Meister Frantz und das Teufelskraut - Edith Parzefall - E-Book

Meister Frantz und das Teufelskraut E-Book

Edith Parzefall

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Beschreibung

Freie Reichsstadt Nürnberg 1581: Meister Frantz wollte sich nie wieder in Ermittlungen einmischen, doch keiner könnte besser erkennen, ob sich Anna Presiglin tatsächlich erhängt hat, als der Henker von Nürnberg. Wer hat der Fuhrmannsgattin zuvor einen Schlag ins Genick verpasst: der Ehemann, der Geliebte oder doch das Diebsgesindel, das in der Gegend sein Unwesen treibt? Eins ist jedenfalls klar, auf Meister Frantz kommt Arbeit zu. Dann verschwindet die Leiche der Ermordeten, Pferde werden gestohlen, und Ehemänner befinden sich auf Abwegen. Stadtknecht Max Leinfelder weiß gar nicht, wohin er zuerst eilen soll. Zur Aufklärung dieses verzwickten Falls muss sogar seine Frau Kathi als heimliche Kundschafterin aktiv werden.

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Impressum
Karten von Nürnberg und Umgebung
Handelnde Personen:
Prolog
Der Henker und die Seinen
Geburt und Tod
Leiche auf Abwegen
Wer suchet, der findet
Diebe, Mörder, Amtmänner
Irrungen und Wirrungen
Diebsgesindel
Geständnisse und Erkenntnisse
Begegnungen
Netter Beifang
Häscher
Grapschendes Gelichter
Der Wahrheit ein Stück näher
Ein Hehler
Ein Stehler
Aller Laster einen Täter
Der Nachrichter waltet seines Amtes
Schreie in der Folterkammer
Fürsprachen
Richttag
Nachwort
Über die Autorin

 

 

 

 

 

Meister Frantz und

das Teufelskraut

 

Henker von Nürnberg Band 2

von

 

Edith Parzefall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

 

Copyright © 2016 Edith Parzefall

 

E-Mail: [email protected]

 

Verlag: Edith Parzefall, Ritter-von-Schuh-Platz 1, 90459 Nürnberg, Deutschland

 

Lektorat, Karten und Umschlag: Kathrin Brückmann

 

Alle Rechte vorbehalten.

Karten von Nürnberg und Umgebung

Handelnde Personen:

Historische Figuren sind fett gedruckt, werden in diesem Roman allerdings fiktional verwendet, obwohl ich mich weitgehend an die historisch überlieferten Fakten gehalten habe. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in, da die Anreden Frau und Herr für gewöhnliche Leute noch nicht aufgekommen waren.

 

Meister Frantz Schmidt, der Nachrichter, also Henker von Nürnberg.

Maria Schmidtin, Frau des Henkers, die auch gerne mal als Henkerin bezeichnet wurde.

Vitus Schmidt, Sohn von Frantz und Maria.

Augustin Ammon, der Löwe, wie man den Henkersknecht nannte.

Katharina Leinfelderin, ein Findelkind und Ehefrau von …

Maximilian Leinfelder, ein Stadtknecht im Dienste der Freien Reichsstadt Nürnberg.

Michael (Michel) Hasenbart, ein Stadtknecht und Freund von Max, sowie weitere Stadtknechte: Reuter, Kuffner, Fetschner, Erdinger.

Simon Muffel, Hauptmann des Kriegsamts.

Alois Sundermann, einziger Stadtknecht zu Gostenhof.

Konrad Rumpler, ein Schütze, der gerne dumm herumsteht, sowie die Torwächter Geiler und Löffelholz.

Lienhardt Hertl, ehemaliger Schütze und Bettelrichter, der von Meister Frantz aus der Stadt ausgestrichen wird und ihr doch nicht fernbleiben kann.

Eva Druckmüllerin, eine Hure, die Lienhardt Hertl der versuchten Notzucht im Bettelstock beschuldigt hat.

Georg Presigl, Fuhrmann aus Gnotzka, der seine Frau daheim erhängt auffindet.

Anna Presiglin, Gattin des Fuhrmanns, die zwar gerne mal über die Stränge schlägt, aber keinesfalls einen Tod durch den Strang anstrebt.

Korbinian Fütterer, Unterpfleger zu Gostenhof

Kauffer, Schreiber im Pflegamt Gostenhof.

Reichelt, Abdecker und Vater von …

Elsa Seitzin, eine Frau, die Meister Frantz als Magd dingen möchte, von der er jedoch als Hebamme missbraucht wird.

Jakob Seitzen, Ehemann von Elsa und nicht sehr glücklich damit, seinen Lebensunterhalt als Abdecker zu verdienen.

Wolf Utschenreuter, des Rossdiebstahls verdächtig.

Jorgen Hiss, Hansen Humbser (Adam genannt), Martin Herdegen, Diebe und Landzwinger.

Neubauer, Wirt und Chronist, der ein großer Bewunderer von Meister Frantz ist.

Joachim Nützel und Julius Geuder, Stadträte, die als Lochschöffen Ermittlungen im Nürnberger Lochgefängnis leiten, und ein namenloser Schreiber.

Eugen Schaller, der Lochhüter, liebevoll auch Lochwirt genannt. Oberster Aufseher im Loch, dem Nürnberger Gefängnis für Untersuchungshaft und Delinquenten, die auf ihre Hinrichtung warten.

Anna Schallerin, Ehefrau von Eugen Schaller und damit Lochwirtin.

Wenzel Jamnitzer, Goldschmied und Geometer, dessen perspektivische Studien Kunst und Wissenschaft wesentlich beeinflussten.

Magister Lienhardt Krieg, protestantischer Diakon von Sankt Sebald, der Priester, an den man sich als Erstes wendet, wenn es um Angelegenheiten des Lochgefängnisses geht.

Eucharius Brühl, Kaplan von Sankt Sebald. Zusammen mit Magister Krieg half er Meister Frantz, den Stadtrat davon zu überzeugen, dass auch Frauen geköpft werden durften.

Friedrich Werner (genannt Heffner Friedla), ehemaliger Söldner und nun Räuber, der ein Auge auf die Schwester von Frantz Schmidt geworfen hat.

 

 

Prolog

Montag, 9. Januar, 1581

Lienhardt Hertl funkelte die Schaulustigen böse an, die seine Schmerzen offensichtlich genossen und den Henker von Nürnberg anfeuerten, härter auf seinen Rücken einzudreschen. Noch ein Hieb mit der Rute landete auf seinem geschundenen Leib. »Aaah!« Er taumelte weiter durchs Frauentor, und als wollte es diesem Namen alle Ehre machen, stand hier vor allem Weibsvolk in den vordersten Reihen und verfluchte ihn auf seinem Weg aus der Stadt. Auf der Brücke über den Stadtgraben war zwar der Schnee weggeschaufelt worden, doch das machte sie umso rutschiger. Schütze Konrad Rumpler, bis vor Kurzem noch sein Kamerad, hielt ihn an den gefesselten Händen, damit er nicht fiel, und der Nachrichter hörte auf, ihn zu schlagen, bis sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten, hart gefrorenen Boden. Aus der Stadt verbannt. Verdammt, wohin sollte er bei diesem Wetter?

Er hörte die Leute hinter ihm hergrölen und seine Pein bejubeln, obwohl er ihnen als Schütze und Bettelrichter gedient hatte. Undankbares Volk, diese Nürnberger, wollten sehen, wie er gestraft und vertrieben wurde. Oder war es gerade, weil er, ein Gesetzeshüter der Stadt, sich eine kleine Eskapade geleistet hatte? Wie zur Bestätigung erfolgte der nächste Streich mit der Rute. Er schrie auf.

»Lauf schneller, Bursche, dann hast du’s früher hinter dir«, brummte Meister Frantz, bevor er wieder zuschlug.

Eine eisige Brise kühlte Lienhardts glühenden Rücken, linderte die Schmerzen ein wenig und ließ seine Beine weiter ausholen.

Bald würden sie den Birkenhain erreichen. Ein schneller Blick über die Schulter zeigte ihm hinter dem nicht gerade vergnügt dreinschauenden Nachrichter mit schwarzem Hut und warmer Joppe eine schrumpfende Menge.

»Glotz nicht so blöd«, brummte Meister Frantz. »Hättest mal lieber deine Hose zugelassen.«

Da schwirrte auch schon wieder die Rute durch die Luft. Lienhardt zog den Kopf ein und biss die klappernden Zähne zusammen. Auf dem mit glitzerndem Raureif überzogenen Boden rutschte ihm ein Bein weg, aber der Löwe packte seinen Arm, bevor er hinfallen konnte. Lienhardt warf dem kräftigen Henkersknecht einen dankbaren Blick zu. Mit seiner kleinen Wampe und dem dicken Hals erinnerte der Mann ihn an einen Ochsen. Meister Frantz dagegen hatte was von einem schnellen Pferd mit seinen langen Beinen und der schlanken Gestalt.

Noch ein Hieb. »Aaah!«

Ein Pferd, das selbst die Gerte schwang. Warmes Blut rann seinen Rücken hinab, nur ein bisschen. Das war harmlos im Vergleich zu den sieben Jahren auf der Galeere, den ganzen Tag rudern unter Verwünschungen und Peitschenschlägen, gnadenloser Sonne oder schneidendem Wind ausgesetzt.

Rechter Hand ragte der Galgen mit seinen vier Pfosten und den Querbalken auf. An einem davon hing ein verwesender Körper, an dem sich die Raben gütlich taten. Lienhardt hatte dem armen Sünder im Oktober auf seinem letzten Gang Geleitschutz gegeben, als er noch als Schütze in Diensten der Freien Reichsstadt gestanden hatte. Und morgen würde Meist – »Aaah!« – Meister Frantz wieder einen henken, aber Lienhardt durfte nicht mehr dabei sein. Und alles nur, weil die Hure im Bettelstock ihn verführt und hinterher um Hilfe geschrien hatte, weil er sie nicht einfach hatte laufen lassen. Miststück. Aber feurig war sie. Hätte er sie mal freigesetzt, dann wäre er heute noch in Lohn und Brot. Wenigstens hatte sie ihn nur des Versuchs der Notzucht beschuldigt, sonst könnte heute sein Kopf rollen.

Der nächste Schlag bestrafte sogleich seine sündigen Gedanken, doch er schrie nicht mehr, sondern hielt die Zähne aufeinandergepresst. Lohnte sich auch nicht mehr, jetzt, da der eisige Wind immer mehr Zuschauer zurück in die Stadt blies, hinter die schützenden Sandsteinmauern. Mauern, die er einst auf den Wehrgängen verteidigt hatte, und das für mickrigen Sold. Welch Ungerechtigkeit, ihn zu verbannen!

»Bleib stehen«, befahl Meister Frantz, als sie die ersten Bäume erreichten.

Lienhardt schlotterte vor Kälte, entspannte seine Kiefermuskeln und ließ die Zähne aufeinanderschlagen, während der Nachrichter seinen Rücken mit einem Lappen abtupfte und dann etwas auf seine wunde Haut strich. Es brannte. Der Schmerz zog sich bis in seine Zehenspitzen. Keuchend stieß er einen Fluch aus, weil er für einen Schmerzensschrei nicht genug Luft bekam.

»Ist nur eine Salbe«, sagte Meister Frantz in gleichmütigem Ton. »Die Wunden sind nicht so schlimm, aber einige Nächte wirst du wohl nicht auf dem Rücken liegen können.«

Augustin Ammon, der Löwe, löste den Strick um Lienhardts Handgelenke, dann trat der in warme Pelze gekleidete Bannrichter Gundelfinger vor ihn. »Lienhardt Hertl, ich verbanne dich aus der Freien Reichsstadt Nürnberg. Solltest du jemals zurückkehren, erwartet dich eine weit schlimmere Strafe.«

»Warum sollte ich zu Euch undankbaren Hurensöhnen zurückkommen wollen?« Er sah sich trotzig um, aber nur vier Schützen und zwei Stadtknechte standen noch in Hörweite. Oh, und drei Zuschauer, alles Weiber, die gehörigen Abstand hielten, als fürchteten sie ihn, jetzt, da er nicht mehr gefesselt war. Sein Blick begegnete dem des Nachrichters. Frantz Schmidt, wahrlich ein Meister seines Fachs. »Ich wünsche Euch morgen eine gelungene Hinrichtung, Meister Frantz. Schade, dass ich nicht dabei sein kann.«

Der Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Menschen vom Leben zum Tode zu bringen, erlaubte sich ein verhaltenes Lächeln. »Danke. Ich wünsch dir, dass du nie wieder bei einer meiner Hinrichtungen dabei sein wirst, denn dann würde es vermutlich dir an den Kragen gehen.«

Lienhardt musste grinsen. Der Kerl hatte Humor. Schade, dass er den Unehrlichen immer gemieden hatte.

Augustin Ammon drückte ihm sein Bündel in die Arme. »Schleich dich, du bist eine Schande für Nürnberg«, brummte der Henkersknecht.

Grummelnd zog Lienhardt seine Jacke heraus und schlüpfte hinein. Schon besser, auch wenn der Stoff unangenehm an seinen Wunden klebte. Wohin sollte er jetzt bei dieser Schweinekälte? Nun, das würde sich zeigen! Seiner Mutter Sohn fand immer ein lauschiges Plätzchen. Ohne die Leute eines weiteren Blicks zu würdigen, stapfte er über steif gefrorenes Laub davon, das unter seinen Sohlen knisterte. »Wir sehen uns wieder!«, rief er trotzig, obwohl er wusste, wie töricht es war, eine mögliche Rückkehr auch noch anzukündigen.

 

 

Der Henker und die Seinen

Dienstag, 2. Mai 1581

Frantz Schmidt stand in seinem Behandlungszimmer und zerstieß Lebermoos in einer Steinschale. Da ließ ihn ein Schrei in die gute Stube hasten. Mit hochrotem Kopf lag der kleine Vitus in der gut gepolsterten Holzkiste und fuchtelte mit seinen winzigen Händen in der Luft herum. Vorsichtig hob er das Kindlein heraus und wiegte es in seinen Armen. »Oh je, mein Sohn, du hast dir einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um aufzuwachen. Deine Mutter ist nur kurz auf den Markt gelaufen. Wir müssen schließlich auch was essen, nicht nur du.« Der Klang seiner Stimme ließ den Kleinen nur noch lauter brüllen. Wenn er schon hochgehoben wurde, wollte er auch gleich trinken. Erst sechs Wochen alt und schon ein Tyrann.

Frantz lief mit ihm im Zimmer auf und ab. Ob Augustin Rat wusste? Nein, der alte Junggeselle wagte ja selten, das Kindlein überhaupt anzufassen. Die Schreie wurden nun weniger fordernd, klangen schon fast verzweifelt. »Ja, du weißt, dass ich dir zu nicht viel tauge.«

Vitus verstummte und starrte ihn aus weit aufgerissenen blauen Augen an. Die hatte er von ihm, doch der dunkle Flaum auf seinem Köpfchen erinnerte eher an Marias kastanienbraune Haare. »Ja, wir sollten uns eine Magd leisten, die sich besser um dich kümmern kann als ich, oder dafür sorgt, dass deine Mutter nicht so oft aus dem Haus muss.«

Die kleinen Finger griffen in seinen Bart, den er bald mal wieder stutzen lassen sollte.

»Pelztier, hm?«

Der rosige Mund öffnete und schloss sich.

»Was du mir wohl erzählen würdest, wenn du schon reden könntest?« Er setzte sich mit seinem Sohn auf die Bank. Eigentlich brauchten sie keine Magd. In jüngster Zeit hatte er kaum Arbeit gehabt. Die letzte Hinrichtung war Monate her, aber im April hatte er immerhin einen Dieb und seine Hure ausstreichen müssen. So konnte er seinem Erstgeborenen viel Zeit widmen, dem Kind, das er sich so sehr gewünscht hatte, und Maria auch. Sie war schließlich nicht mehr die Jüngste.

Frantz blickte durch die Tür in sein leeres Behandlungszimmer. Patienten hatte er auch nicht so viele, wenn es keine Hinrichtungen gab. Dann vergaßen ihn die Leute, außer er begegnete ihnen auf der Straße, und da machten sie lieber einen Bogen um ihn. Solange er ihnen kein Menschenfett für Salben oder Hautstreifen für Bandagen anbieten konnte … Selbst der Apotheker klagte ihm bereits sein Leid: Gäbe es doch endlich wieder eine Hinrichtung! Hinterher durfte Frantz manchmal den Leichnam anatomieren und dessen Körperteile zu Arznei verarbeiten, und die Nachfrage war groß.

Frantz drückte seinen Sohn an sich und seufzte. Gern arbeitete er nicht als Scharfrichter, eine ehrbare Tätigkeit war ihm jedoch als Sohn eines Henkers verwehrt. Deshalb konnte er froh um die Anstellung in Nürnberg sein. Der regelmäßige Lohn ernährte ihn und seine Familie, auch wenn es mal weniger für den Nachrichter zu tun gab. Zum Jahreswechsel hatte er den Rat vergebens ersucht, seinen Wochenlohn um einen halben Gulden zu erhöhen. Immerhin hatte er eine Sonderzahlung von sechs Gulden erhalten, weil dank seines Einsatzes eine Unschuldige vor Tortur und Hinrichtung bewahrt worden war. Wie es Kathi jetzt wohl ging? Sie hatte sich schon länger nicht mehr im Henkerhaus blicken lassen. Vielleicht erwartete sie ja inzwischen auch ein Kind von ihrem Max. Eine im Lochgefängnis geschlossene Ehe musste doch viele anständige kleine Nürnberger hervorbringen, aber die wollten ernährt werden. Frantz wiegte Vitus hin und her. Der Rat hatte ihm eine umso stattlichere Erhöhung im nächsten Jahr in Aussicht gestellt, doch wenn es weiterhin so friedlich zuginge, überlegten die hohen Herren wohl eher, ob Nürnberg überhaupt einen fest bestallten Henker brauchte.

Als das Kind in seinen Armen strampelte, seufzte er beglückt und lächelte seinen Sohn an. Wenigstens einen Menschen hatte er zum Leben gebracht statt zum Tode. Vielleicht konnte er der Unehrlichkeit eines Tages entkommen? Einfach nur als Heiler arbeiten zu dürfen … Das Kind ächzte und wand sich, da stieg Frantz der Geruch in die Nase, und er stöhnte. »Oh je, ich glaube, wir müssen dich sauber machen.« Er legte das Bündel auf die Bank und blickte aus dem Fenster über der Pegnitz, konnte Maria aber nicht erspähen, weder auf der nächsten Brücke noch auf dem Säumarkt. Wo war die Frau, wenn er sie am dringendsten brauchte?

*

Kathi schlenderte über den Grünen Markt und besah sehnsüchtig die Waren. Vor allem die Gewürzstände hatten es ihr angetan: Safran, Nelken und seltsam geformte Wurzeln, die Ingwer genannt wurden. Davon hatte sie noch nie probiert, konnte sich auch nicht vorstellen, dass die nach viel schmeckten. Doch was wusste sie schon? Zu teuer waren sie eh. Die Zeidler boten Honig aus dem Reichswald an, und Kathi leckte sich die Lippen. Wenn sie doch etwas mehr Geld verdiente als das Wenige, das sie für ihre einfachen Stickarbeiten bekam, dann wären sie nicht so sehr auf Maxens geringen Sold als Stadtknecht angewiesen, und sie könnten sich auch mal was leisten. Wenigstens war sie noch immer nicht schwanger, auch wenn sie sich sehnlich ein Kind wünschte. Inzwischen hatte sie den Fischmarkt erreicht, und als sie an einem Stand stehen blieb, hörte sie eine vertraute Frauenstimme rufen: »Katharina Leinfelderin!«

Kathi wirbelte herum. »Maria!«

Die Henkerin umarmte sie mit einem Arm, da am anderen ein wohl gefüllter Korb hing. »Schön, dass ich dich mal wieder sehe.«

»Das finde ich auch. Wie geht’s dir? Und Vitus? Wo hast du den gelassen?«

Maria grinste. »Mein Mann passt auf ihn auf. Er hat sowieso nichts Besseres zu tun.«

Kathi hielt sich eine Hand vor den Mund, um das Grinsen zu verbergen. Der Nachrichter von Nürnberg mit einem Säugling auf dem Schoß! Wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn immer in ihrer finsteren Keuche im Lochgefängnis. »Vielleicht nimmt er ihn ja mal mit zur Arbeit«, rutschte ihr heraus, und sie bedauerte es sehr, als sich Marias Gesicht verdüsterte.

»Eines Tages wird er das wohl tun.«

Kathi hatte gar nicht dran gedacht, dass es für den Sohn eines Henkers nicht viele Möglichkeiten gab, als selbst Henker, Abdecker, Schinder oder vielleicht Totengräber zu werden. »Tut mir leid, ich war unbedacht.«

»Du kannst ja nichts dafür, Kathi. Aber sag, wie geht’s dir?«

Bevor sie antworten konnte, erhob sich in der Nähe ein Tumult. Ein Schrei ertönte: »Dieb! Elender Dieb! Haltet ihn!«

Sie sah gerade noch, wie ein junger Bursche sich zwischen grapschenden Händen herauswand und in der Menge verschwand. »Frech«, murmelte sie, »aber geschickt. Mich würde man bestimmt erwischen.«

Maria lachte. »Als ob du was klauen würdest.«

»Na ja, wenn man all die Leckereien hier sieht und kein Geld hat, kann man schon in Versuchung kommen. Ich könnte dringend mehr Arbeit brauchen.«

»Oh.« Maria kaute auf der Unterlippe herum, dann blickte sie in Richtung Henkerturm, dessen Spitze gerade noch über den Hausdächern zu sehen war.

»Was ist? Woran denkst du?«

»Na ja.« Jetzt hielt sie Kathis Blick stand. »Wir könnten eine Magd brauchen.«

Im ersten Moment erschauerte Kathi. Ein- und ausgehen im Henkerhaus? Ständig Meister Frantz begegnen? Doch dann dachte sie daran, was der Lohn bedeutete. Und sie könnte den Kleinen umsorgen und viel Zeit mit Maria verbringen. »Ach, das wäre schön!« Sie packte beide Hände ihrer Freundin. »Das würde ich liebend gern tun. Ich könnte für dich einkaufen, mich um Vitus kümmern, waschen, kochen, Wasser vom Brunnen holen … und noch viel mehr.«

Maria lächelte über ihren Eifer, dann zeigte sich Zweifel in ihrer Miene. »Ich müsste erst mal Frantz fragen. Er hätte bestimmt lieber eine aus einer unehrlichen Familie.«

Ihr wurde das Herz schwer. Nein, warum sollte ausgerechnet sie jemand haben wollen.

»Ich hätte dich natürlich gern bei uns, aber du weißt ja, wie die Leute sind. Ich werd hier selbst nur schief angeschaut, deshalb geh ich auch nicht gern einkaufen.«

Kathi sah sich um. Tatsächlich beobachteten sie einige der Marktleute, und auch mancher Kunde hatte sich in ihre Richtung gedreht.

Maria blickte auf ihr Gewand, an dem sich vorn zwei feuchte Flecke abzuzeichnen begannen. »Gütiger Gott, der Vitus will bestimmt schon wieder trinken! Ich seh mal lieber zu, dass ich nach Hause komme. Besuch uns doch mal, dann können wir über alles reden.«

Sie nickte. »Mach ich, und richte Meister Frantz liebe Grüße aus.«

Mit einem Lächeln im Gesicht schritt die Henkerin davon, und Kathi ließ noch einmal den Blick über die Umstehenden schweifen. Einige musterten sie aufmerksam, andere hatten sich bereits wichtigeren Dingen zugewandt.

Hinter ihr flüsterte jemand: »Ist das nicht die Magd, die ihre Herrin erstochen hat?«

»Gschmarri, das war doch die Beckin«, zischte ein anderer.

Kathi zog den Kopf ein und hastete weiter.

*

Lienhardt Hertl tippelte die Straße nach Nürnberg entlang und schlang im Gehen beide Arme um seinen leeren Bauch. Als er aus dem Birkenhain auf die Wiese trat, sah er die trutzige Stadtmauer aus großen Sandsteinquadern aufragen. Auf dem Wehrgang redeten zwei Schützen miteinander. Einst hatte er dort oben Dienst getan. Er sah sich um. Ungefähr hier war über ihn der Bann verhängt worden – vor bald fünf Monaten. Eine verflucht lange Zeit, wenn man jeden Tag schauen musste, woher man was zu fressen bekam. Er sah sich um. Am Galgen baumelten ein paar Knochen. Ob das die Gebeine des Schusters und Trommelschlagers waren, den Meister Frantz am Tag nach Lienhardts Stadtverweis hatte richten müssen? Gott sei seiner Seele gnädig! Ein netter Kerl, der gern auf Hochzeiten den Stocknarren gegeben und die Leute mit seinen Späßen köstlich unterhalten hatte. Nur war er auch ein dreister Dieb gewesen, dem seine Possen zum Verhängnis geworden waren. Wer bekannt war wie ein bunter Hund, sollte lieber am helllichten Tag keinen Sack aus einem Bürgerhaus schleppen. Da blieb er selbst doch lieber unauffällig.

Ob er es riskieren durfte, durch eines der Tore zu spazieren? Dummerweise konnte ihn leicht einer der Torwächter erkennen, die ja auch alle Schützen waren. Lieber nach Fürth weiterziehen, aber vielleicht vorher in Gostenhof einen Happen zu essen erbetteln … Wie tief war er gesunken! Noch letztes Jahr war er als Bettelrichter für die Freie Reichsstadt tätig gewesen und hatte Vaganten, wie er einer war, im Auge behalten. Er tastete seine Taschen ab. Ein paar Groschen besaß er noch, aber bald bräuchte er wieder Arbeit … oder lohnende Beute.

In einigem Abstand von der Mauer und den ehemaligen Kameraden lief er über die Wiese, vorbei an den Holzstößen und dem Hochgericht, wo er schon oft genug Hinrichtungen beobachtet und bewacht hatte. Da erblickte er das aufgestellte Rad, an das ein Leichnam gebunden war. Natürlich! Der Kerl, der seine hochschwangere Schwester umgebracht hatte. Das war noch vor seiner Vertreibung gewesen, und er hatte als Bettelrichter dem Nachrichter und dem Löwen dabei geholfen, den Leichnam aufs Rad zu heben. Er blieb stehen. Der Strick und die Gebeine waren einiges wert, aber so ein Diebstahl würde Aufsehen erregen. Schön und gut, wer würde ihm sonst glauben, dass er nicht einfach nur irgendeinen Knochen oder einen beliebigen Strick verhökerte? Doch das würde auch Aufmerksamkeit auf seine Person lenken, unliebsame. Zu riskant. Wenigstens im Moment.

Er schritt weiter und bedauerte seine Schwäche mit der Hure einmal mehr. Beinah hätte er es geschafft, sein Leben nach den sieben Jahren auf der Galeere wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Niemand in Nürnberg hatte gewusst, dass er einst als Falschspieler Kaufleute ausgenommen hatte und dafür bestraft worden war – von den Meineiden ganz zu schweigen. Das Kriegsamt der Freien Reichsstadt hatte ihn zum Schützen gemacht, ohne viele Fragen zu stellen, weil bei denen sowieso immer Not am Mann war. Nur leider war das Arbeit auf Abruf. Da hatte es ganz gut gepasst, sich als Bettelrichter etwas Geld dazuzuverdienen.

Ein wehmütiges Lächeln im Gesicht schlenderte er an den Schweinepferchen zwischen Frauentor und Spittlertor vorbei zum Plärrer, auf dem immer noch geschäftiges Treiben herrschte. Marktleute und Huren, die nicht nach Nürnberg hineindurften, priesen hier ihre Waren und Körper an. Unter den fahrenden Händlern waren einige Juden, die meist die besten Waren zum günstigsten Preis anboten. Böse Mäuler behaupteten, sie handelten vor allem mit Gestohlenem. Ihm sollte es recht sein, er hatte es aber noch nie gewagt, einem Juden Diebesgut anzubieten. Sie wirkten zu ernst, zu misstrauisch. Statt die Auslagen auf den Karren zu betrachten, ertappte er sich dabei, wie er die Frauen musterte, aber eine Hure konnte er sich nicht leisten. Etwas zu beißen war wichtiger, und oft genug traf er ein rassiges Weib, das sich umsonst mit ihm einließ.

Er sollte nach Gostenhof weitergehen, wo viele Färber lebten und arbeiteten, auch andere Handwerker und etliche Bauern. Von denen könnte vielleicht einer was zu essen für ihn erübrigen.

»Lienhardt?«

Er zuckte zusammen. Diese verführerische Stimme kannte er. Der Besitzerin hatte er den Bann zu verdanken. »Eva! Was machst du denn vor den Toren?«

Sie sah immer noch so keck und drall aus wie im Winter. »Ich bin bald nach dir auch ausgestrichen worden, weil sie mich und eine andere Hur wieder beim Betteln erwischt haben.« Sie senkte den Kopf. »Tut mir leid, dass sie dich meinetwegen davongehauen haben.«

»Schon gut.« Er wollte weitergehen, nichts mit ihr zu tun haben.

»Kann ich’s irgendwie wieder gutmachen?« Sie wiegte ihre Hüften und streckte ihre Brüste noch weiter heraus. »Musst nichts zahlen.«

Den Fehler hatte er schon einmal gemacht und einen hohen Preis dafür bezahlt. Dummbatz, der er war, hatte er gedacht, sie mochte ihn. Beim letzten Mal sollte ihre ›Einladung‹ sie nur aus dem Bettelstock rausbringen. Diesmal hatte sie vielleicht Schlimmeres im Sinn. Entschlossen schüttelte er den Kopf. Sie drängte sich an ihn, doch er wandte sich ab und ging nach Gostenhof hinein.

Das größte Gebäude an der gepflasterten Hauptstraße war das Pflegamt, vor dem ein Kerl in schwarzroter Stadtknechtskleidung auf einer Bank hockte und sich offensichtlich langweilte. Wenn Lienhardt sich recht erinnerte, gab es hier auch ein kleines Gefängnis. Er schluckte schwer und zog seinen breitkrempigen Hut tiefer ins Gesicht. Als der Stadtknecht in seine Richtung blickte, deutete er eine kleine Verbeugung an und machte, dass er vorbei kam.

Oh, verflucht, vom anderen Ende der Ortschaft kam noch ein Stadtknecht angeritten. Seit wann war dieses Dorf so gut bewacht? Schließlich herrschte derzeit Friede. Sein Nacken juckte, als er möglichst gemütlich weiterging, vorbei an einer Bäckerei, aus der köstliche Düfte zu ihm herüberzogen. Daneben lockte das erste Wirtshaus. Er befingerte das Geld in seinem Beutel. Damit sollte er lieber geizen.

Der Reiter hatte ihn erreicht, und Lienhardt schielte zu ihm hoch. Mist, das war Max Leinfelder, bis letzten Sommer noch ein Schütze, der die Kammer gleich neben ihm im Schützenhof bewohnt hatte. Während er unter dem Hut hervor zu seinem früheren Kollegen linste, blieb sein Schuh an einem Pflasterstein hängen. Er stolperte, fing sich aber wieder.

»Obacht!«, rief Max. »Wirst doch nicht schon besoffen sein?«

Lienhardt grunzte und winkte ab in der Hoffnung, nicht doch noch erkannt zu werden. Der Bursche würde bestimmt die Torwachen informieren, dass er sich hier rumtrieb. Am Ende fingen sie ihn ein und ließen ihn noch einmal vom Nachrichter ausstreichen, auch wenn er die Stadt selbst nicht betreten hatte. Bei der Vorstellung brannte sein Rücken gleich wieder, und er beschleunigte seine Schritte. Die Salbe des Henkers hatte allerdings eine schnelle Heilung seiner Wunden bewirkt. Der Mann verstand etwas von seinem Handwerk, das musste man ihm lassen: viel Schmerz und wenig Schaden. Solange es einem nicht an den Kragen ging, konnte man sich nicht beschweren.

Er kam am Färbhaus vorbei, in das durch Holzröhren Wasser vom Fischbach hineingeleitet wurde. Dahinter lagen fast nur noch Bauernhöfe und auch einige Gärten, in denen die Städter Blumen, Sträucher und Gemüse anbauten. Da war sicher noch nichts reif, womit er sich den Bauch ein wenig füllen könnte, und die Obstbäume blühten gerade erst. Die Sonne stand schon ziemlich tief. Wenn er noch bis Fürth wollte, sollte er sich sputen. Hm, andererseits gab es hier im Dorf sogar drei Wirtshäuser … aber er hatte ja kaum Geld.

Der Geruch nach gekochtem Kraut ließ ihn die Nase höher halten. Zwiebeln, Kümmel, aber keine Bratwürste. Trotzdem lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Und jetzt auch noch ein Zischen wie von einer Bratpfanne. Er eilte auf ein offenes Fenster am Ende der Ortschaft zu und stellte sich auf die Zehenspitzen. Ein stattliches Weib stand am Herd und warf Speckwürfel in eine Pfanne! Lienhardt starrte sie an wie eine Marienerscheinung, brachte aber kein Wort heraus. Da schlug eine Tür, und er zuckte zusammen. Ein junger Mann kam aus dem Haus, strich sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht. Der Kerl war groß, aber schlaksig – kein ernst zu nehmender Gegner. Trotzdem drückte sich Lienhardt an die Mauer, bis der Fremde hinter dem nächsten Gebäude verschwunden war, dann warf er einen letzten sehnsüchtigen Blick in die Stube. Genau in dem Moment schaute die Frau auf, um nach einem Holzlöffel zu greifen, und schrak zusammen, als sie ihn bemerkte.

Er machte ein zerknirschtes Gesicht. »Tut mir leid, schöne Frau, du musst dich nicht vor mir fürchten. Der Duft deiner Kochkünste hat mich zu deinem Fenster gelockt.«

Jetzt lächelte sie. »Wo kommst du her, und was machst du hier, wenn du nicht nach Nürnberg unterwegs bist oder von dort kommst? Aber in dem Fall sollte dich meine bescheidene Mahlzeit kaum locken.«

»Ich will eigentlich nach Fürth, aber je länger ich hier stehe und diese Gerüche einen Ring durch meine Nase treiben lasse, desto ärger fühle ich mich hier festgekettet.« Er schluckte, weil ihm das Wasser im Mund zusammenlief, und sah ihr in die funkelnden braunen Augen. Doch was, wenn der blonde Schlaks zurückkehrte? Na, mit dem würde er schon fertig werden.

»Hast du ein paar Pfennig übrig, dann darfst gern mitessen. Mein Mann kommt heute ni …« Sie zögerte. »… nicht mehr nach Hause. Er ist Fuhrmann.« Sie beäugte ihn misstrauisch, als fürchtete sie, er wollte sie ausrauben oder Unzucht mit ihr treiben, oder gar beides.

Ein verlockender Gedanke. Vielleicht war sie ja einsam, als Gattin eines Fuhrmanns, der sicherlich oft auswärts nächtigte und es vielleicht selbst nicht immer so genau mit der ehelichen Treue nahm. Von der Sorte kannte er genug. Wohnte nicht einer von diesen Liederjanen in Gostenhof? Nein, der war schon ein ganzes Stück älter als der Schlaks eben. Trotzdem fragte er: »Dein Mann ist aber nicht der Presigl Georg, oder?«

Nun blickte sie verlegen drein und hauchte: »Doch.«

Er hielt einen Groschen hoch und lächelte so unschuldig wie möglich. »Den kenn ich, hat bestimmt nichts dagegen, wenn du mich verköstigst.« Dann stemmte er sich aufs Fenstersims und schwang die Beine in die Stube, in der nur ein schlichter Tisch mit vier Stühlen stand.

»Oh, wir haben auch eine Tür«, sagte die Frau, aber sie grinste, als sie nach einem Ei griff und es in die Pfanne schlug.

»Gewisse Herausforderungen braucht ein Mann.« Er trat zu ihr und hielt seinen Zinken über die leiblichen Genüsse auf dem Herd, dann sah er ihr tief in die Augen, obwohl ihr bebender Busen seinen Blick einfangen wollte.

Sie zog die dunklen Augenbrauen hoch. »Ist das so?«

Er nickte und fühlte eine Erregung in sich aufsteigen, die ihn beinah seinen Hunger vergessen ließ. Dieses rundliche Weib mit den dicken kastanienbraunen Zöpfen, die sie um den Kopf geschlungen hatte, ließ ihn nach ganz anderem lechzen. »Wie heißt du, schöne Frau?«

»Anna.« Sie schlug noch ein Ei in die Pfanne. »Bist sehr hungrig?« Ihre Hand schwebte über dem Eierkorb.

Lienhardt nickte wieder. »Ganz arg«, keuchte er. »Und einen Schlafplatz könnte ich auch brauchen.«

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, doch dann umspielte ein Lächeln ihre Mundwinkel. »So, so, du bist also müde.«

Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht, aber später vielleicht, da könnte ich müde und erschöpft sein.«

»Dann gebe ich dir nach dem Essen lieber einen Kräutertrunk, der dich schön wach hält«, sagte sie und strahlte. »Ein neues Rezept, und ich bin gespannt, wie’s dir bekommt.«

»Mmmhh, du bist hoffentlich keine Hexe und schickst mich mit einem Zaubertrank zum Brocken.«

Sie schmunzelte und strich ihm um den Bart. »So weit fort nicht.«

 

 

Geburt und Tod

Mittwoch, 3. Mai 1581

Max Leinfelder wälzte sich im Bett herum. Kathis Seite war bereits leer, aber noch warm. Lächelnd lauschte er dem leisen Klappern jenseits des Vorhangs. Sie stellte schon das Frühstück bereit.

»Guten Morgen, mein reckenhafter Stadtknecht«, rief sie.

Er rieb sich den Schlaf aus den Augen. Seine Kathi besaß ein untrügliches Gespür dafür, ob er wach war oder schlief. Er rutschte an den Rand des Betts und schob den Vorhang beiseite. »Guten Morgen, mein holdes Weib.«

»Hold? Ich?« Kathi schüttelte den Kopf, dass die blonden Haare flogen, die sie im Haus meist offen trug, wie er es liebte.

Er krabbelte aus der Schlafecke, die sie mit Tüchern abgeteilt hatten, und stand schon fast mitten im Zimmer. Ihre kleine Wohnung lag ganz oben in einem der Türme auf der Stadtumwallung und bestand nur aus dem einen Raum, bot aber für sie beide mehr als genug Platz. Wenn jedoch Kinder kämen …

Mit ein paar Schritten erreichte er den Tisch, wo eine Schüssel mit Grütze und Brot bereitstand. Ja, das Essen war meist karg bei ihnen, wenn Kathi nicht in der Fetten Gans aushelfen konnte, wo sie dann oft beide verköstigt wurden.

»Ich hab gestern auch noch einen geräucherten Fisch gekauft. Den gibt’s heute Abend«, sagte sie in tröstendem Ton.

»Schon gut, ich werd nicht verhungern.«

Sie schenkte ihm Milch in eine Tonschale und setzte sich zu ihm. »Ich sollt auch etwas mehr Geld verdienen, dann wär alles viel einfacher. Solange ich mich um keine Kinder kümmern muss, hab ich Zeit.« Kathi streichelte ihren flachen Bauch, dann blickten ihre blauen Augen direkt in seine. »Es ist doch gut, dass wir vorerst nur zu zweit sind.«

Max nickte, obwohl er ahnte, dass sie sich ein Kind wünschte, seit sie im Gefängnis vorgegeben hatte, schwanger zu sein. Der Nachrichter hatte damals viel für sie riskiert, um keine Unschuldige der Tortur unterwerfen zu müssen.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte sie: »Ich hab gestern die Henkerin getroffen.« Jetzt senkte sie den Blick. »Die Schmidts werden wohl bald eine Magd brauchen, auch wenn Meister Frantz viel freie Zeit hat und sich gerne um seinen Sohn kümmert.«

»Für den Nachrichter kann die Arbeit ja recht schnell wieder mehr werden.« Er leerte die Schale, schnitt eine dicke Scheibe Brot ab und reichte ihr die Hälfte. »Du musst auch was essen, Kathi.«

Sie kaute auf der Unterlippe. »Und wenn ich für sie als Magd arbeite?«

Max fiel das Brot aus der Hand. »Bist du närrisch? Beim Henker arbeiten?«

Kathi schielte zu ihm hoch und zog einen Schmollmund.

»Dann kämst du auch in den Ruch der Unehrlichkeit. Kommt gar nicht infrage! Das ist mein letztes Wort. Denk an unsere Kinder.«

»Die wir noch nicht haben.«

Warf sie ihm das etwa vor?

Kathi legte eine Hand auf seine. »War nur so ein Gedanke. Irgendeine Arbeit finde ich schon.«

»Bestimmt«, versuchte er sie zu trösten. Hastig verspeiste er das Frühstück und ging zum Abtritt im Treppenaufgang hinaus. Der öffnete sich zur Außenseite der Stadtmauer. Wer scheißt nicht gerne auf seine Feinde? Grinsend ließ er sich auf dem Holzsitz nieder. Und noch einen Vorteil hatte die Belüftung von unten: Es stank hier nicht wie im heimlichen Gemach eines Stadthauses oder in den Latrinen des Schützenhofs.

Jemand hämmerte gegen die Tür, die man angebracht hatte, als Familien von Stadtknechten in diesem Abschnitt der Befestigungsanlage untergebracht wurden.

»Besetzt«, rief Max.

»Scheiß schneller, Mensch, mich zerreißt’s gleich.«

»Ha, wenn das nicht der Hasenbart ist.« Max beeilte sich. Nicht, dass sich sein Kollege die Stadtknechtstracht einsaute.

»Na, endlich.« Mit rotem Kopf drängte sich Michel an ihm vorbei und schob die Tür zu. »Aaah. Das war knapp«, tönte es durch das dünne Holz.

Max blieb stehen. »Glück gehabt!« rief er zurück.

»Bist du heut wieder bei den Weilern um Gostenhof unterwegs?«

»Ja, die ganze Woche noch, und jetzt sollt ich mich beeilen.«

»Reit dir nicht den Hintern wund.«

»Auch nicht schlimmer, als sich die Beine in den Bauch zu stehen, wie’s der Sundermann den ganzen Tag tut.« Dem einzigen Stadtknecht in Gostenhof musste wirklich ganz schön langweilig sein. Max lief zu seiner Wohnung hinauf, wo Kathi schon die rot-schwarze Pluderhose, Hemd und Schwert neben der Waschschüssel zurechtgelegt hatte.

Bald darauf machte er sich auf den Weg zum Spittlertor. Hatte er nicht gestern einen Kerl gesehen, der dem Schützen Hertl verdächtig ähnelte: die nach einem Bruch schief verheilte Nase, die unverkennbaren blauen Augen? Beim Torwächter blieb er stehen. »Sag mal, hat der Lienhardt Hertl gestern versucht, in die Stadt zu kommen?«

»Der Schütz, den’s im Winter ausgestrichen haben?«

»Genau.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, der Hurenbock wär mir aufgefallen. Warum fragst?«

»Ich glaub, ich hab ihn gestern in Gostenhof gesehen.« Der Hertl konnte so treuherzig dreinschauen, dem würde es nicht schwerfallen, einen Wächter zu überreden, sogar ohne Bestechungsgeld.

»Da darf er sich ja auch rumtreiben, oder nicht?«

Max zuckte mit den Schultern und fragte sich zum ersten Mal, ob ein Bann sich vielleicht über die Mauern der Stadt hinaus erstrecken mochte. Er marschierte über den Plärrer nach Gostenhof zum Pflegamt, das der Stadt Nürnberg unterstellt war. Sundermann begrüßte ihn mit einem Nicken, was so viel hieß wie ›alles in Ordnung‹. In der Umgebung trieb in letzter Zeit eine Diebesbande ihr Unwesen, aber nach Gostenhof hinein hatten sie sich noch nicht gewagt, vielleicht, weil hier zur Abschreckung immer ein Stadtknecht gut sichtbar Wache schob. Dabei gab’s in dem Dorf kaum was zu tun. Am häufigsten musste der Sundermann wohl abends bei Wirtshausschlägereien einschreiten. Dem schien der Dienst hier zu gefallen, während es Max allmählich langweilig wurde. Auch wenn er gern über Land ritt, vermisste er doch die Gespräche mit den Kameraden, selbst wenn’s meist nur dummes Gewäsch war. Hier gingen ihm die Leute wegen seiner Tracht misstrauisch aus dem Weg, statt sich zu freuen, dass die Stadt Nürnberg sich um ihre Sicherheit kümmerte. Hoffentlich durfte er bald wieder innerhalb der Mauern Dienst schieben.

Er betrat das Pflegamt, wo der Schreiber und der Unterpfleger geschäftig in Papierstapeln blätterten. »Habt Ihr mal wieder irgendwelche Abgaben einzutreiben oder einen Grenzstreit beizulegen, Fütterer?«, erkundigte sich Max hoffnungsvoll. Dann müsste er wenigstens nicht allein herumstreifen.

Der Pfleger winkte ab. »Nein, gibt nichts für dich zu tun. Stör uns nicht und reite über die Felder, wenn man dich schon nicht zum Schreiben oder Rechnen gebrauchen kann.«

Seufzend wollte er kehrtmachen, da fiel ihm etwas ein. »Meine Frau kann beides, falls Ihr Hilfe braucht.« Und sie hatte ihm sogar einiges beigebracht; alle Buchstaben des Alphabets hatte er auswendig gelernt, und er konnte sogar seinen Namen schreiben.

»Was?« Fütterer riss den Kopf hoch. »Dein Weib kann schreiben und rechnen?«

»Vielleicht sogar lesen?«, murmelte Schreiber Kauffer und feixte.

»Ja, das hat Kathi alles im Findelhaus gelernt«, antwortete er mit vor Stolz geschwellter Brust.

Fütterer stand auf. »Oh, richtig, die Findeleltern sorgen gut für die Ausbildung der Kinder. Hm, vielleicht können wir deine Kathi wirklich brauchen.«

Kauffer verging das Grinsen. »Aber Fütterer, wie schaut das denn aus, wenn hier ein Weib hockt?«

Jetzt grinste Max. »Oh, Kathi schaut sehr schön aus.« Fürchtete der Kerl um Lohn und Brot?

»Darüber reden wir später«, brummte der Pfleger, setzte sich wieder hin und wedelte Max hinaus.

Er trat auf die Straße. Was Kathi wohl davon halten würde, für das Pflegamt als Schreiberin zu arbeiten? Es gab kaum etwas, das er seiner Frau nicht zutraute, und nichts schlug ihr mehr aufs Gemüt, als untätig herumzusitzen. In der Fetten Gans gab’s leider nicht oft Arbeit für sie, höchstens ein-zwei Tage die Woche, und dann war sie immer gleich viel fröhlicher.

Max ging ein paar Schritte in Richtung Nürnberg, und als er es merkte, lachte er. Das war ja, als wollten ihn seine Beine schnell zurück zu Kathi tragen, um sie zu holen und dem Pfleger vorzustellen, aber das konnte er jetzt unmöglich tun. Morgen war auch noch früh genug. Er machte kehrt und ging zum Stall, wo der Knecht immerhin schon ein Pferd für ihn gesattelt hatte. »Braves Tier«, flüsterte er ins Ohr des Gauls und streichelte ihm den Hals, bevor er ihn hinausführte und sich in den Sattel schwang. Im Schritt bewegten sie sich auf den Nürnberg abgewandten Ortsausgang zu, als ein Fuhrwerk hereinratterte. Ah, der Presigl Georg. Komisch, dass der so früh am Tag nach Hause kam, statt gerade erst loszufahren. Vielleicht war er die ganze Nacht unterwegs gewesen, um in den frühen Morgenstunden irgendwo seine Ladung abzuliefern? Soweit Max wusste, übernahm der Presigl nur Fuhren im weiteren Umkreis, nicht etwa bis nach Prag oder Amsterdam.

Der Mann winkte ihm zu und hielt vor seinem Haus. Max erwiderte den Gruß. Da er nichts Besseres zu tun hatte, gesellte er sich zu ihm. »Lange Nacht?«

»Ja«, brummte Presigl.

Na, mit dem war nicht viel anzufangen, sah auch ziemlich müde und rotäugig drein. Trotzdem fragte er: »Verdächtiges Gelichter habt Ihr unterwegs nicht gesehen?«

Presigl feixte. »Nur dich.«

Er schnaubte und setzte seinen Weg fort.

Da rief der Fuhrmann ihm nach: »Hat sich der Seitzen Jakob wieder hier herumgetrieben?«

Max blickte über die Schulter. »Wie sieht der denn aus?«

»Vergiss es, nur ein zerlumpter Abdecker.« Presigl winkte ab und stapfte ins Haus.

War wohl nicht so wichtig. Max ritt weiter und hatte das letzte Gehöft erreicht, auf dessen Grund Hühner und Schweine frei herumliefen, als ein gellender Schrei ihn herumfahren ließ und auch das Federvieh aufschreckte: »Hilfe, schnell! Mein Weib. Mein Weib! Hilfe!«

Max galoppierte zurück und sprang aus dem Sattel. Vom anderen Ende des Orts kam auch schon Sundermann gelaufen, war aber noch ein Stück entfernt.

Presigls Kopf ragte aus einem Fenster im oberen Stockwerk. »Hilfe! Kommt rauf! Mein Weib!«

Max stürmte durch die Tür und rannte die Stiege hoch. »Wo ist sie?«

»Hier. Schlafzimmer.«

Max folgte der Stimme, und da sah er die Frau. Im Nachthemd schien sie neben dem Bett zu stehen, das Haupt demütig gesenkt. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er den um ihren Hals geschlungenen Leinenstreifen, dessen anderes Ende an einem Fachwerkbalken über ihr verzurrt war. Presigl schlang die Arme von hinten um ihre Brust und hob sie ein Stück hoch. Max eilte um das Bett herum, stolperte fast über einen umgefallenen Hocker und machte sich an der Schlinge um ihren Hals zu schaffen, aber der Knoten saß zu fest. Er zog das Schwert und schnitt das Leinen durch. In diesem Moment polterte Sundermann herein und blieb wie versteinert stehen.

»Ach, mein Annerla.« Stöhnend legte ihr Mann sie aufs Bett und zerrte an dem Stoff um ihren Hals. »Warum hast du das gemacht?« Er sah Max an. »Ich hätt sie nicht die ganze Nacht allein lassen dürfen. Jetzt hat sie sich umgebracht. Nur weil ich in Stein zu viel gesoffen hab!« Er sank auf die Knie und schluchzte. »Das mach ich sonst nie!«

Max dauerte der Mann, doch er wusste nicht, was er sagen sollte. Er tastete am Handgelenk der Presiglin nach einem Herzschlag. Da war nichts, und sie fühlte sich bereits kühl an. »Ja, sie ist tot.« Er betrachtete ihr Gesicht, das völlig entspannt wirkte, als hätte sie der Tod im Schlaf überrascht. Wenn er daran dachte, wie die Delinquenten am Galgen aussahen, dann konnte er kaum glauben, dass diese Frau sich erhängt hatte. »Bleibt bei ihr, ich sag dem Pfleger Bescheid.«

Presigl nickte und wischte sich die Augen. Sundermann sah ihn verdutzt an, rührte sich aber immer noch nicht. Max rannte die Stiege hinunter, raus auf die Straße und zurück zum Pflegamt. Der Gaul war wohl einfach in den Stall zurückgekehrt. Bei seinem stürmischen Eintritt in die Amtsstube stierten ihn Fütterer und Kauffer entrüstet an, als fürchteten sie, der Luftzug könnte die Papiere durcheinanderwirbeln. Hatten sie die Hilferufe nicht gehört?

»Die Presiglin ist tot«, keuchte er.

»Was?« Fütterer sprang auf. »Die ist doch noch recht jung und war auch nicht krank.«

»Erhängt«, rief Max.

»Oh, Selbstmord? Das kann ich mir schon eher vorstellen.«

Hm, warum wohl? Aber die Leute hier kannten einander. »Soll ich in der Stadt Bescheid geben?«

»Erst schau ich mir die Frau an, ist unsere Gerichtsbarkeit.« Der kleine Mann plusterte sich auf und strich sich über die Glatze. Kauffer verdrehte die Augen.

»Na gut.« Während Max den weit ausschreitenden Fütterer zum Presigl-Haus begleitete, beschloss er, ihn wieder Unterpfleger zu nennen, wenn er sich weiter so aufspielte. Obwohl, klug wäre das sicherlich nicht, also fragte er ganz freundlich: »Welchen Grund soll die Presiglin denn gehabt haben, sich umzubringen? Eine schöne, gesunde Frau wie sie …« Er hatte das Weib in den letzten Tagen oft genug im Garten neben dem Haus krautern sehen.

Fütterer schnaubte, dann bewegte er die flache Hand vor seiner Stirn hin und her. »Sie war nicht ganz normal.«

»Wie das?«

Der Mann hob die Arme und ließ sie gegen seine bauschigen Pluderhosen fallen. »Mal war sie ganz still, dann wieder himmelhoch jauchzend fröhlich. Georg hat’s nicht leicht mit ihr gehabt.«

»Oh.« Auf ihn hatte die Presiglin immer nur freundlich gewirkt.

»Genau.«

Sie betraten das Haus, in dem sich Fütterer wohl gut auskannte, denn er marschierte sofort auf die Stiege zu. Dabei hatte Max ihm gar nicht erzählt, wo sie die Frau gefunden hatten. Allerdings stand in der guten Stube im Erdgeschoss die Tür offen, und da hatte der Pfleger gleich sehen können, dass sie nicht dort war. Kein Grund, ihn gleich zu verdächtigen. Im oberen Stockwerk steuerte der Mann jedoch stracks auf die offene Tür des Schlafzimmers zu. Der Ehemann hatte inzwischen den Stoff vom Hals der Toten gelöst, hockte neben ihr und hielt ihre Hand. Die Augen hatte er ihr auch zugedrückt. Sundermann stand am Fenster. Natürlich, dort musste Fütterer ihn gesehen haben.

Der Pfleger trat ans Bett. »Georg, mein Beileid. Schlimm ist das.«

Der Witwer blickte auf und nickte. »Erhängt hat sie sich. So ein grausamer Tod.«

Fütterer beugte sich über den Leichnam und musterte den Hals. Auch Max sah ihn sich jetzt genauer an. Die Haut wirkte unversehrt, nicht rot und aufgerieben, wie er es erwartet hätte. Gekämpft hatte sie nicht gegen den Tod.

»Eindeutig Selbstmord«, verkündete Fütterer. »Du weißt, dass sie verbrannt werden muss, mein Freund.«

Presigl schüttelte den Kopf und packte die Hände des Pflegers. »Bitte, Korbinian, können wir nicht sagen, dass es ein Unfall war?«

»Sollen wir sie aus dem Fenster werfen, oder wie stellst du dir das vor? Nein, sie kann kein christliches Begräbnis bekommen, aber der Herrgott wird sich ihrer erbarmen. Sie war kein schlechtes Weib.« Der Mann blickte zur Seite, als wollte er sich bei diesen Worten nicht ins Gesicht schauen lassen, dann sagte er: »Leinfelder, holt den Löwen.«

Max nickte und verließ das Haus. Alles sehr seltsam. Nun könnte er doch den Gaul brauchen, aber nein, in den geschäftigen Gassen Nürnbergs käme er zu Ross langsamer vorwärts als zu Fuß.

Mit schnellen Schritten eilte er zum Stadttor. Auf dem Weg zum Henkerturm erinnerte er sich daran, wie er letzten Sommer zu Meister Frantz geschlichen war. Der Nachrichter als Helfer in der Not für Kathi – was er sich dabei nur gedacht hatte! Doch am Ende war es genau das Richtige gewesen; der Plan des Henkers hatte funktioniert. Ohne den Mord an der Zahlmeisterin, einer Schneiderswitwe, bei der Kathi damals in Diensten gestanden hatte, wären sie beide vielleicht nie zusammengekommen. So hatte doch alles sein Gutes. Heute waren die Umstände ganz anders, und er musste nur zum Löwen.

Vor dem Unschlitthaus rührten zwei Talgkocher in großen Kesseln. Schnell eilte er weiter zum Holzsteg unter der Wohnung des Henkersknechts Augustin Ammon, die sich über den südlichen Arm der Pegnitz spannte. Kathi hatte ihm erzählt, dass die Zahlmeisterin nie über dieses Brücklein hatte gehen wollen aus Angst, der Löwe könnte ihr auf den Kopf fallen.

Das Lächeln rutschte ihm aus dem Gesicht, als Meister Frantz aus dem Henkerturm trat und ihm entgegenkam, eine Ledertasche über seiner Schulter. Die dunkelblonden Haare und der Bart waren länger als sonst. Der Mann sah beinah etwas heruntergekommen aus.

»Oh, Max Leinfelder. Lange nicht gesehen. Wie geht’s dir und deiner Frau?« Der Nachrichter lächelte bei diesen Worten, was er in der Öffentlichkeit selten tat.

Max verbarg sein leichtes Unbehagen. »Gut, und Kathi hat mir erzählt, dass sie gestern Eurer Frau begegnet ist.«

Meister Frantz schnaubte. »Hör zu, ich bin sicher, Kathi wäre eine großartige Magd für uns und würde sich liebevoll um Vitus kümmern, aber sie sollte auf keinen Fall bei uns arbeiten. Gerade als Findelkind würden ihr die Leute schnell eine unehrliche Herkunft unterstellen. Euch würde das vielleicht nicht schaden, aber möglicherweise euren Kindern.«

Max atmete auf. »So was in der Art hab ich Kathi auch gesagt. Ich bin froh, dass Ihr es uns nicht übel nehmt, wenn sie nicht für Euch arbeitet, was sie natürlich liebend gern tun würde.«

Der Nachrichter schien ebenso erleichtert. »Gut, dann hör ich mich mal bei den Abdeckern und Schindern um, ob sie eine Unehrliche kennen, die sich nicht fürchten würde, im Henkerhaus zu arbeiten.« Er tat einen Schritt, blieb stehen und wandte sich noch einmal um. »Was willst du dann hier, wenn es nicht um Kathi geht? Brauchst du einen Heiler?«

»Ich brauch den Löwen. In Gostenhof soll sich eine Frau erhängt haben, aber sie schaut gar nicht danach aus.«

Meister Frantz schüttelte den Kopf. »Nicht mein Bier. Ich hab geschworen, mich nie wieder in Ermittlungen einzumischen.«

Max konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Bis es mal wieder dem oder der Falschen an den Kragen gehen soll.«

Der Henker winkte ab. »Ach was, das können auch andere herausfinden. Wozu gibt’s Lochschöffen? Und Augustin könnte langsam ausgeschlafen haben.« Er blickte zum Holzboden der Brückenwohnung über ihnen hinauf. »He, Augustin?«

Keine Antwort.

»Ein Stadtknecht ist auf dem Weg zu dir!«

Mit diesen Worten ging er weiter und murmelte etwas vor sich hin, während er wieder den Kopf schüttelte. Ob er wohl seinen Schwur, sich nicht mehr in Ermittlungen einzumischen, wiederholte? Da fiel Max die seltsame Frage des Fuhrmanns ein. »Wartet!«, rief er dem Nachrichter hinterher und eilte ihm nach. »Kennt Ihr einen Jakob Seitzen? Das soll ein Abdecker sein.«

Meister Frantz zog die Stirn kraus. »Kann sein, dass der Schwiegersohn vom alten Reichelt so heißt.«

»Der hat sich anscheinend öfter mal bei der Presiglin herumgetrieben.« Max kämpfte gegen ein Lächeln an. »Wenn Ihr Euch bei Schindern und Abdeckern umhört, könnt Ihr das doch gleich rausfinden …«

Der Nachrichter stieß einen knurrenden Laut aus und ging weiter.

*

Frantz schritt zum Spittlertor hinaus und hob die Hand zum Gruß. Der Wächter zog den Kopf ein. Alberner Kerl, dabei trug Frantz nicht einmal das Richtschwert am Gürtel. Er ging ein Stück die Stadtmauer entlang und folgte dem Fürther Weg, vorbei an der Bleiche des Deutschherrenordens zu den Säuweihern. Irgendwo dahinter musste die Abdeckerei des alten Reichelt sein. Soviel er wusste, hatte der Mann eine unverheiratete Tochter, die sich vielleicht trauen würde, für ihn zu arbeiten. Seufzend beschloss er, sich dabei auch gleich nach dem Mann der älteren Tochter zu erkundigen.

Er folgte einem Trampelpfad zwischen den umzäunten Schweineweiden hindurch. Einige der Tiere warfen ihm misstrauische Blicke zu, vor allem aber der Hirte. Ob er ihn erkannt hatte oder nur um sein Vieh besorgt war? Bald erreichte er ein Waldstück. Vogelgezwitscher übertönte das Grunzen; der Geruch von Blumen und erwachender Natur überlagerte den von Schweinemist. Frantz lächelte. Frühling war wirklich die schönste Jahreszeit. Der Pfad führte an einem Weiler mit einfachen Steinhäusern vorbei, und er hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau. Eine junge Frau führte eine Ziege am Strick aus einem kleinen Stall. Das erinnerte ihn an die Selbstmörderin, wenn sie denn eine war. Welcher Mensch brachte sich freiwillig auf so eine Weise zu Tode? Gerade Frauen wollten schön aussehen, nicht mit verfärbtem Gesicht und hervorquellender Zunge enden. Die Presiglin war bestimmt einmal bei einer Hinrichtung durch den Strang dabei gewesen, musste also wissen, dass selbst reuige Sünder, die mit ihren irdischen Leben abgeschlossen hatten, am Galgen ums Überleben kämpften. Vielleicht hatte die Frau das Seil am Ast eines Baums befestigt, war hinuntergesprungen und hatte sich mit etwas Glück sofort das Genick gebrochen. Bestimmt konnte ein Wundarzt ganz schnell feststellen, ob die Frau sich wirklich erhängt hatte. Dazu brauchte man keinen Nachrichter. Er schalt sich einen Narren, weil er überhaupt darüber nachdachte. Es war wirklich nicht seine Aufgabe, Todesursachen oder Schuld festzustellen. Er musste eine Magd finden.

Bald nach dem letzten Haus erreichte er die Abdeckerei, neben der eine einfache Kate stand. Der alte Reichelt kam aus dem Haus gehumpelt. »Meister Frantz! Euch schickt der liebe Gott!«

Was für eine Begrüßung! Er lächelte. »Tut er das, Reichelt?«

»Ja! Meine Tochter wälzt sich unter Schmerzen im Bett. Einen Bader können wir uns nicht leisten und einen Medicus noch weniger!«

»Dann bringt mich zu ihr.« Nur gut, dass er bei Ausflügen in die Umgebung von Nürnberg immer eine kleine Auswahl an Salben und Medizin dabei hatte. Wenn er der Maid helfen könnte, würde sie umso lieber für ihn arbeiten.

Er betrat die ärmliche Hütte hinter dem Alten. Eine primitive Feuerstelle befand sich in einer Ecke der Stube, ein Tisch mit zwei Stühlen in der anderen. Zu seiner Rechten führte eine Tür in ein Schlafgemach, geradeaus eine Holzstiege in ein Dachstüberl. Der Mann deutete zur Schlafkammer. »Sie ist da drin, die Treppe ist sie nicht mehr raufgekommen. Da oben schläft sie eigentlich, seit mein Bein so schlecht ist, und der Jakob, mein Schwiegersohn nicht …«

Oh, dann war das die verheiratete Tochter? Na, vielleicht befand sich die andere auch hier und konnte ihn gleich als Heiler kennenlernen, nicht nur als Henker. Ein Stöhnen drang in die Stube. Frantz ging zu der Frau hinüber. Sie hielt sich den Bauch und drehte sich weg, als sie ihn sah. Frantz lief um das Bett herum und blickte in ein schweißbedecktes, gerötetes Gesicht. Strähnen ihres offenen braunen Haares klebten daran. Dunkle Augen richteten sich auf ihn. Angst konnte er in ihnen lesen, aber nicht die Angst vor dem Nachrichter oder vor dem Sterben. Angst vor Entdeckung? Der alte Reichelt stand in der Tür und beobachtete sie.

Frantz schwante Übles, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Aber wozu die Heimlichkeit, wenn die Frau verheiratet war? Er stellte seine Tasche auf den einfachen Nachttisch und wühlte darin herum. »Lasst uns allein, ich muss sie untersuchen. Schließt die Tür.«

Einen Moment zögerte Reichelt, sah ihn misstrauisch an, doch dann tat er es.

»Wie heißt du?«

»Elsa«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Frantz schob die Wolldecke beiseite, ging in die Hocke und legte eine Hand auf den dicken Bauch, um ihn abzutasten.

---ENDE DER LESEPROBE---