Meister Frantz - Pest und Plünderer - Edith Parzefall - E-Book

Meister Frantz - Pest und Plünderer E-Book

Edith Parzefall

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Beschreibung

Freie Reichsstadt Nürnberg 1585: Die Pestilenz erreicht die Stadt, und niemand ist gegen die Seuche gefeit. Alle müssen helfen, sie einzudämmen, sogar der Nachrichter. Meister Frantz sieht sich mit einem übermächtigen Gegner konfrontiert. Doch auch gemeine Verbrecher werden in diesen unruhigen Zeiten aktiv. Wer bestiehlt die Siechen im Lazarett und trägt den Pestzunder weiter?

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Edith Parzefall

Meister Frantz - Pest und Plünderer

Henker von Nürnberg, Band 5

 

 

 

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- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

Karte von Nürnberg

Handelnde Personen

Glossar

Prolog

Die Alte von Almoshof

Vorbeugung

Die Rute

Die Geißel

Auszug aus Nürnberg

Verschnaufen

Der Balbier

Die Ehewirtin des Balbiers

Der Schnitter

Flucht in die Arbeit

Unter Totengräbern

Schmerz und Erde

Sankt Rochus

Wegelagerer und Gelage

Begegnungen

Der Poßler

Lazarettprisaun

Ausstreichen

Beratschlagungen

Pestregiment

Zucht und Unzucht

Unter Beobachtung

Die Falle

Ein unerhörter Richttag

Nachwort

Impressum tolino

Karte von Nürnberg

Handelnde Personen

Historische Figuren sind fett gedruckt. Sie werden in diesem Roman fiktional verwendet, obwohl ich mich weitgehend an die überlieferten Fakten gehalten habe. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in, denn die Anrede Frau und Herr für gewöhnliche Leute war noch nicht geläufig. Da es in diesem Band viele Nebenfiguren gibt, werden sie nach Aufgabenbereichen oder Örtlichkeiten präsentiert.

Familie Schmidt, Freunde und Bekannte:

Meister Frantz Schmidt: der Nachrichter, also Henker von Nürnberg.

Maria Schmidtin: Ehefrau von Frantz, die auch als Henkerin bezeichnet wurde.

Vitus, Margaretha und Jorgen Schmidt: Kinder von Frantz und Maria.

Kunigunda Wernerin (geb. Schmidtin): Schwester von Frantz, Mutter von Lorenz Lippert.

Augustin Ammon: der Löwe, wie man den Henkersknecht in Nürnberg nannte.

Katharina (Kathi) und Maximilian (Max) Leinfelder: heimliche Kundschafterin und Stadtknecht, Eltern von Ursula (Ursel).

Clara Mülnerin: junge Magd im Dienst des Nachrichters, Halbschwester von Sebastian (Bastla) und Hans (Hänsla) Mülner sowie von Julius Spieß.

Lucas Korber: Schankknecht in der Fetten Gans und Bräutigam von Clara.

Gertraud (Gerti) und Ferdinand (Ferdl) Korber: Bruder und Schwägerin von Lucas.

Wolf Neubauer: Wirt der Fetten Gans und Chronist, zudem ein großer Bewunderer von Meister Frantz.

Magdalena (Magdel) Paumgartnerin (geb. Behaim): Gattin des Händlers Balthasar Paumgartner der Jüngere und Schwiegertochter des Pflegers von Altdorf.

Julius Spieß: Goldschmied und Halbbruder von Clara.

Wenzel Jamnitzer: Geometer und Goldschmied von Kaisern und Königen.

Stadtverwaltung/Ordnungshüter:

Balthasar Derrer: Vorderster Losunger und Hauptmann.

Willibald Schlüsselfelder: zweiter Losunger, Hauptmann und vorderster Schöffe im Stadtrat.

Hieronymus Paumgartner: dritter Hauptmann im Triumvirat.

Andreas II. Imhoff: Ratsherr, Septemvir, Schöffe und Deputierter der Sterbensläufe.

Maximilian Veit Holzschuher: Ratsherr und Schöffe.

Michel Hasenbart, Reuter, Vogler: Stadtknechte.

Konrad Rumpler, Niklas, Lehner: Schützen.

Eugen Schaller: Lochhüter, liebevoll auch Lochwirt genannt. Oberster Aufseher im Loch, dem Nürnberger Gefängnis für Untersuchungshaft und Delinquenten, die auf ihre Hinrichtung warten.

Benedikt: Lochknecht, der als Stadtknecht aushilft.

Floryk Loyal: ein Flame im Dienst von Antwerpener Tuchfabrikanten, der zum Poßler ernannt wird.

Ludwig Maurer: Balbier und Ehewirt der Barbara Maurerin.

Almoshof:

Michel Heroldt und Claß Bladtner: versuchen, die 80-jährige Antonia Sailerin zur Unzucht zu zwingen.

St. Rochus:

Georg Harlas: Totengräber zu St. Rochus.

Dr. Johann Richthauser: Medico Pestilentiario im Rochus-Lazarett.

Gustav (Gustl) Beck: Hofmeister des Rochus-Lazaretts.

Korbinian: Vorbeter im Lazarett und Gehilfe des Pestilentiarius, Kaplan von St. Rochus.

Marlies Schoberin: Hebamme von Kathi Leinfelderin und Maria Schmidtin, die den Dienst im Lazarett übernimmt.

Hans Hoffmann, Paul, Simon: Warter, also Krankenpfleger im Lazarett.

Lisbeth, Anna, Agnes: Wachmaiden oder Warterinnen, also Krankenpflegerinnen im Lazarett.

Gerda: Küchenmagd.

Jakob (Jackl) Stör: Sperrer (Türhüter).

Glossar

Atzung: Geld, das Gefangene für ihre Kost bezahlen mussten.

Bader, Barbier, Balbier, Wundarzt: niederer Stand der Heilberufe. Die Bezeichnungen wurden oft synonym verwendet, obwohl der Wundarzt für chirurgische Eingriffe und Aderlässe zuständig war. Balbiere rasierten, schnitten Haare, zogen Zähne und fungierten meist gleichzeitig als Bader, eine Bezeichnung, die auf den Betrieb von Badehäusern zurückgeht.

Garaus: Torschluss.

Keuche: Gefängniszelle.

Latwerge: zu Brei verarbeitete Heilmittel.

Loch(gefängnis): Verlies unter dem Rathaus, das als Untersuchungsgefängnis diente. Hier wurden auch Delinquenten festgehalten, die auf ihre Hinrichtung warteten.

Lochwirt: Lochhüter, oberster Gefängniswärter im Loch.

Losunger: Der Vorderste Losunger war der mächtigste Mann der Stadt, zuständig für Finanzen und Verteidigung, da er gleichzeitig einer der drei Obersten Hauptleute war. Unterstützt wurde er vom zweiten Losunger und Mitarbeitern in der Losungsstube.

Löwe: Henkersknecht. Es gibt verschiedene Theorien dazu, wie der Henkersknecht zu seinem Spitznamen kam, den es so nur in Nürnberg gab, allerdings überzeugt keine so recht. In Bamberg hieß der Henkersknecht beispielsweise Peinlein.

Miasma: Pest auslösende Stoffe in der Luft, oft als Ausdünstungen aus dem Boden verstanden.

Nachrichter: Scharfrichter, da dieser nach dem Richter seines Amtes waltete.

Nürnberger Werkschuh: Längenmaßeinheit, die 27,85 Zentimetern entsprach.

Pappenheimer: So wurden in Nürnberg die Straßenreiniger genannt, die auch in regelmäßigen Abständen die Abortgruben leeren mussten. Das geht vermutlich darauf zurück, dass der Reichsmarschall über Jahrhunderte aus dem Geschlecht der Pappenheimer bestellt wurde. Dieser war unter anderem für die Sauberkeit bei Hofe zuständig. Im Gegensatz zum hoch geachteten Reichsmarschall wurden die Nürnberger Pappenheimer allerdings gemieden.

Pestzunder: Pesterreger, die sich nach gängiger Meinung in Häusern und Kleidung Infizierter festsetzten.

Peunt: Bauhof unter der Verwaltung des städtischen Baumeisters bzw. seiner rechten Hand, dem Anschicker in der Peunt. Hier wurden neben Baumaterial auch Fuhrwerke, Pferde und Werkzeuge verwahrt und ausgegeben.

Poßler (auch Bosler geschrieben): Handlanger oder Knecht im Dienst der Stadt, der Arzneien, Lebensmittel und Sonstiges zu den Lazaretten brachte, die ein eigens dafür abgestellter Kaufer besorgte.

Prisaun: Gefängnis, meist zur kurzfristigen Verwahrung von Delinquenten.

Seelfrau/Seelnonne: übernahm gegen geringes Entgelt die Leichenwäsche und das Einnähen oder Einsargen der Toten.

Sterbenslauf: Seuche, Epidemie, die viele Menschen dahinraffte und dann ausklang.

Theriak, Mithridat: Allheilmittel, die auf Mohnsaft, also Opium basierten und denen allerlei Kräuter beigemischt wurden, teils auch Entenblut und Vipernfleisch, um bei Schlangenbissen zu helfen. Es gab viele unterschiedliche Rezepte.

Warter, Wachmaid, Hebmaid: Krankenpflegepersonal.

Ungeld: Steuer, Abgabe

Unschlitt: Rindertalg

Prolog

Pfingstsamstag, 29. Mai 1585

Frantz starrte auf sein Elternhaus und konnte es nicht fassen. So bald nach dem Vater war seine Stiefmutter ebenfalls verschieden, von der Pest in kurzer Zeit dahingerafft. Diese elende Geißel der Menschheit war zurückgekehrt. Die Trauer über den Verlust ihres Mannes musste die sonst so vitale Frau anfällig gemacht haben.

Kunigunda ergriff seine Hand. »Komm, kleiner Bruder«, sagte sie, obwohl er seine Schwester inzwischen um eine Handbreit überragte. »Das Haus ist bereits ausgeräuchert worden.«

»Warte.« Er reichte ihr einen Krug, der vier Lot Theriak, vermischt mit einem halben Seidel Branntwein, enthielt. »Tröpfle dir davon was auf Zunge und Nase.«

Sie tat es und verzog das Gesicht. »Ich glaub nicht, dass das noch nötig ist.«

»Keiner von uns will die Pest nach Hause tragen.« Auch er schützte seine Atemwege mit dem Trank. Immer noch zögernd betrat er nach Kunigunda das Haus des Henkers von Bamberg, der vor ein paar Wochen einem Herzanfall erlegen war. An der Beerdigung des Vaters hatte Frantz nicht teilnehmen können, jetzt allerdings hatte ihm der Stadtrat von Nürnberg bis nach Pfingsten freigestellt, damit er sich um den Nachlass der Eltern kümmern konnte.

In der Diele legte Kunigunda eine Hand auf seinen Arm. »Ich hab mir bereits einige Sachen rausgesucht, die ich mitnehmen will, aber wenn du etwas davon haben möchtest, sag’s einfach.«

Er nickte und trat in die Küche. Seine Schwester hatte Geschirr in Holzkisten geschlichtet. Er wandte sich um und ging in die gute Stube. Das kleine Gemälde einer hügeligen Waldlandschaft hing immer noch an der Wand. Er nahm den Geruch von Lorbeer, Wacholder und Wermutkörnlein wahr, mit denen die Stube geräuchert worden war, um den Pestzunder zu vertreiben.

In diesem Haus hatte er die entscheidenden Jahre seiner Jugend verbracht und war von seinem Vater, Meister Heinrich, zum Scharfrichter ausgebildet worden. Frantz stieg in das Obergeschoss hinauf und betrat seine ehemalige Kammer. Auch hier hatte sich in den Jahren seiner Abwesenheit kaum etwas verändert. Vor der Truhe, in der einige seiner Sachen aufbewahrt waren, kniete er nieder. Verzagt öffnete er sie und wurde sogleich von Erinnerungen überflutet. Das Übungsschwert aus Holz, der Strick, mit dem er Henkerknoten geknüpft hatte …

Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn zusammenfahren. Er hatte Kunigunda nicht hereinkommen gehört.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Schon gut, ich war in Gedanken in einer ganz anderen Zeit.«

»Nimmst du die Sachen mit für  …« Sie wagte nicht, es auszusprechen.

Er sah sie an. »Nein, Vitus soll kein Henker werden. Irgendwie werde ich es zuwege bringen, meinem Sohn so ein Leben zu ersparen.«

»Ach Frantz, ich wünsch es euch beiden, aber du solltest nicht irgendwelchen Träumen nachjagen.«

Er schnaubte, stand auf und hob die Kiste hoch. »Das Zeug wird verbrannt.«

Kunigunda nickte. »Mutters Nachthemden hab ich auch schon hinters Haus gebracht. Da wir nicht wissen, was sie während ihres Siechtums getragen hat, sollten wir sie alle verbrennen, oder?«

»Ja, das ist sicher besser.« Er trug den Kasten hinunter und hinaus zur Feuerstelle, auf der sich bereits Hemden und die mit Wolle und Stoffresten gefüllte elterliche Schlafunterlage häuften. Er schüttete den Truheninhalt darauf. Kunigunda brachte alte Essbrettchen aus Holz und warf sie dazu. »Die will sicher auch keiner mehr.«

Die Kiste wusch Frantz mit Malvasia-Essig aus und nahm sie mit zurück ins Haus. Dann suchte er ein paar Erinnerungsstücke zusammen, packte auch einen hohen Hut seines Vaters ein und zögerte vor dem Gemälde. Es war ein Patientengeschenk, ein Symbol für die Leben, die sein Vater als Heiler gerettet hatte, im Gegensatz zu den Leben, die er hatte beenden müssen. Außerdem würde der Blick auf die Waldlandschaft in seiner Wohnung einen netten Kontrast zu der Aussicht auf die Häuser der Freien Reichsstadt Nürnberg um sie herum ergeben. Er nahm es von der Wand und stellte es in die Kiste.

»Das Bild willst du mitnehmen?«, fragte Kunigunda von der Tür.

»Warum nicht? Oder willst du es haben?«

Sie schüttelte den Kopf und schaute ihn verschmitzt an.

»Hast du noch etwas Interessantes gefunden?«, fragte er.

»Na, du wirst doch wohl nicht Vaters Bücher zurücklassen wollen.«

Er warf die Arme in die Luft. »Himmel, an die hab ich gar nicht mehr gedacht.« Mit langen Schritten eilte er in die Kammer seines Vaters. An der Schwelle wurde ihm klar, dass er sich schon die ganze Zeit davor drückte, diesen Raum zu betreten. Hier bewahrte Meister Heinrich neben allerlei Arzneien und Büchern sein Richtschwert auf. Zuerst griff Frantz nach der Bibel in der Übersetzung von Martin Luther. Und das im Fürstbistum Bamberg. Er lächelte. Da er selbst ein Exemplar besaß, würde er dieses Kunigunda mitgeben. Seine Schwester war wieder nach oben gegangen und verrückte geräuschvoll Truhen.

Oh, sein Vater besaß Die große Wundarzney und Von der Frantzösischen kranckheit Drey Bücher des berühmten Theophrastus Bombastus von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus. Der Mann hatte die Lehre von den vier Kardinalsäften angezweifelt und damit große Diskussionen unter den Ärzten ausgelöst. Seine Werke musste er unbedingt mitnehmen. Außerdem packte er alles ein, was an Arzneien noch zu gebrauchen war, sowie ein altes Kräuterbüchlein, aus dem er einst die Grundlagen der Heilkunst gelernt hatte. Dann konnte er das Unvermeidliche nicht länger hinausschieben. Er nahm das Richtschwert vom Haken an der Wand und zog es aus der Scheide. Wie viele Menschen hatte Meister Heinrich damit wohl vom Leben zum Tode gebracht? Die Klinge war blank poliert; nur an der fehlenden Spitze konnte man erkennen, dass es ein Richtschwert war.

Schritte auf der Stiege ließen ihn das Schwert zurück in die Scheide stecken. Als er es wieder an die Wand hängte, kam Kunigunda herein. »Du willst es nicht mitnehmen?«

Er wandte sich zu ihr um. »Nein, vielleicht kann es sein Nachfolger brauchen. Meins wurde speziell für mich angefertigt, von einem Schmied, der sich nicht scheute, den besonderen Anforderungen eines Richtschwerts gerecht zu werden.«

Sie sahen sich lange in die Augen. Kunis wurden feucht. »In der Scheune ist ein Rad.«

Frantz schluckte schwer. Sicher dachte sie daran, dass er Anfang des Jahres ihrem zweiten Mann mit dem Rad langsam alle Knochen im Leib hatte zertrümmern müssen. Er breitete seine Arme aus, unsicher, ob sie von ihm berührt werden wollte.

Kurz zögerte sie, dann sank sie schluchzend gegen seine Brust. »Ich hätte dabei sein sollen, als du …«

Er drückte sie an sich. »Ich war froh, dass du mir nicht zugeschaut hast.«

»Trotzdem hätte ich dich nicht damit allein lassen dürfen.«

Sein schwerstes Richten. Erst der einunddreißigste Stoß mit dem Rad auf dessen Hals hatte seinen Schwager getötet. »Die Last hab ich nur allein tragen können, aber du hättest mich verabscheut.«

Ihr Körper straffte sich, und sie schüttelte den Kopf. »Ich bin eine Henkerstochter«, sagte sie schlicht. »Meine Feigheit verstehe ich bis heute nicht.«

»Friedl war dein Mann.«

Sie schniefte. »Aber auch ein Räuber und Mörder, der mich immer nur an der Nase herumgeführt hat, bis er mich ebenfalls beraubt und niedergeschlagen hat. Für tot liegen gelassen.« Jetzt löste sie sich aus der Umarmung. »Lass uns weitermachen.«

Frantz klemmte sich die Bücher unter den Arm, schlang den Sack mit Arzneien über die Schulter und folgte ihr. Viel würde er nicht mitnehmen, und hoffentlich trug er nicht die Pest in sein Haus.

Kunigunda hatte einiges auf Vaters Handkarren geladen. »Wie willst du das alles nach Kulmbach bringen?«, fragte er erstaunt.

»Ein Fuhrmann nimmt mich mit, zum Glück! Falls für den Karren kein Platz auf der Ladefläche ist, will ich versuchen, ihn an seinen Wagen dranzuhängen.«

»Jobst und den Mädels geht’s gut?«

Sie nickte bedächtig. »Gesund sind die Kinder, aber auch verwirrt von all den Veränderungen.«

Er fischte den Krug mit Malvasia-Essig aus der Tasche und verrieb etwas davon auf Händen und Armen, dann reichte er ihn seiner Schwester. »Hier, damit tötest du den Pestzunder.«

Sie verdrehte die Augen, tat es aber. »Ob das hilft?«

»Schaden tut’s jedenfalls nicht.« Mithilfe eines Zunderschwamms entfachte er Reisig unter der Schlafunterlage und trat zurück.

Er setzte sich neben Kunigunda auf eine Bank an der Hauswand und beobachtete das Spiel der Flammen.

»Wie geht’s meinem Lorenz?«, fragte sie.

Frantz hatte seinen Neffen den verbrecherischen Fängen des Stiefvaters entreißen können, doch dafür hatte der Junge die Goldschmiedelehre in Forchheim aufgeben müssen. Da sein ehemaliger Meister schließlich als Hehler zum Tod durch den Strang verurteilt worden war, hatte es sich letztlich als Segen herausgestellt. »Dein Sohn hat bei verschiedenen Nürnberger Goldschmieden einiges lernen dürfen, und jetzt hat ihn Julius Spieß mit nach Altdorf genommen. Du erinnerst dich an Claras Bruder? Er hat sein Meisterstück gemacht und die Werkstatt seines Vaters übernommen.«

Kunigundas Gesicht leuchtete auf. »Das ist ja wunderbar! Dann hat Friedl wenigstens ein Gutes bewirkt.«

»Wenn auch unabsichtlich.« Er lächelte sie an, um seinen Worten den Stachel zu nehmen.

Sie nickte. »Ich war eine Närrin.« Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Frantz legte einen Arm um ihre Schultern.

Die Alte von Almoshof

Montag, 7. Juni 1585

Wie befohlen meldete sich Max Leinfelder in der Büttelstube, wo ihn Schöffe und Ratsherr Andreas Imhoff erwartete. Unsicher blickte Max sich um. Niemand sonst befand sich in dem Raum.

Imhoff holte tief Luft und sah ihn so lange an, dass Max sich fragte, was er wohl angestellt haben könnte, doch ihm fiel nichts ein. Er hatte seinen Dienst als Stadtknecht immer ordentlich verrichtet.

»Setz dich.« Der Schöffe wandte sich kurz ab, dann ließ er sich Max gegenüber auf den Stuhl sinken. »Ich hab dich rufen lassen, weil du zwei Gefangene aus Almoshof holen sollst. Die sind auf meinem Herrensitz vorläufig in Gewahrsam genommen worden.«

Herrensitz, Gefangene? Und er sollte sie allein holen? Max räusperte sich. »Was wird den Männern vorgeworfen?« Mörder und Räuber wollte er nicht ohne Unterstützung nach Nürnberg bringen müssen.

Imhoff schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass auch sein schütteres, ergrauendes Haar in Bewegung geriet. »Diese elenden Schufte!«

Max zuckte nur leicht zusammen, sah aber den Rat verwundert an. Dieser wirkte mit einem Mal weit älter auf ihn als seine gut fünfzig Jahre. Die breiten Kiefer mahlten. Dunkle Augen funkelten zornig. Schließlich ließ Imhoff die angespannten Schultern sinken. »Gestern, am Tag des Herrn, haben die beiden Kerle eine alte Frau geschlagen und versucht, Notzucht mit ihr zu treiben.« Seine Stimme klang ruhig, hatte jedoch einen eisigen Unterton, der Max erschauern ließ. »Zwei Bürger Nürnbergs, Michel Herold, ein Futteralmacher, und Claß Bladtner, ein Schellenmachergesell. Stockbesoffen waren sie. Am helllichten Tag.«

»Der Frau ist nichts passiert?«

Imhoff blinzelte mehrfach, als bliese ihm der Wind Staub ins Gesicht. »Ich kenn die Sailerin, bin ihr schon oft begegnet. Eine Bäuerin, die viele anständige, fleißige Kinder in die Welt gebracht hat. Ein verständiges Kräuterweib ist sie auch. Das Gesindel hat sie geschlagen und furchtbar erschreckt. Und das nur, weil sie die versoffenen Halunken beschimpft hat. Dabei ist sie schon über achtzig Jahre alt! Ein paar Bauern sind zum Glück dahergekommen und haben sie von der Alten heruntergezogen.«

Schlimm, dachte Max. »Und ich soll die beiden abholen und ins Loch bringen – allein?«

»Schwierigkeiten werden sie dir nicht machen, weil sie heute bestimmt einen Brummschädel haben, aber nimm einen Schützen mit.«

Bis Almoshof waren es zwei oder drei Meilen. »Kriegen wir Pferde?«

Imhoff schüttelte den Kopf. »Ihr geht zu Fuß. Ist ja nicht so weit.«

»Stimmt und heute scheint sogar die Sonne. Dann mach ich mich alsbald auf den Weg.« Trotz des betrüblichen Anlasses freute Max sich darauf, aus der Stadt rauszukommen.

Nebenan in der Schützenstube hockten drei Kerle, darunter Konrad Rumpler. »He Konrad, machen wir einen Spaziergang?«

Der Schütze stand auf und schaute ihn überrascht an. »Wohin denn?«

»Gefangene aus Almoshof abholen.«

»Was haben die denn angestellt?« Rumpler steckte die Faustbüchse ein und schnallte ein Paar Eisenschellen an den Gürtel.

»Erzähl ich dir unterwegs.« Das musste nicht jeder mitkriegen. Die anderen schauten schon ganz neugierig. Erst nachdem sie das Stadttor passiert hatten, berichtete Max, was die Halunken gestern angestellt hatten.

»An einem Sonntag?« Konrad schüttelte den Kopf, dann entfuhr ihm ein Lachen. »Die jungen Weiber sind ihnen wahrscheinlich zu schnell davongelaufen.«

Max konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, auch wenn es für die alte Frau furchtbar gewesen sein musste. Wenigstens war es nicht zum Äußersten gekommen.

Eine gute Stunde wanderten sie durch Wald und über Wiesen, bis sie den Flecken erreichten. Die vier Herrensitze der Patrizier stachen zwischen den einfachen Bauernhäusern deutlich hervor.

»Wo sollen wir die Schurken denn abholen?«

»Die sind beim Imhoff festgesetzt worden, ich weiß aber nicht, welche der bescheidenen Hütten dem Mann gehört.«

Konrad gluckste. »Das wird’s sein«, sagte er und deutete auf eine halb eingefallene Kate, die am Ortsrand stand.

Max schnaubte. »Dann war er aber schon lang nicht mehr hier.« Ein schlossartiges Sandsteingebäude mit hoher Umfassungsmauer erschien ihm da schon wahrscheinlicher. »Fragen wir lieber dort nach.«

»Nee, das gehört dem Holzschuher. Sieht man doch am Wappen.«

»Hm.« Max musterte das steinerne Relief im Torbogen. Zwei Köpfe und … »Sollen das Holzschuhe sein?«

»Freilich.« Konrad grinste und zog ihn weiter.

»Und wie schaut das der Imhoffs aus?« Konnte man einen Menschen in einem Hof abbilden?

»Du weißt aber auch gar nichts, dabei wohnst du doch schon zehn Jahre oder so in Nürnberg. Das komische Vieh, Löwe mit Fischschwanz, also ein Seelöwe. Allerdings hat’s auch Vogelklauen.«

»Und so was gibt’s wirklich?«

Sein Kamerad zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«

Ein alter Mann und eine junge Frau kamen aus einem der Bauernhäuser und stutzten bei ihrem Anblick. »Holt ihr die Verbrecher?«, fragte der Greis.

»Genau, die sollen beim Imhoff festgesetzt sein.«

»Ja. Da drüben.« Er deutete zu einem schlichteren, aber doch stattlichen Gutshof.

»Dankschön.«

»Schlagt sie grün und blau«, zischte die Frau.

Konrad nickte. »Darum kümmert sich dann der Nachrichter, außer sie machen uns Scherereien.«

»Hoffentlich tun sie das«, grummelte sie. »Die Sailerin ist meine Urgroßmutter.«

Das Tor zum Imhoffschen Anwesen stand offen, also gingen sie einfach hindurch. Ein Stallknecht sah sie, stieß einen Pfiff aus und winkte sie heran. »Ihr holt die Mistkrähen?«

»Jawohl. Wo sind sie denn?«

»Im Keller. Der Hausel kommt gleich.«

Tatsächlich kam ein kleiner Mann herbeigeeilt. »Kommt mit! Wir sind froh, wenn wir das Gelichter los sind, bevor uns die Leut noch das Haus einrennen, um sie selbst aufzuhängen. Ich bin der Majordomo.«

»Der was?«, rutschte es Max heraus.

»Na ja, der Hausel halt.«

»Ach so.«

Er führte sie ins Wohngebäude und eine Steinstiege hinunter bis zu einer schweren Holztür mit Eisenbeschlägen. »Normalerweise wird hier Wein und Bier und über den Winter auch Gemüse gelagert, aber die Familie Imhoff war schon länger nicht mehr hier, deshalb war Platz, und zusperren kann man auch.« Er schloss auf. Der scharfe Geruch von Erbrochenem schlug ihnen entgegen.

Im spärlichen Licht, das durch die Tür und ein kleines Fenster unter der Decke fiel, sah Max die beiden Schufte. Jeweils eine Hand der Delinquenten war mit Eisenketten an die Wand gefesselt. Er staunte nicht schlecht. Ob jeder der Herrensitze hier ein Verlies hatte? Die Inhaftierten sahen sie finster an, sprachen aber kein Wort.

Unsicher fragte der Hausel. »Ich mach sie jetzt los?«

Max nickte und nahm sein Paar Eisenschellen vom Gürtel und legte erst eine Schelle um die freie Hand, dann um die andere, bevor der Hausel sie befreite.

Konrad übernahm den zweiten Delinquenten. Der fragte: »Kriegen wir Wasser, bevor’s nach Nürnberg geht?«

Max schaute sich um. Den beiden hatte man wohl weder Essen noch Trinken vergönnt, nur einen Eimer für die Notdurft. »Hol Wasser«, forderte er den Hausel auf. »Wir wollen sie ja nicht bis in die Stadt tragen müssen.«

Mit einem verächtlichen Schnauben ging der Mann hinaus. Sie folgten ihm mit den übel riechenden Kerlen. Draußen im Hof mussten sie nicht lange warten, bis der Hausel ihnen einen Krug brachte. Max trank ein paar Schlucke, bevor er das Gefäß an die Verhafteten weiterreichte, dann marschierten sie los.

Entlang der Straße hatten sich einige Leute versammelt und schmähten die Schurken. Max packte seinen fester am Arm. Niemand sollte meinen, dass die Strolche entkommen könnten. Als sie den Wald erreichten, entspannte er sich und blickte ein letztes Mal über die Schulter. Niemand folgte ihnen.

Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte der Schuft, um sich loszureißen. Als er ins Unterholz springen wollte, bekam Max ihn gerade noch zu fassen. Die Ablenkung nutzte allerdings der andere zur Flucht. Konrad reagierte zu langsam und musste ihm nachsetzen. Kurz verlor Max sie zwischen den Bäumen aus den Augen, dann hörte er einen dumpfen Aufprall und einen Schrei. »Konrad? Hast du ihn?«

»Ja, alles unter Kontrolle«, keuchte sein Kamerad. Kurz darauf zerrte er den Mann zurück auf den Pfad.

»Ich will nicht wieder nach Nürnberg!«, heulte der Saufbold und stemmte die Fersen in den Boden.

»So schlimm wird eure Strafe schon nicht werden«, versuchte Max, die beiden zu beruhigen. »Ihr habt keinen ernsthaften Schaden angerichtet. Am Pranger stehen und ausgestrichen werden solltet ihr schon aushalten.«

Der andere schnaubte. »Wenn’s nur das wär.«

*

Frantz hielt den kleinen Jorgen auf dem Arm und trug ihn in der guten Stube herum. Ein Jahr war sein Jüngster nun schon alt, hatte aber noch keine rechte Lust, zu sprechen oder zu laufen, obwohl Margreth und Vitus ihn immer wieder lockten. Dann krabbelte er einfach zu seinen Geschwistern. »Wenn du nur so ruhig und anspruchslos bleiben würdest«, sagte Frantz. Der Bub sah ihn aus großen Augen an.

Da hämmerte es gegen die Tür. Als Frantz öffnete, sah er einen Schützen am Treppenabsatz des Turms stehen.

»Ihr sollt ins Loch kommen, Meister Frantz.«

»Augustin auch?«

»Euer Knecht wird vorerst noch nicht gebraucht.«

»Gut, ich komm gleich.«

Der Ordnungshüter eilte davon. Frantz ging durch das Behandlungszimmer in die Küche, wo Maria das Mittagsmahl bereitete. Clara war mit den beiden größeren Kindern auf dem Markt. »Ich muss weg«, sagte er.

Maria fragte: »Ins Loch oder zu einem Kranken?«

»Ins Loch.« Er setzte den Buben auf den Boden, dann küsste er sie.

Traurig sah sie ihn an. »Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.«

Er nickte und ging zurück in die gute Stube, schlüpfte in die Schuhe und warf einen kurzen Blick zum Schrank, in dem er sein Richtschwert verwahrte. Vermutlich sollte er nur bei einem Verhör dabei sein, um den oder die Verdächtigen einzuschüchtern, ihnen womöglich die Folterinstrumente zeigen.

Auf dem Säumarkt vor dem Henkerturm herrschte angenehme Ruhe, da die Tiere im Sommer vor der Stadt gehalten und gehandelt wurden. Nur wenige Schweine tummelten sich in den Pferchen. Der Saustecher würde sie bald holen. Auf der anderen Seite der Pegnitz befand sich der Schlachthof und daneben das Fleischhaus, wo die Metzger ihre Waren feilboten.

Dafür tummelten sich beim Weinmarkt zahlreiche Händler und Käufer. In diesem Jahr hatte sich die Sonne bislang kaum blicken lassen, aber jetzt, da die Temperaturen endlich stiegen, wirkten auch gleich die Menschen viel fröhlicher. Auf dem Grünen Markt in der Nähe des Rathauses entdeckte er Clara mit den Kindern und ging zu ihr. »Na, ihr drei. Gebt ihr mein ganzes schwer verdientes Geld aus?«

Margreth schlang ihre Arme um sein Bein. »Will Lebkuchen!«

»Ich auch!«, rief Vitus und feixte. Mit seinen fünf Jahren hatte der Bub schon herausgefunden, dass seine kleine Schwester den Erwachsenen leichter etwas entlocken konnte, also überließ er ihr das Betteln.

Clara schmunzelte. »Ich fürchte, Ihr werdet noch viel härter arbeiten müssen, wenn Ihr diese verzogenen Gören zufriedenstellen wollt.«

Da verging Frantz das Lächeln. Die Maid merkte es sofort. »Ihr seid auf dem Weg zum Loch?«

Er nickte. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Wartet nicht mit dem Essen auf mich.« Er strich seiner Tochter über den Kopf. »Eine kleine Leckerei wird Clara schon für euch finden.«

Da ließ sie ihn los, strahlte und packte Claras Hand. »Weiß wo.«

Einen Moment sah Frantz ihnen nach, bevor er strammen Schritts zum Lochgefängnis weiterging. Er sollte die Schöffen nicht unnötig warten lassen.

Einer der Lochknechte stand vor dem Eingang. Es sah aus, als hielte er Ausschau nach dem Nachrichter, während er das muffige Verlies etwas lüftete. Da unten gab es nur ein Fenster, und das befand sich im Henkersstüberl. Frantz nickte ihm zu und stieg die steinernen Stufen hinunter. Im Brunnenraum warteten die Räte Andreas Imhoff und Maximilian Holzschuher, die derzeit als Lochschöffen tätig waren.

»Werte Herren, was gibt’s?«

Holzschuher antwortete: »Zwei Kerle haben in Almoshof eine alte Frau angegriffen und wollten sie zur Unzucht nötigen.« Der Schöffe klang verärgert.

»Wir kennen die Sailerin von Kindesbeinen an«, ergänzte Imhoff, als würde dies noch schwerer wiegen als das Leid des Opfers.

»Sie haben noch nicht gestanden?«, fragte Frantz.

Imhoff antwortete: »Ich schätze, das werden sie alsbald tun, denn es gibt genug Zeugen. Um uns mit dem Gesindel nicht unnötig lange abgeben zu müssen, wollen wir Euch schon bei der ersten Befragung dabei haben. Sonst werden am Ende noch wir handgreiflich.«

Frantz konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. »Richtig, handgreiflich darf nur ich werden.«

Nun kam auch der Schreiber die Treppe vom Rathaus herunter. »Bin bereit.« Er stutzte kurz, als er Frantz sah, doch ein Blick zu den Lochschöffen bestätigte ihm, dass alles seine Ordnung hatte.

Die Ratsherren gingen voraus in die kleine Verhörkammer, der Schreiber aber ließ Frantz den Vortritt. Die Mienen der Verdächtigen verdüsterten sich, als sie ihn sahen. Er quetschte sich hinter ihren Schemeln vorbei und hockte sich in die Ecke. Die Schöffen setzten sich den beiden gegenüber, und der Schreiber nahm am schmalen Ende des Tisches neben der Tür Platz.

Imhoff starrte die Verdächtigen durchdringend an. »Claß Bladtner, Michel Heroldt, ihr habt gestern Antonia Sailerin geschlagen und wolltet Notzucht mit ihr treiben.«

Beide senkten schuldbewusst die Köpfe. Bladtner murmelte: »Wir waren stockbesoffen.«

Heroldt nickte. »Sie hat uns geschimpft, weil wir uns am helllichten Tag, noch dazu an einem Sonntag, haben volllaufen lassen. Da ist mir der Kragen geplatzt. Hab ihr eine runtergehauen, damit sie’s Maul hält. Aber dann hat sie erst richtig angefangen zu zetern. Also hab ich sie gestoßen, dass sie in die Wiese gefallen ist.« Er schaute zu seinem Kumpan. »Der Claß hat sich auf sie geworfen und gemeint, er will noch mal das Leben genießen.«

Claß Bladtner nuschelte: »Wird schon stimmen, aber ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern.«

Frantz verzog das Gesicht. Ein einziges Mal, vor langer Zeit, war ihm Ähnliches passiert. Er war im Rausch bei einer Hure im Bett gelandet, ohne sich hinterher an viel erinnern zu können. Seitdem trank er nichts mehr, höchstens einen Schluck Wein zu besonderen Anlässen. Er unterdrückte ein Schnauben, als er an die Hochzeit seiner Schwester mit dem Heffner Friedl dachte, diesem üblen Räuber und Mörder.

Holzschuher blaffte: »Und was hat euch – zwei, redliche Handwerker – dazu bewogen, am Sonntagmittag schon so viel zu saufen?«

Der mit dem Gedächtnisschwund keuchte: »Die Pestilenz!«

Frantz starrte ihn an, dann blickte er zu den Schöffen und bemühte sich um einen unbewegten Gesichtsausdruck.

»Ach, die Pest soll schuld sein?«, höhnte Imhoff. »Der letzte Sterbenslauf ist drei Jahre her und verlief recht zahm.«

»Mein Vater ist dran verreckt. Vorgestern.« Lange hielt Bladtner dem skeptischen Blick des Schöffen stand, dann nickte er zu seinem Kumpan. »Dem Michel seine Schwester auch. Schon vor zwei Wochen. Deswegen sind wir gestern raus aus der Stadt und haben beim ersten Wirtshaus das Saufen angefangen und nicht mehr aufgehört.«

Deutlich erblasst fragte Imhoff: »Und dein Vater ist zu Hause aufgebahrt?«

Bladtner nickte. »Ich musst weg aus dem Pestilenzdunst.«

Der Schöffe wandte sich an den Schreiber. »Schick einen der geschworenen Ärzte hin.«

Der Schreiber erhob sich und verließ den Raum. Niemand sprach, bis er zurückkehrte und nickte, dann sagte Imhoff: »Bald wissen wir mehr. Warum hat das keiner von euch gemeldet?«

Michel Heroldt antwortete: »Der Bader hat bei meiner Schwester nichts von Pest gesagt. Dann hat mir der Claß erzählt, wie die Leich von seinem Vater ausgeschaut hat, mit den dunklen Flecken überall. Da ist uns klar geworden, dass die Pestilenz zurück in der Stadt ist.«

»Gut. Nein, nicht gut.« Imhoff erhob sich und lockerte den steifen Spitzenkragen etwas. »Ihr werdet jetzt wieder in die Keuche gebracht. Später werden wir euch weiter befragen, aber im Moment gibt es Wichtigeres zu tun.«

Die drei Amtmänner verließen die Stube, und zwei Lochknechte brachten die Verdächtigen fort. Falls deren Angehörige wirklich an der Pest gestorben waren, wollte Frantz nicht noch einmal mit den beiden in Berührung kommen. Die Vorstellung bereitete ihm Unbehagen. Erst als sie aus dem Weg waren, verließ Frantz die Verhörkammer.

Holzschuher war bereits gegangen, doch Imhoff wartete auf ihn. »Meister Frantz, ich muss Euch hoffentlich nicht sagen, dass vorerst kein Wort davon kundgetan werden darf. Wir müssen zunächst feststellen, ob die Pest wirklich zurückgekehrt ist.«

»Natürlich. Ihr wisst, dass es in Bamberg schon viele Pestfälle gegeben hat?«

Der Rat nickte. »Trotzdem müssen wir behutsam vorgehen. Niemandem ist damit gedient, wenn die Menschen fluchtartig die Stadt verlassen und womöglich die Seuche weitertragen.«

»Wann werdet Ihr mehr wissen?«

»Hoffentlich noch heute. Ich schätze, morgen wird der Rat ausgesprochen beschäftigt sein.« Imhoff schaute ihm in die Augen. »Max Leinfelder kann Euch auf dem Laufenden halten, denn wenn es sich wirklich um die Pestilenz handelt, werden umgehend alle Stadtknechte instruiert.«

»Danke, ich weiß es zu schätzen.«

Auf dem Heimweg holte Frantz Clara und die Kinder ein. Als er der Magd von hinten einen der beiden Körbe voller Lebensmittel abnahm, erschrak sie und stieß einen kleinen Schrei aus.

Margreth wirbelte herum, lachte und schlang wieder die Arme um seine Beine. »Trag mich!«

»Und mich!« Vitus umklammerte seine Hüften.

›Herr im Himmel, hilf!‹, flehte er stumm und versuchte, ruhig zu bleiben. »Clara, trag du Margreth. Vitus kann laufen.« Den zweiten Korb riss er ihr aus der Hand. »Mach schnell. Zieh die Kinder von mir weg.«

Verdutzt sah sie ihn an, reagierte aber umgehend. »Komm her meine Kleine.« Sie hob Margreth auf den Arm und packte Vitus an der Hand. »Hab ich’s gut heute, muss nur dich Federgewicht tragen.« Geschickt lenkte sie die Kinder von seinem merkwürdigen Verhalten ab, und er war ihr unendlich dankbar.

»Eben, ich bin viel kräftiger als Clara«, rief er möglichst unbekümmert und eilte voraus. Seine Umgebung nahm er kaum noch wahr, bis er den Turm betrat und die Stiege hinaufstapfte.

In der Brückenwohnung angekommen hörte er Geräusche aus der Küche. Maria war noch mit Kochen beschäftigt. Sehr gut. Er stellte die Körbe im Behandlungszimmer ab, zog Kniebundhose und Hemd aus, trat in die Küche und stopfte die Kleidung in den Holzofen.

Entsetzt rief Maria: »Frantz! Bist du von Sinnen? Die guten Sachen!«

Er atmete tief durch und nahm sie in die Arme. »Nein. Vertrau mir. Es ist besser so. Wo ist Jorgen?«

»Im Schlafzimmer.«

»Gut, halte ihn in den nächsten Tagen von den anderen beiden fern – und von mir auch. Dann weiß ich hoffentlich mehr.« Als ihm bewusst wurde, dass er vielleicht gerade Maria ansteckte, ließ er sie los und trat ein paar Schritte zurück. »Verzeih!«

Voller Angst sah sie ihn an. »Was ist los, Frantz?«

»Du darfst mit niemandem darüber reden.«

»Die Pestilenz hat Nürnberg erreicht?«, hauchte sie.

Er nickte und griff nach dem Krug mit Malvasia-Essig.

Vorbeugung

Dienstag, 8. Juni 1585

Als Max sich morgens zum Dienst meldete, wurde er gleich ins Rathaus geschickt, wo die meisten seiner Kameraden bereits in einem schlichten Raum versammelt waren. Balthasar Derrer und Willibald Schlüsselfelder, die zwei Losunger und obersten Hauptleute, hatten alle sechzehn Stadtknechte antreten lassen. Nur Hieronymus Paumgartner, der dritte Hauptmann, fehlte. Was mochte passiert sein? Hoffentlich kein Krieg!

Derrer, der mächtigste Mann Nürnbergs, stand am anderen Ende des Saals und machte ein betretenes Gesicht. Plötzlich rief er: »Steht nicht zu eng zusammen.«

Verwirrt sahen sie einander an, bis einer zischte: »Pest?«

Das Wort wurde weitergetragen, bis die hohen Herren langsam nickten. Schlüsselfelders tiefe Stimme ertönte: »Richtig, es gibt vereinzelte Pestopfer in der Stadt. Noch ist das kein Grund, den Kopf zu verlieren, aber wir müssen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«

Mehr Getuschel folgte, bis Derrer beide Arme hob. »Ruhe! Ihr wisst, die Pest ist ansteckend, deshalb haben wir eine neue Pestordnung erlassen, deren Grundzüge wir euch heute verkünden, bevor sie in der ganzen Stadt bekannt gemacht wird. Als Ordnungshüter habt ihr darauf zu achten, dass diese eingehalten werden.« Er entrollte ein Blatt Papier. »Wie bei früheren Sterbensläufen gilt Versammlungsverbot. Die Menschen werden in die Kirchen strömen – gerade in Zeiten der Pest suchen sie natürlich Trost und Zuflucht bei Gott. Trotzdem raten wir davon ab! Beten und seine Sünden bereuen kann man auch zu Hause.«

Verwirrt sah Max Michel Hasenbart an. Sollten sie die Leute von den Kirchtoren wegscheuchen? Michel kratzte sich die Stirn.

Schlüsselfelder ergänzte: »Natürlich werden wir niemanden am Besuch der Messe hindern.«

»Ihr nicht, aber wir schon?«, rief einer der Stadtknechte. Michel gluckste.

»Nein!«, brüllte Derrer. »Ihr treibt die Leute auseinander, wenn sie irgendwo zusammenstehen. Weist sie freundlich darauf hin, dass sie einander anstecken können, auch wenn keiner von ihnen Symptome zeigt. Wir scheinen es mit der ungarischen Pest oder Hauptkrankheit zu tun zu haben. Erste Anzeichen sind Wechsel von Hitze und Kälte, Kopfweh, Schlafsucht, Ekel vor dem Essen und Erbrechen. Schwindel, Ohrensausen, Augenröte, Mattigkeit, Zittern, unregelmäßiger Puls, dürre gelbschwarze Zunge, großer Durst. Allerdings können sich auch gegensätzliche Anzeichen zeigen: Verstopfung statt Durchfall, Schlaflosigkeit statt Schlafsucht. Meist liegt der Sieche zwei oder drei Wochen mit Fieber darnieder, schwarze und braune Flecken zeigen sich besonders auf dem Rücken. Wer sich von dieser heimtückischen Krankheit erholt, muss noch mindestens drei Wochen in Quarantäne bleiben.« Derrer atmete tief durch und ließ den Blick über ihre Gesichter schweifen. »Aber ihr seid keine Ärzte, werdet wenig mit den Erkrankten zu tun haben. Für euch ist wichtig, dass die Menschen keine Angst haben dürfen, nach einem Arzt zu schicken. Sie dürfen den Mut nicht verlieren, denn das macht sie nur noch anfälliger für die Krankheit. Fröhlichkeit hilft!«

Michel flüsterte: »Ob wir den Leuten Witze erzählen sollen?«

Max gluckste, obwohl der Anlass gar nicht lustig war.

»Hört zu!«, rief Derrer. »Heute Abend werden wir die Aushänge für die Kirchenportale und Amtsstuben gedruckt haben. Darauf wird neben den Regeln zu lesen sein, dass die Pest noch nicht nach Nürnberg gelangt ist.«

Max starrte den Vordersten Losunger an. Der Rat wollte die Leute belügen?

Der Losunger beantwortete seine unausgesprochene Frage. »Noch handelt es sich um ein paar wenige Fälle. Vielleicht hat es damit auch schon sein Bewenden. Wir können nicht zulassen, dass die Menschen einfach aus der Stadt fliehen, sich außerhalb der Mauern vielleicht erst recht die Pest zuziehen und sie mit nach Nürnberg zurückbringen.« Er schaute Schlüsselfelder an.

Der sagte: »Im Moment ist es vor allem wichtig, die Lage zu beobachten. Ihr haltet Augen und Ohren offen und seid zur Stelle, wenn es irgendwo Unruhe gibt. Ebenso weisen wir alle Bader, Ärzte und sonstigen Heiler an, jede pestilente Erkrankung unverzüglich zu melden. Sollten neue Fälle auftreten, wird der Sondersiechenkobel bei Sankt Rochus aufgemacht. Hofmeister Beck ist informiert. Allerdings wollen wir hoffen und beten, dass der Pestzunder erlischt.«

Derrer übernahm wieder. »Bestimmt werden wir in den nächsten Tagen noch die eine oder andere Sonderversammlung einberufen.«

»Sollen wir uns dann selber auseinandertreiben?«, rief jemand.

Schlüsselfelder verdrehte die Augen, doch seine Mundwinkel zuckten verräterisch.

Derrer machte eine unwirsche Geste. »Hinfort mit euch vorlautem Pack!«

Max ging mit Michel hinaus und sah sich um. Auf dem Grünen Markt herrschte reges Treiben wie immer. Wenn die Pest um sich griff, würden auch die Märkte verboten werden? So weit war es vor ein paar Jahren nicht gekommen.

*

Frohgemut nahm Kathi ihr Töchterlein an die Hand und führte sie die Wehrmauer entlang bis zur nächsten Treppe in die Stadt hinunter. Sie wollte Stoff besorgen, um ein neues Kleidchen für Ursel zu nähen, aber vorher noch bei Maria und Clara vorbeischauen. Oh je, ausgerechnet der unverschämte Konrad Rumpler hielt hier oben Wache. Den konnte sie überhaupt nicht leiden, seit er sie damals verhaftet hatte. Da grinste er sie auch schon an.

»Grüß dich, Kathi. Gehst spazieren? Ist aber auch wirklich schön heut.«

»Ich muss was besorgen.« Nicht, dass ihn das was anginge. »Wieso stehst du eigentlich nicht mehr vor dem Rathaus herum? Gestern hast du sogar mit Max aus der Stadt rausdürfen.«

»Der Dienst als Schildwache ist so was von langweilig. Bin froh, dass ich den wieder losgeworden bin. Schön war’s draußen in Almoshof.«

»Das glaub ich gern.« Vielleicht könnte sie eines Tages mit Mann und Kind da hinauswandern. Als wollte Ursel ihr die Flausen austreiben, klammerte sich ihr Töchterlein an ihren Rock und quengelte: »Auf, auf.« Seufzend hob sie die Kleine auf den Arm und ging weiter. Am Fuß der Holztreppe setzte sie Ursel wieder ab. »Nun lauf mal schön selbst, meine Süße.«

»Süsüsüs«, plapperte sie.

»Genau, das bist du, und schon mehr als zwei Jahre alt, da kannst du auch auf eigenen Füßen gehen.«

Sie überquerten den südlichen Pegnitzarm auf dem Holzsteg unter der Wohnung des Henkersknechts und stiegen die Turmtreppe hinauf. Auf halbem Weg wurde es Ursel in dem finsteren Gemäuer unheimlich und musste wieder getragen werden.

»Gleich kannst du mit deinen Freunden spielen«, versprach Kathi. Noch war Ursel allerdings etwas zu klein, um mit Vitus und Margreth viel anfangen zu können, oder vielmehr die beiden mit ihr. Doch Jorgla faszinierte sie, vielleicht weil er noch kleiner war als sie.

Bei den Eingängen zu den zwei Brückenwohnungen angekommen, klopfte sie an die Tür des Nachrichters.

Maria öffnete einen Spalt und lugte heraus, blickte von ihr zu Ursel und sprach: »Ach Kathi, komm ein anderes Mal wieder.«

»Was ist denn los?«, fragte Kathi, jäh beunruhigt.

»Glaub mir, es ist besser so. Verraten darf ich dir nichts, aber geh lieber nicht groß unter Leute, schon gar nicht mit der Kleinen.«

»Mia, Mia!«, rief Ursel und streckte die Arme nach Maria aus.

Kathi konnte sie kaum bändigen. »Das geht heute leider nicht, mein Schatz.« Dann fragte sie die Freundin: »Ist jemand krank?«

»Noch nicht, aber vielleicht bald.«

Kathi schloss kurz die Augen. Dann konnte es sich nur um Pestgefahr handeln. »Dein Mann hat Kontakt gehabt?« Schließlich war der Henker auch als Heiler tätig.

Maria nickte. »Deiner vielleicht auch. Frag ihn nach den beiden aus Almoshof.«

»Oh nein!« Sie lehnte sich gegen die Mauer neben der Tür.

»Bitte geh, Kathi, und komm frühestens in ein paar Tagen wieder, bis dahin erfahren wir hoffentlich mehr.«

»Gut, aber versprich, nach mir zu schicken, wenn du Hilfe brauchst.«

»Bestimmt! Gott behüt dich!«

»Und dich und die Deinen.« In Zeiten wie diesen wusste man nie, ob man einander wiedersah. Traurig trat sie den Rückweg an. Vielleicht ginge es ja so glimpflich wie vor drei Jahren ab.

Völlig benommen trug sie ihr Töchterlein durch die Stadt. Noch bevor sie den Turm in der Wehrmauer erreichte, in dem sie mit Max wohnte, kam ihr Gemahl ihnen entgegen und winkte. Sie wollte zu ihm eilen, blieb dann abrupt stehen. Wenn er mit einem Kranken in Berührung gekommen war … Sie setzte Ursel ab, hielt sie aber fest, damit sie ihrem Vater nicht entgegenrannte.

Max wurde immer langsamer, blieb zwei Schritte vor ihr stehen. »Du weißt es schon? Geht’s dir nicht gut?«

»Doch, aber …«

»Was aber?«

»Maria hat mich nicht reingelassen, weil ihr Mann mit einem zu tun hatte, der die Pest möglicherweise in sich trägt. Und du auch, meint sie. Die zwei aus Almoshof.«

»Oh, verflucht!« Er wandte sich ab. »Warum haben die nichts gesagt?« Er sah sie wieder an. »Noch scheint es nur ganz wenige Fälle zu geben. Geh am besten heim und bleib da.«

Sie nickte. »Du kommst abends zu uns?«

»Erst rede ich mit Meister Frantz, der kennt sich aus. War er daheim?«

»Ich weiß nicht. Maria hat mich gar nicht erst reingelassen.«

»Pass gut auf euch beide auf«, sagte er und ging weiter.

Mit wachsender Unruhe stieg sie auf die Stadtmauer. Ob Konrad schon davon wusste? Ausnahmsweise lächelte sie ihn freundlich an. Die Pest wünschte sie niemandem an den Hals.

»Du strahlst, Kathi. Ist wieder was Kleines unterwegs?«

Sie verdrehte die Augen. »Narr.«

*

Max fragte zuerst beim Rathaus nach dem Nachrichter, doch die Schildwachen wussten nichts. In der Schützenstube saßen nur zwei Leute herum. Die anderen wollten wohl das schöne Wetter genießen und in der Stadt patrouillieren. Bestimmt waren sie ausgeschickt worden, um ebenfalls Augen und Ohren offen zu halten?

»Weiß einer von euch, wo der Nachrichter ist?«, fragte er.

Schütze Lehner antwortete: »Wenn er nicht daheim ist, wird er im Loch sein, schätz ich.«

So viel wusste er selber. Wortlos ging er hinaus und ums Rathaus herum Richtung Gefängniseingang, als Imhoff aus dem Ungeldhaus trat. Hatte der Unternehmer und Ratsherr sich erkundigt, ob das Eintreiben überfälliger Steuern die Stadtkasse aufbessern konnte? Die Pest zu bekämpfen kostete schließlich einiges. Bestimmt eilte er zu einer Sitzung.

Max blieb stehen. Als Imhoff ihn sah, verlangsamten sich dessen Schritte. »Leinfelder. Du bist informiert worden?«

Er nickte. »Sind die beiden, die wir aus Almoshof hergebracht haben, wirklich angesteckt?«

Der Schöffe atmete tief durch. »Wissen wir noch nicht, aber in ihren Familien hat’s verdächtige Todesfälle gegeben. Deswegen haben sie sich so arg besoffen.«

Max überlegte, wie nah er den beiden gekommen war, da fiel ihm voller Entsetzen ein, dass Konrad mit dem einen gerungen hatte.

»Sorg dich nicht, solange wir nicht wissen, ob es Anlass dazu gibt.«

Er setzte ein schiefes Lächeln auf. »Richtig. Ist der Nachrichter im Loch?«

»Wahrscheinlich, auch wenn es dort für ihn nichts zu tun gibt. Hab ihn heute Morgen schon ein paar Mal hier herumstreifen sehen. Den treibt die Ungewissheit natürlich ebenfalls um.«

»Neue Fälle wurden nicht gemeldet?«

»Noch nicht, aber ein paar Schützen laufen die Bader ab und befragen sie. Die Stadtärzte haben wir selbst ins Bild gesetzt, doch denen war noch kein Fall untergekommen.« Die Glocke auf dem Rathausturm läutete. »Ich muss los!«

Max sah ihm nach, dann ging er in die andere Richtung zum Eingang des Lochgefängnisses.

Wie so oft im Sommer stand ein Lochknecht bei offenem Tor draußen auf der Straße. »Ah, der Leinfelder.«

»Servus, Benedikt. Treibt sich der Nachrichter bei euch herum?«

»Nein, den hab ich seit gestern nicht mehr gesehen.«

»Dann ist er bestimmt daheim.« Auf Umwegen entlang seiner zugewiesenen Route marschierte Max zum Henkerturm und erspähte Meister Frantz am Ufer der Pegnitz sitzend.

Max gesellte sich zu ihm, hielt aber ein paar Schritte Abstand. »Wisst Ihr schon Genaueres?«

Der Nachrichter blickte auf. »Nicht wirklich, und du?«

»Nur, dass es ein paar Pestfälle gegeben hat. Stimmt es, dass die zwei Kerle, die in Almoshof …«

»Leider ja. Ich hab’s auch erst beim Verhör erfahren. Der Vater des einen ist eindeutig von der Pest dahingerafft worden.«

Max atmete tief durch. »Der vom Blonden oder dem Dunkelhaarigen?«

»Vom Blonden, warum?«

»Mist, verreckter.« Er ließ sich auf einen Stein nieder. »Mit dem hat der Rumpler gerangelt, weil der fliehen wollte.«

»Dann sollten wir den Schützen gut im Auge behalten.«

»Zurzeit schiebt er bei uns auf der Mauer Dienst, da seh ich ihn mindestens zweimal am Tag.«

»Gut. Wenn er Anzeichen von Fieber, Müdigkeit oder Schüttelfrost spürt, soll er sofort nach Hause.«

»Der wohnt im Schützenhof, da steckt er gleich noch andere an.«

Meister Frantz stöhnte. »Ich hoffe, der Rat hat dafür eine Lösung parat. Die Herren beratschlagen schon seit gestern.«

»Neue Pestordnung haben sie bereits erlassen.« Er blickte zur Brückenwohnung zwischen Henker- und Gefängnisturm hinauf. »Ihr habt die Kerle berührt?«

»Nur gestreift, aber ich lüfte mich lieber hier aus, als zu Hause den Pestzunder zu verbreiten.«

»Dann sollte ich mich auch von Kathi und Ursel fernhalten?«

»Tagsüber bist du ja eh draußen, aber ich denke, dass du abends heimgehen kannst. Sonst wird dein Weib noch vor Kummer krank.«

Max lächelte. »Ich hab gehofft, dass Ihr das sagt.«

»Wenn du in zwei Wochen, spätestens drei, noch nichts merkst, sollte alles in Ordnung sein.« Er erhob sich. »Und ich werde jetzt nach meiner Familie schauen.«

»Maria hat meine Frau weggeschickt. Denkt Ihr, das war notwendig?«

»Wenn sie das Kind dabeigehabt hat, war es auf alle Fälle vernünftig.«

»Ich werd ihr sagen, dass sie vorerst lieber nicht vorbeikommen soll.« Er nickte ihm zu und lief über den Säumarkt zur Brücke auf die Sankt Sebalder Seite der Stadt hinüber. Von dort blickte er zurück und sah Meister Frantz in der dunklen Türöffnung des Turms verschwinden. Der Mann hatte dieses Jahr schon Vater und Mutter verloren. Bestimmt befürchtete er das Schlimmste.

*

Frantz hatte einen Entschluss gefasst. Die Vernunft gebot es. Als er die gute Stube betrat, saß dort Clara mit Jorgen auf dem Schoß und sang ihm ein Liedlein vor. Er wartete, bis sie geendet hatte, dann sagte er: »Du hast meine Anweisungen befolgt und ihn von seinen Geschwistern ferngehalten?«

»Natürlich.«

»Ich möchte, dass du ihn mit in deine Turmkammer hinaufnimmst.«

»Aber …«

»Es ist das einzig Vernünftige, Clara. Du und das Würmchen, ihr bleibt wenigstens zwei Wochen fern von uns. Wenn dann keine Symptome auftreten, sollte alles gut sein.«

Sie schluckte hörbar. »Und wenn doch?«

Dann konnten sie nur beten. »Dein Bruder hat die Schmiede seines – eures – Vaters in Altdorf übernommen …«

Sie nickte. »Ihr meint, ich soll dann die Stadt verlassen?«

»Denk drüber nach. Aber noch ist alles ungewiss. Vielleicht bleibt es bei den wenigen Fällen. Der Rat lässt überall die neuen Vorbeugemaßnahmen verkünden.«

Sie sah Jorgen an. »Dann nehm ich ihn aber mit.«

Frantz atmete tief durch. »Ich wär dir ungemein dankbar.«

Clara stand auf, nahm einen Krug Milch vom Tisch und ging mit dem Kleinen hinaus in den Turm. Jetzt musste Frantz nur noch Maria erklären, dass sie ohne Magd auskommen und ihren jüngsten Sohn nicht sehen sollte. Wahrscheinlich war er übervorsichtig – oder nicht vorsichtig genug. Nachdem die Kinder sich an ihn gedrückt hatten, hatte Clara Margreth auf den Arm genommen und Vitus an der Hand geführt. Wenn er die beiden angesteckt hatte, dann vielleicht auch sie und Maria, und eine oder beide Frauen hatten die Krankheit längst auf Jorgen übertragen. Er sank auf die Knie und betete, der Herr möge ihn zu sich holen, aber ihm nicht seine Familie wegnehmen.

In dem Moment kam Maria herein. »Hab ich mir doch gedacht, dass ich dich gehört habe.« Sie ging neben ihm auf die Knie und streichelte seinen Rücken. »Wir müssen unsere Hoffnung auf einen gnädigen Gott setzen.«

Er legte einen Arm um sie, und sie beteten gemeinsam das Vaterunser. Noch nie waren ihm die Worte ›Dein Wille geschehe‹ so schwer über die Lippen gekommen.

Die Rute

Freitag, 11. Juni 1585

Als Frantz dem Bladtner das Hemd herunterzog und Arme und Kopf des Delinquenten in den Pranger vor dem Rathaus zwängte, suchte er dessen Oberkörper eingehend auf verdächtige Flecken ab. An der Brust entdeckte er einen dunklen Punkt mit umgebender Rötung, aber das mochte ein Insektenstich sein. Auch bei Heroldt fand er keine Anzeichen einer Erkrankung. Der Todesfall in dessen Familie lag nun schon fast drei Wochen zurück, daher hatte er sich wohl nicht angesteckt.

Der Stadtrichter verkündete die Vergehen der Männer und das recht gnädige Urteil. Die Schmährufe verstummten, als Augustin die Trommel schlug. Frantz begann, die Männer abwechselnd mit der Rute auszustreichen, wobei er recht sachte zuschlug. Falls die Kerle doch noch erkrankten, sollten ihre Körper nicht unnötig geschwächt sein. Seine Zurückhaltung rief erneut Missbilligung bei den Umstehenden hervor. Frantz wechselte einen schnellen Blick mit dem Richter, der eine unbewegte Miene zur Schau trug. Keine Aufforderung, härter zuzuschlagen. Der Mann wusste, um was es ging, hatte sie angewiesen, die Delinquenten nicht ohne Bewachung im Pranger stecken zu lassen. Niemand sollte ihnen zu nahe kommen.

Die Rute hinterließ immer mehr rote Streifen auf den blassen Rücken, doch vorerst floss kein Blut. Dabei sollte es auch bleiben, wenn es nach ihm ginge. Wieder schaute er zum Richter. Der nickte langsam; Frantz durfte die Bestrafung ausklingen lassen. Er schwang die Rute langsamer, und auch die Trommelschläge wurden sachter. Schließlich ließ er den Arm sinken. Augustin und Frantz stellten sich zu beiden Seiten des Prangers auf. Mindestens vier Stadtknechte befanden sich in ihrer Nähe, einige Schützen standen am Rand der Menge.

Die Leute machten ihrem Unmut über die mäßige Bestrafung Luft. In vielen Gesichtern zeigte sich allerdings eher Verwunderung als Zorn. Die ersten Leute verließen den Platz, und die Ordnungshüter begannen, die anderen zu verscheuchen. Keine Versammlungen in Pestzeiten. Bisher blieb der Rat in seinen Warnungen dabei, dass die Seuche die Stadt noch nicht erreicht habe und es sich um reine Vorsichtsmaßnahmen handele. Entsprechend unwillig verhielten sich jetzt manche der Zuschauer.

Als sich auch die Letzten zumindest einige Schritte entfernt hatten, trat Andreas Imhoff zu Frantz, hielt aber gehörigen Abstand. »Es gibt zwei weitere Fälle«, raunte er, dann sagte er zu den Delinquenten: »Ihr wisst, was euch blüht, wenn ihr irgendwem erzählt, dass eure Verwandten der Pest zum Opfer gefallen sind.«

»Verbannung«, keuchte Heroldt.

Während Frantz und Augustin das obere Teil des Prangers anhoben, damit die beiden herausschlüpfen konnten, fragte Bladtner: »Liegt mein Vater auf dem Rochus-Friedhof?« Der Mann hatte nicht an der eiligen Bestattung seines Vaters teilnehmen können.

Imhoff nickte. »In eurem Familiengrab.«

»Gut. Ich danke Euch, und ich würd mich gern bei der alten Frau entschuldigen, aber die war heute wohl nicht hier?«

Imhoffs Augen verengten sich. »Nein, die liegt siech daheim im Bett.«

Frantz erstarrte, als er das hörte. Wegen des Schrecks, oder weil sie sich angesteckt hatte? An der Miene des Schöffen konnte er nichts ablesen außer Ärger. Bevor Bladtner sein Hemd hochziehen konnte, hielt Frantz ihn auf. »Ehrbarer Rat, vielleicht sollte ein Medicus den Fleck hier begutachten.«

Imhoff ging um das Gestell herum, hielt aber noch mehr Abstand, dann sagte er: »Komm mit, Bladtner.«

Frantz sah den beiden Männern nach, wie sie am Rathaus vorbeigingen. Er beschloss, nicht direkt nach Hause zu gehen, sondern begab sich ins Loch. Zu seiner Erleichterung nahm er den Geruch von Räucherzeug wahr. Der Rat hatte also den Lochhüter über die mögliche Gefahr informiert, und dieser räucherte nun die Keuche der beiden aus. Sehr gut.

Beim Brunnen schöpfte Frantz einen Eimer Wasser und schritt den Gang zur Küche entlang. Die Schallerin war nicht dort, nur eine Magd, die ihn furchtsam ansah.

»Hast du etwas Essig für mich?«, fragte er.

Sie nahm einen Krug zur Hand und sah sich unsicher um.

»Schütt so viel, wie ihr entbehren könnt, in den Eimer.«

Sie tat es und hielt dabei größtmöglichen Abstand zu ihm.

»Danke.« Im Henkersstüberl wusch er sich Arme, Gesicht und Oberkörper. Allein der beißende Geruch gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Seine Kleidung! Nein, die konnte er nicht schon wieder verbrennen, sonst ginge bald sein ganzer Verdienst für die Anschaffung neuen Gewandes drauf. Den steifen Kragen ließ er allerdings im Stüberl zurück, verließ das Loch und machte sich auf den Weg nach Hause. Noch eine oder zwei Wochen, dann sollte Clara mit dem kleinen Jorgen wieder gefahrlos die Henkerwohnung betreten können. So Gott will, dachte er und blinzelte eine Träne weg.

In den Pferchen auf dem Säumarkt grunzten ein paar Schweine. Frantz blieb stehen und betrachtete sie. Glückliche Viecher. Sie ahnten nichts von ihrer bevorstehenden Schlachtung. Er dagegen konnte seine Angst einfach nicht abschütteln. Eine Sau wälzte sich im Dreck herum. Frantz kratzte sich unwillkürlich am Rücken. Arme und Finger hatten einiges für sich.

Erfüllt von banger Sorge betrat er den Turm und stieg hinauf in seine Wohnung. Maria stellte gerade das Essen auf den Tisch. Margreth kam gelaufen und wollte hochgehoben werden, doch dann wich sie zurück und verzog das Gesicht. »Du stinkst.«

Maria lächelte. »Ich finde, euer Vater riecht sehr gut.«

Vitus war ganz still, kletterte auf die Bank und betrachtete lustlos die Mahlzeit. »Hab gar keinen Hunger.«

Frantz spürte den Schreck bis in die Fingerspitzen. Er setzte sich zu seinem Ältesten. »Warum denn nicht?«

»Clara und Jorgla sollen zurückkommen. Will raus zum Spielen!«

Erleichterung flutete Frantz. Dann war Vitus nur unzufrieden, nicht etwa krank. »Ich werd heute mit euch spielen.« Nur was konnte er mit den beiden Rackern hier tun?

Margreth jauchzte, doch Vitus sah noch genauso bedrückt aus. Frantz legte ihm eine Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich etwas heiß an, doch vielleicht täuschte er sich. Er blickte zu Maria, die sogleich die Stirn des Buben befühlte.

»Ganz normal.« Erleichtert lächelte sie ihn an.

*

Clara wurde die Zeit furchtbar lang, so abgesondert mit dem kleinen Jorgen. Zum Glück müsste Lucas jeden Moment vorbeikommen. Nach dem Mittagsgeschäft in der Wirtschaft konnte er ihr immer ein wenig Gesellschaft leisten. Als Schankknecht machte er sich natürlich ebenfalls große Sorgen und beobachtete misstrauisch jeden Gast in der Fetten Gans. Als es endlich dreimal klopfte, legte sie den Buben in seine Kiste und eilte zur Tür.

Lucas umfing sie und drückte sie an sich. »Geht’s euch gut?«

»Ja, und anscheinend auch den Schmidts. Ich glaube, Meister Frantz ist übertrieben vorsichtig.«

Lucas ließ sie los und schloss die Tür. »Nein, mit der Pest ist nicht zu spaßen. Ich würde lieber heut als morgen mit dir nach Altdorf gehen, bis alles vorbei ist.« Er trat zur Kiste und betrachtete den Buben. »Den Jorgla können wir ja mitnehmen. Und dann …«

»Was dann?« Sie schmiegte sich an ihn.

»Könnten wir deinen Vater, also den Bauern, fragen, ob wir heiraten dürfen. Weil du ja noch so jung bist. Ohne seine Genehmigung müssen wir noch lange warten.«

Clara schauderte. Am liebsten würde sie den strengen Mann nie wiedersehen, doch ihre kleinen Halbbrüder vermisste sie. Und Julius. Der war vor ein paar Wochen zurück nach Altdorf gegangen, um die Werkstatt seines kränkelnden Vaters zu übernehmen, und hatte den Neffen von Meister Frantz als Lehrbub mitgenommen.

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Bildmaterialien © Copyright by Edith Parzefall

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