INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Eins - Eberhard Weidner - E-Book

INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Eins E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Als Michael Institoris von der bayerischen Inquisitionsabteilung in München von einem Informanten die Mitteilung erhält, dass ein Hexenzirkel noch in dieser Nacht eine Beschwörung durchführen will, beschließt er kurzerhand, sich ganz allein um die Sache zu kümmern. Schließlich stellen ein paar Hexen für einen ausgebildeten Inquisitor kein großes Problem dar. Außerdem soll er in wenigen Tagen in Rom vom Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Leo XIV., zum Oberinquisitor ernannt werden, spätestens dann dürften seine geliebten Alleingänge der Vergangenheit angehören. Doch sobald Institoris in das vermeintliche Hexenhaus eingedrungen ist, muss er feststellen, dass er in eine Falle gelockt wurde und es mit einer tödlichen Übermacht aller nur denkbaren Kreaturen der Finsternis zu tun hat, die sich ihm von allen Seiten nähern. Auf der Suche nach einem Ausweg findet der Inquisitor nicht nur die Leiche seines Informanten, sondern trifft auch auf einen Besessenen. Der Dämon im Körper des Besessenen behauptet, Institoris bei einem Hexensabbat mit einer Hexe gezeugt zu haben, und will ihn dazu zwingen, bei der bevorstehenden Papstaudienz im Vatikan den Pontifex zu ermorden, um die Welt dadurch in den Abgrund zu stürzen. Doch Institoris widersetzt sich dem Dämon und kommt einer groß angelegten Verschwörung der Mächte der Finsternis auf die Spur, die schon vor seiner Geburt seinen Anfang nahm und nicht nur in die Zentrale der bayerischen Inquisition, sondern bis nach Rom führt ...

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

Erster Teil: DER INQUISITOR

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

Erster Teil

DER INQUISITOR

München

1. Kapitel

Der Schatten des Hauseingangs erwachte für einen Moment zum Leben, als der Inquisitor sich noch tiefer in seine schützende Umarmung zurückzog. Aufgrund seiner schwarzen Kleidung, des dichten Vollbarts und des kurzen dunklen Haars war allenfalls ein dünner Streifen heller Gesichtshaut zu erkennen, in dem die Augen vor Erregung und mühsam unterdrücktem Tatendrang glitzerten.

Durch den rauschenden Vorhang des beständig fallenden Regens beobachtete er über die leere Straße hinweg die Fassade eines vierstöckigen Mietshauses schräg gegenüber. Mitternacht war nicht mehr fern, und so waren die Straßen dieses schon etwas heruntergekommenen Viertels im Herzen von München wie leer gefegt. Entweder hielt der strömende Regen die Anwohner davon ab, ins Freie zu gehen, oder sie spürten auf einer unterbewussten Ebene, dass sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft etwas Finsteres und Bedrohliches anbahnte, und blieben deshalb in der schützenden Geborgenheit ihrer Heime.

Seit der Inquisitor vor einer halben Stunde seinen Posten bezogen hatte, war nicht mehr als ein halbes Dutzend Personen aufgetaucht. Alle waren allein oder zu zweit unter dem Schutz aufgespannter Regenschirme und mit tief zwischen die Schultern gezogenen Köpfen von der nahen U-Bahn-Station gekommen und eilig im Eingang des Hauses verschwunden, dem auch die spezielle Aufmerksamkeit des Beobachters im Schatten galt. Keiner der Besucher hatte das Haus seitdem wieder verlassen.

Der aufmerksame Blick des Inquisitors glitt ein weiteres Mal über die Fassade. Die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen und von innen mit Brettern vernagelt worden. Nur hinter wenigen sah man Licht, doch dort waren dichte Vorhänge vorgezogen, die jeden Blick nach innen verwehrten. Nichts ließ darauf schließen, dass hinter diesen Mauern etwas Ungewöhnliches geschehen würde, und man konnte das Gebäude für ein normales, wenn auch deutlich heruntergewirtschaftetes Mietshaus halten, wie es sie in dieser Stadt zu Hunderten gab. Doch der Beobachter wusste es besser. Zumindest wenn er den Informationen glauben durfte, die sein Informant ihm gegeben hatte. Und er sah keinen Grund, an den Worten des Mannes zu zweifeln.

Außerdem spürte er instinktiv, dass er hier am richtigen Ort war. Jede Faser seines Körpers drängte ihn, auf der Stelle loszuschlagen. Doch er zügelte seine Ungeduld und verharrte weiterhin reglos in seinem Versteck. Noch war es nicht Mitternacht, und noch waren unter Umständen nicht alle Akteure versammelt. Aber er wollte so viele wie möglich von ihnen erwischen. Keiner sollte seiner gerechten Strafe entgehen!

Während der Inquisitor sich in Geduld übte und die letzten Minuten dieses Tages quälend langsam verstrichen, ließ er sich von der Erinnerung an den Telefonanruf vor nicht einmal anderthalb Stunden, der ihn an diesen Ort geführt hatte, aus der Gegenwart in die Vergangenheit entführen.

Die Sacra congregatio Romanae et universalis Inquisitionis seu Sancti Officii, wie sie seit 1908 offiziell hieß, war bekannter unter der Kurzbezeichnung Sanctum Officium (Heiliges Amt), wurde in der Bevölkerung aber weiterhin hartnäckig bei ihrem historischen Namen genannt: Heilige Römische Inquisition.

War das Primärziel der Inquisition nach ihrer Gründung zu Beginn des 13. Jahrhunderts durch Zusammenwirken weltlicher und kirchlicher Herrscher zunächst die Reinerhaltung des Glaubens mittels Bekämpfung des sich ausbreitenden Ketzertums, so wurden später Häretikern allerlei teuflische Praktiken wie Magie nachgesagt und von kirchlicher Seite ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Häresie und Hexerei hergestellt. Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert bestand die Hauptaufgabe der päpstlichen Inquisitoren, mehrheitlich Dominikaner- oder Franziskanermönche, aufgrund dessen vorwiegend darin, Hexen und andere »Luziferianer« zu verfolgen und ihnen den Prozess zu machen. Die Bezeichnung Luziferianer war von Papst Gregor IX. im Jahre 1233 in einem Brief an Konrad von Marburg, den ersten Ketzerrichter Deutschlands, geprägt worden und hatte sich im Sprachgebrauch der Inquisition bis heute erhalten.

Nach der großen Zeit der Hexenverfolgung im späten Mittelalter verlor die Heilige Inquisition allmählich ihre Sonderstellung und ihre Bedeutung in der katholischen Kirche und wäre möglicherweise seit Langem aufgelöst worden, hätten nicht der Kriegsausbruch im Jahre 1914 und vor allem eine seiner außergewöhnlichsten und dramatischsten Begleiterscheinungen alles von Grund auf verändert!

Noch kannte scheinbar niemand mit letzter Gewissheit die Ursache all der Veränderungen, die seit 1915 verstärkt aufgetreten waren, oder den genauen Zeitpunkt, an dem alles begonnen hatte. Vielleicht lag es an der bis dahin in diesem Ausmaß unvorstellbaren massenhaften Vernichtung menschlichen Lebens durch neu entwickelte Waffensysteme und giftiges Gas. Möglicherweise aber auch an der entsetzlich großen Zahl von Menschen, die durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen dieses furchtbaren Krieges den Tod fanden. Unter Umständen hatten sich andererseits, wie mancher religiöse Fanatiker predigte, letzten Endes endlich die Tore der Hölle geöffnet, um all die bösen Geister auf die Erde zu schicken, die in den höllischen Gefilden keinen Platz mehr fanden, um die Lebenden für ihre Sünden zu bestrafen. Doch egal, woran es im Endeffekt lag, begann sich die Seuche bereits ein Jahr nach Kriegsausbruch zunächst über ganz Europa und anschließend im Rest der Welt auszubreiten. In Anlehnung an Papst Gregor wurde dieser Prozess von den Inquisitoren später als »Luziferisierung« bezeichnet. Im Laufe dieser Veränderung entwickelten immer mehr bis dahin völlig normale Menschen plötzlich übernatürliche oder – der Diktion der katholischen Kirche folgend – satanische Fähigkeiten. Die Zahl echter Hexen, Magier, Zauberer, Beschwörer und Nekromanten nahm mit jedem Tag zu und immer erschreckendere Ausmaße an. Noch entschieden dramatischer und schrecklicher waren andere Veränderungen, die den Leuten widerfuhren, als sie sich in Blutsauger, Gestaltwandler, Ghule, Untote und andere Ungeheuer verwandelten, die in den Wirren des Krieges mancherorts nahezu unkontrolliert und vor allem ungestraft ihr Unwesen treiben konnten.

Die katholische Kirche und die Inquisition – seit Langem ihrer ursprünglichen Bedeutung und Macht beraubt – waren machtlos gegen die rasch zunehmende Zahl sogenannter Luziferianer, wie die Opfer der Veränderungen bald überall genannt wurden. Doch die Regierungen der wichtigsten Staaten erkannten rasch den Ernst der Lage. Sie durften dem Treiben nicht länger tatenlos zusehen und ergriffen die Initiative. So schnell wie möglich – und rascher, wie es angesichts der vorherigen Kriegslust der Parteien vorstellbar war – wurden sämtliche Kampfhandlungen eingestellt, sodass der Krieg, der ansonsten sicherlich länger gedauert und bedeutend mehr Opfer gefordert hätte, noch vor Ablauf der ersten Hälfte des Jahres 1916 offiziell für beendet erklärt werden konnte. Den Kriegsparteien auf beiden Seiten der Front war noch rechtzeitig bewusst geworden, dass der gefährlichste Feind nicht länger jenseits der Landesgrenzen, sondern mitten unter ihnen im Herzen ihres eigenen Staatsgebietes lauerte.

In einer Neuauflage der historischen Allianz aus kirchlicher und staatlicher Gewalt war man nicht nur bemüht, die frühere Bedeutung und Schlagkraft des Sanctum Officium wiederherzustellen, sondern angesichts der Bedrohungslage sogar noch beträchtlich auszuweiten. Diese nationalen Inquisitionsabteilungen erhielten Status und Befugnisse oberster staatlicher Behörden – vergleichbar mit einer Bundespolizei oder einem Geheimdienst – und wurden nach dem Vorbild der Heiligen Römischen Inquisition aufgebaut. Ihre Aufgabe beschränkte sich auf die Bekämpfung der Folgen der Luziferisierung. In großer Eile wurde sodann eine große Zahl an mehr oder minder geeignetem Personal rekrutiert und von päpstlichen Inquisitoren ausgebildet. Zur Leitung der jeweiligen Inquisitionsabteilungen wurden aus Rom frisch ernannte Kardinäle entsandt, die unmittelbar dem Papst unterstanden – ein weiterer Beweis, wie ernst der Vatikan die Bedrohung nahm.

Während dieser Phase des Aufbaus in den ersten Jahren waren die Inquisitionsabteilungen von der Situation zunächst noch in jeder Hinsicht überfordert. Die frischgebackenen Inquisitoren konnten in der Kürze der Zeit nur unzureichend ausgebildet werden und waren kaum in der Lage, der ständig wachsenden Zahl von Gegnern Herr zu werden. Doch im Lauf der Zeit erhöhte sich nicht nur die Zahl besser ausgebildeter Kräfte, sondern es kamen mit wachsender Erfahrung die ersten großen Erfolge. Und so entwickelten sich allmählich immer schlagkräftigere Organisationen, die in den folgenden Jahrzehnten die weitere Ausbreitung der Luziferisierung zunächst verlangsamen, anschließend stoppen und letzten Endes zurückdrängen konnten. Als erste Konsequenz dieser Entwicklung traten die Luziferianer nicht länger ungeniert in aller Öffentlichkeit in Erscheinung, sondern verschwanden im Untergrund, um von nun an von dort ihre unheilvollen Aktivitäten zu entfalten. Doch selbst wenn es mittlerweile gelungen war, ihr Wachstum einzudämmen, war die Zahl der Luziferianer noch immer groß. Der Kampf ging unvermindert weiter, wurde nun aber vorwiegend im Verborgenen geführt. Die Kräfte auf beiden Seiten hielten sich zahlenmäßig in etwa die Waage. Mal trug die eine Seite den Sieg davon, mal konnte die andere Seite einen Erfolg verbuchen.

Die Sektion der deutschen Inquisitionsabteilung, die für das Gebiet des Freistaates Bayern zuständig war, hatte sich in letzter Zeit in mehreren aufsehenerregenden Fällen ebenfalls als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Die Zentrale der bayerischen Inquisition lag in der Prinzregentenstraße 1 am Rand des Englischen Gartens in der Nähe der Staatskanzlei, wo Ministerpräsident Ottfried Fischer regierte. Über dem Haupteingang zum Glaspalast, wie das klotzige, palastartige Gebäude genannt wurde, war das Wappen der Inquisition angebracht: In einem aufrechten Oval befand sich ein schlichtes Holzkreuz, das links von einem Olivenzweig und rechts von einem Schwert flankiert wurde. Zweig und Schwert hielten sich die Waage und symbolisierten das Gleichgewicht zwischen Gnade und Strafe.

Über einhundert Beschäftigte waren in diesem Gebäude Tag für Tag mit der Eindämmung der Luziferisierungsfolgen auf dem Gebiet des Freistaats beschäftigt, wobei die Mitarbeiter in den Außenstellen der sieben Regierungsbezirke nicht eingerechnet waren. Zusätzlich unterstanden dem Direktor, Generalinquisitor Maximilian Brunner, gut zwei Dutzend ausgebildete Inquisitoren, die Speerspitze im Kampf gegen die Luziferianer.

Einer dieser Männer war Michael Institoris.

Der 32-Jährige stand am Fenster seines Büros im dritten Stock des Glaspalastes und starrte mit ausdruckslosem Blick nach draußen. An schönen Tagen konnte er von hier die Aussicht auf den Englischen Garten genießen. Wenn die Bäume im Herbst ihr Laub verloren, war er sogar in der Lage, den Monopteros, einen Rundtempel mit ionischen Säulen und Kuppeldach auf einem künstlichen Hügel, und den entfernteren Chinesischen Turm, eine fünfstöckige Pagode im Mittelpunkt des Parks, zu sehen. Doch nicht nur das dichte Blätterwerk der Bäume, sondern auch die Finsternis und der heftige Regen erschwerten eine ungehinderte Sicht. Vor dem dunklen Hintergrund der Nacht hätte der Inquisitor in der regennassen Scheibe allenfalls das gespiegelte Innere seines Büros und seine eigene leicht verwaschene Gestalt sehen können, wäre sein Blick nicht ohnehin nach innen gerichtet gewesen.

Michael Institoris war ein Meter fünfundachtzig groß und schlank. Sein braunes Haar war so dunkel, dass es fast schwarz aussah, und stets kurz geschnitten. Den dichten Vollbart trimmte er täglich und passte ihn der Länge seines Haupthaars an. Er war komplett in Schwarz gekleidet, trug enge Jeans, Rollkragenpullover und halbhohe, stiefelartige Lederschuhe – ein Outfit, das er bevorzugte und insgeheim als seine Arbeitsmontur ansah.

Er war vor sieben Jahren zum Inquisitor ernannt worden, nachdem er die langwierige und umfangreiche Ausbildung erfolgreich absolviert und mit ausgezeichneten Prüfungsergebnissen abgeschlossen hatte. Seine Vorgesetzten schätzten nicht nur seine Zuverlässigkeit, Sorgfalt und Eigeninitiative, sondern darüber hinaus seine effiziente und selbstständige Arbeitsweise. Und auch wenn er kein Teamplayer, sondern Einzelgänger war, wurden seine gelegentlichen Alleingänge stillschweigend geduldet, da er am Ende meist erfolgreich war. Denn Michaels Erfolgsstatistik als Inquisitor, vor allem in den letzten drei Jahren, war herausragend und den Verantwortlichen in Rom nicht verborgen geblieben. Aus diesem Grund hatte der Generalinquisitor Michael am späten Nachmittag in sein Büro gebeten und ihm stolz verkündet, dass seine Beförderung zum Oberinquisitor unmittelbar bevorstehe.

Da Seine Heiligkeit die Inquisition zur Chefsache erklärt hatte und ihr als Präfekt vorstand, wurden die Beförderungen der Inquisitoren im Vatikan vom Papst persönlich vorgenommen. Ein Zeichen der Wertschätzung und Anerkennung für die harte und lebensgefährliche Arbeit dieser Männer in ihrem Kampf gegen das Böse. Michael würde deshalb am kommenden Sonntag, also schon in drei Tagen, mit einer Maschine der Alitalia nach Rom fliegen.

Selbst jetzt, Stunden nach dem Gespräch mit dem Generalinquisitor – die Uhr an der Wand zeigte halb elf Uhr nachts –, konnte Michael nicht sagen, ob die Freude über die verdiente Beförderung oder eher die Angst vor den einschneidenden Veränderungen, die sie unweigerlich mit sich bringen würde, in ihm überwog. Seine neuen Aufgaben als Oberinquisitor würden den direkten Kampfeinsatz an der Front drastisch, wenn nicht komplett einschränken und vorwiegend langweilige, administrative Pflichten am Schreibtisch mit sich bringen. Er musste dann nicht nur seine bevorzugten Alleingänge aufgeben, sondern darüber hinaus seine bisher eher unterentwickelte Teamfähigkeit und seine Führungsstärke unter Beweis stellen, denn in der neuen Position waren ihm einfache Inquisitoren unterstellt.

Michael seufzte laut, als er an seine Zukunft dachte, die er sich in diesem Moment düster und öde ausmalte. Doch bevor er länger darüber nachgrübeln konnte, klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch hinter ihm. Zunächst wollte er das Läuten ignorieren. Es war spät, und unter normalen Umständen wäre er längst in seiner kleinen Wohnung in Schwabing. Doch dann siegte sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein. Denn wer seine Durchwahl kannte und zu so später Stunde hier anrief, musste einen absolut guten Grund dafür haben.

Der Inquisitor nahm den Hörer ab.

»Institoris.«

Zunächst hörte Michael am anderen Ende der Leitung nur Rauschen und etwas, das mit einer gehörigen Portion Fantasie wie mühsames Atmen klang. Er glaubte, Halbwüchsige wollten sich einen Scherz erlauben und hätten aufs Geratewohl die Nummer der Inquisition gewählt, wahllos drei Ziffern angehängt und auf diese Weise zufällig seine Durchwahl erwischt. Er wollte daher schon auflegen, als der Anrufer sich doch noch meldete.

»… Inquisitor? … Ich bin’s, … Kai …«

»Kai?«

Michael wusste sofort, mit wem er sprach. Kai Weber war ein junger Mann aus einem niederbayerischen Dorf, der vor fünf Jahren mit wenig Gepäck und ohne nennenswertes Talent, aber umso größeren Träumen nach München gekommen war, um beim Film sein Glück zu suchen. Nachdem er schon bald wegen wiederholten »verbotenen Umgangs mit staatsfeindlichen Luziferianern« zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden und aufgrund dessen von der Hochschule für Fernsehen und Film in der Frankenthaler Straße geflogen war, war er in den Untergrund gegangen und hatte sich dort einem der zahllosen Zirkel der Luziferianer angeschlossen.

Ohne über eigene übernatürliche Fähigkeiten zu verfügen oder selbst Gestaltwandler, Blutsauger oder Ähnliches zu sein, war er einer der unzähligen Mitläufer, die sich aus der Nähe zu den echten Luziferianern persönliche Vorteile erhofften. In der Regel verrichteten sie Handlangerdienste und wurden dafür – wenn überhaupt – mehr schlecht als recht entlohnt. Und da Kai in der Welt der Schickeria, in der er sich zuvor bewegt hatte, mit der Versuchung des Kokains in Kontakt gekommen und rasch süchtig nach dem Kick durch das weiße Pulver geworden war, reichte der karge Lohn seiner neuen Meister nicht aus, seine sündteuren Bedürfnisse zu finanzieren. Er war daher gezwungen, mehreren Herren zu dienen, und hatte sich auf der Suche nach einem lukrativen, aber unproblematischen Zusatzverdienst in den letzten Jahren als Michaels bester Informant erwiesen. Zahlreiche sensationelle Erfolge des Inquisitors und damit auch seine unmittelbar bevorstehende Beförderung wären ohne die hervorragenden Tipps des Koks-Junkies nicht denkbar gewesen.

»Kai?«, wiederholte der Inquisitor, nachdem eine ganze Weile wieder nur Rauschen und gepresste Atemzüge zu hören gewesen waren. »Was ist los? Warum rufst du noch so spät an?« Michael ließ sich unbewusst auf den Schreibtischsessel sinken, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Anrufer.

»Ich … ich hab einen … echt heißen Tipp für Sie, Inquisitor! Die … die Sache ist aber brandeilig. Sind Sie … sind Sie interessiert?«

»Logisch, schieß los! Worum geht’s?«

Kai schnaufte so heftig, als hätte er vor dem Anruf einen längeren Spurt hingelegt. Anschließend war ein Geräusch zu hören, das sich wie ein unterdrücktes Stöhnen oder Schluchzen anhörte, bevor Kai antwortete: »Ein … ein Hexenzirkel führt eine … Dämonenbeschwörung durch. Die Geschichte … steigt heute … kurz nach Mitternacht.« Kai nannte Straße und Hausnummer, sodass der Inquisitor eine vage Ahnung bekam, wohin es gehen würde. »Ich muss … jetzt Schluss …«

Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen, sodass Michael sich unwillkürlich Sorgen um seinen Informanten machte. Darüber hinaus sah es dem jungen Abhängigen absolut nicht ähnlich, sich nicht mindestens dreimal nach der Höhe und den detaillierten Modalitäten der Bezahlung zu erkundigen. Hatte er diesmal zu viel riskiert, um den Inquisitor rechtzeitig zu informieren, und war erwischt worden? Michael hatte keine Möglichkeit, Kai zurückzurufen und nachzufragen, ob alles in Ordnung war. Ersten hatte er keine Nummer, weil Kai seine Prepaid-Handys öfter wechselte als seine Unterwäsche, und zweitens hätte er ihn dadurch eventuell erst recht in Schwierigkeiten gebracht.

Aus diesem Grund legte Michael den Hörer auf die Gabel und strich mit der Hand unbewusst über seinen Vollbart, während er überlegte. Sollte er auf Nummer sicher gehen und Verstärkung mitnehmen? In der Zentrale gab es eine ständige Rufbereitschaft von drei bis vier Inquisitoren, die für nächtliche Notrufe bereitstanden und innerhalb weniger Minuten einsatzbereit waren. Andererseits handelte es sich nach Kais Worten nur um einen Hexenzirkel, und mit einem Dutzend mehr oder minder zauberkundiger Frauen würde Michael auch allein fertig werden. Sein Entschluss war daher schnell gefasst. Er würde sich zunächst allein um die Sache kümmern. Sollte es hart auf hart kommen, konnte er mit seinem Handy immer noch Verstärkung anfordern. Und unter Umständen war es aufgrund der bevorstehenden Beförderung ohnehin die letzte Gelegenheit, dass er einen solchen Alleingang durchführen konnte.

Michael stand auf und zog seine schwarze Lederjacke an. Anschließend griff er nach dem Pilotenkoffer, der neben dem Schreibtisch stand und wichtige Hilfsmittel für den Kampf gegen die Luziferianer enthielt. Er löschte das Licht und verließ das Büro, um seinen Dienst-BMW aus der Tiefgarage zu holen. Das Jagdfieber hatte ihn bereits im Griff. Gleichzeitig überkam ihn aber auch Wehmut bei dem Gedanken, dass er dieses erregende Gefühl nach seiner Beförderung wohl am meisten vermissen würde.

Der letzte Glockenschlag vom Turm einer nahen Kirche war noch nicht verhallt, da löste der Inquisitor sich aus dem Schatten des Hauseingangs und eilte über die verlassene Straße. Erst vor wenigen Minuten, kurz bevor die Turmuhr begonnen hatte, Mitternacht zu schlagen, war ein letzter einsamer Passant aufgetaucht und vor dem noch immer heftig herniederprasselnden Regen rasch im Hexenhaus, wie Michael es nannte, verschwunden. Dessen schwach erleuchteter, unscheinbarer Eingang war nun auch das Ziel von Michaels eiligen Schritten.

Es war nicht zu erwarten, dass weitere Mitglieder des Hexenzirkels auftauchten. Die Runde musste komplett sein, denn die Beschwörung sollte in Kürze über die Bühne gehen. Nach Michaels Ansicht war daher jetzt der beste Zeitpunkt, in das Haus einzudringen, denn die Hexen waren sicherlich vollauf mit den letzten Vorbereitungen für das Ritual beschäftigt. Wer einen Dämon beschwor, musste präzise und umsichtig zu Werke gehen, weil der kleinste Fehler für die Anrufenden tödliche Konsequenzen haben konnte. Darüber hinaus hatte der Inquisitor das Überraschungsmoment auf seiner Seite, weil die Hexen nicht mit seinem Besuch rechneten.

Als er die Haustür erreichte, hatte ihn der Regen ziemlich durchnässt. Das kurze Haar klebte ihm am Kopf. Die imprägnierte Lederjacke hielt zwar dicht, doch das Regenwasser lief ihm in den Nacken und eisig kalt seinen Rücken hinunter. Michael rüttelte an der Klinke, aber die Tür war verschlossen. Kurzerhand hob er den rechten Fuß und ließ ihn gegen das Türschloss schnellen, das keinen übermäßig stabilen Eindruck erweckte. Als die Tür nach dem ersten Tritt krachend aufflog, hob Michael das unterarmlange hölzerne Kreuz, das er in der linken Hand trug und vom Heiligen Vater in Rom geweiht worden war. Noch bevor die Tür, die scheppernd gegen die Wand geprallt war, zurückschwingen konnte, trat er aus dem Regen ins Haus der Hexen und sah sich rasch um.

Niemand war zu sehen. Aus den oberen Stockwerken waren Lärm und laute Stimmen zu hören, die auf ein geschäftiges Treiben hinwiesen. Rechter Hand führten Stufen ins Kellergeschoss, aber dort unten war es stockfinster. Die Beleuchtung im Treppenhaus brannte zwar nicht, doch aus den beiden offen stehenden Türen der Parterrewohnungen drang schwacher Lichtschein, der ausreichte, um Michael seine Umgebung erkennen zu lassen.

Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und schlich zu den erleuchteten Eingängen der Wohnungen. Vorsichtig spähte er zuerst nach links und anschließend nach rechts in die Flure, die von schwachen Glühbirnen erhellt wurden, aber verwaist waren. Wenn dies das Hauptquartier eines Hexenzirkels war, bezweifelte Michael ohnehin, dass die Räume zu Wohnzwecken genutzt wurden. Und nach dem Ursprung des Lärms zu urteilen, sollte die Beschwörung eher in einer der oberen Etagen durchgeführt werden.

Auf leisen Sohlen nahm der Inquisitor die nächsten Stufen bis zur Kehre, vergewisserte sich dort, dass die Luft rein war, und eilte weiter in den ersten Stock. Auch hier standen beide Wohnungstüren sperrangelweit offen.

Michael warf erneut zuerst einen Blick in die linke Wohnung. Sein Herzschlag setzte kurzzeitig aus, als sich ein Schatten aus dem hellen Lichtviereck löste und auf ihn zusprang. Die Gestalt, von der Michael im Gegenlicht zunächst nur Konturen erkennen konnte, schrie ihm eine Flut unverständlicher Worte entgegen, während sie gleichzeitig mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuschoss.

Michael wusste, dass es sich bei den gebrüllten Worten nicht um eine Beschimpfung in einer fremden Sprache, sondern um einen Zauberspruch handelte. Es war kein tödlicher Fluch, der ihn in Flammen aufgehen oder zu einem Eisklumpen erstarren lassen würde, wie er aufgrund seiner Erfahrung erkannte, aber zumindest ein starker Bannzauber, der jeden Muskel in seinem Körper mit Ausnahme der lebensnotwendigen Organe kurzzeitig lähmen würde. Zugleich wurde dem Inquisitor bewusst, dass er nicht wie erwartet von einer Hexe angegriffen wurde, sondern von einem deutlich stärkeren Zauberer. Doch ihm fehlte die Zeit, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen.

Reflexartig streckte er dem heransausenden Schatten das geweihte Holzkreuz entgegen und spürte sogleich einen mentalen Schlag, der ihn von Kopf bis Fuß erschütterte. Der Bannfluch war gegen das wirkungsvollste Symbol des christlichen Glaubens geprallt, von diesem aber weitestgehend neutralisiert worden. Reste des dunklen Zaubers krochen wie elektrische Entladungen über die Haut seines erhobenen Armes und versengten die feinen Härchen. Michael flüsterte fünf Worte – ein kurzes Gebet in lateinischer Sprache –, mit dem er die Überreste vernichtete, bevor sie doch noch in seinen Körper eindringen und Schaden anrichten konnten.

Mithilfe des Kreuzes hatte er den Zauber des Angreifers, nicht aber diesen selbst stoppen können. Als die Gestalt ihn fast erreicht hatte, erkannte er, dass es sich um einen älteren Mann mit ergrauten Haaren handelte, der ein langes formloses Gewand trug. In der rechten, zum Schlag erhobenen Faust hielt er einen ordinären Totschläger. Mit diesem wollte er den Inquisitor niederstrecken, nachdem sein Zauber versagt hatte.

Während seiner umfangreichen Ausbildung war Michael nicht nur in der Abwehr von Zaubersprüchen und anderen magischen Attacken geschult, sondern darüber hinaus im Umgang mit unterschiedlichsten Waffen unterwiesen worden, um sich ebenso effektiv gegen rein körperliche Angriffe zur Wehr setzen zu können. Er griff mit der Rechten unter seine Jacke und zog die Glock 17, Kaliber 9 mm Luger, aus dem Schulterholster. In einer unzählige Male geübten und aufgrund dessen blitzschnellen, fließenden Bewegung richtete er sie auf den Angreifer und drückte ab. Durch das automatische Sicherungssystem, das ohne außen liegende Sicherungshebel auskam, war die Waffe sofort einsatzbereit.

Die Detonation hallte durch das Treppenhaus. Spätestens jetzt mussten die anderen Luziferianer wissen, dass diese Nacht nicht so ablief wie geplant und dass sie einen ungebetenen Besucher hatten. Aber wahrscheinlich waren sie bereits durch das laute Gebrüll des Zauberers alarmiert worden.

Der Angreifer sackte derart abrupt zusammen, als hätten sich seine Knochen in Gelatine verwandelt, und sank lautlos zu Boden. Das Projektil hatte ihn tödlich ins Herz getroffen.

Der Inquisitor wirbelte herum, um nach weiteren Gegnern Ausschau zu halten. Keine Sekunde zu spät! Hinter seinem Rücken hatten sich zwei Gestaltwandler herangeschlichen. Obwohl sie am ganzen Körper dicht behaart waren, gingen sie aufrecht auf ihren Hinterläufen. Anhand der Musterung ihres Fells und der charakteristischen Kopfformen erkannte Michael, dass er einen Wolf und eine Hyäne vor sich hatte. Wider Erwarten griffen ihn die Monster nicht mit ihren todbringenden Zähnen und Klauen an, sondern trugen ein engmaschiges Netz zwischen sich, mit dem sie ihn einfangen wollten.

Sie waren schon erschreckend nah, und ihr Plan wäre wahrscheinlich aufgegangen, wenn Michael nicht so reaktionsschnell gewesen wäre. Er ließ sich im selben Moment nach hinten fallen, als die Gestaltwandler das Netz warfen, und rollte sich über die linke Schulter ab. Das Netz fiel nutzlos an der Stelle zu Boden, wo er soeben noch gestanden hatte. Die beiden Ungeheuer knurrten, verärgert über ihren Misserfolg.

Michael stand sofort wieder auf den Füßen und legte auf den Wolf an. Eine exakt platzierte silberne Kugel, die am Hochalter des Petersdoms geweiht worden war, ins Herz der Bestie beendete ihr irdisches Dasein. Die Hyäne warf sich jaulend herum und wollte Fersengeld geben, doch Michael erschoss sie von hinten. In derartigen Fällen kannte er keine Sentimentalitäten, schließlich ließen diese Bestien ebenfalls keine Gnade walten.

Michaels Verwunderung darüber, dass er es hier nicht wie erwartet mit einem Zirkel eher harmloser Hexen, sondern mit weit gefährlicheren Zauberern und Gestaltwandlern zu tun hatte, stieg. Entweder war sein Informant ausnahmsweise falsch unterrichtet gewesen oder …! Michael wollte über die schreckliche Alternative lieber nicht nachdenken. Stattdessen machte er sich Gedanken, ob es nicht besser wäre, vorübergehend den Rückzug anzutreten und mit Verstärkung zurückzukommen.

Da wurde im Erdgeschoss das Getrampel zahlreicher Schritte laut. Die Räume dort unten schienen doch nicht so verlassen zu sein, wie er angenommen hatte. Ganz im Gegenteil! Nach dem enormen Lärm zu urteilen, mussten sie ziemlich bevölkert sein. Und gegenwärtig war scheinbar jeder, der sich dort verborgen gehalten hatte, auf den Beinen, um den Eindringling in ihrer Mitte zu erwischen.

Michael wollte eine Begegnung mit dieser Meute nach Möglichkeit vermeiden. Da er bereits auf stärkere Gegner als erwartet gestoßen war, war nicht vorherzusehen, wer oder was ihm hier unter Umständen noch alles über den Weg lief. Darüber hinaus war er nicht gut genug bewaffnet, um es mit einer größeren Zahl derartiger Feinde aufnehmen zu können. Michael erkannte, dass die Ausgangslage sich um hundertachtzig Grad gedreht hatte und hier etwas fürchterlich schief ging. Allerdings hatte er keine Zeit, sich eingehendere Gedanken über diese Problematik zu machen, da die ersten polternden Schritte unter ihm die Stufen erreicht hatten.

Er nahm kurzerhand die nächste Treppe, die ihn weiter nach oben führte, da er dort eine realistischere Chance zur Flucht sah. Längst bemühte er sich nicht mehr, leise zu sein. Seine Gegenwart musste mittlerweile jedem im Haus bekannt sein. Während er nach oben rannte, schob er die Automatik ins Holster und holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Sobald er es aktiviert hatte, stellte er fest, dass es keinen Empfang hatte. Er konnte noch nicht einmal seine Kollegen zu Hilfe rufen. Er fluchte leise und steckte das Handy weg, um wieder die Pistole zu ziehen, die in seiner Lage schlagkräftigere Hilfe versprach.

Unmittelbar vor dem zweiten Stockwerk wurde er langsamer und spähte vorsichtig um die Türkante in die linke unbeleuchtete Wohnung. Am Ende des Flurs lauerten mehrere dunkle Schemen, die Michael nicht deutlich erkennen konnte. Er hob die Waffe und jagte fünf ungezielte Schüsse in die Finsternis. Mehrstimmiges Gebrüll und das Scharren von Füßen wurden laut, als die Gegner hastig in Deckung gingen. Schmerzensschreie waren nicht darunter, sodass Michael nicht davon ausging, dass er jemanden getroffen hatte.

Er wandte sich zur anderen Seite. Dort stand die Tür ebenfalls offen. Der dahinter liegende Flur war ebenfalls unbeleuchtet, doch aus einem Raum am anderen Ende fiel flackernder Lichtschein.

Der Inquisitor verharrte kurz, um die Lage zu analysieren. Von unten war das Lärmen der herannahenden Meute zu hören. Aus der linken Wohnung konnte er das kehlige Knurren und wütende Geschrei weiterer Gegner vernehmen, die auf die Gelegenheit warteten, ihm in den Rücken zu fallen. Und als wäre all das noch nicht genug, erschallten da auch in der obersten Etage Schritte und laute Rufe einer größeren Menge.

Drei von vier möglichen Richtungen waren ihm somit verwehrt, womit einzig der Zugang zu den Räumen rechts von ihm übrig blieb, die als letzter Zufluchtsort einen verlassenen Eindruck erweckten.

Michaels Nackenhärchen sträubten sich, als seine Instinkte ihn vor einer Gefahr warnten, die er mit seinen bewussten Sinnen mitnichten erfassen konnte. Er ahnte, dass die Wohnung nicht wirklich leer war, dass dort irgendetwas verborgen war und auf der Lauer lag. Doch was blieb ihm anderes übrig? Wenn er noch länger zögerte, brauchte er sich keine Gedanken mehr zu machen, welchen Weg er nehmen sollte, da die wütende Meute aus drei Richtungen gleichzeitig über ihn herfallen und ihn mit bloßen Händen und Klauen zerreißen würde.

Als die ersten Verfolger aus dem unteren Stockwerk die Kehre erreichten, rannte er los und tauchte trotz aller Bedenken in den düsteren Flur. Er ließ die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen und tastete nach einem Schlüssel oder Riegel, mit dem er die Tür verschließen konnte. Allerdings fand er nichts von beidem.

Das Getrampel und Gekreische im Treppenhaus wurde mit jeder verstreichenden Sekunde lauter und eindringlicher, während seine Gegner aus den anderen Etagen näher kamen und sich wohl auch diejenigen aus ihren Verstecken trauten, die er zuvor mit seinen ungezielten Schüssen in Deckung gezwungen hatte.

Er stürmte den kurzen Flur entlang und rüttelte mit der Hand, in der er die Waffe hielt, an jeder Tür, die er passierte. Alle waren verriegelt. Er hielt sich nicht erst damit auf, eine von ihnen gewaltsam zu öffnen, da erste Schläge von außen gegen die Wohnungstür krachten und das Holz erzittern ließen. Lang würde die dünne Pressspanbarriere der Gewalt der dagegen anstürmenden Masse nicht standhalten. Vor allem, wo die Tür gar nicht verriegelt war. Aber das schien die blindwütige Meute auf der anderen Seite zum Glück noch nicht realisiert zu haben.

Er rannte zur letzten Tür auf der linken Seite, die als einzige offen stand und aus der flackernder Lichtschein in den Flur fiel.

Bevor er in den Raum lief, warf er einen letzten Blick zum Eingang. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte er erkennen, dass sich das Holz in der Mitte stark nach innen bog, als würde sich von der anderen Seite etwas Gewaltiges mit enormer Kraft dagegenstemmen. Das Holz ächzte laut und splitterte an den Rändern. Durch die sich rasch verbreiternden Spalten zwischen Rahmen und Türblatt drangen gleißend helle Lichtspeere, in denen Staubpartikel tanzten.

Michael wollte lieber nicht mit ansehen, was die Tür aufsprengen und sich durch die Öffnung zwängen würde. Er eilte in den einzig zugänglichen erhellten Raum und schlug dessen Tür ebenfalls hinter sich zu. Er steckte die Pistole weg und langte nach dem Schloss. Mit einem Gefühl der Erleichterung ertastete er mit zitternden Fingern einen Schlüssel und drehte ihn zweimal im Schloss. Anschließend zog er sofort wieder die Waffe.

Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, als die Wohnungstür dem Druck nicht länger standhielt und aufgesprengt wurde.

Atemlos lauschte Michael auf weitere Geräusche aus dem Flur, doch nach dem Bersten der Eingangstür war gespenstische Stille eingekehrt. Michael fragte sich, was diese Ruhe zu bedeuten hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Verfolger abgezogen und nach Hause gegangen waren. Eher schienen sie ihr Verhalten radikal geändert zu haben und schlichen sich lautlos an, um ihn mit dem Aufsprengen dieser Tür zu überrumpeln, die das letzte Hindernis darstellte, das sie noch von ihrem Opfer trennte.

Der Inquisitor wich Schritt um Schritt zurück, die Pistolenmündung auf das dunkelbraune, von zahlreichen Kratzern übersäte Holz des Türblattes gerichtet. Ihm war klar, dass diese Barriere trotz des Schlosses ebenfalls nicht lange standhalten würde, sollten die Luziferianer beginnen, sich mit aller Gewalt dagegen zu werfen.

In Gedanken zog Michael Bilanz und zählte die Schüsse, die er bislang abgegeben hatte. Er kam auf acht. Da das Magazin der Glock siebzehn Patronen fasste und sich zusätzlich eine im Lauf befunden hatte, standen ihm somit noch zehn Kugeln zur Verfügung.

Er überlegte, ob er die Automatik schon jetzt mit dem einzigen Ersatzmagazin nachladen sollte, das er bei sich hatte, um im Notfall möglichst viele Patronen schussbereit zur Verfügung zu haben, als ihm zum ersten Mal der stechende Geruch im Raum richtig bewusst wurde. Er hatte ihn zwar schon wahrgenommen, als er über die Türschwelle gestürmt war, ihm aufgrund des weit dringlicheren Problems, das seine Verfolger darstellten, aber vorerst keine besondere Beachtung geschenkt. Doch nun konnte er die penetrante und übelkeitserregende Mischung aus frisch vergossenem Blut, flüssigem Kerzenwachs, faulen Eiern und Verwesung nicht länger ignorieren. Darüber hinaus stieß er mit dem linken Fuß beim Zurückweichen gegen ein Hindernis, das leicht nachgab, ihn aber trotzdem beinahe ins Straucheln gebracht hätte.

Obwohl er die Tür ungern aus den Augen ließ, wandte Michael sich um, um nachzusehen, was in seinem Weg lag und ihn fast zu Fall gebracht hätte. Wegen des widerlichen Gestanks verzog er das Gesicht und unterdrückte mit Mühe den Würgereflex in seiner Kehle.

Als der Inquisitor allerdings sah, worauf er im wahrsten Sinne des Wortes gestoßen war, verlor er den Kampf gegen den Brechreiz. Er wandte sich ruckartig ab, beugte sich vor und gab seinen gesamten Mageninhalt in einem einzigen warmen und bitteren Schwall von sich, der sich auf den Parkettboden ergoss. Und obwohl er die tränenden Augen geschlossen hielt, stand ihm das furchtbare Bild noch deutlich vor Augen.

Beim Zurückweichen war er unbemerkt in einen Kreis getreten, der aus sieben schwarzen Kerzen gebildet wurde, die für die ständig lebhaft flackernde Helligkeit im Raum verantwortlich waren. Innerhalb der Lichter war ein weiterer Kreis mit glänzend schwarzer Farbe auf das Parkett gemalt worden, der einen ebenfalls aufgemalten und von der Tür aus gesehen auf dem Kopf stehenden, fünfzackigen Stern umschloss. Das Hindernis, gegen das Michael mit der Hacke seines linken Schuhs versehentlich gestoßen war, entpuppte sich als Kopf eines Menschen. Wie Leonardo da Vincis berühmte Studie der Idealproportionen des menschlichen Körpers lag die reglose Gestalt mit gespreizten Gliedmaßen innerhalb des Pentagramms – Kopf, Arme und Beine befanden sich jeweils in einer anderen Spitze des Sterns. Der Mann war unbekleidet und definitiv tot, denn er lag in einem wahren See seines eigenen Blutes, das aus einer klaffenden Wunde in seiner linken Brust geflossen war, in der noch der rituelle Opferdolch steckte, der ihn getötet hatte.

Doch die Schrecken nahmen damit kein Ende. Das Furchtbarste an diesem schrecklichen Fund war die Tatsache, dass Michael das Opfer kannte. Der Tote war niemand anderes als Kai Weber, sein kokainsüchtiger Informant, dessen Anruf ihn in dieser unheilvollen Nacht erst hierher, zu diesem Ort des Grauens geführt hatte.

Nachdem Michael sich übergeben hatte, war der Gestank, dem dadurch eine weitere unangenehme Note hinzugefügt worden war, leichter zu ertragen. Vielleicht gewöhnte er sich auch allmählich daran. Er wischte mit dem linken Ärmel der Lederjacke Speichel und Reste von Erbrochenem aus den Mundwinkeln. Anschließend richtete er sich auf und überlegte fieberhaft, was diese erneute Wendung der Ereignisse zu bedeuten hatte.

War Kai unmittelbar nach seinem Anruf ertappt und durch diesen grausamen Opfertod für seinen Verrat bestraft worden? Oder war er schon vorher enttarnt und gezwungen worden, den Inquisitor anzurufen und hierherzulocken? Aber was bezweckten die Luziferianer damit? Wenn sie einen Inquisitor töten wollten, gab es weniger aufwendige Möglichkeiten. Aber weshalb hätten sie ihn sonst in eine derartig ausgeklügelte Falle locken sollen?

Michael richtete den Blick auf den nackten Leichnam zu seinen Füßen, als wollte er sich vergewissern, dass er sich nicht getäuscht hatte, während sich seine Hände unwillkürlich fester um das Holz des Kreuzes und den Griff der Pistole schlossen.

Da durchschnitt eine Stimme die andächtige Stille des Todes und riss den Inquisitor aus seinen Überlegungen. Es handelte sich um die heisere Stimme eines Mannes, der sich zusammen mit Michael in diesem verschlossenen Raum aufhalten und wenige Schritte hinter ihm stehen musste. Doch es war weniger die Tatsache, dass er nicht allein hier war, sondern eher der Sinngehalt der Worte des Mannes, der den Inquisitor elektrisierte.

»Endlich lernen wir uns persönlich kennen, Sohn …«

Der Schock, den ihm diese Anrede versetzte, rief unwillkürlich eine Flut lang zurückliegender Erinnerungen in ihm wach, die sich tosend in seinen Verstand ergoss, während er sich gleichzeitig langsam um die eigene Achse drehte, um zu sehen, wer ihn auf diese Weise angesprochen hatte.

Seine leiblichen Eltern kannte Michael Institoris nicht, da er, erst wenige Tage alt und in eine wärmende Wolldecke gehüllt, vor der Haustür des damaligen bayerischen Generalinquisitors abgelegt worden war. Nachdem es den zuständigen Behörden trotz intensivster Nachforschungen nicht gelungen war, die leiblichen Eltern ausfindig zu machen, nahmen Generalinquisitor Josef Danner und seine Frau Paula das Findelkind wie einen Sohn bei sich auf. Die gläubigen Eheleute sahen in dem Jungen ein Geschenk und ein Zeichen Gottes, denn es war ihnen verwehrt geblieben, ein eigenes Kind zu empfangen.

Dessen ungeachtet verzichteten sie auf eine Adoption des Knaben, sodass Michael bis zu seiner Volljährigkeit ein Mündel des Staates blieb. Die Danners wollten den leiblichen Eltern die Chance geben, zurückzukehren und ihren Sohn wieder bei sich aufzunehmen. Dies hätte den liebevollen Pflegeeltern das Herz gebrochen, geschah jedoch nie.

Seinen Namen erhielt der Knabe von Generalinquisitor Josef Danner, der in ihm von Anfang an einen zukünftigen Inquisitor und unter Umständen sogar einen Nachfolger als Direktor der bayerischen Inquisition sah. Pate für den Vornamen war zweifellos der Erzengel Michael, der den Drachen Luzifer aus dem Himmel gestürzt hatte. Der passende Name für einen angehenden Inquisitor, dessen Aufgabe der Kampf gegen die Luziferianer war. Und Institoris war die latinisierte Form des Nachnamens Kramer und stammte von Heinrich Kramer, einem Inquisitor des 15. Jahrhunderts und Wegbereiter der damaligen Hexenverfolgung. Unter dem Namen Heinrich Institoris hatte er gemeinsam mit dem Dominikaner Jakob Sprenger den Malleus Malleficarum, auf Deutsch Hexenhammer, verfasst, das erste gedruckte »Hexengesetzbuch«, das zum Standardwerk für Strafrichter und Inquisitoren wurde.

Somit war Michael Institoris schon dem Namen nach dazu auserkoren, in den Dienst des Heiligen Amtes zu treten. Und die Erziehung, die ihm der gestrenge, aber allzeit liebevolle Generalinquisitor Josef Danner und seine Frau angedeihen ließen, leistete ein Übriges, sodass Michael nach dem Abitur wie selbstverständlich die Ausbildung zum Inquisitor begann. Er tat diesen Schritt aber nicht, weil er sich dazu gezwungen oder seinen Pflegeeltern gegenüber verpflichtet fühlte, sondern sah in diesem Dienst – ebenso wie Josef Danner, der wenig später in den verdienten Ruhestand trat – selbst seine vorherbestimmte Aufgabe. Weswegen war er sonst vor der Tür der Danners abgelegt worden? Und sobald er nach Abschluss seiner Ausbildung die ersten Einsätze hinter sich gebracht hatte, fühlte er sich in dieser Einschätzung bestätigt. Seitdem hatte er kein einziges Mal den Wunsch verspürt, einer anderen Tätigkeit nachzugehen.

Obwohl die Danners streng genommen nur seine Pflegeeltern waren, hatte Michael sie dennoch mit Mutter und Vater angesprochen. Aus diesem Grund war es für ihn sowohl befremdlich als auch schockierend, dass ihn jemand anderes als der Pflegevater oder sein Beichtvater mit Sohn ansprach. Noch dazu an diesem gottverlassenen Ort.

Nachdem diese Momentaufnahmen der eigenen Biografie in Michaels Kopf aufgeblitzt und wieder verblasst waren und er zugleich eine halbe Körperdrehung vollendet hatte, sah er die Person vor sich, die ihn auf dergestalt überraschende Weise angesprochen hatte.

Zuerst war der Inquisitor ein wenig enttäuscht, als er den kleinen und eher unscheinbaren Mann vor sich sah, der viel zu jung war, um tatsächlich sein Vater sein zu können. Handelte es sich nur um einen geschmacklosen Scherz?

»Ich kann die Verwirrung in deinen Augen sehen, Sohn«, sagte der Mann mit einer Stimme, die nicht zu seiner schmächtigen Statur passen wollte. Sie war tief, etwas heiser, aber dennoch volltönend, als stammte sie ursprünglich aus einem bedeutend voluminöseren Körper.

»Wer sind Sie?«

»Kannst du dir das nicht denken?«

Der Inquisitor schüttelte wortlos den Kopf.

»Nein? Nun gut, ich bin dein Vater!«

Michael bemerkte eine Nische in der Seitenwand des Raumes, die einst eventuell für einen Einbauschrank gedacht gewesen, nun aber leer war. Der Vorhang, der sonst davor hing, war zurückgezogen worden und bewegte sich noch immer leicht. Dort musste der kleine Mann sich verborgen gehalten und abgewartet haben, bis Michael auf den Leichnam gestoßen war.

»Sie lügen!« Erst jetzt richtete der Inquisitor die Mündung der Waffe auf die schmale Brust des Mannes. »Sie sind nicht mein Vater, dazu sind Sie viel zu jung. Was wollen Sie also wirklich von mir? Und ich rate Ihnen, mir die Wahrheit zu sagen. Ich gehöre zur Inquisition, wir lassen uns nicht gern hinters Licht führen.«

Der Fremde zeigte sich von Michaels Worten nicht im Mindesten beeindruckt, sondern lachte laut und hämisch. Es war ein düsteres, unangenehmes Lachen, das bei Michael, der nicht so schnell zu erschüttern war, ein leichtes Erschaudern hervorrief. Gleichzeitig begannen die Augen des Mannes in einem unirdischen Feuer zu erglühen, als wollte er den Inquisitor, der ihn um mehr als einen ganzen Kopf überragte, mit Blicken durchbohren. Michael hatte das unangenehme Gefühl, sein Gegenüber würde bis in das tiefste Innere seiner Seele blicken, und fröstelte.

»Ich sagte es dir bereits: Ich bin dein leiblicher Vater! Sofern man in Bezug auf meine Gegenwart in dieser Welt von leiblich sprechen kann. Deine Mutter war eine Hexe, die ich während eines ausschweifenden Sabbats begatten durfte. Keine Ahnung, wo die alte Schlampe jetzt steckt.«

Die Erkenntnis, wen – oder besser gesagt: was! – Michael vor sich hatte, ließ das Blut in seinen Adern stocken. Er hatte bislang nur davon gehört, es aber nie selbst erlebt. Dennoch gab es keinen Zweifel: Vor ihm stand ein Besessener!

Der Mann, den er vor sich sah, war nicht mehr als eine Hülle und beileibe nicht sein Vater, zumindest nicht in einem körperlichen Sinne. Deswegen war er so jung und sah ihm rein äußerlich nicht im Geringsten ähnlich. Doch in den Körper des Mannes war – höchstwahrscheinlich als Folge der kürzlich an diesem Ort durchgeführten Beschwörung, bei der sein unglückseliger Informant sein ebenso unglückseliges Leben verloren hatte – ein Dämon gefahren und hatte die Kontrolle über das Individuum übernommen, bis er ihn aus eigenem Antrieb verließ oder mit speziellen, von der Kirche entwickelten Ritualen des Exorzismus gewaltsam ausgetrieben wurde.

Doch mehr noch als die Tatsache, einem wahrhaftigen Dämon aus der Hölle im Körper eines Menschen gegenüberzustehen, entsetzte Michael die rasch einsetzende Erkenntnis, dass das dämonische Wesen womöglich die Wahrheit sprach. Weswegen sollte er ihn ausgerechnet in einer derartigen Angelegenheit belügen und welchen Nutzen konnte ein Dämon daraus ziehen? Nein, Michael ahnte instinktiv, dass er in diesem Fall vermutlich nicht belogen wurde, obwohl die Lüge weit eher der Natur eines Dämons entsprach.

Doch welche Ironie, falls tatsächlich der Sohn eines Dämons und einer Hexe zum Inquisitor ernannt worden war, dessen Aufgabe die Bekämpfung eben dieser und aller anderen widernatürlicher Kreaturen war. Und wenn es so war, wie der Dämon sagte, warum war er dann als Baby vor die Tür des Generalinquisitors gelegt worden? War es nur ein merkwürdiger Zufall, oder hatte jemand es bewusst getan, um ihn auf diese Weise vor den eigenen Eltern zu beschützen? Oder war dies bereits Bestandteil eines Planes gewesen, dessen Vollendung erst jetzt bevorstand? Michael ahnte, dass er der Wahrheit mit seinen letzten Überlegungen möglicherweise sehr nahe kam, doch noch hatte er nur vage Vermutungen und keine Gewissheit.

»Was willst du von mir?«, fragte er deshalb und gab sich betont unbeeindruckt, nachdem er Zeit gehabt hatte, die irrwitzige Situation zu analysieren und damit ein Stück weit zu verarbeiten. »Diente all das …« – bei diesen Worten deutete er mit der Hand, in der er das Kreuz hielt, auf die verschlossene Tür, hinter der es noch immer verdächtig still war, und auf den Leichnam im Kreis der brennenden Kerzen – »… etwa nur dazu, mich endlich persönlich kennenzulernen? Oder steckt in Wahrheit nicht doch etwas ganz anderes hinter diesem Familientreffen?«

Der Fremde war beim Schwenken des Holzkreuzes zurückgezuckt und hatte das Gesicht verzogen, als hätte er leichten Schmerz empfunden. Zweifellos bereitete dem Dämon das christliche Symbol Unbehagen, was Michael mit Genugtuung und einem Gefühl der Sicherheit erfüllte. Allerdings machte er sich keine falschen Hoffnungen. Mit dem Kreuz konnte er dem Dämon allenfalls ein wenig wehtun, aber keinen ernsthaften Schaden anrichten.

Der Mann ließ erneut sein finsteres Gelächter hören, bevor er antwortete: »Was für ein schlauer Bursche du doch bist. Eben ganz der Papa!« Er lachte, verstummte jedoch rasch wieder, als er Michaels unbeeindruckte, ausdruckslose Miene sah. »Deine Humorlosigkeit musst du allerdings von deiner Mutter geerbt haben, dieser hässlichen und dreckigen Hexenhure.«

Michael hatte genug von den unflätigen Reden des Dämons. Auch wenn seine Mutter tatsächlich eine Hexe war und er sie nie kennengelernt hatte, besaß dieses Ungeheuer vor ihm noch lange nicht das Recht, sie derart derb zu beleidigen. Der Inquisitor handelte impulsiv, ohne die möglichen Konsequenzen seiner Aktion zu bedenken. Er sprang ansatzlos nach vorn und überwand die Distanz zwischen ihnen mit zwei großen Schritten. Dabei schwang er das Kreuz und ließ es wie eine Keule auf den Besessenen herabsausen.