Meister Frantz unter Musensöhnen - Edith Parzefall - E-Book

Meister Frantz unter Musensöhnen E-Book

Edith Parzefall

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Freie Reichsstadt Nürnberg 1586: Kaum lässt die Pestwelle nach, gibt es neue Arbeit für den Nachrichter. Frantz Schmidt will eigentlich nur seinen Sohn aus Altdorf holen, als in dem Städtchen ein Bader ermordet wird. Ein Student der Akademia Altorfina steht unter Verdacht. Doch welchen Grund sollte ein Musensohn haben, einen Bader umzubringen? Gibt es einen Zusammenhang mit den grausamen Raubüberfällen, die in der Gegend verübt werden? Da kann nur ein heimlicher Kundschafter an der Akademie helfen, ob dieser will oder nicht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edith Parzefall

Meister Frantz unter Musensöhnen

 

 

 

Dieses eBook wurde erstellt bei

Vielen Dank, dass Sie sich für dieses Buch interessieren! Noch mehr Infos zum Autor und seinem Buch finden Sie auf tolino-media.de - oder werden Sie selbst eBook-Autor bei tolino media.

 

 

- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

Karte von Nürnberg

Umgebungskarte

Handelnde Personen

Glossar

Einbrecher

Das Prisaun

Ausstreichen

Heimliche Kundschafter

Ankunft in Altdorf

Altorfina

Musensöhne

Heffner oder Musensohn?

Ausflug

Ins Loch mit dem Musensohn

Gespräche

Erhellendes

Hinrichtung in Altdorf

Vorbereitungen

Dies Academicus

Unfestlichkeiten

Räuberhatz

Zusammenkünfte

Treibjagd

Der Kaltbader

Verhör

Lose Zungen

Unterricht am Hochgericht

Nachwort

Über die Autorin

Impressum tolino

Karte von Nürnberg

Umgebungskarte

Handelnde Personen

Historische Figuren sind fett gedruckt. Sie werden in diesem Roman fiktional verwendet, obwohl ich mich weitgehend an die überlieferten Fakten gehalten habe. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in, denn die Anrede Frau und Herr für gewöhnliche Leute war noch nicht geläufig. Da es in diesem Band viele Nebenfiguren gibt, werden sie nach Aufgabenbereichen oder Örtlichkeiten präsentiert.

Familie und Freunde von Meister Frantz:

Frantz Schmidt: der Nachrichter, also Henker von Nürnberg.

Maria Schmidtin: Ehefrau von Frantz, die auch als Henkerin bezeichnet wurde.

Jorgen (Jorgla) Schmidt: Sohn von Frantz und Maria.

Katharina (Kathi) Leinfelderin: Kustorin des Pestlazaretts und Ehewirtin von

Maximilian (Max) Leinfelder: Stadtknecht im Dienst der Freien Reichsstadt Nürnberg.

Ursula (Ursel) Leinfelderin: Tochter von Kathi und Max.

Augustin Ammon: der Löwe, wie man den Henkersknecht in Nürnberg nannte.

Clara Korberin: ehemalige Magd des Henkers und Ehewirtin von

Lucas Korber: Schankknecht im Goldenen Bären zu Altdorf.

Floryk Loyal: Sohn eines flämischen Geschäftsfreundes von Andreas Imhoff.

Räte, Amtmänner und Honoratioren:

Willibald Schlüsselfelder: Vorderster Losunger und erster Hauptmann.

Hieronymus II. Paumgartner: zweiter Losunger und Hauptmann, Kurator der Academia Altorfina.

Andreas II. Imhoff: dritter Hauptmann, der das Triumvirat komplettiert.

Joachim II. Camerarius (Kammermeister): Stadtarzt.

Philipp Camerarius (Kammermeister): Rechtskonsulent und Prokanzler der Academia Altorfina.

Balthasar Paumgartner: Pfleger von Altdorf.

Academia Altorfina:

Obertus Giphanius: niederländischer Professor an der Academia Altorfina.

Edo Hilderich von Varel: Rektor der Professoren an der Academia Altorfina, der sich lieber Edo Hildericus nennt.

Johann Praetorius (Richter): Professor für Mathematik und Astronomie.

Nicolaus Taurellus: Professor für Medizin, Physik und Mathematik.

Heinrich Risius: Inspektor der Alumnen und damit zuständig für die Stipendiaten der Akademie, außerdem Professor für griechische Sprache.

Jakob, Ferdinand, Paul Pömer, Wenzel Frick, Benedikt Pegnitzer: Studenten.

Sonstige:

Albrecht Widmann: Bader mit Knecht Simon Höllriegel, Stieftochter Franziska und Ehewirtin.

Hans Weber: der Heffner von Scheßlitz.

Lienhardt Hagen: ein Bader, der auch der Kaltbader oder Bartlientl genannt wurde.

Heinrich Bär: Wirt des Goldenen Bären zu Altdorf

Glossar

Atzung: Geld, das Gefangene für ihre Kost bezahlen mussten.

Bader, Barbier, Balbier, Wundarzt: niederer Stand der Heilberufe. Die Bezeichnungen wurden oft synonym verwendet, obwohl der Wundarzt für chirurgische Eingriffe und Aderlässe zuständig war. Balbiere rasierten, schnitten Haare, zogen Zähne und fungierten meist gleichzeitig als Bader, eine Bezeichnung, die auf den Betrieb von Badehäusern zurückgeht.

Garaus: Torschluss.

Keuche: Gefängniszelle.

Loch(gefängnis): Verlies unter dem Rathaus, das als Untersuchungsgefängnis diente. Hier wurden auch Delinquenten festgehalten, die auf ihre Hinrichtung warteten.

Lochwirt: Lochhüter, oberster Gefängniswärter im Loch.

Losunger: Der Vorderste Losunger war der mächtigste Mann der Stadt, zuständig für Finanzen und Verteidigung, da er gleichzeitig einer der drei Obersten Hauptleute war. Unterstützt wurde er vom zweiten Losunger und Mitarbeitern in der Losungsstube.

Löwe: Henkersknecht. Es gibt verschiedene Theorien dazu, wie der Henkersknecht zu seinem Spitznamen kam, den es so nur in Nürnberg gab, allerdings überzeugt keine so recht. In Bamberg hieß der Henkersknecht beispielsweise Peinlein.

Lues/Franzosen: Gonorrhö oder Syphilis. Eine eindeutige Unterscheidung der beiden Krankheiten war damals noch nicht zuverlässig möglich.

Nachrichter: Scharfrichter, da dieser nach dem Richter seines Amtes waltete.

Pappenheimer: So wurden in Nürnberg die Straßenreiniger genannt, die auch in regelmäßigen Abständen die Abortgruben leeren mussten. Das geht vermutlich darauf zurück, dass der Reichsmarschall über Jahrhunderte aus dem Geschlecht der Pappenheimer bestellt wurde. Dieser war unter anderem für die Sauberkeit bei Hofe zuständig. Im Gegensatz zum hoch geachteten Reichsmarschall wurden die Nürnberger Pappenheimer allerdings gemieden.

Peunt: Bauhof unter der Verwaltung des städtischen Baumeisters bzw. seiner rechten Hand, dem Anschicker in der Peunt. Hier wurden neben Baumaterial auch Fuhrwerke, Pferde und Werkzeuge verwahrt und ausgegeben.

Prisaun: Gefängnis, meist zur kurzfristigen Verwahrung von Delinquenten.

Scholarchen: Stadträte zuständig für das Kirchen- und Schulwesen.

Sterbenslauf: Seuche, Epidemie, die viele Menschen dahinraffte und dann ausklang.

Ungeld: Steuer, Abgabe.

Unschlitt: Rindertalg.

Einbrecher

Dienstag, 12. April 1586

Floryk Loyal nahm zwei Säcke mit Arzneien vom Kaufer entgegen und schwang sie über die Schulter. »Wird immer weniger.« Inzwischen reichte es, wenn er einmal am späten Nachmittag eine Lieferung zum Pestlazarett brachte.

Der Kaufer nickte. »Wird höchste Zeit, dass dieser Sterbenslauf ein Ende nimmt. Bald wird auch das Rochus-Lazarett zugemacht, vielleicht schon nächste Woche.«

»Das ist gut.« Floryk stapfte durch die Straßen Nürnbergs und fragte sich, was er dann tun sollte. Als Reformierter brauchte er gar nicht nach Antwerpen zurückzukehren, nun, da die Stadt von den Spaniern eingenommen worden war. Seine Familie würde Flandern im Sommer verlassen, wenigstens hatten sie das vor, doch sein Vater wusste noch nicht, wohin sie gehen sollten. Dieser elende Krieg nahm kein Ende. Immer wieder wurden sie als Hugenotten vertrieben, erst aus Frankreich, nun auch aus den spanischen Niederlanden.

Der Wächter grüßte ihn, als er zum Spittlertor kam. »Na, Floryk, viele Lieferungen wirst du jetzt nicht mehr ins Lazarett bringen müssen.«

»Ein Glück, Geiler. Die vermaledeite Pestilenz hat lange genug hier gewütet.«

Der Mann lachte. »Du hörst dich schon beinah an wie ein Nürnberger.«

»Vielleicht werd ich einer«, antwortete er und ging weiter über den Plärrer Richtung Rochus-Lazarett. Es fühlte sich gut an, dass man ihn hier inzwischen kannte und er kein Fremder mehr war. In Nürnberg konnte er sich als Hugenotte sicher fühlen. Dabei hatte ihm die Stadt bei seiner Ankunft überhaupt nicht gefallen. Die braunen Sandsteinmauern hatten ihn nach dem hellen, lichten Antwerpen mit seinen prächtigen Gebäuden bedrückt. Mittlerweile gaben ihm gerade diese trutzigen Mauern ein Gefühl der Geborgenheit.

Auf der freien Fläche zwischen Stadttor und Gostenhof boten wieder mehr Händler und Bauern ihre Waren auf Karren feil. Allmählich kehrten auch die Huren zurück, obwohl sich im Pestlazarett in der Nähe noch immer Sieche befanden. Wie viel die Dirnen wohl verlangten? Er war schon siebzehn Jahre alt und hatte noch kein einziges Mal bei einer Frau gelegen. Die eine mit den dicken, blonden Haaren gefiel ihm. Seufzend gestand er sich ein, dass er sich doch nicht traute. Er stapfte weiter durch den Schneematsch zum Lazarett beim Rochus-Friedhof.

Kathi Leinfelderin, die Kustorin und mittlerweile eine Freundin, erwartete ihn schon vor dem Gebäude. »Wir durften heute wieder einen gesundeten Patienten entlassen«, rief sie ihm fröhlich entgegen. »Das sind gute Tage, Floryk.«

Er strahlte sie an. »Die besten. Wie viele Sieche liegen hier noch?«

»Zwölf. Einer ist gestern in den Quarantäneflügel gekommen, aber ein anderer ist nachts gestorben.« Die Kustorin nahm ihm den ersten Sack ab und überprüfte die Lieferung.

»Wann holst du dein Kind zurück?«, fragte er.

Kathi sah in traurig an. »Sobald ich hier weg darf. Ich hätt nie gedacht, dass es so lange dauert.«

»Max vermisst euch beide bestimmt sehr.«

»Ja, seit wir nicht mehr zusammen im Hofmeisterhaus leben dürfen, sehen wir uns kaum noch.«

Floryk lächelte. »Du warst eine gute Hofmeisterin.«

Kathi seufzte. »Sechs schöne Wochen, bis sie Ersatz für den Gustl Beck gefunden haben. Aber nun kann es nicht mehr lange dauern.«

»Der Kaufer meint, vielleicht wird das Lazarett nächste Woche geschlossen.«

»Und die letzten Kranken in die Stadt gebracht?«, fragte sie und sah ihn erstaunt an.

Er zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Womöglich sind dann alle gesund oder … tot.«

Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Stimmt, wenn es keine Neuzugänge gibt, sollten sich die Betten hier schnell leeren.« Sie schluckte mühsam. »Ich muss weitermachen. Es wird allmählich dunkel.« Sie reichte ihm die Empfangsbestätigung.

»Bald besuch ich dich zu Hause«, versuchte er sie aufzumuntern.

Sie nickte und ging hinein. Der Sperrer verschloss sogleich das Tor hinter ihr. Floryk wandte sich der Stadt zu und marschierte los. Und wieder drängte sich die Frage auf, was er tun sollte, wenn er nicht mehr im Dienst der Freien Reichsstadt arbeiten durfte. Er war schon fast am Plärrer angekommen, da vernahm er hinter sich ein merkwürdig schabendes Geräusch und blickte sich um. Wollte doch tatsächlich so ein Schurke durch ein Fenster ins Lazarett einsteigen! Er rannte zurück. Bis er den Mann erreichte, hatte dieser den Laden aufgebrochen und steckte mit einem Bein im Gebäude. Floryk packte das andere. »He da, halt!« Noch lauter rief er: »Hilfe! Hier ist ein Einbrecher!«

Er trat nach ihm und beschimpfte ihn, doch Floryk stemmte das Bein hoch, sodass der Kerl nur ins Lazarett purzeln konnte, wenn er sich nicht festhielt.

»Alarm, Einbrecher!«, schrie er noch einmal.

Da endlich erschien der Sperrer am Fenster und packte die Arme des Strolchs. »Was treibst du denn da, du Schuft?«

Auch Kathis Stimme war nun zu hören und die eines weiteren Mannes. Kurz darauf tauchte Warter Simons Kopf am Fenster auf. »Wir haben ihn, kannst loslassen«, rief er aus.

Floryk gab das Bein frei, und der Einbrecher wurde hineingezogen. Kathi trat ans Fenster. »Meine Güte, gibt’s denn so was? Will hier einsteigen! Hast noch nicht mitgekriegt, dass es hier außer dem Tod nichts zu holen gibt, du Depp? Danke, dass du aufgepasst hast, Floryk.«

»Herrschaftszeiten! Was machen wir denn jetzt mit dem?«, fragte der Sperrer und kratzte sich im Nacken.

Kathi musste nicht lange überlegen. »Wir sperren ihn ins Lazarettprisaun. Sagst du dem Rat Bescheid?«

»Mach ich.« Floryk eilte los. Im Rathaus träfe er um diese Stunde vermutlich keinen der Herren an, also konnte er auch gleich zu Andreas Imhoff laufen. Allerdings wohnte der am anderen Ende der Stadt auf dem Egidienberg. Nun, half ja nichts.

Beim Tor winkte er dem Wächter nur zu und rannte weiter. Als er endlich die Imhoffsche Handelsniederlassung erreichte, in der auch die Privatgemächer untergebracht waren, musste er kurz verschnaufen, bevor er an die Tür hämmerte.

Der Diener öffnete und verbeugte sich. »Junger Herr, Ihr wünscht?«

»Den Andreas möchte ich sprechen. Es ist etwas vorgefallen, im Lazarett.«

»Oh, ähm.« Der Mann sah sich um, als könnte ihn allein die Erwähnung des Siechenkobels mit der Pestilenz verseuchen. »Wartet besser im Garten auf ihn.«

Na so was, bei der Kälte? Missmutig stapfte Floryk halb um das Gebäude herum und durch die unversperrte Pforte in den Garten.

Andreas erschien nur Augenblicke später. »Floryk, mein Freund, was ist passiert?«

»Hab einen Einbrecher erwischt, der ins Lazarett einsteigen wollte.«

»Was? Das gibt’s doch nicht.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs zerzauste Haar. »Komm rein. Ich weiß gar nicht, was sich der Diener dabei gedacht hat, dich in den Garten zu schicken.«

Er lächelte. »Vielleicht, weil ich das Lazarett erwähnt hab.«

Andreas sich die Wange. »Ist ja auch vernünftig. Also, erzähl.«

»Ich hab mitbekommen, wie der Schurke einen Laden aufgebrochen hat und hineinklettern wollte. Da hab ich ihn gepackt und um Hilfe gerufen. Kathi hat ihn ins Lazarett-Prisaun sperren lassen.«

»Gut so.« Imhoff blickte in den immer dunkler werdenden Himmel. »Such bitte den Nachrichter auf. Er soll sich morgen früh ins Lazarett begeben, den Mann befragen und mir dann berichten.«

»Mach ich.« Er wandte sich zum Gehen.

»Warte noch. Hast du dir überlegt, was du studieren willst?«

Floryk stöhnte. »Ich würd lieber arbeiten. Hast du keine Stellung für mich?«

»Ohne Studium kann ich dich nur für einfache Tätigkeiten brauchen.« Der Ratsherr schüttelte den Kopf. »Dein Vater hat mir im letzten Brief sein Leid geklagt, weil du nichts lernen willst.«

»Das will ich durchaus, aber nicht noch mehr Latein, Rhetorik, Logik, Grammatik. Wer braucht das?«

»Jeder, der von Aristoteles lernen will. In Altdorf kannst du im Übrigen auch Jurisprudenz oder Medizin studieren.«

Hm, als Medicus die nächste Pestwelle bekämpfen? So könnte er sich wahrhaft verdient machen. Dann fiel ihm Doktor Richthauser ein, den die Pest dahingerafft hatte. Vielleicht lieber doch nicht.

Andreas musterte ihn versonnen. »Wir haben einen niederländischen Professor für die Rechtsfakultät bestallt, ein renommierter Jurist.«

»Hugenotte?«, fragte er eifrig.

»Natürlich. Obertus Giphanius. Du könntest schon früher hingehen, bevor das neue Schuljahr beginnt, und in der Prima deine Kenntnisse auffrischen.«

Floryk verdrehte demonstrativ die Augen. »Früher als unbedingt nötig? Und wieder auf die Lateinschule? Ich bin froh, dass ich die hinter mir hab!«

Sein gelehrter Freund lachte und winkte ihn fort. »Verschwinde, du Strolch.«

*

Ein Klopfen an der Tür zum Turm ließ Frantz in die gute Stube eilen. Er staunte, als er den jungen Flamen draußen stehen sah. »Was ist los, Floryk?«

»Ach Frantz, ich hab einen Einbrecher erwischt. Beim Lazarett. Ich sollte Stadtknecht werden, nicht studieren.«

»Was?« Verwirrt sah Frantz ihn an, dann trat er aus dem Weg. »Setz dich und erzähl.«

Auch Maria kam nun in die gute Stube der Brückenwohnung und setzte sich neugierig zu ihnen an den Tisch.

Floryks Augen glänzten, während er von seinem Abenteuer erzählte.

Frantz lächelte. »Das hast du fein gemacht. Wo ist der Schuft jetzt? Weiß der Rat Bescheid?«

»Im Lazarettprisaun. Andreas Imhoff hab ich gesagt, was passiert ist. Du sollst morgen hingehen und den Mann befragen. Was, warum, wieso und überhaupt.«

Maria lachte, was den Burschen erröten ließ. Verlegen schielte er zu ihr.

Frantz antwortete: »Das werde ich tun.«

»Ich wär gern dabei. Kannst du keinen Helfer brauchen?«

»Nein. Willst du dich zu guter Letzt noch anstecken, jetzt, da dieser Sterbenslauf endlich zu Ende geht?«

Maria fragte: »Denkst du, wir können am Wochenende unsern Jorgen und Leinfelders Ursel aus Altdorf holen?« Ihre Stimme zitterte vor Hoffnung und Sehnsucht nach ihrem einzigen Kind, das die Pestwelle überstanden hatte.

»Mal sehen, was der Spitzbube im Prisaun zu erzählen hat. Vielleicht lässt mich der Rat nicht so bald fort.«

»Ich soll auch nach Altdorf«, sprach Floryk so verdrossen, als erwartete ihn dort seine Hinrichtung.

»Wieso?«, fragte Maria. »Kennst du dort jemanden?«

Der Bursche schüttelte den Kopf. »Keine Menschenseele, aber Andreas will, dass ich studiere. Dabei hab ich mich doch schon durch die Lateinschule gequält.«

Oh diese Jugend! Was hätte Frantz darum gegeben, studieren zu dürfen. »Ich würde sofort mit dir tauschen.«

Der Bursche schaute verschmitzt drein. »Du gibst mir deine Frau und dein Kind und gehst für mich studieren?«

Frantz lachte schallend. Maria schmunzelte und wirkte nun ihrerseits ein wenig verlegen. »Das würde dir so passen, du Wüstling«, zog Frantz ihn auf.

Nun lief Floryk rot an und sprang auf. »Ich geh besser wieder.«

Frantz begleitete ihn zur Tür und klopfte ihm auf den Rücken. »Du schaffst das schon mit der Studiererei.« Sowie er die Tür hinter ihrem Besucher geschlossen hatte, zog er Maria in seine Arme. »Selbst wenn ich den Einbrecher der Tortur unterziehen und richten muss, sollte ich doch wenigstens Sonntag und Montag freibekommen. Aber da es zu keinem Diebstahl gekommen ist, werde ich ihn vermutlich nur ausstreichen sollen. Ich kann es auch kaum erwarten, Jorgen wieder hier zu haben.«

Maria drückte sich an ihn. »Wir können uns glücklich schätzen, dass Clara ihn mitgenommen hat, doch mit jedem Tag wird es unerträglicher.«

»Es hat in letzter Zeit keine neuen Krankheitsfälle gegeben. Bald haben wir den Buben wieder bei uns.« Tränen brannten in seinen Augen, als er an die beiden dachte, die sie verloren hatten. Vitus und Margreth waren dem Pestzunder zum Opfer gefallen, den er nach Hause getragen hatte. »Wieso verfluchst du mich nicht dafür, dass ich das Verderben über unsere beiden älteren Kinder gebracht habe?«

Maria sah ihn aus tränenfeuchten Augen an. »Ach Frantz, du kannst doch nichts dafür. Der Herr hat sie zu sich genommen.«

»Trotzdem hätte ich vorsichtiger sein müssen.«

Unwirsch schüttelte sie den Kopf. »Manchmal bist du so ein Dummbartel. Nicht einmal ein Mann wie Wenzel Jamnitzer, Ratsfreund und Goldschmied von Kaisern und Königen, konnte sich davor schützen. Oder denk an Balthasar Derrer. Der Mann war Vorderster Losunger und hat die besten Schutzmaßnahmen in der Stadt genossen. Vor vier Wochen hat auch ihn die Pestilenz dahingerafft.«

Er schluckte schwer, nickte aber. Gott hatte die Kinder zu sich geholt.

Maria strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wie kommen wir denn nach Altdorf? Reiten kann ich nicht, falls du überhaupt Pferde aus der Peunt kriegst.«

Er lächelte und ließ sie los. »Ich kenn da einen jüdischen Fuhrmann, der sich nicht scheut, einen Henker mitzunehmen.«

»Und der fährt auch an Sonntagen?«, fragte sie erstaunt.

»Nun, für sein Volk ist der Samstag der siebte Tag. Da feiern sie den Sabbat. Falls ich ihn morgen auf dem Plärrer sehe, frag ich ihn.«

»Wir bleiben dann über Nacht bei Clara und Lucas auf dem Bauernhof?«

»Ja, Platz sollten sie genug haben, wenn wir uns mit dem Stall zufriedengeben. Falls der Wirt uns nicht die Tür weist, könnten wir natürlich auch in der Wirtschaft absteigen, in der Lucas arbeitet. Zum Goldenen Bären heißt sie, glaub ich.«

Marias Augen weiteten sich. »Als Henkerfamilie? Ich denke, der Stall sollte uns genügen.«

»Du hast recht. Wenn ich morgen den Schurken befragen gehe, den Kathi verhaftet hat, werd ich sehen, ob ich den Fuhrmann erwische.«

Seine Frau gluckste.

»Was?«

»Kathi wird bald als Fängerin von Dieben und Mördern berüchtigt sein.«

Er lachte. »Na, diesmal hat Floryk den Einbrecher erwischt.«

Das Prisaun

Mittwoch, 13. April 1586

Frantz winkte dem Wächter am Spittlertor zu und schritt hindurch. Fuhrleute und besonders Bauern aus der Umgebung wurden inzwischen nur noch flüchtig vom Zöllner auf Anzeichen der Pestilenz kontrolliert.

Auf dem Plärrer hielt er nach Rosenberg Ausschau. Als Jude durfte der Mann die Stadt nicht betreten, doch der freie Platz vor dem Tor bot ihm und anderen die Möglichkeit, den Stadtbewohnern seine Waren feilzubieten. Eigentlich war es keinem Nürnberger erlaubt, bei einem Juden einzukaufen, jedoch scherten sich die wenigsten Leute darum, welchem Volk oder welcher Religion einer angehörte, der Spiegel und Glaswaren aus Fürth günstig verkaufte. Leider konnte er den Mann, der ihn einst mit nach Hiltpoltstein genommen hatte, nirgends entdecken. Vielleicht hatte er auf dem Rückweg mehr Glück. Es war schließlich früh am Morgen.

Er lenkte seine Schritte zum Sondersiechenkobel von Sankt Rochus. Das Pestlazarett in Sankt Johannis war zwar schon vor Wochen zugemacht worden, doch hier lagen noch immer einige Sieche. Frantz hatte noch nie einen so lang andauernden Sterbenslauf erlebt. Bevor er sich den Delinquenten im Lazarettprisaun zur Brust nahm, besuchte er das Grab seiner Kinder auf dem Rochus-Friedhof. Er stand vor dem Stein, der mit einem hübschen bronzenen Epitaph verziert war. Man könnte die Grabstätte für die eines ehrbaren Handwerkers halten, denn der Rotgießer hatte unverfroren in Anspielung auf seinen Namen einen Schmied darauf abgebildet. Seltsamerweise tröstete ihn das. Er sprach ein Gebet für die Seelen seiner Kinder und bat den Herrgott, Jorgen bald wieder in die Arme schließen zu dürfen. Dann stapfte er um das Hofmeisterhaus herum zum Lazaretteingang.

Auf sein Klopfen hin öffnete der Sperrer. Kathi erwartete ihn bereits in der Eingangshalle, aber sie lächelte nicht wie sonst. »Ach Meister Frantz, gut, dass Ihr da seid. Der Einbrecher ist sehr verstockt.«

»Ich werde ihm die Zunge lösen. Wenn nicht hier, dann im Loch.«

Sie nickte. »Ich versteh nicht, was er sich davon versprochen hat, ausgerechnet in ein Pestlazarett einzusteigen.«

»Das ist in der Tat verwunderlich.« Es erinnerte ihn an die Diebereien im letzten Jahr, als ein Krankenpfleger die Siechen bestohlen hatte, doch der Mann war sowieso schon dem Pestzunder ausgesetzt gewesen.

Kathi ging voraus, und er folgte ihr den Gang entlang und hinunter ins Verlies. »Wie viele Kranke liegen hier noch?«

»Nur noch elf.« Sie seufzte. »Letzte Nacht ist eine Frau gestorben. Dafür haben wir seit zwei Wochen keine Neuzugänge. Dürfen wir wirklich hoffen, dass es vorbei ist?« Sie blieb am Fuß der Treppe stehen, wo eine Fackel in der Wandhalterung brannte, und sah ihn erwartungsvoll an.

»Ich denke schon.«

Ihre Mundwinkel zuckten in einem flüchtigen Lächeln, dann nahm sie die Fackel und ging weiter den engen Korridor entlang zu einer schweren Tür. Nachdem sie den Riegel zurückgezogen hatte, ging sie als Erste hinein. »Der Nachrichter ist hier, um mit dir zu sprechen«, verkündete sie unheilvoll.

Nun trat auch Frantz ein. Der Mann hockte auf einer Holzbank, war aber nicht angekettet. Ein trotziger Blick richtete sich auf ihn. »Was willst du jetzt schon hier? Werd ich nicht mal befragt?«

»Doch, genau dazu hat man mich hergeschickt. Wie heißt du?«

Unwillig schob er das Kinn vor. »Der Veit Beck aus Hollenstein bin ich.« Er schnaubte. »Die Schöffen trauen sich nicht her, die Feiglinge?«

Zorn stieg in Frantz auf. »Was nur vernünftig ist. Warum sollten sie wegen einem Lump wie dir Leib und Leben riskieren? Sprich, was hast du im Lazarett gewollt?«

Beck schielte zu Kathi. »Das Weib soll verschwinden.«

»Unverschämtheit«, murmelte sie, doch auf sein Nicken hin, trat sie hinaus in den Gang und schloss die Tür, schob sogar den Riegel vor.

»Nun rede, Veit Beck.«

Der Mann senkte den Kopf. »Ich wollt mich drin irgendwo verstecken, bis sich nichts mehr rührt, und dann schauen, ob ich Medizin find.«

»Natürlich, um sie später teuer zu verkaufen.«

Beck schüttelte den Kopf und sah ihn an. »Nein, für mich. Vor einem Bader hab ich mich geniert.«

Verwundert fragte Frantz: »Was fehlt dir denn?«

Wieder senkte der Mann den Blick und legte eine Hand auf seinen Hosenlatz. »Die Lues hab ich mir eingefangen.«

Dessen schämte er sich? Ein gutes Zeichen. Womöglich unterließ er dann die Hurerei. »Zeig her.«

Becks Kopf ruckte hoch; dunkle Augen starrten Frantz an. »Im Ernst?«

»Ich bin auch Heiler. Also, stell dich nicht an. Mit den Franzosen ist nicht zu spaßen.«

Zögerlich stand der Mann auf und öffnete den Hosenlatz. Der Geruch von Eiter verbreitete sich in der Keuche. Beim Anblick der Geschwüre am Gemächt verzog Frantz das Gesicht. Wenigstens hatte der Kerl ihm nichts vorgemacht. »Kathi, bist du noch da draußen?«

»Ja, braucht Ihr mich?«

»Nein!«, schrie Beck.

Frantz trat zur Tür. »Frag bitte den Medicus, ob er Quecksilbersalbe hat. Essig, Wasser und einen sauberen Lappen brauch ich auch.«

Beck schluckte geräuschvoll. »Nicht, dass ich mir jetzt noch die Pestilenz hole …«

»Dann hättest du nicht ausgerechnet in ein Pestlazarett einbrechen sollen.«

Als Kathi zusammen mit dem Medicus zurückkehrte, wandte sich Beck schnell ab, doch sie blieb im Gang zurück. »Wofür braucht Ihr die Sachen, Meister Frantz?«, fragte der Medico Pestilentiario.

Beck blickte über die Schulter, dann drehte er sich langsam um und zeigte dem Arzt das ganze Elend.

Der Mediziner rümpfte die Nase, dennoch fragte Frantz: »Wollt Ihr den Mann lieber selbst behandeln?«

»Nein, diesen Patienten überlasse ich Euch gern. Ihr scheint ja zu wissen, was zu tun ist.« Schmunzelnd überreichte er ihm das Salbentöpfchen, Lappen und Essig. Dann holte er aus dem Gang einen Krug Wasser und stellte ihn auf den Boden. »Ich kümmere mich lieber wieder um meine Kranken.« In der Tür wandte er sich noch einmal um. »Deswegen bist du hier eingebrochen?«

»Ja«, antwortete Beck kleinlaut.

»Leut gibt’s.« Der Arzt gluckste und zog die Tür zu.

»Was ist jetzt da so lustig?«, fragte Beck.

Beinah hätte Frantz laut gelacht. »Na, dass du riskierst, dir die Pest zu holen, statt zu einem Bader zu gehen.«

»Ich hab kein Geld für einen Bader.«

Frantz reichte ihm Lappen und Krug. »Wasch erst mal den Eiter in den Eimer da, dann schütt ich Essig über dein bestes Stück, und du schmierst es mit der Salbe ein.«

»Was bist denn du für ein Heiler, wenn ich das selber machen muss?«

Frantz schmunzelte. »Einer, der keinen Pfennig für seine Arbeit kriegt, oder?«

Beck presste die Lippen aufeinander, zog den Eimer für die Notdurft näher heran und goss Wasser über sein Glied. Sofort japste er. »Das ist scheißkalt.« Das Gesicht vor Schmerz verzerrt, befeuchtete der Mann den Lappen und wusch vorsichtig die Geschwüre. Schließlich blickte er zu ihm auf. »Reicht?«

Frantz nickte und trat näher. »Halt ihn hoch, damit der Essig überall hinkommt.«

Beck tat, wie ihm geheißen, und keuchte, als die Säure über sein wundes Fleisch floss.

»Das muss reichen. Jetzt trag die Salbe auf.« Er wartete, bis der Mann fertig war, und nahm ihm das Töpfchen wieder ab.

»Wenn ich später noch was brauch?«

»Dann fragst du. Ich werd jetzt den Rat informieren.« Die Tür war diesmal nicht verschlossen, doch Kathi stand im Gang und passte auf. Falls sie Kampflärm aus der Keuche gehört hätte, wäre sie ihm bestimmt, ohne zu zögern, zu Hilfe gekommen. Nun verriegelte sie die Keuche und sah ihn neugierig an.

Er verkniff sich ein Grinsen. »Hat schon seinen Grund gehabt, dass er dich nicht dabeihaben wollte. Den Anblick sollte man jeder Frau ersparen.«

Sie schmunzelte. »Erzählt.«

»Er wollte hier Medizin für sein bestes Stück stehlen.«

»Igitt, die Lues?«

Frantz nickte, und Kathi eilte voraus zur Treppe, als könnte sie gar nicht schnell genug von hier fortkommen. »Was passiert jetzt mit ihm?«, fragte sie.

»Das muss der Rat entscheiden, aber aufgehängt wird er deswegen wohl nicht gleich.«

Sie gluckste. »Ihr meint, die Schöffen werden sich vor Mitgefühl krümmen und Milde walten lassen?«

»So ungefähr.« Wieder in der Eingangshalle angelangt, fragte er: »Was denkst du, wann du hier weg kannst?«

Kathi rückte die Haube zurecht und stopfte ein paar lose Strähnen darunter. »In einer oder zwei Wochen, falls nicht doch wieder Leute krank werden. Warum fragt Ihr?«

»Ich würd gern am Sonntag nach Altdorf reisen, wenn’s der Rat erlaubt, und die Kinder holen.«

Kathis Gesicht leuchtete auf. »Oh ja. Bringt mir Ursel. Ich halt es kaum noch aus!«

»Geht uns genauso. Dabei hab ich befürchtet, du willst, dass wir warten und dich mitnehmen.«

»Nein, aber wer kümmert sich um die Kinder, solange ich noch hierbleiben muss? Euch ist ja die Magd davongelaufen.«

Er lächelte. »Und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Keine Sorge, ein oder zwei Wochen lang kann sich Maria um die beiden kümmern.«

»Das wär wunderbar! Dann könnte ich meine Tochter in die Arme schließen, sobald ich hier herausdarf.«

*

Clara fing die kleine Ursel ein, bevor sie aus der Stube laufen konnte, um sich wieder einmal zu verstecken. »Hiergeblieben, du Frechdachs. Für dich ist Schlafenszeit.«

»Gar nicht müde!«

»Bist du ja nie, aber schau, draußen wird’s finster.« Sie hob die Kleine hoch und öffnete die Tür ein Stück. »Siehst du?« Manchmal war es ganz schön anstrengend mit den Kindern, aber nun würde es nicht mehr lange dauern. Aus Nürnberg hörte man erfreuliche Nachrichten; die Pest schien gebannt. Bestimmt holten Max und Meister Frantz die Kinder bald. Sie würde die beiden vermissen, aber ihre Arbeit auf dem Korberhof dürfte um vieles einfacher werden, wenn sie nicht mehr auf die furchtlose Dreijährige aufpassen musste. Jorgen war mit seinen noch nicht zwei Jahren doch wesentlich leichter zu bändigen. Er schlief auch längst.

Clara lugte in die Küche, wo Gerti die Mahlzeit für den Abend und den nächsten Morgen vorkochte. »Ich komm gleich helfen«, rief sie hinein. »Ich bring nur die kleine Maus ins Bett.«

»Musst du heute Abend nicht im Goldenen Bären arbeiten?«, rief ihre Schwägerin zurück.

»Doch, schon, aber etwas Zeit hab ich noch.«

Gerti schmunzelte. »Wenn du früher hingehst, kriegst du dort eine Mahlzeit.«

»Stimmt, dann ess ich euch nicht so viel weg.«

Gerti lachte. »Ich hab gemeint, dann bekommst du mal wieder was Besonderes, nicht nur Getreidebrei mit Gemüse und ein paar Fitzeln Fleisch.«

»Du kochst gut«, protestierte Clara. »Trotzdem geh ich besser gleich zum Bären, wenn’s dir nichts ausmacht aufzupassen, dass dieser Wildfang hier nicht ausbüxt und gar im Kuhstall einschläft.«

»Mach ich doch gern.«

»Danke!« Clara ging zur Stiege und setzte Ursel ab. »So, die Treppe darfst du selber hinaufklettern. Bist schließlich schon groß.«

Übertrieben stöhnend erklomm das Mädel Stufe um Stufe, ohne sich am Geländer festzuhalten. Vorsichtshalber blieb Clara dicht hinter ihr. In ihrer ehelichen Schlafkammer hatten sie für Jorgen und Ursel eine Pritsche aufgestellt. Als Clara die Tür öffnete, drehte der Bub sich herum, schien aber nicht aufzuwachen. Das dunkelblonde Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Lächelnd drückte sie Ursel einen Kuss auf die Wange. »Zieh dein Nachthemd an. Das kannst du doch schon selber, oder?«

»Ja!« Die Kleine liebte Herausforderungen. Sie begann umgehend, sich aus ihrem Kleid zu schälen, und hängte es sorgfältig über den Stuhl. Clara half ihr ins Nachthemd.

»So viel Arbeit«, stöhnte Ursel mit tiefer Stimme.

Sie lachte. »Du hörst dich an wie Lucas.«

In gespielter Erschöpfung ließ sich das Kind auf die Pritsche sinken.

»Und nicht Jorgen wecken, nur weil du nicht gleich einschläfst!«, ermahnte sie.

Ursel nickte und schloss brav die Augen. Einfach so? Hm. An der Tür drehte Clara sich noch einmal um, doch das Maidlein rührte sich nicht. Sie schloss die Tür hinter sich und lauschte. Nur allzu gern schlich ihr Ursel nach, doch heute schien sie zu erschöpft.

Auf leisen Sohlen stieg Clara hinunter und schlüpfte in ihren warmen Mantel. Gerti kam aus der Küche. »Schlafen sie?«

»Jorgen sowieso, Ursel hoffentlich auch bald.«

Ihre Schwägerin lächelte. »Ich pass auf, dass sie mir nicht doch zwischen den Beinen herumläuft.«

»Ja bitte, sonst schimpft Kathi, wenn ich sie lädiert zurückschicke.« Grinsend zog sie die festen Schuhe an und trat hinaus. Eine knappe halbe Stunde brauchte sie bis zum Goldenen Bären in Altdorf, doch sie genoss den Fußmarsch über Felder und Wiesen. An drei Abenden in der Woche half sie in der Gastwirtschaft aus. So verdiente sie sich etwas Geld und sah mehr von ihrem Mann. Lucas arbeitete jeden Tag dort als Schankknecht. Der Arbeit in der Studententaverne war er bald überdrüssig geworden. Zu viele Raufereien. Dass er ein halbes Jahr durchgehalten hatte, empfahl ihn dem Bärenwirt.

Ob sie je genug Geld haben würden, um selbst eine Wirtschaft aufzumachen? Wohl kaum. Sie grüßte den Torwächter und bog in die zweite Gasse auf der rechten Seite. Noch wenige Schritte, dann umfing sie die Wärme der Gaststube, die allerdings noch ziemlich leer war. Nur ein paar Handwerker aßen eine Brotzeit und tranken Bier dazu. Lucas schleppte gerade ein Fass Wein aus dem Keller herauf. »Du bist aber früh dran«, rief er.

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Gerti meint, ich soll mir hier ein deftiges Essen erschleichen.«

Er grinste. »Ich sag ja, mein Bruder hat ein kluges Weib geheiratet.«

»Und du?« Sie legte den Kopf schief und sah ihn erwartungsvoll an.

Lucas schürzte die Lippen, als müsste er nachdenken. Sie zwickte ihn in die Seite. Lachend wich er zurück. »Du hast Gertis Rat befolgt, also kannst du gar nicht so dumm sein.«

»Pah, Flegel. Warum ich dich geheiratet hab, weiß der Teufel.« Sie schlüpfte aus dem Mantel und ging in gespielter Empörung in die Küche. »Bin schon früher da.«

Der Koch wandte sich zu ihr um. »Das passt gut. Die Hanni hat sich nämlich bös in die Hand geschnitten.« Er schüttelte den Kopf und sah sie an, als könnte er so viel Ungeschick gar nicht fassen.

»Bestimmt, damit sie nicht noch länger deine Grantelei ertragen muss«, sagte Kathi ernst.

Hubert schnaubte ein Lachen. »Freches Weib.«

Sie feixte. »Was soll ich machen?«

»Hol zwei Körbe Karotten, Rote Bete und Rüben aus dem Keller.«

»Jawohl.«

Als sie in die Gaststube trat, polterten gerade drei Studenten herein. Manchen von ihnen gefiel es hier besser als in der Taverne, die näher bei der Akademie lag.

»Bier her!«, rief einer. Schon hockten sie sich um einen der kleinen Tische.

*

Lucas ließ die goldene Flüssigkeit in die Krüge laufen und brachte sie zu den Studenten, die vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein mochten. »Habt ihr Hunger?«

Wie meist schüttelten sie die Köpfe. »Haben schon gegessen.«

Hier war’s ihnen wohl zu teuer, allerdings erkannte Lucas in einem von ihnen Paul Pömer, Sohn eines Nürnberger Patriziers. Der sollte sich das leisten können. Trotzdem kassierte Lucas sofort. »Ihr schaut ganz schön sauertöpfisch drein. Ist was passiert?«, fragte er.

»Ach, die Professoren haben einen unserer Freunde in den Karzer gesperrt, dabei hat der bloß seine Meinung gesagt.«

Einer der jungen Burschen lachte auf. »Mit Nachdruck.«

Lucas beugte sich über den Tisch zu ihm. »Und das bedeutet?«

Nun gluckste auch der Dritte. »Professor Taurellus hat ihm eine runtergehauen, und da hat der Ladislaus zurückgeschlagen.«

Der traute sich was. »Und worüber haben sie gestritten?«

»Na, weil uns doch das Tragen von Waffen verboten worden ist. Nur die Adelssöhnchen dürfen ungestraft mit ihren Degen herumlaufen.«

Was sollte er dazu sagen? Wenn es nach ihm ginge, dürfte keiner dieser Rotzlöffel Stichwaffen tragen.

Sie hoben die Krüge und tranken in großen Schlucken, ohne abzusetzen.

Lucas entfernte sich bereits, als er einen von ihnen sagen hörte: »Und wenn wir auf das Räubergesindel treffen, können wir uns nicht wehren.«

»Oh.« Er wandte sich um. »Treiben mal wieder Räuber ihr Unwesen?«

Pömer sah ihn verwundert an. »Hast du das gar nicht mitgekriegt?«

Er schüttelte den Kopf. »Na ja, dass hier und da eingebrochen worden ist, hab ich gehört, aber ihr meint, das ist eine Bande?«

»Bestimmt. Die martern die Leut, bis sie alle Verstecke verraten.«

Ihm zog es den Magen zusammen. »So brutal gehen die vor?«

Nun trat auch Clara zu ihnen und fragte: »Was erzählt ihr da?«

»Eine Räuberbande geht um. Mitten in die Stadt trauen sie sich selten, aber vorletztes Jahr haben sie das Wirtshaus in Raschen überfallen. Nicht einmal vor schwangeren Weibern schrecken sie zurück. Letztens ist eine an den Folgen der Verletzungen gestorben.«

Claras Hände flogen zu ihrem Mund. Lucas legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Bauernhöfe rauben sie auch aus?«

Einer nickte. »Alles Mögliche, Mühlen, Bauern, Töpfereien. Aber irgendwie scheint’s niemanden zu interessieren.«

Ausstreichen

Donnerstag, 14. April 1586

Frantz stand neben dem Bannrichter vor dem Rathaus, während dieser das Vergehen von Veit Beck verlas. Er bemühte sich um eine ernste Miene, obwohl der Mann den Grund für den Einbruch ins Lazarett verschwieg. Dann verkündete der Bannrichter das Urteil: Ausstreichen und Verbannung. Schmährufe ertönten. Frantz fesselte dem Delinquenten die Hände auf den Rücken und streifte ihm das Hemd herunter. Der Löwe begann, die Trommel zu schlagen, und übertönte damit die Rufe. Frantz zog die Rute aus seinem Gürtel und hieb auf den blanken Rücken ein. Beck schrie auf.

»Los, zum Frauentor!«, befahl er, und der Mann setzte sich in Bewegung. Dunkle Wolken bauschten sich über ihnen und kündeten Regen an. Dennoch folgten ihnen viele Menschen durch die Straßen Nürnbergs und hinaus zum Stadttor, vorbei am Hochgericht bis zum Birkenhain. Hier sprach der Richter noch einmal den Bann aus, und Augustin löste die Fesseln. Frantz schmierte eine Wundsalbe auf die roten Striemen und steckte dem Mann etwas Quecksilbersalbe zu. »Nächstes Mal bittest du um Hilfe.«

Dankbar lächelte Beck ihn an. »Werd ich tun.«

»Gott sei mit dir.«

»Und mit Euch, Nachrichter.« Auf unsicheren Beinen torkelte er in den Wald. Der Kerl konnte froh sein, nicht als Dieb am Galgen zu baumeln.

»Wahrlich eine aberwitzige Tat«, sprach jemand.

Frantz wandte sich um und sah Andreas Imhoff neben sich. Vor dem Rathaus hatte er den Schöffen, der nach dem Ableben von Balthasar Derrer zu den Triumvirn aufgerückt war, gar nicht bemerkt. Frantz nickte. »Bricht ins Pestlazarett ein, nur um nicht zu einem Bader gehen zu müssen. Was meint Ihr, wann der Sondersiechenkobel geschlossen werden kann?«

Der Ratsherr strich sich über den wohlgestutzten Bart. »Hoffentlich Ende nächster Woche. Beten wir, dass keine neuen Pestfälle auftreten. Zu viele Leben hat dieser Sterbenslauf schon gekostet. Warum fragt Ihr?«

»Ich würd gern am Sonntag nach Altdorf reisen, um meinen Sohn und die Tochter der Leinfelders zu holen. Denkt Ihr, ich kann bis Montag dortbleiben?«

Imhoff nickte, ein versonnenes Lächeln im Gesicht. »Das sollte kein Problem sein. Vielleicht begleitet Euch Floryk. Ich würde mir wünschen, dass das Bürschlein dort studiert und etwas Vernünftiges mit seinem Leben anstellt. Mit etwas Glück bekommt er sogar ein Stipendium.«

»Gesellschaft wäre mir schon recht. Meine Frau möchte ich auch mitnehmen. Jemand muss schließlich die Kinder bändigen. Ist Eure Tochter noch in Altdorf? Dann könnten wir sie ebenfalls mitbringen.«

»Danke für das Angebot, aber die Paumgartners sind seit zwei Wochen zurück in Nürnberg und haben Marina mitgebracht.« Er strahlte. »Das Landleben hat dem Mädel gutgetan. Sie ist ganz schön in die Höhe geschossen.«

»Mein Sohn wird mich gar nicht mehr erkennen«, stöhnte Frantz. »In dem Alter passiert so viel. Ende Mai wird er zwei Jahre alt.«

Imhoff nickte. »Da wird er fremdeln, aber das legt sich.« Er sah sich um und winkte Max Leinfelder heran, der als Stadtknecht die Prozession hoch zu Ross aus der Stadt begleitet hatte.

Die meisten Leute waren beim Frauentor zurückgeblieben, und die wenigen, die bis hierher mitgelaufen waren, befanden sich bereits auf dem Weg zurück in die Reichsstadt, unter ihnen der Bannrichter in Begleitung zweier Schützen und eines weiteren Stadtknechts.

»Was gibt’s werter Rat?«, fragte Leinfelder.

»Geht es für dich und deine Ehewirtin in Ordnung, dass der Nachrichter eure Tochter mit zurückholt?«

Max grinste breit. »Na freilich, aber meine Frau wird noch nicht aus dem Pestlazarett dürfen, oder?«

»Ich werde die Stadtärzte konsultieren, ob wir die Kustorin etwas früher von ihren Aufgaben entbinden können.«

»Falls nicht, wird mein Weib sich um beide Kinder kümmern«, sagte Frantz.

Imhoff lächelte. »Sehr gut, dann holt sie zurück, Meister Frantz. Wir alle brauchen Kinderlachen um uns herum.«

Frantz grinste Augustin an. »Bald wird es über der Pegnitz nicht mehr so still sein.«

Der Löwe feixte. »Ich verriegle die Tür, dann hab ich meine Ruh.«

»Wie gelangt Ihr nach Altdorf?«, fragte Max. »Ist ja doch ein ziemliches Stück zu laufen. Vor allem der Rückweg dürfte mit den Kleinen beschwerlich werden.«

Auch Imhoff sah ihn neugierig an.

»Ich werd zusehen, dass uns ein Fuhrmann mitnimmt.« Leider hatte er den Juden noch nicht getroffen. Vielleicht befand er sich auf einer längeren Fahrt. Am Ende mussten sie doch zu Fuß gehen.

»Wenn nicht, sagt Bescheid, dann kann ich vielleicht helfen«, bot der Ratsherr an. »Zwischen Altdorf und Nürnberg fährt öfter eine Kutsche.«

»Vielen Dank, das wird hoffentlich nicht nötig sein.« Als Henker sollte er lieber nicht in so einem Gefährt für vornehme Herrschaften reisen.

*

Lucas schleppte ein Bierfass aus dem Keller in die Gaststube hinauf und setzte es auf dem Holzgestell ab. Bald ging der Abendbetrieb los. Er wischte sich die Haare aus dem verschwitzten Gesicht und beschloss, die viel zu langen Zotteln beim Bader stutzen zu lassen. Er schaute in die Küche, wo ihm der Duft des Eintopfs entgegenschlug. »Ich bin kurz weg. Passt ihr auf, falls jemand reinkommt?«

Der Koch nickte. »Freilich.«

»Wo gehst denn hin, falls der Wirt fragt?«, wollte die Magd wissen.

Lucas schmunzelte. »Zum Balbier schleich ich mich, bevor mich die Clara aufhalten kann.« Der tat es immer um jeden Fingerbreit leid, den er abschneiden ließ, nur der Bart konnte ihr nicht kurz genug sein.

Hanni schmunzelte. »Da wird sie wieder jammern. Die kommt doch heut auch, oder?«

»Eben, deshalb muss ich mich beeilen.« Grinsend ging er hinaus. Die Dämmerung würde bald einsetzen, da sollte er sich wirklich sputen. Zwei Straßen weiter sah er das Schild von Widmanns Badstube im Wind schaukeln. Ein Bursche mit Dolch am Gürtel kam heraus – bestimmt ein Student, aber für einen Adelsspross war seine Kleidung nicht aufgeplustert genug. Er eilte in die andere Richtung. Lucas fiel auf, dass die Haare ungekämmt waren. Dann hatte Widmann wohl gerade Kundschaft, und der Bursche versuchte es bei einem anderen Bader.

Dann standen seine Aussichten wohl auch schlecht, aber wenigstens fragen sollte er. Kurz entschlossen betrat er die Stube. Der Stuhl für Kundschaft war leer, vom Bader nichts zu sehen. »Widmann, willst noch was arbeiten?«, rief er.

Ein seltsames Röcheln antwortete ihm, und er schaute sich suchend um. Hinter einem Vorhang wogte ein unförmiger Schatten hin und her. Ertrank da gerade jemand im Badezuber? Nein, das waren die Umrisse zweier Männer. Kämpften sie? Er zog den Vorhang zurück und starrte direkt in die schreckgeweiteten Augen von Baderknecht Simon, der versuchte, seinen Meister aufrecht zu halten.

»Hilf mir«, keuchte er. Kopf und Hemd des Baders tropften. Reglos hing er in den kräftigen Armen seines Knechts.

Lucas packte zu. »Was ist denn mit ihm?«

»Weiß nicht, hab ihn halb im Trog hängend gefunden, Kopf unter Wasser.«

Herr im Himmel, jemand musste den Mann ertränkt haben. »Legen wir ihn hin.«

Vorsichtig streckten sie den massigen Körper neben der Wanne aus. Da sah Lucas die blutige Wunde in der Brust des Balbiers. »Ersoffen ist er jedenfalls nicht.«

»Hühnerdreck verreckter«, japste Simon. »Ich war nur kurz draußen im Hinterhof, Wasser holen.«

Lucas legte die Finger an Widmanns Hals. »Herz schlägt noch. Hol einen Wundarzt!«

Während der Knecht loseilte, spuckte sein Meister einen Schwall wässrigen Blutes aus. Was konnte Lucas nur tun? Hilflos tätschelte er dem Mann die Wange, dann wanderte sein Blick zur Stichwunde. Wenn er ihm auf die Brust drückte, um das Wasser herauszupressen, machte er vielleicht alles schlimmer. »Kannst du mich hören, Widmann?«

Dessen Lider flatterten kaum merklich, dann erbrach er noch einmal Wasser und Blut. Wo blieb der Wundarzt? Vielleicht war der Bader noch zu retten. Oh verflucht, wenn Simon seinen Meister umgebracht hatte, würde er davonlaufen, statt einen Arzt zu holen. Der Knecht mochte nur so getan haben, als versuchte er, seinem Herren zu helfen. Dann konnte er lange auf Hilfe warten. Lucas sprang auf und rannte zur Tür. Kein Zeichen vom Knecht oder Wundarzt Körner, der gleich in der nächsten Straße wohnte. Lucas lief los. Mit dem schweigsamen Knecht hatte er bisher kaum ein Wort gesprochen, kannte ihn nicht wirklich. Er schalt sich einen Narren, doch als er das Häuschen erreichte, kam der Baderknecht mit Körner heraus.

»Schnell! Widmann spuckt Blut und Wasser«, rief Lucas. »Stichwunde in der Brust. Ist verwundet in den Zuber gefallen oder gestoßen worden.«

»Ich komm ja schon«, rief der Heiler und rannte voraus. Simon und er eilten ihm nach. Der dünne Mann war flott auf den Beinen, doch als sie in die Badestube kamen, brauchte er nur ein paar Augenblicke, um festzustellen, dass Widmann gestorben war.

Lucas machte sich Vorwürfe. Er hätte ihn nicht allein lassen sollen! Seine Augen brannten.

Der Wundarzt erhob sich. »Heimtückischer Mord. Berichtet ihr dem Pfleger; ich werd von einem lebenden Patienten gebraucht.« Er schlang seinen Beutel um die Schulter und ging zur Tür, wo er kurz verharrte. »Warum bist du auch noch zu mir gelaufen, wenn du schon den Knecht geschickt hast?«

Lucas warf einen Seitenblick auf Simon, dann schaute er dem Arzt in die Augen. »Hätt ja sein können, dass er Euch gar nicht holt.«

»Verstehe.« Körner ging hinaus.

Simon baute sich vor ihm auf. »Willst du behaupten, dass ich meinen Herrn umgebracht hab?«, knurrte er.

»Könnt doch sein.« Lucas sah die Faust kommen. Er duckte sich unter dem Schlag weg, aber die Linke des Mannes landete in seiner Magengrube. Ihm blieb die Luft weg. Er krümmte sich zusammen. »Hör auf«, keuchte er. »Gehen wir zum Pfleger.« Vorsichtig richtete er sich auf.

»Damit du mich als Mörder hinstellst?« Wieder schlug Simon zu.

Da konnte sich auch Lucas nicht mehr beherrschen, wich aus, sprang um ihn herum und trat ihm in die Kniekehle. Überrascht kippte Simon vornüber, und Lucas schlang einen Arm um seinen Hals. »Hör auf mit dem Mist. Ich bin Schankknecht. Was glaubst, wie viele Raufereien ich schon beendet hab?« Er lockerte den Würgegriff.

Simon keuchte: »Ich hab Widmann nicht umgebracht.«

»Kann sein. Ich bin halt unruhig geworden, weil’s so lang gedauert hat. Wenn du ihn umgebracht hättest, wärst davongelaufen. Also, gibst jetzt Ruh?«

Simon nickte. »Lass mich los.«

Er zog seinen Arm zurück. »Du kommst mit zum Pfleger. Hast den Widmann schließlich gefunden.«

»Ist recht.« Gewissenhaft sperrte der große Mann die Hintertür zu und dann auch das Tor zur Straße hin. »Soll niemand reingehen und sich erschrecken.«

Lucas ging schweigend mit ihm zum Pflegschloss. Vor dem Tor hielt er Simon zurück. »Kannst du dir vorstellen, wer das gemacht hat?«

Der Baderknecht schüttelte den Kopf. »Der Heffner von Scheßlitz schuldet ihm einen Batzen Geld, aber deswegen bringt man doch niemanden um. Die haben sich allerdings öfter gestritten.«

»Wo ist denn Scheßlitz?«

»Bei Bamberg irgendwo. Der wohnt jetzt hier in der Umgebung.«

»Hm, ich hab einen Studenten rauskommen sehen. Der hat aber nicht ausgeschaut, als hätt er die Haare geschnitten gekriegt.«

Simon nickte. »Ja, so ein Jungspund ist gerade reingekommen, wie ich raus bin. Hab ihn mir aber nicht angeschaut.«

Konnte der Bursche es getan haben? Lucas sah wieder den Dolch vom Gürtel baumeln, aber welchen Grund sollte ein Student haben, einen Bader umzubringen? Der Knecht las ihm wohl vom Gesicht ab, was er dachte, denn er sagte: »Das windige Bürscherl hat ihn bestimmt nicht umgebracht.«

»Wenn er mit seinem Dolch umgehen kann … Ach lassen wir das, soll sich der Pfleger drum kümmern.« Sie betraten das Amtsgebäude und stiegen die Stufen zum Pflegamt hinauf. In einem Vorraum saßen schon zwei Männer und warteten.

Kurzerhand rief Lucas: »Hallo, Amtmann?«

Die angrenzende Tür flog auf, und ein brummelnder Amtsdiener schaute heraus. »Könnt ihr nicht warten wie alle anderen auch?« Als sein Blick auf Lucas fiel, versteinerte er.

Lucas sah an sich herab. Oh verflucht, sein Hemd war ganz blutig. Er flüsterte ihm ins Ohr: »Wir müssen einen Mord melden.«

Der Amtmann erblasste noch mehr, wandte sich um und kehrte in den angrenzenden Raum zurück. Murmelnde Stimmen, dann kam er mit dem Pfleger Balthasar Paumgartner heraus. Dieser fragte sofort: »Wo? Wer?«

Simon antwortete: »Mein Meister, der Widmann, in der Badstube.«

»Schick nach einem Stadtknecht«, wies Paumgartner den Diener an und marschierte voraus. Im Hof drehte er sich zu Lucas um und fragte: »Du arbeitest im Goldenen Bären, richtig?«

»Genau, Lucas Korber.«

»Mit besten Beziehungen nach Nürnberg.«

Er schnaubte. »Kein Vergleich zu Euren Verbindungen, werter Paumgartner.«

»Das will ich auch hoffen.«

Verwirrt schaute Lucas in das wettergegerbte, von Falten überzogene Gesicht des Pflegers, der bestimmt über sechzig Jahre alt war.

Dessen dunkle Augen funkelten geheimnisvoll unter dünnen braungrauen Locken hervor, die ihm der Wind ins Gesicht blies. »Dein Weib war letztes Jahr ganz schön lästig. Dauernd sollt ich Botschaften nach Nürnberg schicken. Und dann hat auch noch meine Schwiegertochter damit angefangen, mir Nachrichten in eurem Namen aufzutragen.«

Inzwischen war ein Stadtknecht zu ihnen gestoßen. Lucas lächelte unsicher. »Es tut mir ja leid, aber wir konnten die besorgten Eltern schlecht über das Wohlergehen ihrer Kinder im Unklaren lassen. Die Väter sind Stadtangestellte, Kathi Leinfelderin ebenso. Die ist sogar Kustorin im Pestlazarett!«

»Ja, ja, hör auf, sonst fang ich an zu greinen.«

Sie hatten die Badstube erreicht. Auf einen Wink des Pflegers sperrte Simon auf und ging zuerst hinein, dicht gefolgt vom Stadtknecht.

Zu Lucas gewandt sagte Paumgartner: »Du gehst jetzt heim und ziehst dich um, sonst halten dich die Leut für einen Saustecher. Wir kommen später im Bären vorbei. Da wartest du auf uns.«

»Jawohl.« Lucas eilte zur Wirtschaft. Zum Glück hatte er dort immer ein zweites Hemd bereitliegen, falls ihm ein Besoffener Bier drüberkippte.

Drei Bauern hockten an einem der Tische und glotzten ihn an. »Kleiner Unfall«, rief er und begab sich schleunigst in den Hinterhof. Nachdem er sich am Brunnen notdürftig gewaschen hatte, schlüpfte er in das frische Hemd.

Heimliche Kundschafter

Freitag, 15. April 1586

Während Frantz seine Morgensuppe schlürfte, tanzte Maria ausgelassen um ihn herum. »Nur noch zwei Tage, dann ziehen wir gen Altdorf und holen unseren Sohn.« Sie stellte den Brotkorb auf den Tisch und klatschte in die Hände. »Ich freu mich. Auch auf Ursel und Clara! Hoffentlich darf Kathi bald aus dem Lazarett.«

Frantz grinste. Seit er ihr erzählt hatte, dass sie am Sonntag nach Altdorf reisen durften, um die Kinder zu holen, redete sie kaum von etwas anderem, und auch ihm war das Herz so leicht wie lange nicht. Er zog sie auf seinen Schoß.

Sie schlang die Arme um ihn. »Und ich darf mit! Das ist wunderbar. Ich bin ja noch kaum aus der Stadt herausgekommen. Ach, wenn uns doch Kathi begleiten könnte!«

Auf ein Klopfen sprang sie auf und sah ihn überrascht an. »Hoffentlich wirst du nicht doch hier gebraucht!«

Unbehagen ergriff auch ihn. »Schau nach.«

Maria ging zur Tür und öffnete. »Oh, Max. Komm rein. Du weißt es auch schon?« Maria fiel ihm um den Hals. »Wir holen die Kinder zurück.« Sie zog ihn zum Tisch. »Hast du Hunger?«

Max lächelte flüchtig und wehrte ab. »Eigentlich soll ich Euch zum Rathaus bringen. Beide.«

»Was?«, fragte Maria und starrte Max an. »Ist was passiert? Müssen wir hierbleiben?«

Max schüttelte den Kopf, dann nickte er. »Es ist was passiert. Ein Mord in Altdorf. Deshalb wäre es nicht schlecht, wenn Ihr früher aufbrechen könntet.« Nun feixte er. »Diesmal dürft Ihr als heimlicher Kundschafter tätig werden, Meister Frantz. Solche Aufgaben brockt Ihr sonst doch gern anderen ein.«

Ungläubig schaute Frantz ihn an. »Auch in Altdorf hab ich schon Hinrichtungen durchgeführt. Ich denke nicht, dass ich mich dort unerkannt bewegen kann.«

»Kommt einfach mit zum Rathaus. Imhoff und Paumgartner erwarten Euch.«

»Welcher Paumgartner? Der Pfleger von Altdorf oder unser Losunger?«

»Hieronymus Paumgartner, der zweite Losunger. Natürlich hat ihn sein Vetter gleich darüber informiert, dass gestern ein Bader in Altdorf erstochen worden ist. Und da Ihr sowieso hinfahren wollt …«

Frantz biss noch einmal vom Brot ab und eilte ins Schlafgemach, um sich fertig anzuziehen. Als er in die gute Stube zurückkehrte, stand Maria in Mantel und Haube bereit, allerdings war jeglicher Übermut aus ihrem Gesicht gewichen. Er lächelte sie aufmunternd an. »Keine Sorge, die Ratsherren sind meist recht umgänglich. Stimmt’s, Max?« Er schlüpfte in seinen Umhang.

»Außer sie raunzen einen an.« Der Stadtknecht grinste.

Frantz küsste Maria auf die Wange. »Gehen wir zum Rathaus, dann müssen wir nicht länger rätseln.«

Auf dem Weg durch die Stadt klammerte sich Maria an seinen Arm. »Sollen wir gar heute schon aufbrechen?«

»An einem Freitag? Möglich wäre es, aber dann bräuchten wir einen Wagen.« Er schaute zu Max.

Der zuckte nur die Achseln. »Mir gegenüber hat Imhoff auch nur Andeutungen gemacht.« Statt zum Eingang des Lochgefängnisses führte Max sie zum Haupteingang des Rathauses. Die beiden Schildwachen nickten ihnen zu. Einer öffnete sogar das Tor für sie. »Ihr werdet erwartet, Meister Frantz.«

So ein Empfang wurde ihm selten bereitet. Der Kanzlist stand in der Eingangshalle und musterte sie neugierig.

»Ich soll mich hier melden, mit meiner Frau.«

»Ja, aber ich weiß auch nicht, warum. Den linken Gang entlang.«

Frantz nickte und bemerkte, dass Max ihnen folgte. »Sollst du ebenfalls antreten?«

»Weiß nicht, aber ich werd mich auf alle Fälle zur Verfügung halten.«

Im angewiesenen Gang stand Imhoff, in ein Gespräch mit Paumgartner vertieft. Zwei der drei mächtigsten Männer Nürnbergs wollten ihn sprechen. Dann musste es wirklich wichtig sein.

Beim Klang ihrer Schritte wandten sich die Räte um. »Ah, da sind sie ja«, sagte Paumgartner. Lächelnd öffnete er die Tür zu einer Kammer und ging hinein. Imhoff wartete und ließ Maria und Frantz vor ihm eintreten.

- Ende der Buchvorschau -

Impressum

Texte © Copyright by Edith Parzefall Ritter-von-Schuh-Platz 1 90459 Nürnberg [email protected]

Bildmaterialien © Copyright by Edith Parzefall, Design: Kathrin Brückmann

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7394-3854-2