INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Vier - Eberhard Weidner - E-Book

INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Vier E-Book

Eberhard Weidner

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Beschreibung

Als Michael Institoris von der bayerischen Inquisitionsabteilung in München von einem Informanten die Mitteilung erhält, dass ein Hexenzirkel noch in dieser Nacht eine Beschwörung durchführen will, beschließt er kurzerhand, sich ganz allein um die Sache zu kümmern. Schließlich stellen ein paar Hexen für einen ausgebildeten Inquisitor kein großes Problem dar. Außerdem soll er in wenigen Tagen in Rom vom Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Leo XIV., zum Oberinquisitor ernannt werden, spätestens dann dürften seine geliebten Alleingänge der Vergangenheit angehören. Doch sobald Institoris in das vermeintliche Hexenhaus eingedrungen ist, muss er feststellen, dass er in eine Falle gelockt wurde und es mit einer tödlichen Übermacht aller nur denkbaren Kreaturen der Finsternis zu tun hat, die sich ihm von allen Seiten nähern. Auf der Suche nach einem Ausweg findet der Inquisitor nicht nur die Leiche seines Informanten, sondern trifft auch auf einen Besessenen. Der Dämon im Körper des Besessenen behauptet, Institoris bei einem Hexensabbat mit einer Hexe gezeugt zu haben, und will ihn dazu zwingen, bei der bevorstehenden Papstaudienz im Vatikan den Pontifex zu ermorden, um die Welt dadurch in den Abgrund zu stürzen. Doch Institoris widersetzt sich dem Dämon und kommt einer groß angelegten Verschwörung der Mächte der Finsternis auf die Spur, die schon vor seiner Geburt seinen Anfang nahm und nicht nur in die Zentrale der bayerischen Inquisition, sondern bis nach Rom führt ...

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Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2014

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

15. Kapitel

Wolfgang ließ den Jaguar langsam an den Rand der Straße rollen und brachte das Fahrzeug dort zum Stehen. Er warf einen kurzen Blick auf die digitale Anzeige der Uhr am Armaturenbrett, bevor er den Zündschlüssel drehte und das leise Brummen des Motors verstummen ließ. Es war Viertel vor drei an diesem Montagmorgen, und der neue Tag hatte längst begonnen. Ein besonders wichtiger Tag noch dazu, zumindest für ihn selbst, für seinen Boss Butcher, für die beiden Personen, denen er hierher gefolgt war, und nicht zu vergessen für den Pontifex maximus, für den es der letzte sein sollte. Und wenn Butchers Operation zum Abschluss gebracht wurde, würde sich dieser Tag auch als wichtiges historisches Datum für alle Luziferianer und die gesamte Menschheit erweisen. Allerdings nur für Erstgenannte in einem positiven Sinn. Die Menschen – zumindest der bedauernswerte Teil, der die kommenden Ereignisse überlebte – würden diesen Tag eher als Ausgangspunkt der größten Katastrophe in der Menschheitsgeschichte im Gedächtnis behalten.

Wolfgang blieb reglos im Wagen sitzen. Sein Blick war wie gebannt auf das Taxi gerichtet, das ungefähr zweihundertfünfzig Meter vor ihm angehalten hatte. Die beiden Fahrgäste stiegen aus und warteten am Straßenrand, bis das Taxi wieder losfuhr.

Der Inquisitor Michael Institoris hielt einen Metallkoffer in der linken Hand, den er seit seiner Flucht aus Neros Villa bei sich hatte, und trug einen Rucksack auf dem Rücken. Die freie rechte Hand hielt er in Höhe seines Bauchnabels dicht vor seinen Körper, um rasch unter seine Jacke nach der Waffe greifen zu können, während er die Umgebung aufmerksam im Auge behielt.

Wolfgang überlegte, was der Stahlkoffer enthalten mochte. Er bekleidete weder in Butchers Rudel noch in der Hierarchie der Luziferianer einen Rang, der hoch genug war, als dass er in derartige Dinge eingeweiht wäre. Aber um was auch immer es sich handelte, es musste wichtig sein, sonst hätte der Mann sich nicht auf der Flucht vor den Angreifern damit belastet und es in der Villa oder später im Hotel zurückgelassen. Wolfgang war überzeugt, dass es sich bei dem Gegenstand im Koffer um eine Waffe handeln musste. Sowohl die Größe als auch die ungewöhnliche Form des Behältnisses legten diesen Schluss nahe.

Die Hexe hatte dagegen nichts bei sich, nicht einmal ihre Handtasche, die sie aus Neros Villa gerettet hatte. Sie musste sie im Hotelzimmer zurückgelassen haben – in Wolfgangs Augen ein handfestes Indiz, dass sie dorthin zurückkehren wollte, nachdem sie den Inquisitor dort abgeliefert hatte, wo sie ihn in Butchers Auftrag hinbringen sollte.

Über dieses Ziel war Wolfgang natürlich informiert, da er von Butcher den Auftrag erhalten hatte, der Hexe und dem Inquisitor unauffällig zur Porta Santa Rosa zu folgen und dafür zu sorgen, dass bis dahin alles reibungslos funktionierte und weder die Hexe noch der Inquisitor aus der Reihe tanzte. Anschließend sollte er die Frau zu Nero zurückbringen, notfalls mit Gewalt. Was der Nekromant mit ihr vorhatte, war Wolfgang nicht mitgeteilt worden, doch aufgrund der Profession und der Vorlieben des Mannes konnte er sich ein Bild davon machen. Persönlich hielt er nichts von derartigen Perversionen, aber die Geschmäcker waren verschieden und jeder sollte nach seiner Fasson glücklich werden. Und ein Auftrag war ein Auftrag, vor allem, wenn er von jemandem wie Butcher erteilt wurde. Hinterher wäre sein Job hier in Rom erledigt. Allerdings hatte sich durch den Angriff der Inquisition auf Neros Villa, dem die Hexe, Institoris und er selbst, aber allem Anschein nicht der Hausherr entkommen waren, die Situation grundlegend verändert. Daher war es gut zu wissen, wo er die Hexe finden konnte, falls er sie versehentlich aus den Augen verlor.

Da er sowohl das Ziel der beiden als auch den Zeitrahmen kannte, innerhalb dessen sie dort eintreffen sollten, wunderte er sich, was die Hexe und der Inquisitor vor ihrem wichtigen Termin an der Vatikanpforte in dieser abgelegenen Gegend am Ufer des Tiber wollten. Es handelte sich um ein Industriegebiet im Süden Roms. Tagsüber war hier vermutlich eine Menge Betrieb, doch um diese nachtschlafende Zeit war die Gegend so menschenleer wie ein Mondkrater an einem normalen Werktag.

Während das Pärchen dem davonbrausenden Taxi hinterherblickte, als warteten sie darauf, endlich allein zu sein und keine Zeugen für ihr Tun zu haben – ein Verhalten, das Wolfgang verdächtig vorkam –, nutzte er die Gelegenheit, noch einmal über die Abfolge der aufregenden Ereignisse in den zurückliegenden Stunden nachzudenken, die sie alle hierhergeführt hatten.

Wolfgang war noch wach, als er die Explosion hörte, mit der die Stille der Nacht lautstark zerrissen wurde und die ihren Ursprung beim Hauptgebäude haben musste.

Die Chauffeurwohnung über der Garage, die Neros reichhaltigen und exklusiven Fuhrpark beherbergte, war mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet, die man sich nur wünschen konnte, und hatte Wolfgangs Aufenthalt während der letzten Tage um einiges angenehmer gestaltet, als er sich das noch vor und während der Fahrt nach Italien vorgestellt hatte.

Es gab eine kleine, aber verschwenderisch eingerichtete Einbauküche, deren Kühlschrank und Vorratsschränke am Morgen nach seinem Einzug wie von Geisterhand mit allerlei Lebensmitteln und Getränken gefüllt worden waren. Dabei musste er gar nicht selbst kochen, sondern bekam mittags und abends warme Mahlzeiten aus der Küche des Hauptgebäudes hierhergebracht.

Neben einem riesigen Bett, das in seinen Ausmaßen einer kleinen Spielwiese glich, und einer hervorragend ausgestatteten Bar, die geeignet erschien, sämtliche Gäste eines großen Nachtklubs eine Woche lang zu versorgen, war ein riesiger Plasma-Fernseher vorhanden, auf dem neben unzähligen Satellitenprogrammen – unter anderem auch die meisten deutschsprachigen Sender, die er von zu Hause kannte – ein reichhaltiges Pay-TV-Programm zu empfangen war. Als Wolfgang nach seiner Ankunft probeweise die Programme durchgezappt hatte, hatte er neben reinen Spielfilmsendern zahlreiche Kanäle gefunden, auf denen pausenlos harte Pornofilme gezeigt wurden.

Hätte ihm also der Sinn nach derartigem Zeitvertreib gestanden, dann hätte er in seiner reichhaltigen Freizeit faul im Bett liegen können – seine Dienste als Fahrer waren in den zurückliegenden Tagen nur ein einziges Mal in Anspruch genommen worden –, während er gleichzeitig Pornofilme glotzte, sich volllaufen ließ und dann und wann einen runterholte. Für manch anderen mochten dies geradezu paradiesische Zustände sein, doch Wolfgang hatte keinerlei Interesse an solchen Dingen. Das hervorragende Essen ließ er sich natürlich schmecken, und er bediente sich auch am reichhaltigen Vorrat an Leckereien und Getränken, welche die Küche ihm bot. Aber auf den Konsum alkoholischer Getränke verzichtete er ohnehin komplett.

Stattdessen konzentrierte er sich auf die Aufgabe, die ihm von Butcher übertragen worden war und wegen der er sich überhaupt an diesem Ort aufhielt, und überwachte ausgesprochen diskret den Inquisitor und die Hexe. Dabei war es sogar erforderlich gewesen, dass er in seiner Tarnfunktion als Chauffeur tätig wurde und den Inquisitor durch die Straßen Roms kutschierte. Anstatt beide Male brav im Wagen zu warten, nachdem Institoris ausgestiegen und zu Fuß zu seinem Ziel gegangen war, hatte er den Jaguar einfach stehen lassen – sollte Nero ruhig die Strafen fürs Falschparken bezahlen, der Mann hatte ohnehin Geld wie Heu – und war seinem Fahrgast unauffällig gefolgt. Auf diese Weise hatte er beispielsweise interessante Informationen über einen Waffenhändler mit dem merkwürdigen Namen Rospo und dem Aussehen einer Kröte gewonnen, die seinen Gastgeber brennend interessiert hatten.

Aber auch wenn seine Dienste als Fahrer wenig gefragt gewesen waren, war er die restliche Zeit nicht untätig gewesen. Indem er sich unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, war er im Garten und im Erdgeschoss der Villa herumspaziert und hatte sich über die jeweiligen Aufenthaltsorte seiner Zielpersonen auf dem Laufenden gehalten. Dass der Inquisitor erst heute Vormittag erwacht war, hatte seine Aufgabe vereinfacht und es ihm am ersten Vormittag sogar ermöglicht, Neros Grundstück zu verlassen, um ein paar dringende Besorgungen zu erledigen. Denn da er von Butcher nach der Verletzung des Inquisitors so überraschend dazu beordert worden war, die Hexe und den bewusstlosen Institoris nach Rom zu kutschieren, hatte er bei seiner Ankunft nur die Sachen bei sich gehabt, die er am Leib getragen hatte. Doch auch nachdem der Inquisitor heute früh zu sich gekommen und aufgestanden war, war sein Job nicht komplizierter geworden. Er war ständig informiert, wo die Hexe und der Hexenjäger sich aufhielten, folgte ihnen heimlich und behielt sie unauffällig im Auge, sofern sie sich nicht gerade in den Gästezimmern aufhielten. Hätte einer von ihnen sich tagsüber dazu entschlossen, das Grundstück auf eigene Faust zu verlassen, hätte Wolfgang dies bemerkt. Entweder hätte er es – im Falle der Hexe – unterbunden oder wäre – im Falle des Inquisitors – unauffällig gefolgt. Und sobald es dunkel wurde, musste er sich noch weniger Gedanken darüber machen, dass eine seiner Zielpersonen ausbüxen könnte, da Nero ihm am Tag nach ihrer Ankunft bei einer ersten Unterredung mitgeteilt hatte, dass die grundstückseigenen Sicherungseinrichtungen nicht nur ein Eindringen unberechtigter Personen von außen, sondern darüber hinaus auch eine eigenmächtige Flucht ihrer Gäste verhinderten. Details hatte er nicht genannt, Wolfgang aber gleichzeitig ernsthaft davor gewarnt, sich nachts der Villa zu nähern.

Aus diesem Grund konnte er sich nach Einbruch der Dunkelheit, und sobald er die Hexe und der Inquisitor in der Villa sicher aufgehoben wusste, entspannen und sich den wenigen Dingen widmen, die ihm wahre Freude bereiteten. Dazu gehörten in erster Linie ein gutes Buch und klassische Musik – nach Möglichkeit beides gleichzeitig.

Bei seinem Einkaufsbummel durch die Straßen und Gassen der Ewigen Stadt hatte er unter anderem in einer internationalen Buchhandlung ausgiebig durch das vorhandene Sortiment deutscher Klassiker gestöbert und war erfreulicherweise rasch fündig geworden. Neben anderen Werken, die er kannte, aber bei dieser Gelegenheit gern noch einmal las, war er passenderweise auch auf Johann Wolfgang von Goethes autobiografische Schrift Die italienische Reise gestoßen. Da er sich ebenfalls auf einer Italienreise befand, hatte er, ohne lange zu überlegen, zugegriffen und war jetzt in dieses Buch vertieft, während auf dem hochwertigen CD-Player, mit dem die Wohnung ausgestattet war, in niedriger Lautstärke – wie die dezente Hintergrundmusik in einem Fahrstuhl – eine Oper mit dem Titel Lo frate ’nammorato gespielt wurde. Weder die Musik noch der Gesang störten ihn beim konzentrierten Lesen. Erstens war er es gewohnt, und zweitens wurde nicht nur in italienischer Sprache, sondern sogar in neapolitanischem Dialekt gesungen, sodass er kein einziges Wort verstand. Er hatte die CD in einem Fachgeschäft gefunden und vor allem gekauft, weil der Komponist Giovanni Battista Pergolesi Italiener war und damit sowohl zu seinem Aufenthaltsort als auch zu Goethes Buch passte. Er mochte es nämlich, wenn die Dinge stimmig waren und alles perfekt zueinanderpasste und aufeinander abgestimmt war.

Also saß Wolfgang im luxuriös eingerichteten Wohnzimmer der Chauffeurwohnung seines italienischen Gastgebers auf einem der historischen Hügel der italienischen Hauptstadt in einem bequemen Ledersessel – der vermutlich ebenfalls Made in Italy war –, trank acqua minerale aus einer italienischen Mineralquelle, begleitete in Gedanken seinen verstorbenen Landsmann und Namensvetter Johann Wolfgang von Goethe auf dessen italienischer Reise und hörte gleichzeitig die Oper eines italienischen Komponisten, gesungen in neapolitanischem Dialekt. Im Grunde war also alles stimmig und perfekt – perfetto hätte es Wolfgang mithilfe seiner kaum vorhandenen Kenntnisse der Landessprache vermutlich genannt, um die vollkommene Synchronizität dieses Augenblicks nicht zu verletzen –, bis … ja, bis ein lautes Donnern die nächtliche Ruhe und den beschaulichen Moment in Fetzen riss.

Er war so gefangen genommen von den Worten des Meisterdichters, dass ihn der unerwartete Knall aufschrecken ließ. Er zuckte heftig zusammen und hätte beinahe das Buch fallen gelassen und das halb volle Wasserglas von dem Beistelltischchen neben dem Sessel gestoßen. Im ersten Moment war er völlig desorientiert und wusste weder, wer, noch wo er war. Doch rasch fand er wieder zu sich. Und sofort wurde ihm klar, was er soeben gehört hatte. Er war lange genug Mitglied von Butchers Rudel und hatte zahlreiche, bisweilen lebensgefährliche Aufträge erledigt, um die Detonation einer Sprengladung zu erkennen, wenn er sie hörte.

Wolfgang nahm sich noch die Zeit, mit dem Lesezeichen die Stelle zu markieren, bis zu der er gekommen war, und legte das Buch anschließend neben das Glas auf den Tisch. Erst dann sprang er auf, als nahezu zeitgleich zwei weitere, ein wenig gedämpftere Explosionen folgten. Er schloss daraus, dass der erste Knall auf dieser Seite der Villa, die der Garage zugewandt war, erfolgt sein musste. Da hat wohl jemand die Haustür aufgesprengt, weil er nicht warten konnte, bis ihm jemand aufmacht!, dachte er zynisch. Die beiden anschließenden Sprengsätze mussten hingegen auf der gegenüberliegenden Seite detoniert sein. Das müssen der Hintereingang zur Küche und die Terrassentür gewesen sein! Die drei Detonationen machten Wolfgang nicht nur deutlich, dass Neros Villa soeben Ziel eines schweren Angriffs wurde und dass sie es mit einer Übermacht an Feinden zu tun haben mussten, wenn sie über alle Zugänge ins Haus eindringen konnten, sondern auch, dass er in der Wohnung über der Garage unter Umständen ebenfalls nicht mehr sicher war. Hätte er zum Fluchen geneigt, hätte er es wohl jetzt getan, und zwar laut und deftig. Doch da er jede lautstarke Gefühlsäußerung verabscheute und generell eher der schweigsame Typ war, der sich unauffällig im Hintergrund hielt, sparte er sich jeden Ausruf, der ihm ohnehin nur kurzfristig Erleichterung verschafft, ansonsten aber nichts bewirkt hätte. Stattdessen reagierte er auf die Bedrohung auf seine Weise, indem er augenblicklich handelte, da er ahnte, dass auch für ihn die Lage früher oder später brenzlig werden konnte, wenn er nicht richtig und vor allem nicht besonnen und schnell genug reagierte.

Er eilte ans Fenster und blickte nach draußen. Die Villa lag hinter einem Hain, der aus hohen Bäumen und dichtem Unterholz bestand, doch von seinem erhöhten Standort konnte er zwischen den Stämmen undeutlich das Hauptgebäude erkennen. Er richtete den Blick dorthin, wo der Eingang lag, und sah, dass die Eingangstür fehlte und an ihrer Stelle ein finsteres Loch in der Fassade klaffte. Außerdem schienen mehrere Fenster im Erdgeschoss zerstört worden zu sein. Ob dies von der Explosion oder davon herrührte, dass dort Angreifer ins Haus eingedrungen waren, entzog sich seiner Kenntnis, doch er tippte auf Letzteres. Ab und zu irrlichterten dünne, hochkonzentrierte Lichtstrahlen durch die Dunkelheit, die jenseits des zerstörten Eingangs und der zerschmetterten Fensterscheiben herrschte. Es musste sich um die Lampen der Eindringlinge handeln, die sich durch das Gebäude bewegten und nach ihren Zielpersonen suchten.

All dieser Details hätte es gar nicht bedurft, um Wolfgang mit letzter Konsequenz klarzumachen, dass er sich nicht getäuscht hatte und die Villa tatsächlich Ziel eines Angriffs war. Warum es geschah, wer die Angreifer waren und wie sie auf Nero und seine Gäste aufmerksam geworden waren, war für ihn nebensächlich, auch wenn er sich natürlich Gedanken machte und leicht ausrechnen konnte, um wen es sich handelte und auf wen sie es in erster Linie abgesehen hatten. Lediglich die Frage, wie die Inquisition so rasch herausgefunden hatte, wo der Inquisitor sich versteckte, konnte Wolfgang nicht abschließend klären, auch wenn der Ausflug des Mannes zum Waffenhändler und in die Nähe des Vatikans genug Raum für Spekulationen ließ.

Damit löst sich Butchers Operation wohl gerade im wahrsten Sinne des Wortes in Rauch auf, überlegte Wolfgang. Außer natürlich, Institoris überlebte den Angriff seiner Kollegen und entkam. Dann konnte er noch immer sein Rendezvous mit dem Schweizergardisten wahrnehmen und seinen – den wichtigsten und abschließenden – Beitrag zum Gelingen des ehrgeizigen Plans der Luziferianer leisten. Nero und die Hexe waren dagegen nur noch Randfiguren und nicht mehr wichtig. Sie konnten ruhig draufgehen. Für Wolfgang galt im Grunde dasselbe, allerdings hatte er ein persönliches Interesse daran, in dieser Nacht nicht zu sterben. Außerdem konnte er noch immer einen wichtigen Beitrag zur laufenden Operation leisten, indem er das Grundstück fluchtartig verließ und hinterher dafür sorgte, dass Institoris seine Verabredung einhielt – sofern dieser ebenfalls entkam.

Das ferne Krachen eines Gewehrs riss ihn aus seinen Überlegungen. Da er davon ausging, dass die Angreifer keine Schrotflinten, sondern schallgedämpfte, vollautomatische Waffen bei sich hatten, musste es Nero sein, der sich gegen die Angreifer zur Wehr setzte. Der Nekromant war passionierter Jäger, der seine Jagdbeute eigenhändig präparierte und in einem eigenen Jagdzimmer zur Schau stellte, und hatte eine imposante Waffensammlung. Somit war zumindest Nero noch am Leben und leistete Widerstand. Und indem der Gastgeber die Aufmerksamkeit der Eindringlinge auf sich lenkte, verschaffte er Wolfgang eine größere Chance, zu entkommen.

Wolfgang überlegte nur kurz, was er tun sollte, da es in seinen Augen keine Alternativen, sondern nur eine Möglichkeit für ihn gab. Er musste sich eines der Fahrzeuge aus der Garage schnappen und verschwinden, bevor die Angreifer es auch auf ihn abgesehen hatten. Wenn er Pech hatte, war dieses Gebäude ebenfalls schon umstellt und würde alsbald gestürmt werden. Er musste also so rasch wie möglich von hier weg. Und selbst wenn die Eindringlinge ihn noch nicht im Visier hatten, würde sich das spätestens dann ändern, wenn sie ihren Job in der Villa erledigt hatten.

Nicht für eine einzige Sekunde kam er auf den aberwitzigen Gedanken, zur Villa zu schleichen und den Nekromanten, die Hexe und den Inquisitor gegen die Angreifer zu unterstützen. Die anderen mussten schon selbst sehen, wie sie mit heiler Haut davonkamen. Für ihn zählte nur der eigene Pelz, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das Schicksal von Nero und Marcella interessierte ihn demgegenüber herzlich wenig. Der Nekromant war unter den Luziferianern in Rom und Italien ein Big Player. Er hatte Wolfgang in den letzten Tagen trotz aller Annehmlichkeiten, die seine Küche und die Chauffeurwohnung geboten hatten, wie einen Lakaien behandelt. Wolfgang hatte sich nicht beschwert, tief in seinem Innersten, das er vor jeder anderen Person sorgsam verschloss, hatte er sich jedoch gedemütigt gefühlt, da er auf eine Stufe mit den anderen Dienstboten gestellt wurde. Was immer Nero daher widerfuhr, Wolfgang würde ihm keine einzige Träne hinterherweinen, wenn der Mann heute Nacht ins Gras biss. Für ihn gab es nur eine einzige Person, der er loyal ergeben war und von der er sich wie ein Befehlsempfänger behandeln ließ, und das war Butcher. Denn auch wenn er es nie laut eingestanden hätte, hatte er sogar ein wenig Angst vor dem Rudelführer. Neros Anweisungen hatte er dagegen nur erfüllt, weil Butcher dies bei ihrer letzten Besprechung unmittelbar vor der Abreise in München von ihm verlangt hatte. Außerdem hätte es nur seine Aufgabe erschwert, wenn er sich den Nekromanten zum Feind gemacht hätte.

Gegen die Hexe, die während der Fahrt von München nach Rom im Leichenwagen mehrere Stunden unmittelbar neben ihm gesessen hatte, hegte er eigentlich keine Aversionen. Aber da sie ihn andererseits auch als Frau nicht reizte, war ihm ihr Schicksal letzten Endes egal. Freunde waren sie während der langen Autofahrt jedenfalls nicht geworden. Aber das hatte nichts zu bedeuten, da Wolfgang ohnehin keine Freunde hatte.

Bei Michael Institoris sah die Sache anders und komplexer aus. Als Inquisitor war er der Todfeind jedes Luziferianers. Auch Wolfgang hatte schon Rudelangehörige und flüchtige Bekannte an die Inquisition verloren, und allein deswegen wäre es für ihn Vergnügen und tiefe Befriedigung zugleich, wenn der Inquisitor sinnigerweise von seinen eigenen Leuten abgeschlachtet werden würde. Andererseits war Institoris für Butchers Operation von herausragender Bedeutung, sodass Wolfgang insgeheim wünschte, er würde diesen nächtlichen Angriff ebenfalls unverletzt überstehen und entkommen.

Doch trotz dieses Wunsches, der einzig aus Notwendigkeit und nicht aus Mitgefühl oder echter Sorge geboren war, war Wolfgang sein eigenes Überleben wichtiger. Daher kam es ihm nicht einmal ansatzweise in den Sinn, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um den Inquisitor zu retten oder zumindest zur Flucht zu verhelfen. Butcher würde ihm schon nicht den Kopf abreißen, wenn der Inquisitor starb, da Wolfgang schließlich nichts dafürkonnte und hinterher behaupten würde, er habe alles versucht, aber gegen die Übermacht keine Chance gehabt, etwas für den Mann zu tun.

Wolfgang war noch vollständig angezogen – er trug, sorgsam aufeinander abgestimmt, eine schwarze Cordhose, ein T-Shirt von derselben Farbe und dunkelgraue Turnschuhe – und musste sich daher nicht erst noch anziehen. Die bevorzugte Farbe seiner Kleidung würde ihm bei seiner Flucht zugutekommen, da er auf diese Weise leichter mit der Dunkelheit verschmolz. Er ließ alles andere zurück – sogar das Buch von Goethe und die Opern-CD –, da jedes Teil im Gegensatz zu seinem Leben ersetzbar war, und startete.

Er rechnete damit, dass auch bei seinem gegenwärtigen Domizil jederzeit die Eingangstür aus den Angeln gesprengt werden und ein schwer bewaffneter Haufen eindringen könnte, doch noch war in der unmittelbaren Umgebung alles ruhig. Selbst aus der Garage unten war die ganze Zeit über kein verdächtiger Laut zu hören gewesen. Dennoch gelang es ihm nicht, sich zu entspannen. Im Gegenteil, der Umstand, dass nichts passierte, zehrte noch stärker an seinen Nerven.

Als er das Wohnzimmer hinter sich ließ und in den Flur kam, schnappte er sich die Schlüssel für den Jaguar. Er war ohnehin davon ausgegangen, dass er den Wagen in dieser Nacht benötigen würde, um dem Inquisitor und der Hexe zur Vatikanstadt zu folgen. Deshalb hatte er aus reiner Bequemlichkeit die Schlüssel nicht wieder zurückgegeben, sondern einfach mit nach oben genommen und auf den hüfthohen Flurschrank gelegt. Nun kam ihm seine eigene Faulheit zugute.

Es gab zwei Eingänge zur Chauffeurwohnung. Einer davon führte direkt von draußen herein und war über eine Treppe an der Rückseite des Gebäudes zu erreichen. Daneben gab es eine unmittelbare Verbindung zwischen Garage und Wohnung, sodass der Chauffeur nicht jedes Mal außen herumgehen musste, sondern auf direktem Weg zu den Fahrzeugen gelangen konnte.

Wolfgang entschied sich für den direkten Weg, und das nicht nur, weil er befürchtete, die Killer der Inquisition könnten bereits vor der Tür nach draußen auf der Lauer liegen. Vor der geschlossenen Tür verharrte er kurz, um auf ungewöhnliche Geräusche zu lauschen. Als er nichts hörte, öffnete er sie vorsichtig und folgte den dahinter liegenden Treppenstufen ins Erdgeschoss.

Beim Verlassen des Wohnzimmers hatte er das Licht der Leselampe brennen und den CD-Player weiterlaufen lassen, um etwaige Gegner in dem Glauben zu bestärken, er hielte sich noch immer dort auf. Auf seinem Weg zur Treppe hatte ihn daher die leise Musik der italienischen Oper begleitet, doch jetzt verstummte die Musik, weil die Oper zu Ende war. Im ersten Moment irritierte ihn die unvermittelt einsetzende Stille. Er horchte erneut, aber außer dem Pochen seines eigenen Pulsschlags war es absolut still. Nicht einmal vom Hauptgebäude waren noch Geräusche zu hören. Möglicherweise war der Kampf dort schon zu Ende. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Wolfgang gab sich innerlich einen Ruck und stieg weiter in die Tiefe. Er machte auf seinem Weg nirgends das Licht an, um seinen Aufenthaltsort nicht zu verraten. Zum Glück kannte er den Weg mittlerweile gut genug, um sich auch im Halbdunkel zurechtzufinden. Und wo es zu dunkel war, wie hier im fensterlosen Treppenaufgang, tastete er sich mit den Händen voran.

Am Fuß der Treppe befand sich eine weitere Tür, hinter der die aus einem einzigen großen Raum bestehende Garage lag. Dort gab es keinerlei Trennwände, hinter denen er Deckung finden konnte, sondern nur Säulen, die das obere Stockwerk trugen.

Wolfgang atmete noch einmal tief durch, bevor er vorsichtig und wie in Zeitlupe die Klinke nach unten drückte und die Tür aufschob. Sie öffnete sich völlig lautlos. Durch den Spalt spähte er in die finstere Garage. Alles wirkte verlassen und unverdächtig auf ihn und war noch genau so, wie es vor wenigen Stunden ausgesehen hatte. Allerdings konnte er aufgrund der Dunkelheit nicht alles gut genug erkennen. Und in den tiefsten Schatten – vor allem in den Ecken des Raumes –, wo das Mondlicht nicht hingelangte, konnte sich eine ganze Armee verstecken.

Vielleicht hatten die nächtlichen Angreifer ihn aber auch tatsächlich übersehen. Oder sie hielten ihn für zu unwichtig, um sich mit ihm zu befassen. Schließlich gab es wichtigere Ziele, zum Beispiel Michael Institoris, und der saß in der Villa. Ihm wäre das nur recht, und seine Eitelkeit deswegen nicht gekränkt. Er zog die Bedeutungslosigkeit in den Augen seiner Feinde der tödlichen Wirkung einer silbernen Kugel bei Weitem vor.

Behutsam und möglichst geräuschlos schob er sich durch den Türspalt in die Garage. Durch zahlreiche Fenster fiel das Mondlicht herein und erleuchtete weite Bereiche seiner Umgebung ausreichend genug, damit er sich orientieren konnte und ohne Schwierigkeiten seinen Weg fand. Langsam bewegte er sich voran und hielt sich möglichst im Schatten. Dabei lauschte er beständig aufmerksam, ob sich noch jemand in der weitläufigen Garage aufhielt und sich an ihn heranschlich. Die Fahrzeuge waren nur dunkle Schemen und wirkten wie zum Sprung geduckte, urzeitliche Ungeheuer. Da sie zum Schutz vor Schmutz und Staub größtenteils abgedeckt waren, konnte allenfalls ein Kenner die Marken anhand der vagen Formen unter den schützenden Planen erkennen. Wolfgang kannte sich mit Autos aus. Außerdem hatte er sich hier bei Tageslicht umgesehen, sodass er die Fahrzeuge, an denen er vorbeikam, auch unter diesen Bedingungen eindeutig identifizieren konnte. Sie waren für ihn jetzt wie Geländemarken, die ihm den richtigen Weg wiesen.

Wie so viele reiche Leute, die nicht wissen, was sie mit ihrem Vermögen Sinnvolles anfangen sollen, besaß Nero einen riesigen Fuhrpark. Die meisten Fahrzeuge waren jedoch nicht hier, sondern in einer Garage seines Zweitwohnsitzes am Comer See geparkt, wie er Wolfgang erzählt hatte. Dennoch waren auch die vor Ort verbliebenen Fahrzeuge beeindruckend. Der Jaguar, den Wolfgang benutzt hatte, um den Inquisitor zu chauffieren, war sogar noch das gewöhnlichste Fahrzeug. Daneben gab es, wie es sich für einen italienischen Multimillionär gehörte, mehrere Sportwagen der einheimischen Marken Ferrari, Maserati und Lamborghini, einen Porsche 911 Cabrio Carrera, zwei Rolls-Royce, einen Bentley, einen Mercedes-Benz SLS AMG mit Flügeltüren und einen Hummer H2. Hätte Wolfgang freie Auswahl gehabt, hätte er lieber eines der anderen Autos genommen – vermutlich den Hummer, der womöglich gepanzert war. Doch da er nicht wusste, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden, und keine Zeit hatte, danach zu suchen, musste er sich erneut mit dem Jaguar zufriedengeben, den er erst vor wenigen Stunden ganz rechts neben der Außenmauer abgestellt hatte. Was aber auch nicht die schlechteste Wahl war, wie er insgeheim eingestehen musste.

Als Wolfgang all die anderen verhüllten Karossen passiert hatte, ohne dass er aus deren Schatten heraus attackiert worden war, stellte er erleichtert fest, dass der Jaguar noch dort stand, wo er ihn geparkt hatte. Die Tür war unverschlossen und die Innenbeleuchtung, die beim Öffnen anging, verräterisch, doch dagegen konnte er nichts tun. Er nahm hinter dem Steuer Platz, schloss so rasch und dennoch so leise wie möglich die Tür und schob den Schlüssel ins Zündschloss.

Wolfgang stieß die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte, und schnappte nach frischem Sauerstoff. So weit, so gut, dachte er und war erleichtert, dass er es bis hierher geschafft hatte. Doch der schwierigere Teil stand ihm unter Umständen erst noch bevor, sobald er den Wagen aus der Garage fuhr. Bisher hatte er sich lautlos vorwärtsbewegen können, während der Wagen Lärm verursachen würde.

Auf seinem Weg durch die dunkle Garage hatte er beständig auf verdächtige Geräusche gelauscht und nach verstohlenen Bewegungen in den Schatten um sich herum Ausschau gehalten. Er hatte jedoch von den Eindringlingen auf Neros Grundstück nichts sehen und hören können. Zudem meldeten ihm auch die viel feineren Sinne des Raubtiers, das in ihm schlummerte und auf dessen Fähigkeiten er auch in menschlicher Gestalt in abgeschwächter Form zurückgreifen konnte, dass in seiner unmittelbaren Umgebung keine akute Gefahr drohte.

Nach einem letzten Blick in die Runde nahm er die Fernbedienung für das Garagentor zur Hand, mit der jedes von Neros Fahrzeugen, die regelmäßig benutzt wurden, ausgerüstet war. Nach einem Druck auf den richtigen Knopf hob sich das elektrisch betriebene Tor hinter dem Wagen mit einem metallischen Ächzen und Knacken langsam in die Höhe. Die Geräusche, die tagsüber kaum auffielen, waren in der nächtlichen Stille sicherlich weithin zu hören. Dies war vermutlich der kritischste Punkt seiner Flucht, denn wenn die Angreifer draußen auf ihn warteten, würden sie spätestens jetzt auf ihn aufmerksam werden und genau wissen, wo er sich befand.

Wolfgang hätte jetzt selbst gern eine Waffe zur Hand gehabt, um sich gegen die Eindringlinge verteidigen zu können, doch als Gestaltwandler hatte er normalerweise wenig Bedarf für Schusswaffen. In gefährlichen Situationen verließ er sich lieber auf seine Fähigkeit, seine körperliche Erscheinung wechseln und mit den natürlichen Waffen seiner tierischen Gestalt – messerscharfe Krallen und lange, spitze Reißzähne – zu kämpfen. In Vollmondnächten waren Gestaltwandler gezwungen, sich zu verwandeln, ob sie wollten oder nicht, doch in der übrigen Zeit konnten sie ihre Erscheinung wechseln, wie und wann sie wollten. In tierischer Form war er in der Lage, alle Vorteile, die ihm diese bot, hundertprozentig zu nutzen. Daher verfügte er als Wolf über ein entschieden besseres Gehör, einen wesentlich effektiveren Geruchssinn, größere Kraft, Geschicklichkeit, Wendigkeit und Ausdauer sowie eine niedrigere Verwundbarkeit und weniger Schmerzempfinden.

Aus verschiedenen Gründen hatte er sich allerdings dazu entschieden, vorerst seine menschliche Gestalt beizubehalten und nur im äußersten Notfall auf die Bestie in seinem Innern zurückzugreifen. Dazu hatte ihn in erster Linie die Entscheidung bewogen, einer Auseinandersetzung mit den Angreifern nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Denn nach seiner Überzeugung musste es sich mindestens um ein halbes Dutzend Personen handeln, die in Neros Villa eingedrungen waren. Und möglicherweise gab es noch weitere, die das Grundstück sicherten. Er sah sich also einer Übermacht an Feinden gegenüber, bei denen es sich darüber hinaus mit Sicherheit um Inquisitoren handelte, die dem Anwesen einen nächtlichen Überraschungsbesuch abstatteten. Wer sonst sollte sowohl einen Grund als auch den Mut haben, einen einflussreichen und mächtigen Mann wie Nero auf seinem eigenen Territorium anzugreifen? Und die Inquisition besaß sowohl die Erfahrung als auch die Mittel, um mit einem Gestaltwandler mühelos fertig zu werden. Für ihn war es daher sicherer, den Angreifern weiträumig aus dem Weg zu gehen und keine Konfrontation zu riskieren. Das war als Mensch leichter zu bewerkstelligen, da er in seiner tierischen Gestalt weniger von seinem Intellekt, sondern fast ausschließlich von seinen Instinkten gesteuert wurde. Und die ließen ihn eher den direkten Weg wählen und kopfüber mitten in eine gefährliche Situation hineinstürzen, ungeachtet der Möglichkeit eines negativen Ausgangs. Davon ganz abgesehen würde er in seiner tierischen Erscheinung weder ein Auto lenken noch seine Kleidung mitnehmen können. Hinterher würde er splitterfasernackt und ohne fahrbaren Untersatz durch Rom irren, wo er eventuell gesehen wurde und ungewolltes Aufsehen erregte. Da er all das momentan überhaupt nicht gebrauchen konnte, war es eindeutig besser, wenn er in seiner menschlichen Gestalt agierte und hoffte, dass sich die Eindringlinge auf das Haupthaus konzentrierten und, möglicherweise alarmiert durch die Geräusche des sich öffnenden automatischen Garagentors, die Garage erst erreichten, wenn er längst über alle Berge war.

Wolfgang wartete nicht ab, bis das Tor ganz oben und zur Ruhe gekommen war, sondern startete den Motor, kaum dass die Öffnung groß genug war, um mit dem Wagen problemlos hindurchfahren zu können. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zügig aus der Garage, ohne dabei allerdings zu viel Gas zu geben, damit die Reifen nicht durchdrehten und laut kreischten. Der Platz vor den Garagen war gepflastert. Obwohl Wolfgang vorerst darauf verzichtete, das Licht anzuschalten, um möglichst lange unentdeckt zu bleiben, konnte er im Mondlicht genug von seiner unmittelbaren Umgebung erkennen.

Als keine menschlichen Umrisse zu entdecken waren, die aus den Schatten auf den Jaguar zusprangen, und auch keine Schüsse aufpeitschten oder Kugeln die Karosserie durchschlugen und die Scheiben zerschmetterten, atmete Wolfgang auf. Er fuhr einen Bogen und bremst. Dass dadurch die Bremslichter aufleuchteten und ein deutliches Ziel boten, konnte er nicht verhindern. Anschließend schob er rasch den Schaltknüppel in den ersten Gang und stieg aufs Gas, sodass die Reifen auf dem Pflaster kreischend durchdrehten. Doch das war ihm egal, da es jetzt nicht mehr auf Heimlichkeit, sondern auf Schnelligkeit ankam. Sollten die Feinde ruhig hören, dass er davonfuhr, solange sie nur nicht in der Lage waren, ihn einzuholen. Das grelle Quietschen des Gummis zerriss weithin hörbar die Stille und war sicherlich auch in jedem Winkel der Villa wahrnehmbar.

Doch Wolfgang hatte keine Zeit, einen Blick zu der Stelle zu werfen, wo das Loch in der Fassade des Hauses klaffte, durch das die Angreifer eingedrungen waren, und nachzusehen, ob jemand nach draußen rannte. Er konzentrierte sich auf den schmalen Fahrweg, der zum Tor führte. Rasch schaltete er die Gänge hoch, während der Wagen schneller wurde. Eigentlich fuhr er für diese Verhältnisse viel zu schnell, doch er musste ein Wagnis eingehen, wenn er es schaffen wollte. Und das Risiko wurde belohnt, da er ohne Zwischenfall zum Tor gelangte. Als die schmiedeeisernen Gitterstäbe nur noch ein gutes Dutzend Meter vor der Kühlerhaube des Wagens lagen, betätigte er einen weiteren Knopf der Fernbedienung, worauf sich die beiden Torflügel automatisch nach innen öffneten. Die beiden Hälften des Tors bewegten sich mit einer Langsamkeit, die an seinen Nerven zehrte. Ständig rechnete er damit, dass dunkle Schatten von beiden Seiten aus dem Gebüsch auf den Weg sprangen und damit begannen, die Windschutzscheibe und Frontpartie des Jaguar mit Feuergarben zu überziehen, um seine Flucht zuletzt doch noch zu vereiteln. Deshalb wagte er es nicht, den Wagen auch nur ein kleines bisschen langsamer rollen zu lassen und den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Er vertraute darauf, dass er das Tempo des Jaguar und die Geschwindigkeit, mit der die beiden Hälften des Tores auseinanderschwangen, perfekt aufeinander abgestimmt hatte, um genau rechtzeitig hindurchfahren zu können, sobald es problemlos möglich war. Und tatsächlich war die Lücke breit genug, als sie der leicht schlingernde Wagen passierte. Lediglich der rechte Außenspiegel wurde beim Durchfahren abgerissen, da Wolfgang eine Spur zu weit nach rechts gekommen war. Ansonsten geschah jedoch nichts. Der Jaguar schleuderte auf die Straße, wo um diese Uhrzeit niemand unterwegs war. Wolfgang riss das Steuer herum und brachte das ausbrechende Fahrzeug mit protestierend aufheulenden Reifen auf die richtige Spur. Ohne Beleuchtung verschwand der Wagen anschließend in der Nacht.

Im Innern stieß Wolfgang einen lang gezogenen, tiefen Seufzer aus, als er allmählich realisierte, dass er tatsächlich mit heiler Haut davongekommen war. Allerdings war ihm bewusst, dass es die Angreifer nicht auf ihn, sondern in erster Linie auf die Personen im Hauptgebäude abgesehen hatten. Und er fragte sich, wie es dem Inquisitor, der Hexe und dem Nekromanten ergangen war. Hatten sie den Angriff unbeschadet überstanden? War es ihnen unter Umständen sogar ebenfalls gelungen, aus der Villa zu entkommen?

Antworten auf seine Fragen erhielt er etwa eine halbe Stunde später, als er den Inquisitor und die Hexe sah, die nebeneinander die abschüssige Straße des Aventin herunterkamen und sich wie Hänsel und Gretel, die sich im Wald verirrt hatten, an der Hand hielten. Dabei sahen sie sich ständig um, als fürchteten sie, sie könnten verfolgt und jeden Moment eingeholt werden.

Wolfgang hatte den Wagen in einer schmalen Querstraße hinter einem anderen Auto geparkt, wo es kaum zu entdecken war, sich auf die Lauer gelegt und geduldig gewartet. Seine Geduld wurde belohnt, als er Institoris und Marcella bemerkte, die eilig voranschritten, um möglichst schnell möglichst weit von Neros Anwesen und damit von den Angreifern wegzukommen.

Dabei sah es fast so aus, als müsste der Inquisitor die Hexe hinter sich herzerren und als würde sie ihm nur widerstrebend folgen. Gibt es etwa schon den ersten Krach zwischen den Verliebten, und das noch vor der Hochzeitsnacht?, dachte Wolfgang amüsiert. Ihm war selbstverständlich nicht verborgen geblieben, dass zwischen den beiden etwas gelaufen war, obwohl sie so unterschiedlich waren und in verschiedenen Lagern standen. Wolfgang redete zwar nicht viel und hielt sich dezent im Hintergrund, aber gerade deshalb sah er vieles – auch so manches, was nicht für seine Augen bestimmt war – und zog in der Regel die richtigen Schlüsse. In diesem Fall vermutete er, dass die raffinierte Hexe den Inquisitor ins Bett gelockt hatte, um ihn leichter kontrollieren zu können. Und vielleicht war der Mann ja inzwischen dahintergekommen, dass die Frau nur mit ihm spielte. Aber wie auch immer es sich verhielt, ihm konnte es letzten Endes egal sein.

Wichtig war, dass es Institoris geschafft hatte, seinen Häschern zu entkommen. Butcher würde beruhigt sein, dass die sorgfältig geplante Aktion nicht doch auf der Zielgeraden gescheitert war. Und obwohl Wolfgang nichts dafürkonnte, dass die Inquisition das Versteck des vermeintlichen Verräters ausfindig gemacht und gestürmt hatte, war ihm dennoch seit seinem eigenen Entkommen mulmig zumute gewesen bei dem Gedanken, er müsste Butcher mitteilen, dass die Operation gescheitert war. Zu oft wurde der Überbringer schlechten Nachrichten zur Rechenschaft gezogen, weil niemand anderes zur Hand war, an dem man seinen Frust auslassen konnte.

Auch die Hexe hatte den Angriff überlebt, obwohl es um sie nicht schade gewesen wäre. Neros Fehlen ließ allerdings vermuten, dass er entweder ins Gras gebissen hatte oder von der Inquisition gefangen genommen worden war. Geschieht dem arroganten Pinsel ganz recht!, dachte Wolfgang und grinste schadenfroh.

Nachdem das Händchen haltende Pärchen die Einmündung passiert hatte, ließ er noch ein paar Minuten verstreichen, bevor er den Wagen startete und losfuhr. An der Einmündung stoppte er und hielt Ausschau. Die Hexe und der Inquisitor waren schon ein gutes Stück entfernt, da sie es eilig hatten und rasch ausschritten.

Doch in diesem Augenblick näherte sich aus der Richtung, in die sie gingen, ein Wagen, der schon von Weitem als Taxi erkennbar war. Wäre es ohne leuchtendes Taxischild von der anderen Seite gekommen, wären die beiden wohl rasch von der Straße verschwunden und hätten sich in die Büsche geschlagen oder in den Schatten verborgen, aus Angst, es könnte sich um die Eindringlinge handeln. So aber sahen sie den Wagen nicht als Bedrohung, sondern schienen ihn im Gegenteil erwartet zu haben. Michael hob die linke Hand, in der er einen merkwürdig geformten Koffer trug. Es gelang ihm, die Aufmerksamkeit des Taxifahrers zu erregen. Das Taxi wurde langsamer, als es die beiden nächtlichen Spaziergänger erreichte, wendete mitten auf der ansonsten verwaisten Straße und kam neben ihnen zum Stehen. Vermutlich hatten sie den Wagen durch einen Anruf übers Handy bestellt. Rasch stiegen die Hexe und der Inquisitor ein. Die Beleuchtung des Taxizeichens erlosch, und das Fahrzeug fuhr los.

Auch Wolfgang reagierte umgehend. Er schaltete die Scheinwerfer an und fuhr los, um nicht den Anschluss zu verlieren. Um diese Zeit herrschte vor allem in dieser Gegend kaum Verkehr, und das hatte für einen Verfolger, der unentdeckt bleiben wollte, nicht nur Vorzüge. Einerseits war die Gefahr gering, dass er das verfolgte Fahrzeug mit einem anderen, ähnlich aussehenden Wagen verwechselte. Und sollte er es doch aus den Augen verlieren, würde er es rasch wieder entdecken, sobald er die Stelle erreichte, an der der andere abgebogen war. Andererseits würde er bei dieser geringen Verkehrsdichte einen größeren Abstand halten müssen und dennoch leichter zu entdecken und nach kurzer Zeit als Verfolger identifizierbar sein. Die Verfolgung mit dem Auto um diese Uhrzeit war daher wie eine Wanderung auf einem schmalen Grat, die Wolfgang aber gut genug meisterte. Es gelang ihm nicht nur, am Taxi dranzubleiben und es auch dann nicht zu verlieren, als sie in die sogar um diese Zeit belebteren, überwiegend von Nachtschwärmern bevölkerten Teile Roms kamen und der Verkehr etwas dichter wurde, sondern schaffte es wohl auch, weder von den beiden Fahrgästen noch vom Fahrer des Taxis entdeckt zu werden, da sie nicht den geringsten Versuch unternahmen, ihn abzuschütteln.

Nachdem sie den Aventin hinter sich gelassen hatten, fuhren sie durch die nächtlichen Straßen der Metropole in Richtung Stazione Termini, wo Wolfgang erst vor Kurzem gewesen war, als er den Inquisitor dorthin chauffiert hatte. Wie alle Großstädte dieser Welt schlief auch die Ewige Stadt nie wirklich.

Zunächst argwöhnte Wolfgang, die Hexe und der Inquisitor wollten zum Bahnhof, um mit dem Zug aus Rom zu verschwinden. In diesem Fall hätte er umgehend reagieren und Butcher Meldung erstatten müssen. Entweder wäre es dann seine Aufgabe gewesen, die beiden aufzuhalten oder weiterhin an ihnen dranzubleiben. Die Stazione Termini war jedoch nicht das Ziel dieser Fahrt, sondern ein heruntergekommenes, billiges Hotel in der Nähe des Bahnhofs. Wolfgang stellte fest, dass sie nicht weit von dem Schallplattenladen des krötenartigen Waffenhändlers entfernt waren, den Institoris am Nachmittag besucht hatte. Offenbar kannte er sich in diesem Teil der Stadt von früheren Besuchen aus und bevorzugte die Geschäfte und Unterkünfte in diesem Viertel. Außerdem war Marcella Römerin und hier zu Hause. Sie dürfte die Stadt fast ebenso gut kennen wie das Innere der modischen Handtasche, die sie bei sich hatte, und wissen, wo man untertauchen konnte, ohne dass allzu viele Fragen gestellt wurden.

Als Wolfgang sah, wie das Taxi vor dem Hotel am Straßenrand hielt, lenkte er den Jaguar rasch zur Seite in eine leere Einfahrt. Er löschte die Scheinwerfer und schaltete den Motor aus. Durch eine Lücke zwischen zwei parkenden Fahrzeugen konnte er den Bereich unmittelbar vor dem Hotel im Auge behalten, ohne selbst gesehen zu werden.

Insgesamt machte die Umgebung einen schäbigen, reichlich heruntergekommenen Eindruck. Fünfzig Meter vom Hotel entfernt sah Wolfgang mehrere aufreizend gekleidete Frauen am Rand der Straße stehen, die Zigaretten rauchten oder sich unterhielten. Zweifellos ein Straßenstrich, an dem Dirnen auf ihre Freier warteten. Und gewiss vermietete man im nahen Hotel die Zimmer bevorzugt stundenweise und stellte keine neugierigen Fragen nach dem Namen oder der Herkunft der Gäste. Die Nähe der Prostituierten zum Hotel war sicherlich alles andere als Zufall. Es handelte sich somit um die ideale Absteige für jemanden, der auf der Flucht war und nicht gefunden werden wollte.

Wolfgang beobachtete, wie die beiden Fahrgäste ausstiegen und im Eingang des Hotels verschwanden. Institoris trug den länglichen Koffer und hielt Marcellas Hand, die sich fügsam führen ließ und mit der freien Hand ihre Handtasche umklammerte. Kaum waren die beiden im Innern verschwunden, fuhr das Taxi davon.

Wolfgang legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Zum ersten Mal, seit der Knall der ersten Explosion ihn aus Goethes Italienischer Reise gerissen hatte, konnte er sich entspannen und die Erregung der Flucht und der anschließenden Verfolgung abschütteln. Er überlegte, was er tun sollte, da er sich unter Umständen auf einen längeren Aufenthalt gefasst machen musste. Wenn der Inquisitor und die Hexe die Nacht im Hotel verbrachten, war es besser und vor allem bequemer, er nahm sich ebenfalls ein Zimmer. Andererseits konnte er die beiden dann nicht konsequent genug überwachen. Wie sollte er etwa mitbekommen, wenn sie das Hotel mitten in der Nacht verließen? Ihm kam der Gedanke, einfach bei den beiden anzuklopfen und wahrheitsgemäß zu sagen, er habe es ebenfalls geschafft, den Eindringlingen zu entkommen. Er könnte ihnen anbieten, weiterhin seine Dienste und das Fahrzeug zur Verfügung zu stellen. Dadurch hätte er sich eine gute Möglichkeit verschafft, in ihrer unmittelbaren Nähe zu bleiben und sie gleichzeitig im Auge behalten zu können. Außerdem könnte er leichter dafür sorgen, dass Institoris in wenigen Stunden seine wichtige Verabredung am Portal der Vatikanstadt einhielt. Aber wie sollte er dem stets misstrauischen Inquisitor erklären, wie er sie gefunden hatte, ohne zugeben zu müssen, dass er ihnen heimlich gefolgt war. Ein Umstand, der nicht gerade vertrauenerweckend war, vor allem, da er ohnehin das Gefühl hatte, dass Institoris ihn weder mochte noch vertraute. Daher war es vermutlich besser, er hielt sich weiterhin unauffällig im Hintergrund und behielt den Eingang des Hotels im Auge, auch wenn das bedeutete, dass ihm eine lange und schlaflose Nacht bevorstand.

Immerhin konnte er einen Teil der Zeit dazu nutzen, Butcher anzurufen und über die neuesten Entwicklungen zu informieren. Warum sollte er als Einziger auf seinen wohlverdienten Schlaf verzichten. Außerdem hatte der Rudelführer in dieser Phase der Operation gewiss Verständnis, um diese Zeit geweckt zu werden, wenn er erst erfuhr, was sich Überraschendes getan hatte. Der Ausfall des Nekromanten dürfte Butcher interessieren, aber keineswegs beunruhigen, da für die weitere Entwicklung Neros Mitwirkung ohnehin nicht zwingend erforderlich war. Aber darüber, dass der Inquisitor und die Hexe dem Angriff der Inquisition entgangen waren und ein neues Quartier bezogen hatten, wollte Butcher bestimmt umgehend informiert werden.

Wolfgang holte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, wo er es stets bei sich trug, andernfalls würde es jetzt in dem verlassenen Apartment über der Garage liegen, und wählte Butchers Handy-Nummer, die er auswendig kannte.

Die Warterei dauerte dann doch nicht so lang, wie Wolfgang anfangs befürchtet hatte.

Er hatte neue Instruktionen von seinem Boss erhalten und das Telefonat mit Butcher rasch beendet. Seitdem wünschte er sich, er hätte bei seiner Flucht wenigstens das Goethe-Buch mitgenommen, da die Müdigkeit ihn ständig zu überwältigen drohte und es nichts gab, was er tun konnte. Zum Lesen hätte er allerdings die Innenbeleuchtung anmachen müssen und womöglich unnötige Aufmerksamkeit erregt – unter anderem bei den Nutten. Also wartete er im Dunkeln und warf in regelmäßigen Abständen aus müden Augen prüfende Blicke zum Hoteleingang. Auszusteigen, um sich durch Bewegung wachzuhalten, wagte er ebenfalls nicht, weil er befürchtete, der Inquisitor könnte ausgerechnet dann aus dem Hotel kommen oder aus einem der Fenster schauen und ihn entdecken. Allerdings hatte er das Fenster heruntergekurbelt, um wenigstens frische Luft schnappen zu können.

Er hatte soeben die Uhrzeit überprüft und wusste daher, dass es exakt 2:33 Uhr war, als hinter ihm ein Auto vorbeifuhr und vor dem Hotel hielt. Er sah hin und bemerkte, dass es sich erneut um ein Taxi handelte. Nur Sekunden später erschienen der Inquisitor und die Hexe und bestiegen das wartende Taxi. Institoris hatte wieder den Metallkoffer bei sich, während Marcella ohne ihre Handtasche unterwegs war.

Machen die sich etwa schon auf den Weg zum Vatikan?, fragte sich Wolfgang. Seiner Meinung nach war es dazu noch zu früh. Aber vielleicht wollten sie auf keinen Fall zu spät kommen und vorher in Ruhe die nähere Umgebung des Treffpunkts kontrollieren. Er zuckte mit den Schultern und startete den Motor. Nachdem er den Jaguar rückwärts auf die Straße gelenkt hatte, folgte er erneut einem Taxi durch das nächtliche Rom. Und schnell wurde ihm klar, dass nicht der Vatikan das Ziel ihrer Fahrt war, sondern dass die Reise woanders hinging. Ans Ufer des Tiber inmitten eines verlassenen Gewerbegebiets, wo das Taxi seine beiden Fahrgäste absetzte und davonfuhr.

Erst als die Rücklichter des Taxis hinter einer Abzweigung verschwunden waren, packte der Inquisitor die Hexe am Oberarm und zog sie über die Straße in Richtung Fluss.

Wolfgang kam dies merkwürdig vor. Von Zärtlichkeit oder Zuneigung war im Verhalten des Inquisitors nichts zu entdecken. Man konnte sogar den Eindruck gewinnen, Marcella wäre mittlerweile eine Gefangene des Mannes und würde nur widerstrebend mit ihm gehen. Aber falls das zutraf, wie war es dann zu diesem Sinneswandel gekommen? Hatte Institoris etwa herausgefunden, wer oder besser was Marcella in Wirklichkeit war? War er dahintergekommen, dass sie ihn die ganze Zeit nur belogen und hinters Licht geführt hatte und für Butcher arbeitete, einen der erbittertsten Feinde der Inquisition?

Wolfgang war klar, dass er keine Antworten auf seine Fragen erhalten würde, wenn er im Wagen sitzen blieb und dort auf die Rückkehr der beiden wartete. Außerdem interessierte ihn brennend, was der Inquisitor mit der Hexe um diese Zeit an diesem gottverlassenen Ort vorhatte, und wollte sie schon aus diesem Grund nicht aus den Augen verlieren.

Er beobachtete, wie Institoris die Hexe zu einer nahen Brücke führte, die sich über den Fluss bis zum jenseitigen Ufer spannte. Doch nicht die Brücke war ihr Ziel, sondern ein Treppenabgang unmittelbar daneben, der hinunter zum Ufer führen musste und nach wenigen Stufen in der Dunkelheit verschwand. Der Inquisitor und die Hexe folgten der Treppe und waren alsbald seinen Blicken entschwunden.

Erst jetzt stieg Wolfgang aus dem Wagen und rannte dorthin, wo die beiden vom Erdboden verschluckt worden waren. Er hielt sich zunächst hinter der hüfthohen Steinbrüstung der Brücke verborgen und spähte vorsichtig daran vorbei nach unten. Allerdings sah er niemanden, da diejenigen, denen er folgte, schon ein gutes Stück in die Tiefe gestiegen und im Dunkeln verschwunden waren. Von unten war die Stimme des Inquisitors zu hören, doch Wolfgang konnte nicht verstehen, was der Mann zu seiner Begleiterin sagte.

Da die Finsternis nicht nur die Zielpersonen vor seinen Blicken verbarg, sondern gleichzeitig auch ihn vor einer Entdeckung schützte, nahm Wolfgang die Stufen in Angriff. Vorsichtig und möglichst lautlos folgte er ihnen durch die Dunkelheit. Schon nach wenigen Stufen gewöhnten sich seine Augen an die dürftigen Lichtverhältnisse, sodass er mithilfe seiner verbesserten Nachtsichtigkeit vage Umrisse erkennen konnte. Von Institoris und Marcella sah er jedoch nichts, da diese bereits das Ende der Treppe unten am Fluss erreicht haben und unterhalb der Brücke verschwunden sein mussten. Er hörte allerdings ihre Stimmen, die deutlicher wurden, je näher er ihnen mit jedem Schritt kam. Und je tiefer er stieg, desto vorsichtiger wurde er. Behutsam setzte er den Fuß auf die jeweils nächste Stufe, um keinen herumliegenden Gegenstand – eine weggeworfene Flasche oder einen herumliegenden Kieselstein – loszutreten, der die übrigen Stufen hinunterrollen, Lärm verursachen und seine Gegenwart verraten könnte.

Schließlich erreichte auch er das Ende der Treppe. Er blieb auf der letzten Stufe im Schatten der Brückenmauer stehen und spähte um die Ecke. Die Hexe und der Inquisitor waren so nah, dass er die Worte, die sie wechselten, über das beständige Rauschen des Wassers hinweg gut verstehen konnte. Und der Schein einiger heller Lichter vom jenseitigen Ufer und ihre Reflexionen auf dem Wasser ließen ihn die beiden Personen erkennen, denen er bis an diesen einsamen Ort gefolgt war.

Marcella und Institoris standen auf einem schmalen Streifen festgestampfter Erde, der an dieser Stelle das erhöhte Ufer des rasch dahinströmenden Flusses bildete und unter der Brücke hindurchführte, und befanden sich etwa auf halber Höhe zur anderen Seite. Der Ort war höchstwahrscheinlich auch bei Tage verlassen und bot die ideale Kulisse für eine ungestörte Unterhaltung. Doch was hatten die beiden zu besprechen, was sie nicht auch in der Abgeschiedenheit ihres Hotelzimmers hätten bereden können? Und wieso waren sie dazu ausgerechnet an diesen Ort gekommen?

Auf den ersten Blick erkannte Wolfgang, dass Marcella und Institoris in eine verbale Auseinandersetzung verwickelt waren. Marcella stand mit dem Rücken zum Fluss und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als wäre ihr kalt. Der Inquisitor lehnte nur wenige Meter von ihr entfernt mit der Schulter gegen den gemauerten Grundbau der Brücke, der den schmalen Fußweg auf einer Seite begrenzte. Da Institoris dem heimlichen Beobachter den Rücken zuwandte, erkannte Wolfgang erst auf den zweiten Blick, dass er eine Pistole in der Hand hielt, deren Mündung auf die Hexe gerichtet war. Hatte sich also Wolfgangs Verdacht bewahrheitet, dass der Inquisitor die Hexe mittlerweile durchschaut hatte und wusste, wen er in Wirklichkeit vor sich hatte?

Wolfgang rührte sich keinen Millimeter von der Stelle, um seine Anwesenheit nicht versehentlich zu verraten, während er alles aufmerksam beobachtete und interessiert den Worten der beiden lauschte.

»In Wirklichkeit bist du also eine Hexe! Mehr muss ich nicht wissen, um zu erkennen, mit wem ich es hier tatsächlich zu tun habe.«

»Aber ich liebe dich trotzdem, Michael. Das musst du mir einfach glauben.«

»Liebe?« Der Inquisitor lachte humorlos und hämisch. »Als wenn Kreaturen wie du zu derartigen Gefühlen überhaupt in der Lage wären. Und warum sollte ich dir auch nur ein einziges Wort glauben? Du hast mich die ganze Zeit über nach Strich und Faden belogen. Erzähl mir also nicht, dass du ausgerechnet jetzt damit anfängst, die Wahrheit zu erzählen. Dir geht es doch nur darum, dein armseliges Leben zu retten, und dazu ist dir vermutlich jedes Mittel recht. Außerdem ist ohnehin alles gelogen, was ihr Luziferianer von euch gebt, sobald ihr nur den Mund aufmacht. Das weiß doch jeder.«

»Ich bestreite ja gar nicht, dass ich eine Hexe bin und dich getäuscht habe«, wandte Marcella ein. »Aber … aber ich wollte dir mit Sicherheit nie schaden. Zumindest das musst du mir glauben, auch wenn du mich wegen all der bisherigen Täuschungen zu Recht verachtest. Aber nur weil ich eine Hexe bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht fähig wäre, die Wahrheit zu sagen oder jemanden zu lieben.«

»So? Dann muss man mir während der Ausbildung die Unwahrheit erzählt haben, als man mich lehrte, dass Luziferianer – und dazu gehört ohne Zweifel auch das Hexengezücht – keine wahren Gefühle entwickeln können, weil sie gottlose Wesen ohne Seele sind. Willst du allen Ernstes behaupten, dass meine Vorgesetzten und Ausbilder und alle andere Repräsentanten der Kirche und der Inquisition, die diese Meinung teilen, Lügner sind?«