Garage, einem separaten Gebäude, das abgelegen vom Hauptgebäude, in einem kleinen, aber dichten Pinienwäldchen versteckt lag. Vermutlich hatte es früher als Pferdestall gedient, war vor einigen Jahren aber komplett umgebaut worden. Jetzt beherbergte es eine Reihe nobler Fahrzeuge, die zum größten Teil unter schützenden, undurchsichtigen Kunststoffplanen verborgen waren. Im oberen Stockwerk, direkt unter dem Dach, war eine Wohnung eingerichtet worden, die man sowohl über eine Außentreppe als auch durch die Garage erreichen konnte. Einst war sie für den Chauffeur der eindrucksvollen Fahrzeugflotte vorgesehen gewesen, doch da Signor Nero nach Auskunft des pausenlos plappernden Mitarbeiters seine teuren Nobelkarossen bevorzugt selbst fuhr, war die Wohnung seitdem ungenutzt geblieben. Nun war sie kurzfristig dazu auserkoren worden, Wolfgang als Domizil während ihres Aufenthalts in Rom zu dienen. Der schweigsame Gestaltwandler sollte wohl gegenüber dem Inquisitor als Neros Chauffeur ausgegeben werden. Die Wohnung war gereinigt und gelüftet worden, sodass einem Einzug nichts im Wege stand. Falls der dunkelhaarige, gut aussehende Italiener sich wunderte, warum Wolfgang kein Gepäck bei sich hatte, sagte er nichts davon.

Nachdem Wolfgang den Wagen in die Garage gelenkt hatte, mussten sie den bewusstlosen Inquisitor aus dem Sarg heben und ins Haupthaus bringen, wo Zimmer für ihn und Marcella vorbereitet worden waren. Auch über den befremdlichen Umstand, dass ein lebender Mensch in einem Sarg transportiert wurde, verlor der beflissene junge Mann kein Wort. Marcella konnte an seiner Aura feststellen, dass er kein Luziferianer war. Vielleicht war er ein »Luziferianer-Groupie«, wie spöttische Zeitgenossen diejenigen nannten, die selbst keine Luziferianer waren, aber für ihr Leben gern dazugehören wollten und alles taten, um zumindest in die Nähe ihrer Idole zu gelangen. Möglicherweise wusste er auch gar nicht, dass sein Arbeitgeber ein Nekromant war, war aber wegen Neros verbrecherischen Machenschaften im Immobiliengeschäft einiges gewohnt und wunderte sich deshalb nicht mehr über derartige Dinge.

Auf jeden Fall zeigte sich Fabrizio, wie er sich ihnen verspätet vorstellte, trotz seines wenig gelungenen Einstands wenigstens jetzt gut vorbereitet, da in einer Ecke der Garage ein Rollstuhl bereitstand. Dort setzten sie den Inquisitor hinein, nachdem sie mit vereinten Kräften erst den Sarg aus dem Leichenwagen gehoben und auf dem Boden abgestellt und anschließend den Bewusstlosen herausgeholt hatten.

Wolfgang begleitete Marcella und Fabrizio zum Haupthaus, denn der Gestaltwandler sollte dort die wichtigsten Räumlichkeiten kennenlernen und mithelfen, Michael Institoris nach oben in den ersten Stock zu tragen, wo dieser in einem der Gästezimmer untergebracht wurde. Der Weg war gepflastert und führte erst durch das Wäldchen und anschließend noch ein gutes Stück weiter, bis sie nach einem weiten Bogen, der um eine dichte Buschgruppe herumführte, die Villa erreichten.

Fabrizio hatte es sich nicht nehmen lassen, den Rollstuhl zu schieben. Marcella zog ihren Trolley hinter sich her und trug den Vogelkäfig in der linken Hand. Wolfgang marschierte neben ihnen her und ließ stumm den Blick in alle Richtungen schweifen, als ginge ihn das alles nichts an.

Während des gesamten Weges wurde es Fabrizio nicht müde, sich immer wieder wort- und gestenreich bei ihnen dafür zu entschuldigen, dass er nicht sofort das Tor geöffnet hatte. Er bat sie auch mehrmals, seinem Chef nichts davon zu erzählen, da er ansonsten »gefeuert« würde. Die Art, wie er es sagte, ließ Marcella vermuten, dass er damit mehr meinte als eine gewöhnliche Kündigung. Sie versicherte ihm daher, dass sie die Sache längst vergessen und keine Veranlassung habe, Signor Nero darüber zu unterrichten. Wolfgang hüllte sich in Schweigen. Das war bei ihm an sich nichts Ungewohntes, doch Marcella gewann den Eindruck, dass der Deutsche kein Wort Italienisch sprach und nichts von dem verstand, was Fabrizio ihnen sagte. Wahrscheinlich orientierte sich der Gestaltwandler an den ständigen Gesten des schlanken, ein gutes Stück zu klein geratenen Italieners und erahnte auf diese Weise Bruchstücke dessen, worüber Fabrizio sprach. Dadurch gelang es ihm bisweilen, zum richtigen Zeitpunkt zustimmend zu nicken.

Das Haus war eindrucksvoll, aber Marcella war mittlerweile viel zu müde, um alle Daten und Informationen, die Fabrizio herunterrasselte, aufnehmen und gebührend würdigen zu können. Er erweckte den Eindruck, als wollte er ihnen die Villa verkaufen und nicht bloß den Ort zeigen, an dem Institoris und sie die nächsten Tage wohnen, schlafen und essen würden. Marcella war daher froh, als Fabrizio die Besichtigungstour für beendet erklärte. Er war der Einzige, der nicht müde wirkte, was aber kein Wunder war, nachdem er bis zu ihrer Ankunft geschlafen hatte. Die beiden Männer trugen den Inquisitor nach oben. Marcella folgte ihnen und zog den Trolley Stufe für Stufe hinter sich her, während sie den schlafenden Vogel in seinem Käfig in der anderen Hand hielt.

Sie brachten zunächst Michael Institoris in sein Zimmer. Trotz ihrer Erschöpfung bewunderte Marcella die Einrichtung. Entweder hatte Nero wider Erwarten einen guten Geschmack in puncto Inneneinrichtung oder einen ausgezeichneten Innenarchitekten. Marcella tippte insgeheim auf Letzteres. Die Männer entkleideten den Inquisitor mit raschen Handgriffen, während sich Marcella dezent im Hintergrund hielt und ab und zu einen neugierigen Blick wagte. Anschließend zogen sie ihm einen bereitliegenden, seidenen Schlafanzug an, legten ihn in die Mitte der Matratze und deckten ihn zu. Marcella erwartete beinahe, dass Wolfgang dem Inquisitor noch einen Gutenachtkuss gab. Dies hätte dem Ganzen die Krone aufgesetzt und ihr sicherlich einen Lachkrampf beschert, doch so weit ging seine Fürsorglichkeit dann doch nicht. Rasch und wortlos verließen sie das Zimmer. Fabrizio kam als Letzter heraus und löschte das Licht.

Wolfgang nickte zum Abschied und verschwand wortlos, um in die Räumlichkeiten über der Garage zu gehen, nachdem es für ihn in der Villa nichts mehr zu tun gab. Fabrizio versicherte Marcella, dass der Hausherr am nächsten Tag zurückkehren würde. Außerdem würde am Morgen das Personal zur Arbeit kommen und sich um sie kümmern. Er entschuldigte sich ein letztes Mal wortreich und zeigte ihr dann ihr Schlafzimmer, das direkt neben dem des Inquisitors lag und beinahe dessen Spiegelbild war – lediglich die Farbe der Vorhänge war eine andere. Anschließend verabschiedete sich Fabrizio, indem er nach ihrer Hand griff, einen Kuss auf ihren Handrücken hauchte und ihr eine gute Nacht wünschte.

Wenn Nero ihn nicht feuert, weil Wolfgang sich über das Warten beschwert, wird er es im Immobiliengeschäft sicherlich noch weit bringen, dachte Marcella schmunzelnd und sah sich in ihrem Zimmer um. Es gefiel ihr, und sie war sicher, dass sie es hier ein paar Tage lang aushalten konnte, bis ihre Aufgabe erledigt war. Doch nachdem sie den Vogelkäfig auf den Tisch gestellt hatte und ans Fenster getreten war, wo sich ihrem Blick wie ein glitzernder Teppich das erleuchtete, nächtliche Rom präsentierte, drohte ein akuter Anfall von Heimweh sie fast zu ersticken. Mit Tränen in den Augen zog sie schnell den Vorhang vor das Fenster, wandte sie sich ab und ging zu ihrem Trolley. Sie war todmüde und wollte endlich ein paar Stunden ungestörten Schlaf bekommen.

Am nächsten Vormittag erwachte Marcella spät, aber ausgeruht, als sie vom lauten Gezwitscher eines Vogels geweckt wurde, während die Sonne bereits ihre gleißenden Strahlen über die Stadt ergoss. Es war der Gesang der Elster, die lange vor ihr aufgewacht war, Hunger hatte und aus dem Käfig heraus und ins Freie wollte. Marcella stand auf und öffnete die Käfigtür. Ragazzo hüpfte auf dem Tisch hin und her und beäugte ebenso misstrauisch wie neugierig seine neue Umgebung. Währenddessen holte Marcella Futter aus ihrem Koffer und stellte ein kleines Schälchen auf den Tisch. Der Vogel machte sich gierig über die Körner her, während Marcella alles, was sie zum Duschen und für ihre Morgentoilette brauchte, aus dem Trolley holte und im angrenzenden Bad verschwand. Anschließend zog sie sich eine frische, helle Leinenhose und eine beige Bluse an. Ragazzo, der die Futterschale geleert hatte, flog auf ihren Zeigefinger, den sie ihm hinhielt. Sie hob den Finger mit dem Familiaris an ihr Gesicht, worauf Ragazzo sein Köpfchen an ihrer Wange rieb. Er zwitscherte laut, und auch ohne mentalen Kontakt wusste Marcella, dass der Vogel nach draußen wollte. Wie jedes lebende Wesen hatte auch er Bedürfnisse, die er befriedigen musste. Und da Ragazzo ein wohlerzogener Spiritus familiaris war, verrichtete er sein Geschäft im Freien. Marcella ging zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite, der den Schein der Sonne gedämpft und für ein angenehmes Dämmerlicht gesorgt hatte. Jetzt konnten die Sonnenstrahlen ungehindert ins Zimmer gelangen und die Hexe und den Vogel in ihren gleißenden Schein baden. Marcella öffnete einen Fensterflügel und hielt ihre Hand nach draußen. Ragazzo pfiff wie einen Abschiedsgruß eine kurze, melodische Abfolge von Tönen und flog davon. Marcella hatte keinerlei Bedenken, den Vogel fliegen zu lassen, da er in der Nähe des Hauses bleiben würde. Sie hatte auch keine Angst, dass es auf dem Grundstück Gefahren für die Elster geben könnte. Selbst wenn, würde sich das Tier zu helfen wissen. Und anderen Menschen ging das scheue Tier ohnehin aus dem Weg.

Marcella schwelgte noch für eine Weile im überwältigenden Anblick ihrer Heimatstadt, bevor sie das Zimmer verließ und nach unten ging. Im Erdgeschoss wurde sie von einer freundlichen, schmächtigen Frau mit mausgrauen Haaren begrüßt, die einen dunkelgrauen Hosenanzug trug. Signora Belatatto war Neros Haushälterin und führte sie auf die Terrasse, wo der Frühstückstisch für sie vorbereitet worden war. Sie genoss diesen seltenen Luxus, wusste sie doch, dass ihre Sorgen und Probleme schon bald wieder bei ihr anklopfen und sich aus ihrem Kurzurlaub zurückmelden würden.

Nach dem Frühstück besuchte sie den Inquisitor, der noch immer tief und fest schlief. Er hatte aber schon mehr Farbe im Gesicht und sah fast gesund, wenn auch hagerer und abgezehrter aus. Marcella legte ihm die Hand auf die Stirn und gab vor, seine Temperatur zu prüfen. In Wahrheit wollte sie für einen Moment Körperkontakt herstellen. Aus Angst, jemand könnte zur Tür hereinkommen und sie ertappen, beließ sie es bei einer kurzen Berührung. Bevor sie das Zimmer verließ, stellte sie fest, dass die Kleidung des Inquisitors, die von den beiden Männern in der Nacht auf den Marmorfußboden geworfen worden war, verschwunden war. Wahrscheinlich wurde sie gewaschen und gebügelt und musste teilweise sogar genäht werden. Marcella beschloss, Nero danach zu fragen, sobald er zurück war, um dem Inquisitor Auskunft geben zu können, wenn er erwachte und sie fragte.

Da ihr niemand – weder Fabrizio noch Signora Belatatto – verboten hatte, sich in der Villa umzusehen, machte sie auf eigene Faust eine Erkundungstour und besichtigte die Teile, die der junge Italiener ihr in der Nacht nicht gezeigt hatte. Im ersten Stock fand sie zwei weitere Gästezimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, die exakt so wie ihres und das des Inquisitors ausgestattet waren, und mehrere Badezimmer. Manche Türen waren verschlossen und daher für sie unzugänglich. Marcella nahm an, dass sich dahinter auch Neros Schlaf- und Arbeitszimmer befanden. Sie stieß auf eine reichhaltig ausgestattete Bibliothek – wenn ihr die Zeit bis zu Institoris’ Erwachen zu lang werden sollte, konnte sie sich hier wenigstens ein interessantes Buch aussuchen und lesen – und ein Jagd- und Trophäenzimmer. Marcella verzog angewidert das Gesicht, als sie die verschiedenartigsten Waffen – Gewehre, Pistolen, Lanzen, Schwerter und Dolche – an den Wänden und in den Vitrinen und die vielfältigen Trophäen sah. Zahlreiche abgetrennte und präparierte Tierköpfe hingen an den Wänden, die mit dunklem Holz vertäfelt waren. Sie erkannte Hirsche, Rehe, Gazellen und einen monströsen Elch. Ein ausgehöhlter Elefantenfuß diente als makabrer Ständer für das Kaminbesteck. Vor dem Kamin war ein Tigerfell auf dem Parkettboden ausgebreitet, rechts und links davon erhoben sich ein Eis- und ein Grizzlybär auf ihren Hinterbeinen zu ihrer vollen, außerordentlich eindrucksvollen Lebensgröße. Sie hatten die Pranken erhoben und rissen angriffslustig ihre Mäuler auf, als wollten sie den Betrachter attackieren. Dabei wirkten sie so echt, als wären sie noch am Leben. Marcella schauderte und sah sich den Rest der Einrichtung an. In der Mitte des schaurigen Zimmers stand ein großer, flacher Holztisch, der von bequemen, ledernen Sesseln umzingelt wurde. Ansonsten gab es nichts, was für sie von Interesse war. Froh, der beklemmenden Atmosphäre inmitten all dieser tödlichen Waffen und toten Tiere zu entkommen, schlüpfte sie rasch nach draußen.

Sie nahm die Treppe ins Erdgeschoss, verzichtete aber darauf, sich auch dort genauer umzusehen. Erstens hatte ihr Fabrizio letzte Nacht bereits die wichtigsten Räume – das Esszimmer, die Küche und das Wohnzimmer – gezeigt, und zweitens waren hier zu viele Leute unterwegs. Sie wusste, dass Signora Belatatto in der Nähe war. In der Küche war zweifellos die Köchin mir ihren Helfern zugange, und aus einer anderen Richtung war das Heulen eines Staubsaugers zu hören. Sie beschloss, einen Spaziergang über das Grundstück zu machen. Sie wollte das Gelände bei Tag besichtigen und sich einen Überblick über ihre Umgebung verschaffen, da man nie wusste, ob man diese Kenntnisse nicht irgendwann einmal gebrauchen konnte. Denn ihr Leben als mäßig begabte Hexe am Rand des Haifischbeckens voller gefräßiger und feindseliger Luziferianer hatte Marcella vor allem eins gelehrt: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Sie ging nach draußen und spazierte über das Grundstück. Schon bald begegnete sie einem Gärtner, der damit beschäftigt war, Rosensträucher zurückzuschneiden. Er lüpfte seinen Hut, den er wohl vor allem deshalb trug, um seinen kahlen Schädel vor der Sonne zu schützen, verbeugte sich leicht und grüßte sie freundlich. Sie ging gedankenverloren weiter und kam zu einem Pavillon, der wie eine mehrstöckige chinesische Pagode aussah. Dahinter begann der Hang des Hügels, an dem das Haus stand, steiler abzufallen, sodass sich von dort ein wundervoller Ausblick auf die Stadt bot. Sie setzte sich eine Weile in den Schatten und blickte auf die Metropole hinunter, in der hektische Betriebsamkeit herrschte. Mit den Augen folgte sie den Hauptverkehrsadern und ließ deren Umgebung gleichzeitig aus den in ihrer Erinnerung gespeicherten Bildern von Nahem auferstehen, so als würde sie tatsächlich leibhaftig dort entlangspazieren, bis sie zu der engen Gasse kam, in der Signora Consolinis Laden lag. Doch an der Ladentüre endete ihre gedankliche Reise, als wäre diese ab sofort für sie versperrt. Sie seufzte und besah sich andere markante Orte ihrer Heimatstadt aus dieser ungewohnten Warte, die an ein malerisches Postkartenidyll erinnerte. Als ihr auch das zu langweilig wurde, beschloss sie, ins Haus zurückzukehren und sich Lesestoff aus der Bibliothek zu holen.

Doch als sie durch den Terrasseneingang die Villa betrat, kam ihr Nero entgegen. Er begrüßte sie überschwänglich, als wären sie alte Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, und küsste sie auf die Wangen, was sie widerwillig, und ohne sich etwas anmerken zu lassen, über sich ergehen ließ. Nero teilte ihr mit, dass er vor einer Stunde angekommen sei und schon mit Wolfgang gesprochen habe, um dem Gestaltwandler weitere Anweisungen seines Anführers zu überbringen. Um welche Befehle es sich gehandelt hatte, sagte er ihr nicht. Stattdessen informierte er sie, dass einer der besten Ärzte Roms zwischenzeitlich hier gewesen sei und nach dem Inquisitor gesehen habe. Nach Auskunft des Dottore war Michael Institoris auf dem besten Wege, sich vollständig zu erholen. Die Schussverletzungen waren so gut verheilt, dass der Verband morgen früh entfernt werden konnte. Nach der Prognose des Mediziners würde der Inquisitor wohl im Laufe des nächsten Tages zu sich kommen.

»Das wird auch Zeit«, sagte Nero und grinste. »Aber keine Angst, wir liegen noch im Zeitplan.«

Die Neuigkeiten beruhigten Marcella. Nicht wegen des Zeitplans, der sie nur am Rande interessierte, sondern wegen dem, was der Arzt über den Zustand des Inquisitors gesagt hatte. Jetzt musste sie noch die kommenden Stunden herumbringen, bis Michael Institoris am nächsten Tag erwachte. Sie sah diesem Moment jedoch mit zwiespältigen Gefühlen entgegen, da dann die zweite, entscheidende Phase ihrer Aufgabe beginnen würde.

Und nun war dieser Zeitpunkt gekommen.

Obwohl sie den Moment, in dem Michael Institoris wieder die Augen aufschlagen und so gut wie genesen sein würde, herbeigesehnt hatte, fürchtete sie die Begegnung gleichzeitig, da die weitere Entwicklung und womöglich ihr eigenes Leben davon abhingen, wie sie sich diesem Mann gegenüber verhielt. Sie hatte sich im Vorhinein nicht überlegt, was sie tun und wie sie sich verhalten würde, sondern beschlossen, alles auf sich zukommen zu lassen und zu improvisieren. Alles andere hätte eventuell zu gekünstelt und unecht gewirkt und den Inquisitor misstrauisch gemacht, schließlich war sie keine Schauspielerin.

Ihr Herz klopfte so rasch und heftig in der Brust, als müsste sie ihrem eigenen Henker gegenübertreten – Oder als seist du verliebt!, flüsterte etwas in ihrem Inneren, das Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Stimme hatte, das sie aber eilig und vehement zum Schweigen brachte –, als sie die Hand hob und mit den Knöcheln ihrer Finger gegen das Holz der Tür pochte.

»Herein!«, hörte sie ihn auf Deutsch rufen.

Der Klang seiner Stimme verstärkte ihre Erregung. Ihre Handflächen waren schweißfeucht. Sie rieb sie an ihrer Hose trocken und schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln, ehe sie die Tür öffnete und eintrat.

Er stand vor dem Fenster und hatte sich zur Tür umgewandt, doch durch das helle Viereck aus blendendem Sonnenlicht hinter ihm konnte sie ihn nur als dunklen Umriss sehen. Sie schloss die Tür und trat ein.

»Marcella!«, rief er erfreut und kam ihr entgegen.

Die offensichtliche Freude in seiner Stimme wärmte ihr Herz und sorgte dafür, dass sie die neutrale Miene, die sie unter allen Umständen zu wahren beschlossen hatte, nicht länger aufrechterhalten konnte. Sie spürte das strahlende Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, und ließ es dankbar zu, da sie sich lange nicht so glücklich gefühlt hatte.

Als sie sich einander näherten, konnte sie ihn allmählich deutlicher erkennen. Er trug einen Morgenmantel über dem seidenen Schlafanzug. Seine Gesichtshaut wirkte rosiger und gesünder als gestern, doch er sah auch ziemlich abgemagert aus. Sie entdeckte ein paar Falten in seinem Gesicht, die zuvor nicht da gewesen waren. Und auch sein Gang war unsicher und zögerlich.

Einerseits erwartete sie freudig, andererseits fürchtete sie aber auch, dass sie sich in der Mitte des Weges in die Arme fallen könnten. Sie hätte allerdings nicht sagen können, wie sie sich verhalten hätte, wenn es wirklich dazu gekommen wäre. Doch als sie nur noch einen guten Meter voneinander entfernt waren, verharrten sie beide zaudernd und unsicher, wie sie nach den gemeinsamen Erlebnissen eigentlich zueinanderstanden und wie sie sich jetzt verhalten sollten.

»Marcella«, wiederholte der Inquisitor, als könnte er nicht glauben, dass sie tatsächlich vor ihm stand, und sah sie noch immer voller Freude an. »Ich freue mich, Sie zu sehen.«

»Ich freue mich auch sehr«, antwortete sie und verschränkte die Arme vor der Brust, weil sie nicht wusste, was sie sonst mit ihren Händen anstellen sollte. Ihm die Hand zum Gruß zu reichen, wirkte in ihren Augen zu förmlich und distanziert. Eine Umarmung erschien ihr dagegen unangemessen, auch wenn sie diese wesentlich mehr genossen hätte. »Und vor allem freue ich mich, dass es Ihnen schon so gut geht.«

»Das habe ich nicht zufällig Ihnen zu verdanken?«

Erst glaubte sie, er spräche von ihren Hexenkräften, die sie eingesetzt hatte, um die Wundheilung zu unterstützen. Hatte er es trotz seiner Bewusstlosigkeit mitbekommen und wusste, was sie in Wahrheit war? Ihr wurde eiskalt, als wäre die Temperatur im Zimmer schlagartig um zehn Grad gefallen, und der Schreck fuhr wie ein Stromstoß durch ihre Glieder. Doch dann sagte sie sich, dass er zu schwer verwundet gewesen war und mit dem Tode gerungen hatte, um etwas von dem mitzubekommen, was in seiner Umgebung und mit ihm geschehen war. Und schon seine nächsten Worte bestätigten ihre Vermutung.

»Sie haben mich schließlich da herausgeholt«, sagte er. »Ich erinnere mich noch, wie wir im Wagen saßen und nach draußen fuhren. Danach …« Sein Blick trübte sich, als sähe er nach innen und würde die Szene erneut in Gedanken miterleben, bevor seine Augen sich wieder auf seine Gesprächspartnerin fokussierten. »… danach kommt der Filmriss. Was haben Sie anschließend gemacht? Sie kannten in München doch niemanden und konnten mich schlecht zu einem Arzt oder in ein Krankenhaus bringen. Ganz abgesehen von den Fragen, die man Ihnen angesichts der Schussverletzungen unweigerlich gestellt hätte, hätte jeder gesetzestreue Mediziner umgehend die Behörden informiert. Wie haben Sie also das Wunder fertiggebracht, mein Leben zu retten, ganz allein in einem fremden Land, und mich auch noch hierherzubringen?« Er schüttelte lächelnd den Kopf, als könnte er es nicht glauben.

Marcella sah genau hin, konnte aber nicht die geringste Spur von Argwohn oder vorgetäuschter Ahnungslosigkeit in seinen Zügen entdecken. Er schien tatsächlich noch meilenweit davon entfernt zu sein, ihr auf die Schliche zu kommen. Die Täuschung, die sie in München begonnen hatte, konnte also fortgesetzt werden, auch wenn es ihr nicht behagte, ihn ständig belügen zu müssen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie musste die Regeln akzeptieren und die Befehle ausführen, die ihr der im Hintergrund agierende Butcher gab.

Sie sah, dass der Inquisitor leicht schwankte, sich aber nichts anmerken lassen und vor ihr keine Blöße geben wollte. Er war noch nicht vollständig auf dem Damm und längst nicht in derselben körperlichen Verfassung wie vor der Verwundung. Seine sagenhafte Selbstheilungskraft hatte zwar die Wunden in phänomenalem Tempo geschlossen und vernarben lassen, dabei aber Raubbau an seinem Körper betrieben. Irgendwoher mussten die notwendige Energie und das Material für die Heilung ja gekommen sein. Nachdem er erwacht war, war es an der Zeit, dem Körper die verlorene Energie und Substanz zurückzugeben.

»Haben Sie denn keinen Hunger?«, fragte Marcella, anstatt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben. »Sie sehen erschöpft und halb verhungert aus. Warum setzen Sie sich nicht, um Ihre Kräfte zu schonen, während ich Ihnen ein spätes Frühstück organisiere?«

Er nickte und legte eine Hand auf seine Bauchdecke, als würde er erst jetzt realisieren, wie recht sie hatte. Bevor er antworten konnte, übernahm sein Magen die Initiative und knurrte laut. Er lachte leise und sagte nickend: »Da haben Sie Ihre Antwort. Ich habe in der Tat einen Riesenhunger und nehme Ihr Angebot dankbar an.« Er ging vorsichtig zum Bett und ließ sich langsam auf der Kante nieder.

Marcella ging zum Tisch, der dem Bett unmittelbar gegenüber vor der Wand stand, an der ein großer rechteckiger Spiegel hing. Wie in jedem Gästezimmer und in den meisten übrigen Räumen stand auch hier ein Telefon, das mit der Telefonanlage der Villa verbunden war. Signora Belatatto hatte ihr gestern die Funktionsweise erläutert. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Eins, die Nummer des zentralen Apparats in der Eingangshalle im Erdgeschoss. Wer immer in der Nähe war, würde den Hörer abnehmen und den Ruf entgegennehmen. Marcella hatte Glück und sofort Signora Belatatto in der Leitung. Sie informierte die ältere Frau, dass Neros zweiter Gast erwacht sei und ein reichhaltiges, nahrhaftes Frühstück benötige. Die Haushälterin versprach, sich umgehend darum zu kümmern und es aufs Zimmer zu bringen. Anschließend wollte sie Signor Nero Bescheid geben. Der Hausherr weilte nämlich momentan unten in der Stadt in seinem Immobilienbüro. Obwohl Sonntag war, hatte Nero dort diverse geschäftliche Angelegenheiten zu klären, die sich während seiner Abwesenheit angesammelt hatten und keinen Aufschub duldeten. Marcella bedankte sich bei Signora Belatatto und legte auf.

Sie sah hoch und warf einen kurzen Blick auf ihr eigenes Abbild im Spiegel. Rasch strich sie eine widerspenstige Strähne ihres blonden Haars glatt. Ansonsten war sie mit ihrem Äußeren jedoch zufrieden. Als sie den Kopf leicht nach rechts wandte, konnte sie den Inquisitor sehen, der sie ansah. Als sich ihre Blicke in der Spiegelfläche begegneten, riss er die Augen auf, als fühlte er sich ertappt, und sah rasch zur Seite. Marcella wandte sich um, zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und nahm Platz.

»Ihr Frühstück ist in ein paar Minuten fertig. Es wird aufs Zimmer gebracht, dann müssen Sie sich nicht erst ankleiden und nach unten ins Esszimmer bemühen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht.«

»Ja, das ist mir sogar sehr recht. Vielen Dank, Marcella. Ich muss zugeben, dass ich … also, ich bin noch nicht wieder ganz auf der Höhe und fühle mich noch ein wenig schwach. Nach den Schussverletzungen und dem Erholungsschlaf ist das aber wohl kein Wunder. Doch erzählen Sie schon! Was passierte, nachdem bei mir die Lichter ausgingen?«

»Nun, wo soll ich anfangen?«