Knautschzone: Zwischen Sein und Schein - Edith Parzefall - E-Book

Knautschzone: Zwischen Sein und Schein E-Book

Edith Parzefall

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Beschreibung

Die Arbeit ist Laras Lebensinhalt – bis sie gefeuert wird. Sie sucht das Vergessen am Boden einer Whiskyflasche. Im Vollrausch bucht sie nicht nur eine Reise nach Chile, sondern zerstört auch noch die Beziehung zu ihrem besten Kumpel. Statt sich ihrem verkorksten Leben zu stellen, fliegt sie nach Südamerika. Dort lernt sie den Rucksacktouristen Rick kennen, dessen Spielchen sie auf der Fahrt entlang der Panamericana effektiv von ihren Problemen ablenken. Dieselbe Strecke nimmt auch Enrique mit seinem Sattelschlepper, doch die Einsamkeit der Atacamawüste setzt ihm immer mehr zu. In Gedanken unterhält er sich mit seiner Frau, die ihn immer öfter zur Heimkehr drängt. Mit wachsender Beklemmung tritt er die Rückfahrt an. Als Lara seinen Weg kreuzt, wirft der Zusammenstoß beide aus der Bahn und zwingt sie, unangenehmen Wahrheiten ins Auge zu blicken.

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Impressum
Danksagung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Über die Autorin
Auszug: Germknödel in Burgundersoße

Knautschzone

Zwischen Sein und Schein

von

Edith Parzefall

 

 

 

 

 

 

Impressum

Copyright © 2013 Edith Parzefall

 

Verlag: Edith Parzefall

Ritter-von-Schuh-Platz 1, 90459 Nürnberg, Deutschland

E-Mail: [email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten.

Danksagung

 

Ich möchte mich ganz herzlich bei dem fantastischen Krankenhauspersonal in Cocimbo und bei den Carabineros de Chile bedanken, die sich großartig um meinen Partner und mich kümmerten, während ich für meinen Roman Erfahrungen aus erster Hand gewinnen durfte, wenn auch schmerzhafte.

Ein besonderer Dank geht an Duncan, der mir Chile als tolles und sicheres Reiseziel empfohlen hatte. Ohne ihn würde dieser Roman nicht existieren.

Meine Lektorin Kathrin Brückmann (www.lekto-ratio.de) gab meinem Roman den nötigen Feinschliff und einen schönen Umschlag. Vielen Dank!

 

Obwohl Knautschzone von realen Erlebnissen inspiriert wurden, sind die Figuren und Ereignisse in diesem Buch ein Produkt meiner Fantasie oder werden fiktional verwendet. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Kapitel 1

 

Lara Carter rollte sich auf ihrer linken Seite zusammen. Ihr Schädel brannte. Verzerrte Erinnerungen stiegen im Nebel ihres Kopfes auf. Ihr Magen krampfte, als sie sich fragte, wie viele Single Malts sie den vier Bieren hinterhergekippt hatte. Wellen schienen ihr Bett schwanken zu lassen. Ihre Finger bohrten sich Halt suchend in die Matratze. Eine warme Hand strich über ihren Bauch und legte sich um ihre Taille. Nein! Bitte nicht! Sie riss die Augen auf und drehte sich um. Oh Gott, was hatte sie getan?

Daniel lag neben ihr, die Lippen leicht geöffnet, das Gesicht blass unter den dunklen Stoppeln. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, um ihn nicht zu wecken. Der Geruch von Schweiß, Sex und Whisky attackierte ihre Nase und ihren Magen.

Sie unterdrückte ein Stöhnen und starrte an die Decke. Daniel, ihr Kollege und guter Freund seit Jahren, ein Computerfreak, der ständig Überstunden machte, sich das neueste elektronische Spielzeug kaufte und Gigabytes an Comics sammelte. Sie war schon oft versucht gewesen, sein Leben etwas zu würzen, hatte sich aber nie getraut, diese Grenze zu überschreiten.

Seine Hand brannte auf ihrer Haut und brachte verworrene Bilder zurück. Ihr Kopf pochte noch schlimmer. Eine Klinge schien in ihrer rechten Schläfe zu stecken. Sie warf einen Blick auf den Wecker. Es war zwanzig nach acht, also Zeit, aufzustehen und sich der Peinlichkeit zu stellen.

Oh verdammt, wie konnte sie das vergessen? Niemand erwartete sie in der Arbeit. Man hatte sie gefeuert. Und das nur ein paar Monate vor ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag, für den sie schon eine nette kleine Midlife-Crisis geplant hatte. Genau genommen hatte man sie als redundant entsorgt, aber das lief aufs Gleiche hinaus: ein Fußtritt in den Allerwertesten.

Mehr Puzzleteile des gestrigen Tages und Abends fielen an die richtige Stelle. Sie schlängelte sich unter Daniels Hand hervor und setzte sich auf. Ein großer Fehler. Das Zimmer drehte sich. Die Klinge rutschte durch ihren Kopf hindurch zur anderen Seite. Eines ihrer dunklen, langen Haare fiel ihren nackten Arm hinab und ließ sie schaudern. Sie strich es weg und bekam eine Gänsehaut.

Ein neues Bild flackerte hinter ihren Augen auf. Traum oder Wirklichkeit? Panik beschleunigte ihren schläfrigen Puls. Sie brauchte Klarheit, zog ihr T-Shirt über und torkelte ins Wohnzimmer, wo sie sich das Telefon schnappte. Die vergangene Nacht nahm immer schärfere Konturen an und glühte in viel zu leuchtenden Farben. Ihr wurde übel, während sie Bridgets Nummer wählte.

Nach dreimaligem Klingeln nahm ihre beste Freundin ab. »Hey, du lebst noch!«

»Sag mir eins. Hab ich letzte Nacht einen Flug nach Südamerika gebucht?«

Bridget gackerte. »Klar hast du das. Check deine E-Mail.«

Lara sank auf ihren Schreibtischstuhl. »Warum hast du das zugelassen?« Ein unsichtbarer Folterknecht hämmerte gegen ihre Schläfen, aber wenigstens war das Messer rausgerutscht.

»Hörte sich nach einer super Idee an. Wenn ich mich recht erinnere, fliegst du in zwei Wochen. Ich werde deine Pflanzen gießen.«

Lara schluckte trocken. »Mach dir keine Mühe. Ich werde die Buchung stornieren.«

»Warum denn? Jetzt hast du ausnahmsweise mal Zeit für so etwas, bevor du in der nächsten Tretmühle landest.«

»Hey, ich bin arbeitslos, da kann ich nicht einfach auf Weltreise gehen.« Ärger kochte in ihr hoch, als sie daran dachte, wie ihr der rückgratlose Harold stotternd erklärte, dass sie im letzten Quartal nicht genug Gewinn gemacht hatten … Als würde sie im Vertrieb arbeiten. Sie war Projektmanager, und ihr Team hatte jeden Termin in den letzten –

Bridgets Stimme drang durch das Gewitter in ihrem Kopf. »… eine hübsche Abfindung. Das ist der perfekte Zeitpunkt, um mal etwas von der Welt zu sehen. Wenn du es jetzt nicht machst, wirst du so was niemals tun.«

Kalter Schweiß ließ Lara schaudern. »Es war Chile, oder?«

»Genau, jemand meinte, es sei das sicherste Land in Südamerika.«

Durch den Nebel in ihrem Kopf tauchten die aufgeregten Gesichter und Stimmen ihrer Kollegen auf, die alle ein Reiseziel empfahlen: Bangkok, Fidschi, Rio …

Bei dem Kater konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen, ganz zu schweigen von einer Entscheidung. »Ich leg mich wieder schlafen.«

»Moment. Weißt du, ob Daniel gut nach Hause gekommen ist? Der war ja auch ziemlich voll.«

Lara krümmte sich. »Dem geht’s gut, glaub ich.« Sie stand auf und ging zum Fenster, als könne sie damit der nächsten Frage entfliehen.

»Was? Woher …«

Von ihrem kleinen Queen-Anne-Hill-Apartment aus hatte sie einen fantastischen Ausblick auf den Puget Sound, der in der Sonne glitzerte. Sie räusperte sich. »Wir haben uns ein Taxi geteilt und … Dann ist alles etwas außer Kontrolle geraten.«

»Lara! Mit Daniel? Was für ein Traumpaar: Workaholic und Geek.« Das Grinsen war deutlich in Bridgets Stimme zu hören. »Er ist wirklich süß und vielleicht genau das, was du jetzt brauchst. Du musst mir alles erzählen.«

»Nicht jetzt, bitte. Morgen, wenn ich mich bis dahin noch nicht aus dem Fenster gestürzt habe.«

Bridget lachte. »Das kann ich natürlich nicht zulassen. Wir sehen uns heute Abend in Charlie’s Bar. Keine Ausflüchte.«

Lara schlich zu ihrem Bett zurück, um sich einem weiteren Albtraum zu stellen. Daniel lag auf der Seite und umklammerte mit einem bloßen Arm die Bettdecke. Unter dem zerzausten Schopf schwarzer Haare sah sein Gesicht im Schlaf so anders aus, jungenhaft, trotz des Dreitagebarts, und verletzlich. Keine Spur seines zynischen Witzes oder seiner Hyperaktivität, die er im Büro versprühte. Sie schlüpfte hinter ihm ins Bett und stupste ihn in den Rücken. »Wach auf.«

Daniel grunzte.

»Du hast noch ’nen Job.«

Er drehte sich um und blinzelte. »Lara?«

Sie musste lächeln. »Ziemliche Überraschung, oder?«

Ein Grinsen eroberte sein Gesicht. »Davon hab ich gelegentlich schon fantasiert.«

Lara stöhnte auf und zog sich die Decke über den Kopf. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war eine romantische Verstrickung.

Auf einen Ellbogen gestemmt zog er die Decke zurück und sah sie mit seinen funkelnden braunen Augen an. Laras Blick glitt über seine glatte, unbehaarte Brust, die zu einer Berührung verlockte. Sie beherrschte sich. Gestern hatte sie ihn gebraucht, um ihren Zorn zu besänftigen und den Schmerz ihrer Entlassung zu lindern. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu blicken. »Oh bitte, guck mich nicht so an.«

»Wie guck ich denn?«

Sie verachtete sich schon, bevor sie sprach: »Du weißt, dass es ein Fehler war.«

Der Funke in seinen Augen erlosch. Er rollte sich auf den Rücken und seufzte. »Ein Fehler?« Seine Stimme klang gepresst.

Wie konnte sie den Stachel aus ihren Worten nehmen, ohne ihn zu ermutigen?

»Darf ich deine Dusche benutzen?«, fragte er.

»Klar. Im Spiegelschrank im Bad sind Schmerztabletten.«

»Danke, aber ich glaub nicht, dass die helfen.« Er setzte sich auf, schlüpfte in seine Boxershorts und sammelte seine verstreuten Klamotten ein. Ein Teil von ihr wollte ihn zurück ins Bett zerren, sich an ihn kuscheln – und mehr. Ihre Haut erinnerte sich noch an die Berührung seines Körpers.

Er wandte sich um, blickte auf sie hinab und kaute auf den Innenseiten seiner Wagen. Wartete er darauf, dass sie ihm sagte, es sei nur ein Witz gewesen? Sie schloss die Augen. Nackte Füße patschten über den Parkettboden.

Sie verbannte die verschwommenen Erinnerungen an ihre Liebesnacht und versuchte, in den Schlaf zurückzusinken, um alles zu vergessen, aber da tauchten andere quälende Bilder vor ihrem geistigen Auge auf. Sie hörte sich groß tönen, dass sie ganz allein in ein exotisches Land reisen und Spaß haben würde. Eddie, der Verräter, hatte sofort seinen Laptop hervorgeholt und über die Wireless-Verbindung angefangen, im Internet nach interessanten Zielen und den billigsten Flügen zu suchen, während Daniel den Arm um sie gelegt hatte.

Lara hörte das Rauschen aus dem Badezimmer und bedauerte, dass sie ihn so grob aus dem Bett geworfen hatte, aber für eine Entschuldigung war es jetzt zu spät. Sie wollte schreien. Schlaf konnte sie vergessen. Eine Flucht auf die Südhalbkugel wirkte immer verlockender. Sie brauchte Kaffee, musste ihre E-Mails lesen und herausfinden, wohin die aberwitzige Reise gehen sollte. Vielleicht hatte sie ja im Delirium einen Flug nach Medellín gebucht, zu einer Fiesta mit den Drogenbaronen.

* * *

In kurzem Rock und Tanktop unter einer schwarzen Lederjacke betrat Lara Charlie’s Bar, eine ihrer Lieblingskneipen und ein wenig bekanntes Juwel in Seattle. Trotzdem wollte sie jetzt absolut nicht hier sein. Blind in der plötzlichen Dunkelheit schob sie ihre Sonnenbrille in die Haare und wartete, bis sich ihre Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten.

Hinter der Theke winkte Charlie. Lara lächelte und schritt zu ihm, während sie die wenigen Gäste musterte. Bridget war noch nicht da, also schwang sie sich auf einen Barhocker.

Charlie ließ seine unglaublich weißen Zähne blitzen. »Hi Süße, wie geht’s dir?«

»Frag lieber nicht.«

Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Mitleid und Belustigung. »So schlimm?«

»Schlimmer. Gib mir ’ne Bloody Mary. Wie läuft’s mit deiner brasilianischen Schönheit?«

Er zog eine Grimasse. »Frag nicht.«

»Oh, tut mir leid.«

»Ich hab um elf Feierabend, falls du tanzen gehen willst.« Er zwinkerte ihr zu und schenkte Tomatensaft in ein Glas.

Lara wand sich. »Ich hab nicht so viele männliche Freunde, und ich glaube nicht, dass ich mit jedem von ihnen schlafen sollte.«

Charlie lachte. »Okay, spuck’s aus. Was ist passiert?«

»Ich hab riesigen Mist gebaut. Gestern haben sie mich gefeuert, also hab ich mich um meinen Verstand gesoffen und dann einen Flug nach Chile gebucht. Um noch eins draufzusetzen, bin ich dann auch noch mit einem guten Freund und Kollegen – Ex-Kollegen – im Bett gelandet.«

»Wow, Chile! Klasse.«

Lara seufzte. »Ich hab das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst.«

Ein Arm legte sich um ihre Schultern. Lara blickte in Bridgets lächelndes, von natürlichen blonden Locken umrahmtes Gesicht. »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen.«

Bridget grinste Charlie an. »Hast du was typisch Chilenisches?«

Er holte eine Flasche vom Regal, auf deren Etikett der Name Pisco prangte. »Klar, ich mix dir was.«

»Super.« Bridget schleppte sie zu einem der Tische und ließ sich aufs Ledersofa fallen.

Lara setzte sich ihr gegenüber in den Sessel, legte die Arme übereinander auf den Tisch und funkelte sie an. »Ich flieg nicht. Vergiss es.«

Bridget schüttelte den Kopf. »Warum nicht?«

»Weil ich nicht will.«

»Letzte Nacht wolltest du die ganze Welt bereisen.«

»Ich war betrunken.«

Bridget blickte verschmitzt drein. »In vino veritas.«

»Ich hab Bier und Scotch getrunken, keinen Wein. Du kannst dir also deine lateinischen Weisheiten sonst wohin stecken.«

»Ach hör auf. Du hättest den Flug nicht gebucht, wenn du nicht endlich mal was von der Welt sehen wolltest. Jetzt hast du die Chance.«

»Sie hat recht.« Charlie stellte Bridgets Cocktail vor sie auf den Tisch und marschierte davon.

Lara seufzte. »Die Buchung ist nicht das Einzige, das ich bereue.«

Bridget richtete sich auf. »Genau, erzähl mir von Daniel.«

»Daniel war … toll, aber heute Morgen habe ich ihn ziemlich unsanft rausgeworfen.«

»Echt jetzt?« Mit offenem Mund schüttelte sie den Kopf und ließ die Locken um ihr Gesicht hüpfen. »Dann solltest du ›toll‹ etwas genauer definieren.«

Lara warf die Stirn in Falten. Wenn sie sich nur besser erinnern könnte, an mehr als die finale Ekstase und das wohlige Gefühl, in seinen Armen einzuschlafen.

Bridget drängte weiter. »Sag schon, wie war Mr. Geek als Liebhaber?«

»Bridget!« Laras Wangen glühten. »Du bist verheiratet. Hör auf, darüber nachzudenken, wie andere Männer im Bett sind.«

Grinsend lehnte sich Bridget zurück und verschränkte die Arme. »Na gut, dann sag mir, warum du ihn rausgeworfen hast, wenn er doch so toll war.«

»Weil wir schon seit Jahren befreundet sind. Wir kennen einander viel zu gut.«

Bridget verdrehte die Augen. »Und deswegen kannst du dich nicht in ihn verlieben?«

»Genau. Ich würde ihm nur wehtun.«

»Wenn du mich fragst, hast du Bindungsangst«, brummte Bridget.

»Ich bilde mir ein, dass ich bis gestern ein sehr glückliches Leben geführt habe.«

Bridget saugte an ihrem Strohhalm, dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist arbeitssüchtig und gehst nur mit Kollegen aus. Was für ein Leben soll das sein?«

»Was sollte ich denn sonst noch brauchen?«

»Wie wäre es mit etwas Aufregung? Ein Abenteuer? Liebe?«

Lara atmete tief durch, aber bevor ihr eine Antwort einfiel, sprach Bridget weiter: »Wann hattest du das letzte Mal Sex?«

Lara knurrte: »Letzte Nacht.«

»Ich meine davor.«

Sie ließ sich gegen die Lehne sinken. »Vor über einem Jahr. Na und?«

»Das war Alex, richtig? Wie lange ging das, bevor du die Flucht ergriffen hast?«

»Ein halbes Jahr. Meine übliche Zeit, bevor der Dopamin-Level wieder auf einen normalen Wert sinkt. Manche nennen es Liebe, ich nenne es verrücktspielende Neurotransmitter. Deine sogenannte Liebe dauert gerade so lange, bis das Weibchen mit größter Wahrscheinlichkeit schwanger geworden ist. Und das ist nicht nur bei Wirbeltieren so. Die Tricks der Natur –«

»Oh, bitte! Verschone mich. Ich wünschte, du hättest nicht Biologie studiert. Wie kannst du in so einer entzauberten Welt leben?«

»Ist nicht immer einfach.«

Bridget stöhnte. »Warum steigst du nicht auf dein Pferd und reitest in den Sonnenuntergang, einsames Cowgirl?«

Lara lächelte. Mit Bridget zu reden, heiterte sie immer auf. »Lass mich erst noch austrinken.«

»In Chile wird es Frühling sein. Du könntest dem Regen und Nebel entfliehen.«

Manchmal hielt die Aufheiterung nicht lange an. Sie blickte ihre hartnäckige Freundin durch ihre dunklen Ponyfransen an. »Und was soll ich da?«

»Ich glaube, dass unter deinem Panzer ein Kind lungert. Lass die Kleine zum Spielen raus. Lass sie frei. Fang an zu leben und tu nicht nur so als ob.«

Lara schüttelte den Kopf. »Ich muss einen neuen Job finden.« Sie brauchte einen Anker, etwas, das sie erdete.

»Musst du nicht. Nicht sofort. Du sollst dich nicht gleich wieder in Arbeit vergraben. Du hast die Abfindung und Zeit. Versuch’s wenigstens.«

Lara schaffte ein schwaches Lächeln und spürte, wie ihr Widerstand bröckelte. »Ich werd drüber nachdenken.«

Bridget nickte und leerte ihr Glas. »Okay, ich muss jetzt los. Ich kann Hank nicht zwei Abende hintereinander mit den Kindern allein lassen.« Sie klang jetzt beinahe zerknirscht. »Dir geht’s doch gut, oder?«

»Klar.«

Bridget stand auf und küsste sie auf die Wange. »Du packst das. Lebe, liebe und riskier was.«

Lara sah ihr nach, als sie zur Bar ging, Geld auf die Theke legte und ein paar Worte mit Charlie tauschte. Er nickte in Laras Richtung, ohne sie anzublicken. Sie stöhnte leise und versuchte, sich nicht vorzustellen, worüber die beiden redeten. Sie würde auch zahlen und flüchten, sobald Bridget verschwunden war und bevor Charlie sie mit Beschlag belegen konnte.

Sie wandte sich ab und nippte an ihrem Drink. Sie liebte ihre Freunde, außer wenn diese sie wie ein Kind behandelten. Sie war glücklich mit ihrem Leben – mehr oder weniger.

»Hab mir schon gedacht, dass ich dich hier finde.«

Beim Klang von Daniels Stimme zuckte Lara zusammen. In seinem Gesicht fand sich keine Spur des üblichen spöttischen Lächelns, seinem Markenzeichen. Ihr Puls beschleunigte sich. »Daniel?« Er trug immer noch dasselbe T-Shirt mit dem Silver-Surfer-Aufdruck und die eng anliegende schwarze Jeans. Er hatte heute Morgen offensichtlich keine Zeit zum Umziehen gehabt, bevor er ins Büro musste.

Er nickte zum Sofa ihr gegenüber. »Darf ich?«

»Klar, aber ich wollte gerade gehen.« Selbst für sie klangen ihre Worte lahm, wie eine Entschuldigung, sich aus dem Staub zu machen.

»Ich werde dich nicht aufhalten.« Er ließ sich in die Kissen sinken. »Wie geht’s dir?«

»Besser dank der Schmerztabletten und einem Nickerchen am Nachmittag.« Sie bemühte sich, gelassen zu klingen, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Sie verbarg ihre Hände unter dem Tisch, damit sie nicht ihre Gefühle verraten konnten.

»Tut mir echt leid, Lara. Ich wollte die Situation nicht ausnutzen.«

»He, da gehören immer noch zwei dazu.«

Er schwieg, und sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte, wie sie letzte Nacht ungeschehen machen und ihre Freundschaft retten konnte.

Schließlich fragte er: »Du bist nicht sauer auf mich?«

»Natürlich nicht.« Wie konnte sie auch?

Ihre Blicke trafen sich. Sein linker Mundwinkel verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Aber du willst mich nicht mehr sehen?«

Lara scheute sich, aber sie musste ehrlich sein. »Wir waren gute Freunde, Daniel, und letzte Nacht tut mir leid. Es war ein Fehler. Mein Fehler.« Sie hasste sich selbst, kam sich vor, als hätte sie einen treuherzigen Welpen getreten.

Daniel blickte zur Tür. Nach einigen Sekunden sah er sie wieder an. »Wie kannst du etwas, das sich so richtig angefühlt hat, einen Fehler nennen?«

Wie ein Geist erschien Charlie an seiner Seite. »Hallo Daniel. Was möchtest du?«

Er schüttelte den Kopf, hielt aber die Augen immer noch auf sie gerichtet. »Nichts, Charlie. Ich verschwinde. Gute Reise, Lara.« Er stand auf. »Ruf mich an, wenn du dich von dem Schock erholt hast.«

Verdutzt starrte Lara ihn an. »Was für ein Schock?«

»Darüber, dass du mit jemandem geschlafen hast, der sich was aus dir macht.« Er wandte sich ab und schritt zum Ausgang.

Lara blickte ihm nach und hoffte, dass er sich umdrehte und ihr ein spöttisches Lächeln sandte.

»Was hast du jetzt wieder angestellt?«, fragte Charlie.

Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

 

Kapitel 2

 

Morgennebel driftete vom Meer heran landeinwärts, löste sich aber auf, bis der Bürgermeister von Concepción seine Rede beendet hatte. Als auch der Heeresführer Chile pries und zum Patriotismus aufforderte, stand die Sonne hoch am azurblauen Himmel. Enrique Lopez setzte seinen schwarzen Hut mit dem rot-weiß-blauen Band auf und kümmerte sich nicht mehr länger darum, ob er jemandem die Sicht versperrte. Die Militärkapelle führte die Parade an, gefolgt von Infanterie, Marine und den Carabineros.

Enrique schlang einen Arm um die Schultern seiner Frau. Da Maria zehn Zentimeter kleiner war als er, konnte sie kaum etwas vom Umzug zur Feier des Unabhängigkeitstags sehen, also schob er sie weiter nach vorne. Als die Tanzgruppen hinter der Blaskapelle in Sicht kamen, suchte er nach den Gesichtern seiner Söhne unter den Kindern, die die Farben ihrer Vereine trugen.

»Da sind sie! Unsere Jungs.« Maria lächelte ihn über die Schulter an. »Sie sind so süß und sehen so ernst aus.«

Enrique entdeckte den achtjährigen Stefano und seinen kleinen Bruder unter den Tänzern. In ihren traditionellen Klamotten sahen sie wie Miniatur-Gauchos aus: schwarze Hüte, Ponchos, Reitstiefel und Sporen. Mit stolz erhobenen Köpfen tanzten sie die Cueca mit puppenhaften Mädchen in rot-weißen Kleidern. Genau das richtige Alter, um sich erwachsen zu geben. In ein paar Jahren wären sie für so einen altmodischen Zirkus bestimmt zu cool. Als Jugendliche würden sie gefährlichere Wege finden, um Chiles Unabhängigkeit zu feiern.

Manchmal verfluchte Enrique seine Arbeit, die ihn oft wochenlang von seiner Familie fernhielt und ihn die besten Jahre mit seinen Söhnen verpassen ließ. Aber wenigstens konnte er den Feiertag in vollen Zügen genießen. Nach der Parade würden sie seine Schwiegereltern abholen und mit ihnen zum Strand fahren, picknicken, Fußball spielen und vielleicht Drachen steigen lassen.

Maria winkte den Jungs zu, aber sie schienen ihre Mutter nicht zu bemerken. Mehr Leute versammelten sich und drängten in die Hauptstraße, um den Umzug zu sehen, aber die Tänzer schienen unbeeindruckt von der wachsenden Menge.

Enriques Gedanken eilten wieder voraus. Am Abend würden sie die Jungs bei ihren Großeltern lassen und zur Rampada gehen, essen, trinken und tanzen, bevor sie dann in ein Haus ohne Kinder heimkehrten und sich ungestört lieben konnten. Er strich Marias langes, schwarzes Haar zur Seite, beugte sich vor und küsste ihren Hals. Sie gluckste wie ein junges Mädchen. In ihrem weißen Kleid mit dem tiefen Ausschnitt und dem weiten Rock sah sie genauso aus wie damals, als er ihr zum ersten Mal begegnet war.

Die bunte Prozession spülte Stefano und seinen Bruder mit sich fort. Enrique nahm die Hand seiner Frau und führte sie durch die Menge zur Plaza, wo die Parade endete. Maria zog an seiner Hand und blieb stehen. Er wandte sich zu ihr um. Sie küsste ihn. »Du siehst schneidig aus, Querido.«

Er grinste. »Muss an den Klamotten liegen.« Er sah an sich hinab auf die schwarze Jacke über dem weißen Hemd und die enge schwarze Hose, die in Reitstiefeln steckte. Sporen und Poncho waren ihm allerdings zu lästig gewesen.

Er lächelte Maria an. Sie hatte ihre Lippen knallrot angemalt und die Lider ihrer funkelnden Augen schwarz nachgezogen. »Du bist immer noch die schönste Frau für mich, selbst nach fast zehn Jahren Ehe.« Er zog sie an sich und atmete den vertrauten Geruch von Vanille ein, bevor er sie küsste.

Sie flüsterte in sein Ohr: »Ich will, dass du zu unserem Hochzeitstag nach Hause kommst.«

Kalter Nebel waberte durch seinen Körper. Die Gesichter um ihn herum verschwammen.

* * *

Nachdem sie in Santiago de Chile die Einreisekontrollen passiert hatte, bestieg Lara ein Flugzeug nach Calama, einer Minenstadt über tausend Kilometer nördlich der Hauptstadt mitten in der Atacamawüste. Von ihrem Fensterplatz aus konnte sie die verschneiten Konturen der Anden und die braunen Gipfel der Kordilleren sehen und manchmal auch einen Streifen Meer und weißen Sand. Vorfreude verscheuchte ihre Nervosität.

Während sie an der Gepäckausgabe wartete, schrieb sie ihrer Mutter in einer SMS, dass sie gut angekommen sei. Als sie ihren roten Koffer entdeckte, wuchtete sie ihn vom Band, rollte ihn zum Mietwagenschalter und zeigte ihre Reservierung vor. »Hallo, ich habe einen Suzuki Vitara gebucht.«

Die Frau blickte lächelnd zu ihr auf, nahm das Blatt und tippte auf der Tastatur, während sie den Bildschirm musterte. »Ah, ja. Sie bekommen ein Upgrade auf einen Nissan X-Trail.«

Laras Enttäuschung musste ihr ins Gesicht geschrieben sein, denn die Frau fügte hinzu: »Der kostet normalerweise zwanzig Dollar mehr pro Tag, aber Sie müssen nichts draufzahlen.«

»Na gut, es ist nur so, dass ich den Suzuki wollte, weil er kleiner und wendiger ist.«

»Dann brauche ich noch Führerschein, Kreditkarte und Reisepass, bitte.«

Lara gab es auf, den spanischen Vertrag lesen zu wollen, und unterschrieb. Sie trat nach draußen in die Nachmittagssonne. Die trockene Luft flirrte. Sie ließ den Blick über den Parkplatz schweifen und weiter über den gelben Sand dahinter. Nun war sie wirklich in Chile angekommen.

Sie ging zur Mietwagenausgabe und zeigte ihren Vertrag einem gelangweilt dreinschauenden Mann mit ledrigem, braunem Gesicht. Er deutete zu einem schwarzen Monster. Einen so großen Geländewagen hatte sie noch nie gefahren. Sie bedankte sich und stieg ein. Sobald sie den Sitz eingestellt hatte, riss sie die Karte von Calama aus ihrem Reiseführer, wühlte in ihrem Rucksack nach Tesafilm und klebte das Blatt ans Lenkrad. Ein roter Kreis markierte das Hotel, in dem sie ein Zimmer gebucht hatte.

Der X-Trail ließ sich überraschend angenehm fahren, und Lara genoss es, so hoch zu sitzen und den Verkehr vor ihr zu überblicken. Die Uhr am Radio zeigte Viertel nach vier an, genug Zeit, um das Hotel zu finden und dann die Tourist Information. Sie folgte den Schildern nach Calama, das nur zehn Kilometer entfernt lag.

Brauner Sand erstreckte sich rechts und links der Straße. Keine Pflanzen. Sie kam sich wie in einer Szene aus Mad Max vor. Die Straße stieg zu einer Überführung über die Landstraße an, die sie morgen Nachmittag nach San Pedro de Atacama nehmen würde. Von der Kuppe aus sah sie die Stadt Calama und dahinter die Kamine und schwarzen Gebäude der Chuquicamata-Mine.

Zweistöckige Wohnhäuser mit kleinen Vorgärten, Zäunen und Hofeinfahrten erhoben sich zu beiden Seiten der Straße. Der Verkehr wurde dichter und kam ins Stocken, während immer höhere Gebäude den Weg säumten. Geschäfte und Restaurants dominierten die Erdgeschosse. Fußgänger überquerten fröhlich die Einfallstraße, ohne sich um rote Ampeln zu kümmern.

Lara passte sich an den zockelnden Verkehrsstrom an, aber bald sollte ihre Abzweigung kommen. Obwohl sie so häufig anhalten musste, konnte sie kaum die Straßenschilder lesen, bevor sie weiterfahren musste. Was für ein Chaos!

Sie setzte den Blinker, bog nach rechts ab und bemerkte ihren Fehler, als zwei Autos nebeneinander vor ihr standen. Eine Einbahnstraße ohne entsprechende Beschilderung! Sie blickte nach hinten. Der Verkehr floss an ihr vorbei. Da sie nirgends hinkonnte, setzte sie ganz langsam zurück. Jemand hupte. Sie schaltete und schaffte es, das schwarze Monster zu wenden. Als die anderen Autos an der Ampel hielten, bog sie zurück in die Hauptstraße. Hätte sie doch nur ein Navi dazugebucht, aber das war ihr albern vorgekommen, eine Geldverschwendung, da sie vor allem kleine Orte besuchen wollte.

Lara atmete tief durch. Entspann dich, alles ist unter Kontrolle. An der nächsten Ampel holte sie die Autokolonne ein und wischte ihre Hände an ihrer Hose ab, während sie den Verkehr beobachtete. Okay, andere Autos fuhren in die nächste Seitenstraße. Sie blickte wieder auf die Karte. Das Hotel sollte ganz in der Nähe sein. Wieder Gehupe. Die Ampel hatte umgeschaltet. Sie gab Gas, bog nach rechts ab und sah ein Hotelschild an der nächsten Ecke. Erleichtert parkte sie am Straßenrand und stieg aus.

Der Eingang zum Hotel war verschlossen. Merkwürdig. Lara drückte auf die Klingel und blickte die Straße auf und ab. Vielleicht war die Gegend nicht besonders sicher. Dann musterte sie die heruntergekommenen Häuser. Mit einer Schicht Farbe würden manche von ihnen herrschaftlich wirken. Für andere bestand die letzte Hoffnung in einer Abrissbirne. Stromkabel hingen an Masten entlang des Gehsteigs. Von manchen baumelten lose Enden, nachdem sie wohl schon öfter geflickt worden waren.

Das metallische Kratzen eines Schlüssels ließ sie wieder zum Hoteleingang blicken. Eine Frau öffnete die Tür und musterte sie von Kopf bis Fuß, dann zog sie die Augenbrauen hoch.

»Ich habe ein Zimmer für eine Nacht gebucht«, sagte Lara in rostigem Spanisch. »Auf den Namen Carter.«

»Oh, ja. Kommen Sie herein.« Sie führte Lara zum Empfang und reichte ihr ein Formular und einen Stift.

Lara füllte die Anmeldung aus. Die Frau reichte ihr einen Schlüssel und brachte sie zu ihrem Zimmer. Lara ließ sich auf das schmale Doppelbett fallen. Nur fünfzehn Minuten ausstrecken und entspannen.

* * *

Als Lara wieder die Augen öffnete, war das Tageslicht dem Grau der Abenddämmerung gewichen. Noch benommen vom Schlaf drehte sie sich um und blickte auf ihre Armbanduhr. Fünf nach sechs. Mist! Die Tourist Information war inzwischen bestimmt geschlossen. Seufzend krabbelte sie aus dem Bett. Vielleicht konnte sie morgen einfach zur Mine rausfahren und ohne Buchung an der Tour teilnehmen. Sie stieg unter die Dusche und versuchte ihren Widerwillen, allein Essen zu gehen, wegzuspülen. Entlang der Hauptstraße hatte sie ein paar Restaurants gesehen.

Bis sie endlich aus dem Hotel trat, war die Nacht hereingebrochen. Menschen und Fahrzeuge wälzten sich durch die engen Straßen. Sie spazierte an Läden, Videotheken, Kneipen und Restaurants vorbei auf der Suche nach einem Lokal, in dem sie sich wohlfühlen würde. Wenn ihre Mutter sie so sehen könnte, würde sie vermutlich einen Herzinfarkt bekommen.

Ein kleines, gemütliches Restaurant verlockte sie. Nur wenige Tische waren besetzt, anscheinend von einheimischen Familien und Paaren. Sie trat ein und zögerte dann. Durfte sie sich einfach an einen freien Tisch setzen? Der Geruch von gebratenem Fleisch und heißem Fett hing in der Luft. Brutzelgeräusche ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ein Kellner kam mit zwei Tellern in den Raum und warf ihr einen schnellen Blick zu, bevor er seine Last vor den Gästen absetzte. Er eilte zu ihr und führte sie an einen der Tische. Als er die Speisekarte vor sie legte, lächelte er und deutete eine Verbeugung an. »Drink?«, fragte er auf Englisch, schien also sofort die Touristin in ihr erkannt zu haben.

»Cerveza, por favor«, antwortete Lara. Ein Bier würde sie jetzt entspannen.

Sein Gesicht lief rot an, während er ihr erklärte, dass das Restaurant keinen Alkohol ausschenken durfte.

Auch Laras Wangen glühten, als sie Wasser bestellte und sich auf die Speisekarte konzentrierte, um Blickkontakt mit anderen Gästen zu vermeiden. Sie überflog die spärliche Auswahl an Fischgerichten, erkannte aber keinen der Namen auf der Liste außer Lachs. Verunsichert durch ihren Ausrutscher wollte sie nicht ihren spanischen Essensführer konsultieren, also bestellte sie den Lachs. Während sie einsam und lustlos ihr Abendessen in sich hineinschaufelte, vermisste sie Bridget mehr denn je. Und Daniel. Im Geiste sah sie sein grinsendes Gesicht. Er würde jetzt mit ihr über den trockenen Wüstenfisch scherzen und danach mit ihr durch die Kneipen ziehen.

Wenn sie doch nur Daniel als Freund zurückbekommen könnte! Hätte sie ihn nicht rausgeworfen, wäre ihre Beziehung nach einigen Monaten sicher schal geworden, die überschäumenden Gefühlsbläschen allmählich geplatzt. Wie mit Alex. Als die Verliebtheit nach einem halben Jahr schwand, hatte sie festgestellt, wie wenig sie zueinander passten. Gegensätze ziehen sich an? Aber nicht sehr lange. Ihm war es genauso gegangen, und doch hatten sie ewig gebraucht, bis sie es sich eingestehen konnten. Eine qualvolle Zeit, in der sie beide einander etwas vorgemacht hatten. Wie bei anderen Kerlen zuvor war sie der Illusion erlegen, Gefühle ließen sich erzwingen, nur weil sie im Studium gelernt hatte, was da in der grauen Schlacke passierte. Wie naiv sie doch sein konnte. Für so ein Debakel war ihr Daniel zu schade.

Nur Freundschaft hatte wirklich Bestand. Man durfte sie nur nicht durch eine Liebesnacht zerstören, die kurze Lust bereitete, aber dann allerlei Unsinn im Schaltzentrum anrichtete. Lara verbannte diese sinnlosen Gedanken und Erinnerungen. Wenn das Restaurant doch bloß eine Alkohollizenz hätte!

 

Auf dem Weg zurück zum Hotel kam sie an einer Kneipe vorbei. Durch das große Fenster sah sie nur Männer, vermutlich Einheimische. Bestimmt waren einige davon Minenarbeiter. Bestimmt keine gute Idee, da reinzugehen. Allein zu reisen, brachte einige Nachteile mit sich. Sie schlurfte weiter in Richtung Hotel, dann blieb sie stehen und wirbelte herum. So konnte es nicht weitergehen. Das war ihre erste Soloreise, und sie würde nicht jeden Abend in einem Hotelzimmer hocken. Jetzt gönnte sie sich erst mal ein Bier.

Ihr Herz schaltete ein paar Gänge hoch, als sie die Tür aufschwingen ließ und eintrat. Jetzt bloß nicht dumm rumstehen. Schnell musterte sie die Tische. Alle besetzt. Während sie zur Bar ging, ignorierte sie die Blicke, die sie auf sich zog, schwang sich auf einen der wenigen freien Barhocker und erwiderte das überraschte Lächeln der Bedienung. Soweit Lara sehen konnte, bestand das Personal nur aus hübschen Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, während alle Gäste männlich waren. Jetzt verfluchte sie ihren Leichtsinn, konnte aber auch nicht einfach den Rückzug antreten. »Una cerveza, por favor«, sagte sie zur Bedienung und versuchte, selbstsicher zu klingen.

Der Mann neben ihr drehte sich um. Er sah aus wie fünfzig und trug Anzug und Krawatte. Sein breites Lächeln grub tiefe Falten in sein Gesicht.

»Turista?«

»Si.«

Sein Gesicht leuchtete auf. Er sprach mit der jungen Frau hinter der Theke, aber zu schnell, als dass Lara ihn verstehen konnte. Sie war mehr mit mexikanischem Spanisch vertraut, das ihre Freunde in der Nachbarschaft gesprochen hatten, und mit dem europäischen Spanisch, das sie in der Schule gelernt hatte.

Als der Mann sich ihr wieder zuwandte, sprach er wesentlich langsamer: »Ich hoffe, Ihnen gefällt unser schönes Land.«

Die Bedienung stellte ein Bier und ein Weinglas mit einer honigfarbenen Flüssigkeit vor sie.

»Das ist Chicha aus fermentierten Äpfeln«, erklärte ihr Saufkumpan. »Eine chilenische Spezialität, die zur Feier des Unabhängigkeitstags serviert wird.«

Lara konnte das Getränk nicht ablehnen, ohne sich wie ein Rüpel vorzukommen. Schließlich war das ihr erster richtiger Kontakt mit einem Einheimischen. Sie lächelte – nicht zu ermunternd, wie sie hoffte – und nahm einen Schluck des Getränks, das leicht süß schmeckte, fast wie Cider aber stärker, konzentrierter. »Danke, sehr lecker.«

Der Mann nickte. »Woher kommen Sie?«

»Aus den Vereinigten Staaten.«

»Ah, weit weg von zu Hause also. Reisen Sie allein?«

»Ähm, nein, ich treffe mich später noch mit Freunden.« Sie nahm einen weiteren Schluck und versuchte, lässig zu wirken. Sie hätte einfach in ihr Hotel gehen sollen. Sie hatte keine Ahnung, was der Kerl von einer Gringa erwartete, die sich Drinks spendieren ließ.

»Ich bin José. Wie heißen Sie?«

»Lara.«

Ein junger Mann trat zu ihnen und sprach viel zu schnell mit José, der lachte und ihr einen schwer zu deutenden Blick zuwarf. Lara beschloss, so schnell wie möglich auszutrinken und sich aus dem Staub zu machen. Während sich die Männer unterhielten, leerte sie den Chicha. Gelegentlich lächelte ihr die Bedienung schüchtern zu, was Lara noch mehr verunsicherte als das Starren der Kerle um sie herum. Ihr stellte es die Nackenhaare auf. Ob die zierliche Frau hinter der Bar wohl in der Lage wäre, einen Betrunkenen hinauszuwerfen, falls der ihren ersten weiblichen Gast seit Jahren belästigte? Bei der Vorstellung musste sie lächeln, griff sich ihr Bierglas und nahm einen großen Schluck.

José drehte sich wieder zu ihr. »Wohin wollen Sie von hier aus?«

»Ich möchte die Mine besuchen und dann weiter nach San Pedro de Atacama.« Der Chicha entfaltete langsam seine Wirkung. Ihr Nacken wurde warm und ihre Schultern entspannten sich.

Er nickte zustimmend. »Ein Drittel der Kupferproduktion der Welt stammt aus Chuquicamata.«

Lara gab sich beeindruckt. Sie hatte darüber gelesen, wollte aber nicht unhöflich sein.

»Fernando hier arbeitet in der Mine.« José neigte den Kopf in Richtung des jungen Mannes, der immer noch hinter ihm stand.

Lara wandte sich halb zu ihm um, einen Ellbogen auf die Bar gestemmt, das Bierglas in der Hand. »Was machen Sie da?«

»Ich fahre einen der Laster.« Er lächelte stolz.

»Das macht bestimmt Spaß.« Sie trank noch einen Schluck.

»Es ist gefährlich«, sagte Fernando nun auch etwas langsamer. »Ein Fehler, und jemand könnte sterben.«

Einen Augenblick fragte sie sich, ob er von der Arbeit oder etwas anderem sprach. Zeit, die Fliege zu machen. Allein. Sie trank wieder.

Zwischen Fahnen und Girlanden hingen Fernseher an allen vier Wänden. Auf den Bildschirmen tanzten Leute in volkstümlichen Kostümen zu chilenischer Musik und winkten mit weißen Taschentüchern. Süß.

»La cueca«, sagte José.

»Bitte?«

Er nickte zu einem der Schirme. »Der Tanz. Sie haben die Feierlichkeiten verpasst?«

»Ja, ich bin erst heute angekommen.« Eines Tages würde sie vielleicht ihre eigene Unabhängigkeit feiern, aber vorerst würde sie sich in ihr Hotel verdrücken. Sie winkte der Bedienung und verlangte, zu zahlen.

»Sie wollen schon gehen?« José klang enttäuscht.

Sie blickte auf ihre Uhr. Kurz nach neun. Immer noch früh am Abend. »Ja, meine Freunde warten bestimmt schon im Hotel auf mich.«

»Welches Hotel?«

Das würde sie ihm bestimmt nicht verraten. »Nur ein paar Minuten von hier.«

»Aber erst tanzen wir.« Er nahm ihre Hand und zog sie vom Hocker. Lara wollte vor Scham im Boden versinken, als sich nun wirklich alle Blicke auf sie richteten. Jubel und Klatschen schnitten ihr den Fluchtweg ab. Obwohl sie viel zu wenig Platz hatten, versuchte sie, sich von José führen zu lassen. Am Ende des Stücks zog er sie heran und küsste sie auf die Wange. »Willkommen in Chile.«

Tief durchatmend trat sie einen Schritt zurück.

Eine Bedienung zwängte sich an ihr vorbei und berührte ihren Arm. »Das macht er mit uns auch.«

Lara zahlte, leerte ihr Glas und trat die Flucht an. Sie zwängte sich zwischen Stühlen und Tischen durch, vermied Blickkontakt und zwang sich zu einem Lächeln, während sie die Blicke auf sich spürte. Sie fragte sich, ob Fernando oder sonst jemand ihr folgen würde. Als sie durch die Tür trat, schüttelte sie ihre Paranoia ab. Es waren noch viele Menschen unterwegs. Kein Grund zur Sorge. Ein paar junge Männer verließen die Kneipe. Sie marschierte los und lauschte auf Schritte hinter sich.

 

Kapitel 3

 

Nach den Feiertagen übernahm Enrique die nächste Fuhre. Mit voll beladenem Hänger steuerte er nach Norden.

Um fünf war er aus dem Bett geschlichen, damit er Maria nicht weckte. Er musste früh los, um Talca rechtzeitig zu seiner zweistündige Mittagspause zu erreichen und sich mit Ronaldo zu treffen. Verzögerte sich seine Fahrt auch nur um ein Weniges, müsste er seine vorgeschriebene Pause noch vor der Stadt nehmen oder eine Strafe wegen Fahrzeitüberschreitung riskieren.

Enrique wechselte auf die linke Spur, um einen uralten Kleintransporter zu überholen, und schaltete das Radio ein. Chilenische Musik pries das Vaterland und erinnerte ihn an die Rampada am 18. September. Enrique hatte sogar mal wieder den Cueca mit seiner Frau getanzt. Die Erinnerung ließ ihn lächeln. Er hatte sich wieder jung gefühlt wie ein balzender Gockel. Maria war immer noch eine schöne Frau, und manchmal sorgte er sich, dass sie ihm jemand wegschnappte, während er durchs Land kutschierte. Aber er wusste, dass sie ihn liebte und ihn niemals verlassen würde.

Als er mit dem Lastwagenfahren anfing, hatten sie einige Probleme zu bewältigen. Maria war bereits mit Stefano schwanger, und sie wollten ein eigenes Haus für ihre wachsende Familie. Also machte er den Lkw-Führerschein und heuerte bei der Spedition an, aber mit der Zeit wurde er zum Vagabunden. Und Maria blieb zurück und zog ihre Kinder fast alleine groß.

In früheren Jahren war er ein selbstsüchtiger Ehemann gewesen. Wenn er nach Hause kam, verstand er nicht, dass sie erschöpft war. Er erwartete, dass seine Frau hübsch aussah, sich freute, ihren Mann wiederzusehen, ihn verwöhnte und sich unter Tränen wieder von ihm verabschiedete. Maria dagegen erwartete, dass er ihr half, sie liebte und für die lange Trennung entschädigte. Zweimal hatten sie sich so sehr gestritten, dass er im Zorn von zu Hause aufgebrochen war. Die zehn bis zwölf Tage, die er anschließend unterwegs war, hatten ihnen beiden jedoch viel Zeit gegeben, um über ihre Dummheit nachzudenken und unter dem Zerwürfnis zu leiden. Beide Male hatten sie sich bei seiner Rückkehr sofort versöhnt und den größten Teil des Wochenendes im Bett verbracht.

Enrique konnte sich nicht vorstellen, irgendeine andere Arbeit zu übernehmen. Er liebte die Freiheit und Einsamkeit der Straße. Wenn er sich verlassen fühlte, sprach er mit Maria, erzählte ihr Dinge, die er ihr nicht ins Gesicht sagen konnte. Er glaubte, dass seine Gedanken sie trotzdem erreichten.

Er ließ den Blick über die saftig grünen Hügel des Südens schweifen. Tausend Kilometer nördlich von hier würde er entlang der Straße keine Bäume mehr sehen. Die Wüste lockte ihn immer noch. Eine Herausforderung. Ein Mensch gegen das Nichts.

Auf dem Rückweg würde er nach den grünen, fruchtbaren Gegenden im Süden lechzen. Und nach Maria.

* * *

Lara wachte um sechs Uhr morgens auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie duschte und kuschelte sich mit Don Quijote wieder ins Bett. Gegen neun packte sie ihren Koffer und aß allein Frühstück. Sie beglich die Rechnung und zerrte ihr Gepäck zum Wagen.

Da sie noch viel Zeit hatte, beschloss sie, lieber jetzt die Führung durch die Mine zu buchen. Dann hatte sie wenigstens etwas zu tun. Zu Fuß begab sie sich ins Zentrum und passierte dabei die Kneipe von gestern, die jetzt geschlossen war, und das kleine Restaurant. Ihr Abend allein unterwegs war nicht allzu schlecht gelaufen. Viele Blicke, ein Tanz und ein Küsschen. Was konnte sich ein Mädchen sonst noch wünschen? Lächelnd bog sie in eine Einkaufsstraße. Kaufhäuser wechselten sich mit Cafés, Restaurants und kleinen Läden ab.

Lara fand die Tourist Information und meldete sich für die Führung durch die Mine an. Da sie immer noch Zeit totschlagen musste, spazierte sie ziellos durch den Ort, bevor sie sich in einem Straßencafé an einen der kleinen Tische setzte und einen Fruchtshake mit Ananas, Melone und Orangen bestellte. Dann blätterte sie ihren Reiseführer durch, zog ihr Notizbuch heraus und studierte die Karte dieses langen, dünnen Landes, das zwischen Anden und Pazifik eingequetscht lag.

---ENDE DER LESEPROBE---