Meister Frantz und die Perlen der Zahlmeisterin - Edith Parzefall - E-Book

Meister Frantz und die Perlen der Zahlmeisterin E-Book

Edith Parzefall

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Beschreibung

Freie Reichsstadt Nürnberg, August 1580: Häscher, Heiler, Henker … nur einen dieser Berufe hat sich Frantz Schmidt selbst ausgesucht, und doch muss er allen dreien nachkommen. Als Nachrichter von Nürnberg ist Meister Frantz ein Unehrlicher, trotzdem kommen die Bürger im Geheimen zu ihm, um ihre Krankheiten von ihm behandeln zu lassen, denn seinen Händen wird Zauberkraft nachgesagt. Auch die Witwe Christina Zahlmeisterin gehört zu jenen, die seine Dienste in Anspruch nehmen. Als die halb lahme Frau erschlagen aufgefunden wird, gerät ihre Magd Kathi in Verdacht und wird verhaftet. Bald schon soll Meister Frantz sie einer peinlichen Befragung unterziehen, doch er hält das unbedarfte junge Mädchen für unschuldig. Da kommt ihm der junge Schütze Max gerade recht, der ebenfalls für Kathi eintritt. Gemeinsam ersinnen sie einen Plan, der Kathi eine Weile vor der Tortur schützen kann. Lässt sich der Rat der freien Reichsstadt Nürnberg so lange täuschen, bis Frantz den wahren Täter gefunden hat? Falls er ihn denn findet …

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Impressum
Karte von Nürnberg
Glossar
Handelnde Personen:
Eine Patientin für den Nachrichter
Grausame Entleibung
Nachrichten für den Nachrichter
Richttag
Was Gott zusammenfüget …
Böses Erwachen
Verhöre
Peinliche Befragung
Der Kundschafter
Nachtjäger
Faule Geständnisse
Der Konsulent
Licht ins Dunkel
Heiliger Sonntag
Letzte Fragen
Hochgericht
Nachwort
Über die Autorin
Weitere Romane von Edith Parzefall
Meister Frantz - Pest und Plünderer – Henker von Nürnberg 5
Meister Frantz unter Musensöhnen – Henker von Nürnberg 6

 

 

 

 

 

 

Meister Frantz

und

die Perlen der Zahlmeisterin

 

Henker von Nürnberg 1

von

 

Edith Parzefall

 

 

Impressum

 

Copyright © 2015 Edith Parzefall, 2. Auflage 2017

E-Mail: [email protected]

Ritter-von-Schuh-Platz 1, 90459 Nürnberg, Deutschland

 

Lektorat, Karten und Umschlag: Kathrin Brückmann

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Karte von Nürnberg

 

Glossar

Atzung: Geld, das Gefangene für ihre Kost bezahlen mussten.

Garaus: Torschluss.

Keuche: Gefängniszelle.

Loch(gefängnis): Verlies unter dem Rathaus, das als Untersuchungsgefängnis diente. Hier wurden auch Delinquenten festgehalten, die auf ihre Hinrichtung warteten.

Lochwirt: Lochhüter, oberster Gefängniswärter im Loch.

Losunger: Der Vorderste Losunger war der mächtigste Mann der Stadt, zuständig für Finanzen und Verteidigung, da er gleichzeitig einer der drei Obersten Hauptleute war. Unterstützt wurde er vom zweiten Losunger und Mitarbeitern in der Losungsstube.

Löwe: Henkersknecht. Es gibt verschiedene Theorien dazu, wie der Henkersknecht zu seinem Spitznamen kam, den es so nur in Nürnberg gab, allerdings überzeugt keine so recht. In Bamberg hieß der Henkersknecht beispielsweise Peinlein.

Nachrichter: Scharfrichter, da dieser nach dem Richter seines Amtes waltete.

Nachtjäger: waren primär für das Erlegen unerwünschter Nager und die Entfernung von Kadavern verendeter Tiere zuständig, mussten aber auch andere Reinigungsarbeiten übernehmen.

Pappenheimer: So wurden in Nürnberg die Straßenreiniger genannt, die auch in regelmäßigen Abständen die Abortgruben leeren mussten, vermutlich weil der Reichsmarschall über Jahrhunderte aus dem Geschlecht der Pappenheimer bestellt wurde. Dieser war unter anderem für die Sauberkeit bei Hofe zuständig.

Unschlitt: Rindertalg.

 

Handelnde Personen:

Historische Figuren sind fett gedruckt, wobei sie in diesem Roman fiktional verwendet werden, obwohl ich mich weitgehend an die historisch überlieferten Fakten gehalten habe. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in, da die Anreden Frau und Herr für gewöhnliche Leute noch nicht aufgekommen waren. Zusätzlich füge ich die verkürzten Vornamen in Klammern an.

 

Meister Frantz Schmidt, der Nachrichter, also Henker von Nürnberg,

Maria Schmidtin, Frau des Henkers, die auch gerne mal als Henkerin bezeichnet wurde.

Augustin Ammon, der Löwe, wie man den Henkersknecht nannte.

Katharina (Kathi) Schüttin, ein Findelkind und die Magd von …

Christina (Christel) Zahlmeisterin, eine halb gelähmte Schneiderwitwe.

Christoph (Christoffel) Zahlmeister, Ehemann von Christina, hingerichtet durch Meister Frantzens Vorgänger.

Margareta (Margreth) Beckin, Freundin von Christina Zahlmeisterin und Ehefrau von …

Hans Beck, einem Zimmermann, der viel mit sich herumschleppt.

Maximilian (Max) Leinfelder, ein Schütze im Dienst der Freien Reichsstadt Nürnberg und Bräutigam in spe.

Konrad Rumpler, ein Schütze, der zur falschen Zeit am falschen Ort auftaucht und dies sichtlich genießt.

Michael (Michel) Hasenbart, ein Stadtknecht in Nürnberg und Freund von Max.

Lucas Korber, Schankknecht in der Fetten Gans und unfreiwilliger Informant des Nürnberger Stadtrats.

Neubauer, Wirt und Chronist, der auch noch ein großer Bewunderer von Meister Frantz ist.

Stadträte Eisvogel und Stromer, die als Lochschöffen Ermittlungen im Nürnberger Lochgefängnis leiten, und ein namenloser Schreiber.

Eugen Schaller, der Lochwirt, also oberster Aufseher im Loch, dem Nürnberger Gefängnis für Untersuchungshaft und Delinquenten, die auf ihre Hinrichtung warten.

Anna Schallerin, Ehefrau von Eugen Schaller und damit Lochwirtin.

Magister Lienhardt Krieg, protestantischer Diakon von Sankt Sebald, der Priester, an den man sich als Erstes wendet, wenn es um Angelegenheiten des Lochgefängnisses geht.

Magister Eucharius Brühl, Kaplan von Sankt Sebald. Zusammen mit Magister Krieg, half er Meister Frantz, den Stadtrat davon zu überzeugen, dass auch Frauen geköpft werden durften.

Magister Johann Schelhammer, protestantischer Diakon von Sankt Lorenz, ist vor allem mit theologischen Streitgesprächen beschäftigt.

Christoph Herdesian, Rechtskonsulent des Rats und Theologe.

 

Eine Patientin für den Nachrichter

Montag 1. August 1580

Kathi graute schon vor dem Besuch im Henkerhaus, aber es half nichts. Ihre Herrin, die halbseitig lahme Christina Zahlmeisterin, brauchte nun mal ihre Arznei, und die verstand niemand so gut zuzubereiten wie der Nachrichter. Er verdiente sich ein Zubrot mit der Behandlung von Gebrechen aller Art, und viele Nürnberger schworen auf seine Heilkunst. Außerdem war’s billiger, als den Medicus zu holen. Trotzdem – Henker waren Unehrliche, und seine Berührung … Sie erschauerte. Zum Glück musste sie niemals alleine hingehen und Medizin abholen. Alle paar Wochen brach die Zahlmeisterin selbst auf, um sich behandeln zu lassen, was Kathi nur recht war. Wenigstens musste sie dann nicht selbst hinein ins Henkerhaus. Endlich war ihre Herrin vollständig angekleidet, also setzte sie ihr die Haube auf den graubraunen Dutt und steckte sie mit Nadeln fest, dann half sie ihr vom knarrenden Stuhl auf.

»Sehe ich auch ehrbar genug aus, Kathi?«, fragte die Zahlmeisterin mit schwerfälliger Zunge.

»Natürlich. Ihr seht schon beinah wie eine Patrizierin aus«, log Kathi. Das dunkelrote Sonntagsgewand ihrer Herrin war eigentlich viel zu warm für den Sommer und auch schon ziemlich verblichen, aber das sagte sie ihr lieber nicht. Bestimmt hatte es noch ihr verstorbener Mann, der Christoph Zahlmeister, geschneidert, also würde sie es wohl in Ehren halten. Außerdem müssten sie sich Stoff für ein neues Kleid vom Mund absparen, und dann wäre es an Kathi zu versuchen, daraus ein ansehnliches Gewand zu schneidern. Viel hatte ihr die Zahlmeisterin bislang nicht beigebracht, obwohl sie als Frau eines Schneiders ganz gut nähen gelernt hatte.

»Du könntest mir noch die Perlenkette anlegen«, flüsterte die Zahlmeisterin verschwörerisch.

»Das dürft Ihr doch nicht. Wenn die jemand vom Almosenamt sieht, streicht man Euch die Armenfürsorge, weil Ihr so wertvollen Schmuck besitzt.«

Die alte Frau winkte ab. »Ach, was! Der Rat hat mir meinen Mann umgebracht, dann soll er auch zahlen. Mein eines kostbares Schmuckstück wollen sie mir zu tragen verbieten. Und viel mehr als zwanzig Gulden ist es auch nicht wert. Das einzig anständige Geschenk, das mir der Christoffel jemals gemacht hat – Gott hab ihn selig. Und der hat’s von seiner Mutter geerbt.«

Von dem Geld könnten sie beide ein Jahr lang genug zu essen kaufen. Seufzend holte Kathi die Kette aus der Schatulle in der guten Stube, ließ die glänzenden, kalten Kugeln durch die Finger gleiten und legte sie der Witwe um den faltigen Hals. Dann befestigte sie die Silberspange in Form einer zierlichen Blüte um die beiden Stränge. Kathi seufzte. So einen Schmuck würde sie niemals besitzen, und selbst wenn, anstatt ihn zu tragen, ihn lieber gleich verkaufen oder gegen etwas Brauchbares eintauschen. Doch die grauen Augen der Zahlmeisterin leuchteten. »Bringst du mir den Handspiegel?«

Kathi reichte ihn ihr.

»Oh, wie schön«, hauchte sie.

Kathi warf den flachsfarbenen Zopf über ihre Schulter. Kopfschmuck durfte sie als Ledige gar nicht tragen, höchstens ein Band im Haar. »Gehen wir?«

»Ja.« Die Zahlmeisterin legte den Spiegel weg, hakte sich mit dem schlaffen linken Arm bei ihr ein und legte ihre gesunde rechte Hand auf die kranke.

Langsam bewegten sie sich durch den Hausflur, wobei ihre Herrin das linke Bein nachzog und sich fest auf sie stützte, wenn sie das rechte Bein vorsetzte. »Die Bewegung wird mir guttun«, sagte sie vergnügt. Die niedrige Stufe an der Schwelle nahm sie tatsächlich schon geschmeidiger.

Kathi schloss die Tür des kleinen, alten Fachwerkhauses ab und gab den Schlüssel ihrer Herrin, die doch gerne das Gefühl haben wollte, trotz ihres Gebrechens noch selbstständig zu sein. Dann setzten sie ihren schwankenden Gang über das Kopfsteinpflaster der Lodergasse fort. Aus einer Schmiede drang das Dröhnen von Eisen auf Eisen, doch in den scharfen Geruch von Rauch mischte sich ein angenehmerer: der von frischem Brot. Als sie den Bäcker passierten, lugte sie zur offenen Tür hinein. Was für ein Duft! Auf dem Rückweg wollte sie fragen, ob Backwerk von gestern günstig zu haben sei.

»Die Nachtarbeiter in unserem Viertel sollte man ausstreichen«, murmelte die Zahlmeisterin, als sie einen Bogen um den Kadaver einer großen Ratte machen mussten. Ein paar Schweine liefen in der Gasse herum auf der Suche nach Essbarem.

»Wer weiß, wann der Ratz verendet ist. Vielleicht erst heute Morgen«, wandte Kathi ein.

»Trotzdem könnt’s dem Gelichter bestimmt nicht schaden.«

Kathi widersprach lieber nicht mehr. Sie genoss es viel zu sehr, draußen zu sein und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Da eilte ein Schütze aus dem großen Tor des Schützenquartiers und rempelte die Zahlmeisterin an. Kathi hatte Mühe, sie festzuhalten, doch der Tollpatsch packte den anderen Arm ihrer Herrin. Da erkannte sie ihn: Max Leinfelder, einer von diesen Tunichtguten, der von der Stadtmauer herab den Weibsbildern nachschaute. Warum der es wohl so eilig hatte?

»Tut mir leid«, murmelte er – immerhin!

»Tölpel, elender«, zischte die Zahlmeisterin.

»War ein Versehen«, sagte Max mit einem frechen Grinsen und ließ sie los. »Ich wollt eigentlich mit Kathi zusammenstoßen.«

»Pah, bei der stößt du mir nichts. Das ist ein anständiges Mädel. Jetzt schleich dich, du Nichtsnutz.«

Kathi spürte bei diesen Worten Schamesröte heiß ins Gesicht schießen. Verstohlen ließ sie den Blick über die strammen Waden des jungen Mannes zur geschlitzten, schwarz-weißen Pluderhose hinaufgleiten. Ins Gesicht wagte sie ihm nicht zu schauen. Da kamen weitere Schützen heran. »Machst schon wieder der Kathi schöne Augen?«, rief einer.

»Irgendwer muss es ja tun, wenn die Zahlmeisterin immer so bös dreinschaut.« Lachend marschierte er mit den anderen zur Stadtmauer.

»So ein Gelichter. Tagediebe alle miteinander«, brummte ihre Herrin. »Na los, gehen wir zum Henker, das ist wenigstens ein anständiger Mann. Den hättest du heiraten sollen, aber nun ist es zu spät.«

Kathi japste erschrocken nach Luft. Einen Henker heiraten? Gänsehaut breitete sich über ihren ganzen Körper. Dann doch lieber einen Ordnungshüter! Schnell warf sie Max einen Blick nach, doch der war nicht mehr zu sehen. Die Freude über den schönen Tag war ihr gründlich vergangen, als sie ihren Weg fortsetzten, vorbei an einer stinkenden Mistgrube und weiter zu der schlichten, alten Jakobskirche und dem Sankt-Elisabeth-Hospital, das der Deutschherrenorden gegründet hatte. Sie seufzte. Eine arme Magd wie sie würde sowieso keiner haben wollen. Nicht mal ihre Mutter hatte sie gewollt …

Zu allem Übel lief ihnen auch noch kurz vor dem Unschlitthaus die Beckin über den Weg. Kathi musste ein Stöhnen unterdrücken. Das würde bestimmt ein längeres Schwätzchen werden, ausgerechnet hier, wo der Geruch des ausgelassenen Rindertalgs schwer in der Luft hing und auch die Verwaltung im Erdgeschoss des alten Kornspeichers saß. Sie hielt ihren Blick auf das aufwendige Portal des massiven, hoch aufragenden Sandsteingemäuers gerichtet. Wenn von den Stadtangestellten jemand die Kette bemerkte und dem Armenvogt davon erzählte, wäre das kleine Einkommen aus dem Almosenamt dahin. Von dem allein, was Kathi durch Stickarbeiten verdiente, könnten sie nicht leben.

»Na, Christel, bist mal wieder auf dem Weg zum Henker?«, fragte die Beckin, ein oft übellauniges Weib, das aus unerfindlichem Grund einen Narren an ihrer Herrin gefressen hatte. Dabei war sie bestimmt zehn Jahre jünger, gesund und munter, und hatte als Frau eines Zimmermanns sicherlich respektierlichere Freunde. Die Schlitze in ihrem grünen Leinenrock gaben den Blick auf einen bauschigen Unterrock frei. Auf dem hochgesteckten dunklen Haar trug sie keck ein schwarzes Barett.

»Freilich, Margreth.« Die Zahlmeisterin lächelte, obwohl sie in ihren vier Wänden selten ein gutes Haar an ihrer Bekannten ließ, wobei sie eigentlich nie viel von ihr erzählte.

Die Beckin strich sich über den Ausschnitt ihres mit Samt verbrämten Mieders, der nur von einer weißen Bluse mit gefälteltem Kragen geschmückt wurde. »Tragst wieder deine Perlen spazieren, aber mein Geld hast mir noch nicht zurückgegeben. Für deine Medizin wirfst es raus.«

Kathi zuckte zusammen. Bei der hatte die Zahlmeisterin Schulden gemacht? Die gute Hand ihrer Herrin krampfte sich fest um Kathis Arm.»Kommst morgen vorbei, dann geb ich dir a bisserl was. Aber ich hab noch nicht alles.«

Die Beckin blies hörbar Luft durch die Nase. »Morgen, morgen. Das sagst jedes Mal. Ich werd kommen, darauf kannst du Gift nehmen.« Ein tückischer Ausdruck schlich sich auf ihr Gesicht.

Kathi war die Frau nur unheimlich, vielleicht weil sie so schön war und trotzdem boshaft.

»Geh weiter, Kathi«, murmelte ihre Herrin, und sie setzten sich wieder schleppend in Bewegung.

Kathi linste zum Holzsteg unter der Behausung des Henkersknechts, der auf der Brücke über den südlichen Pegnitzarm wohnte. Wenn sie den Steg nähmen, wären sie ganz schnell beim Henker, aber ihre Herrin behauptete hartnäckig, dass ihr der Löwe auf den Kopf fallen würde, wenn sie da rüberginge. Allerdings glaubte Kathi nicht recht, dass das der Grund war, denn auf dem Weg zur nächsten Brücke lag die Wirtschaft Zur Fetten Gans, die sie nun allmählich erreichten. Ein Fuhrwerk bog gerade in den Hof der Herberge, wo die Ställe lagen. Nach der unerfreulichen Begegnung wollte die Zahlmeisterin aber nicht einmal dort stehen bleiben, um nach Wirt Neubauer oder seinem Schankknecht Ausschau zu halten, was sie sonst immer tat, und das, obwohl bestimmt gleich jemand den neuen Gast begrüßen würde. Ihr sollte es recht sein. Kathi hatte noch nie verstanden, warum ihre Herrin jedes Mal fragte, was es zu essen gab, denn leisten konnten sie es sich sowieso nicht. Vermutlich ließ sie sich die verschiedenen Gerichte in Gedanken auf der Zunge zergehen. Wenn Gedanken satt machen würden … Sie erreichten die an Steinsäulen hängende Brücke zum Säumarkt auf der Pegnitzinsel, wo im Sommer nur wenige Schweine in kleinen Pferchen gehalten wurden, die bald geschlachtet werden sollten, während der Markt vor dem Frauentor stattfand. Durch die offenen Tore des Fleischhauses auf der anderen Seite des nördlichen Pegnitzarms lugte sie zu den Metzgern mit ihren Fleischbänken hinüber.

Oh, was gäbe sie für saftige Bratwürste, aber vielleicht könnten sie auf dem Rückweg wenigstens ein paar Schweineohren oder -schwänze billig kriegen. Da machte sie inmitten des ganzen Trubels eine Kuh aus, und ihr Herz ging auf. Als Kind hatte sie im Findelhaus oft beim Melken helfen dürfen und dann die Milch ausgetragen. Als ihr jedoch klar wurde, dass die Braune ins Schlachthaus geführt wurde, drehte Kathi lieber wieder den Kopf zum Henkerturm. Wie die Zahlmeisterin wohl den Nachrichter bezahlte? Vielleicht stand sie deswegen bei der Beckin in der Schuld … »Hättet Ihr doch lieber die Kette daheim gelassen«, flüsterte sie, weil ihr vor dem morgigen Besuch graute.

»Sei still, dumme Gans! Was verstehst du schon davon? Die Margreth weiß gar nicht, was sie für ein Gschmarri redet. Ich kann doch die Perlen nicht verkaufen, und meine Medizin brauch ich. Das weißt du ganz genau. Und sie auch.«

»Freilich.« Kathi wollte sich ohrfeigen, weil sie so frei gesprochen hatte. Als Waise musste sie froh um die Stelle bei der Zahlmeisterin sein, auch wenn sie zusätzlich zur Unterbringung nur zu Weihnachten einen halben Gulden bekam. Das Geld, das ihr der Händler für Stickarbeiten auf Bordüren und Bändern zahlte, wanderte auch immer direkt in die Haushaltskasse, doch ihre Herrin behandelte sie immer gut. Wenn sie sich nicht genug zu essen leisten konnten, bekamen sie beide weniger. Und da standen sie auch schon vor dem trutzigen Sandsteinturm, der zu den Brücken hinaufführte; über dem nördlichen Pegnitzarm wohnte der Henker. Die Zahlmeisterin hatte ihr schon oft erzählt, dass hier einst die Stadt endete und die Brücken und der Turm teil der Stadtbefestigung waren. Ihr Magen krampfte sich zusammen und ließ sie ihren Appetit auf Bratwürste vergessen, als sie die schwere Tür aufzog. Widerwillig half sie ihrer ächzenden Herrin die Stufen hinauf und klopfte.

Die Frau des Nachrichters öffnete. »Seid gegrüßt, Zahlmeisterin. Ich hab mir schon gedacht, dass Ihr bald mal wieder vorbeischauen werdet. Kommt herein. Mein Mann ist bestimmt gleich zurück.«

Maria Schmidtin übernahm den Arm ihrer Herrin und lächelte Kathi zu. »Kannst ruhig unten warten. Ich bring sie dann.«

Aus unerfindlichem Grund wagte Kathi nie, einfach zu gehen, ohne diese Worte gehört zu haben, und Maria spürte das anscheinend. Die Wangen der Frau schimmerten rosig, und ihre braunen Augen verströmten Wärme. Als Kathi sie zum ersten Mal gesehen hatte, kurz nach ihrer Heirat, war sie deutlich magerer gewesen. Dankbar erwiderte sie das Lächeln und huschte die Treppe hinunter. Wie konnte es die Frau nur aushalten, mit einem Henker verheiratet zu sein? Und dabei wirkte sie noch immer so nett, obwohl sie bestimmt schon über ein halbes Jahr mit Meister Frantz verheiratet war. Na, wenigstens bekam sie von ihm anständig zu essen. Draußen vor der Tür blinzelte Kathi gegen die Sonne, und da stand er plötzlich vor ihr: Frantz Schmidt, der Nachrichter von Nürnberg! Sie glotzte ihn an, wollte weglaufen, konnte sich aber nicht rühren.

»Hast du deine Herrin hergebracht?«, sprach Meister Frantz sie an und lächelte.

Ja, er lächelte! Nur mit hellem Hemd und brauner Kniehose bekleidet sah er aus wie andere junge Männer, die einer ehrlichen Arbeit nachgingen. Die dunkelblonden Haare und der Bart waren ordentlich gestutzt, sodass man ihn sogar für einen Kaufmann hätte halten können. Trotzdem fand sie keine Worte, schaffte es aber wenigstens zu nicken.

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Gut, dann werde ich mal schauen, was ich für die Zahlmeisterin tun kann.«

* * *

Frantz stieg die Treppe hoch und fragte sich, warum das dumme Ding sich nicht einmal traute, ein Wort mit ihm zu wechseln. Dass ihn niemand berühren wollte, konnte er ja verstehen, aber die stellte sich an, als hafte schon seinen Worten und seinem Atem der Hauch des Todes an. Zum Glück war sie nicht vor Schreck in Ohnmacht gefallen, sonst hätten die Leute wieder was zu tratschen. Da musste er grinsen und freute sich schon beinah auf die alte Zahlmeisterin, die auch nur wegen seiner ›magischen‹ Heilkräfte zu ihm kam.

Als er seine Brückenwohnung betrat, hockte sie mit Maria in der guten Stube. Vor ihr auf dem Tisch stand wie immer ein Kräutertrank. Dem Geruch nach Kamille – bestimmt am Hochgericht gepflückt. Maria sammelte gerne dort die Kräuter, da sie wusste, seine Patienten kamen vor allem aus Glauben an zaubermächtige Kräfte, die ihm seine Arbeit als Henker verlieh. Dabei wäre er gerne ein richtiger Medicus, doch eine Zulassung zur Universität kam für ihn, den Unehrlichen, nicht infrage. Da blieben nur Bücher und das, was sein Vater ihm über Wundheilung beigebracht hatte – neben den effektivsten Methoden Schmerz zuzufügen.

»Meister Frantz, da seid Ihr ja endlich«, rief die Patientin mit einem leichten Zungenschlag.

Er lächelte die Witwe an. »Wie geht’s Euch, Zahlmeisterin?«

»Schlecht, noch schlechter als sonst«, lispelte sie. »Das Gift meines Christoffel – Gott sei seiner sündigen Seele gnädig – macht mir wieder sehr zu schaffen.«

Ja, das Gift, das ihr der Zahlmeister angeblich eingeflößt hatte und wegen dem sie jetzt lahm zu sein glaubte. Natürlich packte sie wieder die alte Geschichte aus.

»Aber der Rat hat ihn verurteilt, und so ist er gestorben, nicht ich.« Ein versonnenes Lächeln breitete sich über ihre rechte Gesichtshälfte aus.

Frantz konnte sich nicht vorstellen, welches Gift solche andauernden Schäden bei ihr verursacht und sie doch nicht getötet haben sollte. Nein, das sah doch sehr nach einer Fehlmischung der Kardinalsäfte aus, einer Apoplexia. Dabei lagerte sich kalter, feuchter Schleim oder kalte, trockene Galle in den Hohlräumen des Gehirns ein, wenn man Galen glauben durfte. Allerdings hatte er kürzlich in einem medizinischen Traktat gelesen, ein blockiertes Blutgefäß könne die Passage des Spiritus animalis zu Rückenmark und Nerven verhindern. So oder so hatte sie nur ein leichter Schlag getroffen, aber falls sie dabei Schaum vor dem Mund hatte, wie es manchmal vorkam, lag ein Verdacht auf Gift nicht völlig fern. Trotzdem war er froh, dass nicht er den Mann hatte richten müssen, sondern sein Vorgänger und Schwager Lienhardt Lippert. Eine schreckliche Vorstellung, einen Unschuldigen vom Leben zum Tode zu bringen.

Maria erhob sich und verließ den Raum, weil sie wohl der alten Geschichte über den mörderischen Gatten ebenso überdrüssig war, und Frantz betrachtete seine gut fünfzigjährige Patientin genauer. Mundwinkel und Lid hingen auf der linken Seite herab wie immer, aber die Wangen waren von dem langen Marsch gerötet. Allein die Bewegung, die ihr der Weg zu ihm verschaffte, tat ihr gut. »Nach dem Aderlass letztes Mal wart Ihr ziemlich schwach, deshalb würde ich heute lieber darauf verzichten.« Ansonsten konnte er für die Zahlmeisterin nur das Übliche tun: ihr den Glauben schenken, dass es ihr besser ging, denn dann fühlte sie sich besser. Und ihr seine ›besondere Medizin‹ verkaufen.

»Ist keine neue Hinrichtung mit dem Schwert in Aussicht?«, fragte sie denn auch.

Frantz schüttelte den Kopf und versuchte, möglichst bedauernd dreinzuschauen. »Nein, morgen werden drei Landsdiebe gehenkt, aber das hilft Euch nichts.« Am meisten glaubte die Frau an die Wirkung frischen Blutes eines Geköpften – am liebsten warm –, obwohl das vor allem gegen die Fallsucht half. Nun, manche Leute meinten auch, sich damit die unverbrauchte Lebensenergie der reuigen Sünder einzuverleiben. Zu denen gehörte die Zahlmeisterin, deren Magd sich stets einzustellen pflegte, wenn er einen Delinquenten mit dem Schwert richten musste. Nur gut, dass sie so nah an der Frauentormauer wohnte, sonst wäre das Blut bereits erkaltet, bis sie es bekäme. In seltenen Fällen schleppte sich die alte Frau auch selbst hinaus zum Hochgericht. Er seufzte. »Ich kann Euch heute nur den lahmen Arm und das Bein mit Fett einreiben und Streifen von Menschenhaut um beide Gliedmaßen binden.«

»Aber Menschenfett!«

»Natürlich.« Gut, dass er bei der letzten Anatomierung einiges davon hatte gewinnen können. Er stand auf und führte sie ins angrenzende Behandlungszimmer, wo eine Pritsche für schwere Fälle bereitstand und er zudem seine Medizin aufbewahrte. Er ließ die Frau auf die Bank neben dem Kachelofen sinken, der aus der angrenzenden Küche befeuert werden konnte.

»Nehmt nur nicht zu viel, das ist ja teuer.«

Frantz unterdrückte ein Stöhnen. Wer sich so eine Perlenkette wie die um ihren Hals leisten konnte, musste wirklich nicht dauernd wegen des Preises feilschen. Mehr als zwanzig Pfennig würde sie vermutlich auch diesmal nicht zahlen wollen. Die Frau machte sich keine Vorstellung, wie viel Arbeit die Gewinnung von Häuten und Fett bereitete.

Maria kam aus der Küche hinzu und reichte seiner Patientin einen Becher Schlagwasser, das aus destilliertem Rosmarin bestand und ihr tatsächlich Erleichterung bringen würde. »Soll ich helfen?«

»Nein, nein«, rief die Alte und nahm einen Schluck. »Meister Frantz macht das so gut.«

Frantz verkniff sich ein Grinsen, als seine Frau eine Augenbraue hob. Auch ein altes Weib wollte gelegentlich von Männerhänden berührt werden, und seine waren natürlich etwas ganz Besonderes, da sie die armen Sünder vor ihren himmlischen Vater und Richter brachten. »Bring mir bitte das Glas mit dem Fett, Maria.«

Die Zahlmeisterin schob bereits ihren Rock übers Knie und schlüpfte aus dem Schuh.

Frantz kniete nieder und hielt die Hand auf. Maria löffelte ihm ein wenig von der kostbaren Substanz in die Hand, und er roch daran. Frisch genug. Also begann er, das von dicken Adern durchzogene Bein einzureiben. »Wir brauchen dann auch noch einige Streifen Menschenhaut.«

Maria stellte das Glas ab und brachte ihm das Gewünschte. Er blickte zu ihr auf, konnte aber keine Regung in ihrem Gesicht ablesen. Über ein halbes Jahr waren sie nun schon verheiratet, aber seine medizinische Tätigkeit schien sie immer noch zu faszinieren – jedenfalls mehr als seine eigentliche Arbeit. Vielleicht hatte sie ihn nur zum Mann genommen, weil er auch Heiler war, und er hatte dazu beitragen können, ihre Schmerzen zu lindern.

»Wie wäre es mit diesem?« Sie hielt ihm einen besonders breiten Streifen hin.

Er nahm ihn. »Perfekt für die Wade.«

Seine Frau lächelte und suchte die anderen Stücke durch. Zwei an jeder Gliedmaße sollten reichen, um die Patientin wieder gelenkiger zu machen.

Den Oberschenkel rieb er bis knapp übers Knie ein. Die meisten Patientinnen ließen die Prozedur an diesen heiklen Stellen lieber von seiner Frau erledigen, aber bei der Zahlmeisterin dürfte er gewiss den ganzen Körper einreiben. Vor zwanzig Jahren wäre das vielleicht sogar angenehme Arbeit gewesen. Da er den Kopf gesenkt hielt, als müsse er sich auf das Bein konzentrieren, erlaubte er sich ein Schmunzeln. Nun noch den zweiten Hautstreifen, und er durfte sich dem schlaffen Arm zuwenden.

* * *

Allmählich beruhigte sich Kathis pochendes Herz von dem Schrecken. Trotzdem wollte sie dem Henker nicht noch einmal gegenübertreten müssen. Schnell lief sie zurück und über den Steg zum Fleischhaus hinüber. Allerdings drang wegen der Wärme heute bereits ein unangenehmer Geruch aus der daneben liegenden Schlachterei, der ihr auf den Magen schlug. Auf den Fleischbänken lagen allerdings herrliche Stücke. Ein Metzger zerteilte gerade eine Schweinehälfte. Hinter ihm hingen saftige Räucherschinken und Würste, doch sie fragte lieber erst gar nicht nach den Preisen, sondern ging weiter. Vielleicht konnte sie ja doch noch ein paar günstige Verschnittstücke bekommen, damit der Eintopf später etwas nach Fleisch schmeckte. Sie trat zu einem Mann, der neben Keulen und Bratenstücken auch eine Schüssel mit Schweineschwänzen auf dem Verkaufstisch stehen hatte. »Was kosten die Schwänze denn?«, fragte sie zaghaft.

Der Metzger blickte auf. »Ein Pfennig pro Stück.«

»Pro Stück?«, rief sie aus. Sonst bekam sie dafür zwei.

»Sind heute sehr begehrt.« Der Kerl grinste auch noch unverschämt.

Kathi schüttelte den Kopf und ging weiter. Sie hatte zwar genug Geld mitgenommen, aber bei so einer Ausgabe würde ihre Herrin schimpfen. Da fragte sie besser erst nach. Voller Sehnsucht blickte sie noch eine Weile auf die saftigen Stücke, die andere Leute kauften, dann wurde sie der Zeit gewahr und sputete sich, falls die Behandlung heute nicht so lange dauerte. Was der Nachrichter da oben in dem Brückenhaus wohl mit ihrer Herrin anstellte? Jedenfalls ging es ihr nach den Besuchen beim Henker immer besser. Zurück am Turm blickte sie hinauf und fragte sich, wie es drinnen wohl aussah. Sie hatte es noch nie gewagt, mit hineinzugehen. Vielleicht sollte sie es doch einmal tun, denn neugierig war sie ja schon.

Sie blickte aufs Wasser der Pegnitz, betrachtete die Entlein, wie sie munter umherschwammen und sich nicht um ihr tägliches Brot sorgten. Nur die Menschen taten das, dabei hatte Jesus doch gesagt, man solle sein Schicksal in die Hand Gottes, des Vaters, legen und es wie die Vöglein halten, die nicht säten und doch genug zu essen fanden. Kathi hatte allerdings weder ihren Vater noch ihre Mutter kennengelernt. Nur die Schafferinnen im Waisenhaus, und auch die bestellten kleine Gärten und hielten Kühe. Manchmal vermisste Kathi das regelmäßige Leben dort. Am meisten hatte es ihr gefallen, wenn sie die Milch austragen und in der Stadt herumlaufen durfte. So hatte sie auch die Zahlmeisterin kennengelernt, eine regelmäßige Abnehmerin der überschüssigen Milch des Findelheims. Und heute freute sich Kathi jedes Mal, wenn eine Waise ihnen eine Kanne Milch brachte. Nur an die Prügel in der Schule dachte sie nicht so gern zurück. Der Magister hatte kein Verständnis, wenn sie und ihre Mitschülerinnen doch lieber spielen und herumalbern wollten, statt Buchstaben zu lernen.

Die Entlein schreckten auf, als ein Schlachter einen Eimer mit Abfällen in den Fluss leerte. Beim Klang trappelnder Stiefel wandte sie sich um. Ein gut gekleideter Diener rannte geradewegs auf das Henkerhaus zu. Ob ein Verbrechen geschehen war? Sie schauderte und schlang die Arme um ihren Körper. Oh, bitte nicht! Es war zu schrecklich, wenn sie zu den Hinrichtungen gehen musste, um dem Löwen etwas Blut eines Geköpften abzukaufen, das er in einer Schüssel auffing.

Nur Augenblicke später stürmte der Nachrichter mit dem Diener aus dem Haus an Kathi vorbei, eine Tasche in der Hand. Oh, bestimmt brachte der ihn zu einem vornehmen Patienten, sonst wäre ein Stadtknecht gekommen, um ihn zu holen und ganz gemächlich, denn wer im Lochgefängnis saß, hatte bestimmt keine Eile, Meister Frantz zu sehen. ›Faules Pack, diese Stadtknechte!‹, hörte sie die Zahlmeisterin in ihrer Vorstellung ausrufen. Dabei fand Kathi die rot-schwarzen, geschlitzten Uniformen sehr stattlich.

Kathi ging zum Turm und stieg langsam die Treppe hoch. Zaghaft klopfte sie.

»Komm rein«, rief die Henkerin.

Sie drückte die Türe auf, wagte aber wieder nicht, über die Schwelle zu treten.

»Stell dich nicht so an, Kathi«, rief die Zahlmeisterin, die recht flott am Arm der Schmidtin durch eine Tür auf der anderen Seite in die Stube kam. Dieser erste Raum auf der Brücke sah recht gemütlich aus und so normal mit einer gepolsterten Sitzbank, zwei Stühlen und einem einfachen Tischchen. An einer Wand stand ein Regal mit allerlei Krügen, Töpfen und Schatullen. Auch ein paar Bücher konnte sie erspähen und ein Kabinett. Trotzdem blieb sie, wo sie war. »Ich hab Meister Frantz weggehen sehen, da wollte ich mal nachschauen«, sagte sie und knetete ihren Schürzenzipfel.

»Ja, er wurde zu einem Patienten gerufen«, erklärte seine Frau, die um einiges älter aussah als der Nachrichter. »Da habe ich noch schnell den Arm fertig eingeschmiert.«

Oh, von der Henkerin behandelt, ob das der Grund für die schlechte Laune ihrer Herrin war? Vermutlich.

Die Zahlmeisterin überreichte der Schmidtin zehn Pfennig. »So hab ich das mit Meister Frantz besprochen.«

Maria Schmidtin betrachtete die Münzen in ihrer Hand und warf die Stirn in Falten, doch bevor sie etwas sagen konnte, schnaubte die Zahlmeisterin verächtlich und fuhr fort: »Ja, wenn ein Tucher oder Harsdörffer oder Pirckheimer ruft, kann unsereins schauen, wo man bleibt.«

Kathi übernahm den Arm der Zahlmeisterin und führte sie langsam die Stiege hinunter. Eigentlich hatte sie erwartet, dass die Behandlung viel mehr kostete, denn vor dem nächsten Besuch im Henkerhaus musste sie die verbrauchten Häute immer dem Apotheker verkaufen, der meist schon zwei oder gar drei Pfennig für jeden der vier Streifen zahlte. Am Ende kostete sie die Behandlung gar nichts?

»Und solche Leute wollen einem das Tragen von Perlen verbieten«, zeterte ihre Herrin weiter. »Merk dir, wenn der Nachrichter rennt, muss es ein Patrizier sein.« Die alte Frau giggelte. »Egal, ob das ehrenwerte Pelztier zur peinlichen Befragung einbestellt wird oder ihn ein Hühnerauge drückt.«

Da musste auch Kathi lachen. Gerne nannte ihre Herrin die Räte Pelztiere, weil sie sich Fellbesatz auf den Amtstrachten und als Futter für ihre Schauben erlaubten, was normalen Bürgern verboten blieb.

Die Zahlmeisterin tätschelte ihre Hand. »Bist ein gutes Kind, aber deine Angst vor dem Henker solltest du dir abgewöhnen. Meister Frantz ist viel besser, als sein Schwager es war.«

Besser in was? Nein, Kathi wollte lieber nicht fragen, ob sie den Arzt oder den Nachrichter meinte.

* * *

Max Leinfelder stand auf dem Wehrgang der Frauentormauer und schaute ins Land hinaus. Die Wache auf der Stadtmauer war für einen Schützen der Freien Reichsstadt Nürnberg die langweiligste Arbeit. Wer sollte schon wagen, sie anzugreifen, und auch noch am helllichten Tag? Trotzdem konnte er sich freuen, zum Dienst eingeteilt worden zu sein, damit er wenigstens etwas Lohn von der Stadt bekam. Für nächste Woche hatte ihm sein Hauptmann schon angekündigt, dass er ihn nicht brauchte. Vielleicht konnte er dann auf einer der Baustellen als Handlanger etwas Geld verdienen. Er schaute zwischen zwei Zinnen hinunter. Nach der Zwingeranlage kam die äußere Stadtumwallung, dann der trockene Graben. Auf ihn wirkte die Reichsstadt uneinnehmbar. Er blickte zum wuchtigen runden Turm am Spittlertor. Vielleicht dürfte er nie ein der Kanonen von dort abfeuern, aber das wäre auch besser so, sonst würde Gostenhof mal wieder zerstört, wie zuletzt im zweiten Markgrafenkrieg.

Von hinten hörte er Gemecker, das nicht aus dem Maul einer Ziege kam. Er drehte sich um und lugte auf die Stadtseite hinunter, trat ein paar Schritte weiter und spähte in die Lodergasse. Sieh an, die Zahlmeisterin mit der hübschen Kathi. Die Kleine hatte es auch nicht leicht mit ihrer mürrischen Herrin, aber es schien ihr nichts auszumachen. Grinsend strich er sich über den Bart, als er an den Zusammenstoß am Morgen dachte. Nächstes Mal würde er besser aufpassen, wen er umrannte. Vielleicht wäre sich die kleine Kathi nicht zu fein, einen Schützen zu heiraten. Töchter eines Handwerkers gaben sich nicht mit einem wie ihm ab, das hatten sie ihn nur allzu oft spüren lassen. Doch eine, die nicht einmal wusste, wer ihre Eltern waren …

Gerade ließ Kathi sich den Schlüssel geben und sperrte das Häuschen auf, während sich die Alte über den Hals strich. Oh, waren das etwa Perlen? Am Morgen waren sie ihm gar nicht aufgefallen. Dass die Witwe sich etwas so Kostbares leisten konnte! Man sagte, die matt schimmernden Kugeln kämen aus den Tiefen des Ozeans. Eines Tages wollte er auch übers Meer fahren, exotische Länder kennenlernen und fremdartige Schätze nach Hause bringen, ganz so wie Martin Behaim.

Kathi half ihrer Herrin auf die Stufe, dann warf sie einen Blick zur Mauer. Er winkte, doch sie schlüpfte schnell ins Haus. Ob die Kleine die Zahlmeisterin eines Tages beerben würde? Eher nicht, denn bestimmt gab’s noch irgendwo Verwandte.

Trotzdem sollte er Kathi mal wieder abfangen, wenn sie alleine Besorgungen machte, und sich ein wenig mit ihr unterhalten. Sehr zutraulich war sie ja nicht gerade, aber hübsch und immer freundlich. Im Findelhaus wuchsen die Mädchen streng getrennt von den Jungen auf, deshalb war sie wohl so scheu. Auf dem Land oder auch hier in der Stadt war es dagegen ganz normal, wenn die Kinder gemeinsam spielten. Na ja, meist blieben die Buben auch unter sich, außer sie zogen die Mädels auf oder spielten ihnen Streiche. Natürlich wollten es ihnen die Mädels zurückzahlen. Bis mit zunehmendem Alter ganz andere Spielchen interessant wurden. Ob Kathi überhaupt schon mal die Stadt verlassen hatte?

Bisher hatte er sich eigentlich immer nur einen Spaß daraus gemacht, sie in Verlegenheit zu bringen, aber vielleicht könnte doch mehr daraus werden. Er grinste. Sie mussten ja nicht gleich heiraten und Kinder kriegen. Als Schütze konnte er sich auch das kaum leisten. Sie wurden ja nur bezahlt, wenn es auch Arbeit gab.

In Gedanken noch bei einem Stelldichein mit ihr drehte er sich wieder der Welt draußen zu. Linker Hand konnte er den Galgen ausmachen, aber noch baumelte daran kein Vogelfutter. Genau genommen hatte es schon lange keine Hinrichtung mehr gegeben. Die Letzte musste im April gewesen sein, und heute begann der August. Schon morgen ginge es den im Loch einsitzenden Landsdieben an den Kragen. Mit denen hatten die Stadtknechte einen wirklich guten Fang gemacht. Da musste er kichern. Mit Spitznamen wie Zähneblecker, Pfaffenliendtel und Darm würden die drei den Nürnbergern wohl noch lange im Gedächtnis bleiben.

 

Grausame Entleibung

Ein heftiges Pochen an der Haustür ließ Kathi zusammenfahren. Welcher Besucher mochte so ungestüm sein? Sie eilte zur Tür, riss sie auf und blickte ins grimmige Gesicht der Margaretha Beckin.

»Na endlich macht mir jemand auf! Wo ist deine Herrin?« Die Bürgerin schob sich hoch erhobenen Hauptes an ihr vorbei ins Haus. »Ich hab zwar gesagt, dass ich morgen vorbeikomme, aber da ist ja Hinrichtung. Wer weiß, ob ich da Zeit habe.«

»In der guten Stube, aber …« Kathi verstummte, da die unhöfliche Person einfach losmarschierte, ohne hereingebeten worden zu sein. Zum Glück würden die Landsdiebe aufgehängt und nicht geköpft, sonst müsste sie zur Richtstätte hinausgehen und frisches Blut holen. Langsam folgte sie, um zur Stelle zu sein, falls ihre Herrin der Beckin eine Erfrischung anbieten wollte. Als sie den Kopf zur Tür hineinsteckte, saßen die beiden Frauen am offenen Fenster, um das Treiben auf der Straße zu beobachten. Oh, die Schlitze in den Holzläden müssten sie auch bald wieder mit geöltem Papier oder Leinenfetzen verdecken, damit es nicht so auskühlte und doch noch etwas Licht hereinfiel. Wenn sie sich doch nur Butzenscheiben leisten könnten!

Die Beckin warf ihr einen unwilligen Seitenblick zu, sagte aber nichts. Der Kontrast zwischen den beiden Frauen könnte nicht stärker zu Geltung kommen, als in diesem Moment. Das Licht der Abendsonne betonte die edlen Züge der Beckin, die hohen Wangenknochen, dunklen Augen und vollen Lippen. Neben ihr wirkte ihre Herrin noch verwelkter, erschlaffter.

»Gib mir noch ein paar Tage, Margreth«, jammerte die Zahlmeisterin. »Sonst muss ich hungern.«

Und ich auch, dachte Kathi. Am Ende müsste sie von den paar Groschen, die sie mit ihren Stickarbeiten verdiente, noch ihre Herrin durchfüttern.

»Du bist mir das Geld jetzt schon so lange schuldig, und jedes Mal erzählst du mir dieselbe Geschichte. Dabei kriegst du doch Almosen von der Stadt, seit sie den Christoffel hingerichtet haben.«

»Gott hab ihn selig.«

»Ts, das sagst du immer, dabei hast du ihn selbst angezeigt. Der arme Christoffel hat bestimmt gar nichts mit deiner Erkrankung zu tun gehabt.«

»Natürlich hat er das, er hat mir die Milch gebracht und für sich Bier eingeschenkt, dann hab ich mir die Seele aus dem Leib gespien. Die war vergiftet«, raunte sie. Dann sah sie zu Kathi und krächzte vernehmlicher: »Ich bin als Krüppel wieder aufgewacht.«

»Pah, Gott hat dich gestraft«, zischte die Beckin.

War das möglich? Kathi wurde ganz anders. Hatte die Zahlmeisterin wirklich ihren Mann angezeigt, und damit Gottes Zorn so arg heraufbeschworen? Sie protestierte jedenfalls nicht. Das war unheimlich.

»Wenn du mir deine Kette gibst, sind die Schulden getilgt, und du kriegst von mir zehn Gulden.«

Wild schüttelte ihre Herrin den Kopf, dass sich der Knoten in ihrem Nacken löste. »Nein, nicht mal für zwanzig. Das ist doch das Einzige, was mir von meinem verkommenen Mann – Gott hab ihn selig – geblieben ist.«

»Igitt.« Die Beckin beugte sich vor. »Du hast ja den Kopf voller Läuse. Wo hast du dir die denn wieder eingefangen?« Sie blickte zur Tür und funkelte Kathi böse an. »Du taugst auch zu nichts.« Kopfschüttelnd begann sie, an den Haaren der Zahlmeisterin zu zupfen und das Ungeziefer zwischen ihren Fingernägeln zu zerquetschen.

Da verzog sich Kathi lieber in die Küche. Läuse aussuchen, das hasste sie. Allerdings hatte sie heute Morgen noch keine gesehen, als sie die Zahlmeisterin zurechtmachte, sonst hätte sie sich schon überwunden. Die kamen immer wieder, wenn man auch nur eine Nisse übersah. Aber es erstaunte sie gar sehr, dass die vornehme Beckin nicht davor zurückscheute, ihrer Freundin diesen ekligen Gefallen zu tun. Was die beiden Frauen wohl verband? Diese Frage hatte sie sich schon oft gestellt.

In der Küche fiel ihr Blick auf die zwei Körbe mit Kirschen, die sie bereits am Brunnen im Hinterhof gewaschen hatte. Nun mussten sie noch entsteint werden. Der erste Topf Marmelade simmerte schon auf dem Herd. Da sie sehr aufs Geld achten mussten, wenn sie über die Runden kommen wollten, durften die Kirschen, die die Nichte der Zahlmeisterin aus Mögeldorf in die Stadt gebracht hatte, nicht verderben. Mit Nähen konnte die alte Frau kein Geld mehr verdienen, weil ihre linke Hand so lahm war. Doch mit der Rechten konnte sie noch einfache Flickarbeiten ausführen und natürlich Kathi Anleitungen geben, wie es zu machen war. Ihr Mann, der Schneider, hatte ihr ja einiges beigebracht, und nun gab sie ihr Wissen an Kathi weiter. Das war ihr sehr willkommen. Vielleicht könnte sie selbst eines Tages vom Nähen leben und dabei die Kleidung mit den schönsten Stickereien verzieren, die sie im Findelhaus gelernt hatte.

In der dampfigen Küche lief ihr alsbald der Schweiß über die Stirn, obwohl die Holzläden des Fensters weit offen standen. Während sie die reifen Früchte aufschnitt, hörte sie Geschrei auf der Straße. Kathi spähte aus dem Fenster. Da zankten sich zwei Nachbarinnen und ein Stadtknecht schien sie noch anzustacheln. Hatten die Leute nichts Besseres zu tun, als einander das Leben schwer zu machen? Ein Kohlenwagen ratterte vorbei, und die zänkischen Weiber mussten aus dem Weg treten.

Oh, die nächste Kirsche war wurmig. Angewidert warf Kathi sie in den Eimer.

»Ich bin dann fort«, tönte es aus dem Hausflur. »Wir sehen uns nächste Woche, Christel.«

Kathi atmete auf. Das war ein kurzer Besuch, und er war diesmal anscheinend ohne größeren Streit abgegangen, oder sie hatte ihn bei all dem Lärm auf der Straße nicht mitbekommen. Aber was wollte die Beckin nächste Woche schon wieder hier? Wahrscheinlich hatte die Zahlmeisterin sie noch einmal wegen des Geldes vertrösten können. Weil sie schon eine kleine Schüssel Kirschen beisammenhatte, naschte sie eine der süßen Früchte zur Belohnung. Ihre Hände waren ganz rot vom Saft. Als sie die nächste Schüssel gefüllt hatte, waren immer noch viele Kirschen übrig. Kathi seufzte.

Vielleicht sollte sie mal nachschauen, ob ihre Herrin etwas brauchte, vor allem fragen, ob sie nicht ein paar Kirschen essen wollte, dann hätte Kathi weniger Arbeit. Sie ging in die gute Stube. »Zahlmeist -« Vor Schreck blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre Herrin lag am Boden, auf die lahme Seite gestürzt, und blutete aus einem Loch im Kopf. Da rannte sie zu ihr, wusste aber nicht, was sie tun sollte. Wer konnte das getan haben? Das Fenster stand offen. War ein Mörder da hereingeklettert? Ein Schopf struppiger Haare tauchte vor dem Fenster auf, dann ein schmutziges Gesicht mit kohlrabenschwarzen Augen. Als sich ihre Blicke trafen, machte sich der Kerl schnell aus dem Staub. Konnte das der Mörder gewesen sein? Aber warum sollte der noch einmal hereinlugen?

Kathi wagte nicht, das kleine Messer wegzulegen, aber vielleicht brauchte sie es noch zu ihrem Schutz. Sie kniete sich hin und drehte die Zahlmeisterin vorsichtig auf den Rücken. Die Augen blickten starr, der Mund stand offen. Kathi schluchzte auf. Nein! Sie hatte doch sonst niemanden. Entsetzt sprang sie auf, sah sich im Zimmer um. Der Mörder könnte ja noch hier sein! In der Ecke erblickte sie die kleine Hacke, die sie zum Spalten des Ofenholzes benutzten, wenn zu große Klötze darunter waren, doch die Zahlmeisterin hatte sie gern griffbereit – falls ein Ratz sie auffressen wollte, behauptete sie immer. Kathi trat näher. Blut und Haare klebten an der Klinge. Die grausige Tat musste damit vollbracht worden sein, doch Kathi war allein mit der toten Frau im Haus. Sie musste Hilfe holen! Der Stadtknecht auf der Straße! Außer sich rannte sie in den Flur und erschrak noch schlimmer vor einer finsteren Gestalt in der halb geöffneten Tür. »Was? Wer? Tut mir nichts!«, flehte sie und streckte das Messer vor.

»Ich hab was vergessen.«

Als Kathi die Stimme der Beckin erkannte, ließ sie die angehaltene Luft entweichen. Die Frau wusste bestimmt, was zu tun war. Kathi stammelte: »Die Herrin. Jema-mand ha-hat sie erschlagen.«

»Was? Das gibt’s doch nicht! Ich war doch vorhin bei ihr.«

Kathi wich vor der großen Frau zurück in die gute Stube.

»Was hast du getan, du undankbarer Findling!«, keifte die Beckin.

»Ich?« Man würde ihr die Schuld geben. Der Nachrichter … Das Loch … Vor Angst überschlugen sich ihre Gedanken, bis nur noch einer in ihrem Kopf Platz hatte: Sie musste weglaufen! Durch die Tür kam sie nicht, denn die war von der Beckin versperrt, die ihr feindlich gesonnen war. Sie wirbelte herum und rannte zum Fenster, raffte den Rock und sprang hinaus. Dabei landete sie auf einem Steinbrocken und knickte mit dem Fuß um. Das Messer entglitt ihr vor Schmerz. Hände packten sie. Ächzend richtete sie sich auf und sah eine schwarz-weiße Schützenuniform. Kathi gefror das Blut in den Adern. Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu blicken. Warum mussten die Schützen nur in der Lodergasse ihre Unterkunft haben?

»Willst wohl durchbrennen, Kathi. Brauchst du noch einen Bräutigam?«

Die Stimme kannte sie. Langsam hob sie den Kopf. Der Max! Was drückte der sich gerade jetzt hier herum?

»Mord! Heimtückischer Mord!«, schallte es aus dem Haus.

Kathi riss sich los und rannte, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Wenigstens tat der Knöchel nicht sehr weh.

»Halt sie fest, du Dummkopf!«, brüllte die Beckin. »Sie hat ihre Herrin erstochen.«

»He, Kathi, warte!«, rief er ihr hinterher.

Bestimmt nicht! Er würde sie verhaften und ins Loch stecken. Nur wohin sollte sie flüchten? Zurück ins Waisenhaus unter die warmen Fittiche der Findelmutter? Doch wenn eine der Schafferinnen sie dort fand und sie dem Findelvater verriete! Kathi meinte schon, den Fußtritt zu spüren, mit dem der harte Mann sie hinausbeförderte. Für ihn musste alles seine Ordnung haben. Eine Ehemalige zu verköstigen kam nicht infrage, schon gar keine vom Rat Gesuchte. Außerdem würde man sich im Heim wohl als Erstes nach ihr erkundigen.

Während sie um die Ecke bog, keifte die Beckin immer noch auf die Straße hinaus. Nach Luft ringend hielt Kathi zwei Straßenzüge weiter inne. Die Zahlmeisterin war tot! Erst jetzt wurde ihr das richtig bewusst. Wer konnte ihrer Herrin nur so etwas Schreckliches angetan haben? Tränen liefen ihr übers Gesicht. Ein Schwein kam langsam näher, die Schnauze in die Luft gereckt. Da hörte sie hinter sich Stiefelsohlen aufs Pflaster schlagen. Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter. Oh nein, Max verfolgte sie! Schnell rannte sie weiter. Was musste er sich auch vor dem Fenster herumdrücken! Oder … hatte er vielleicht den Mörder herausspringen sehen? Dann könnte er ihr helfen. Sie wurde langsamer. Durfte sie das riskieren?

»Grüß dich, Kathi!«, rief eine alte Frau, der sie auch oft Milch gebracht hatte. »Groß bist geworden.«

»Ja«, keuchte sie und rannte weiter.

Als sie schon halb das Frauentor erreicht hatte, hörte sie, wie Max wieder ihren Namen brüllte. Bestimmt würde er den Torwächtern zurufen, sie aufzuhalten.

Sie war zu langsam, er holte sie gleich ein! Außer sich vor Angst sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sie musste weg aus der Stadt, wo sie jeder kannte. Doch was konnte sie sich außerhalb der Mauern erhoffen? Selten war sie zu einem der Stadttore hinausgegangen, und stets waren ihr die fremden Dörfer und die Natur als bedrohlich erschienen. Sicherheit verhießen nur die Mauern Nürnbergs. Jenseits davon erwartete sie nichts als ein noch ungewisseres Schicksal. Sie blieb stehen, hielt sich die Seite und drehte sich zu dem jungen Schützen mit der kecken Stupsnase um.

Auch Max ging nun langsamer. Das war gut, er hatte schon genug Aufsehen erregt. Wenn ein Schütze durch Nürnberg rannte, bedeutete es fast immer Ärger. Kathi spürte die feuchten Tränenspuren auf ihrem Gesicht und wischte sie hastig weg.

Jetzt hatte Max sie erreicht, nahm ihren Arm und schob sie in eine schmale Gasse, aus dem Sichtfeld neugieriger Passanten und der Torwächter. »Was ist passiert, Kathi? Wo willst du hin?«

Sie schluchzte. »Die Zahlmeisterin ist erschlagen worden. Ich hab sie gefunden und bin weggelaufen, weil mich die Beckin beschuldigt hat.« Ob er auch glauben würde, dass sie ihre Herrin umgebracht hatte?

»Das müssen Einbrecher gewesen sein«, sprach er zu ihrer großen Erleichterung. »Von dem Gelichter gibt es immer wieder besonders Dreiste. Hast du jemanden gesehen?«

Kathi schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab niemanden in der Stube gesehen, bis die Beckin zurückgekommen ist, aber da lag die Herrin schon erschlagen auf dem Boden. Aber ein schmutziger Kerl hat zum Fenster reingeschaut. Hast du niemanden rausklettern sehen?«

Er senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam. »Nur dich. Hm, ich hab allerdings einen zerlumpten Kerl aus der Lodergasse laufen sehen. Schwarze Haare, dunkle Augen, rußiges Gesicht?«

»Genau, so hat er ausgesehen. Ob der sie umgebracht hat?«

»Ich weiß nicht recht, er sah eher aus, als würde er vor dem Armenvogt davonlaufen. Vielleicht hat er ohne Erlaubnis gebettelt. Der Vogt kam die Lodergasse entlang, unmittelbar bevor du mir vor die Füße gefallen bist.

Oh, Herr im Himmel, erbarme dich meiner, flehte sie im Stillen. »Man wird mich für die Mörderin halten, sonst war ja niemand da. Und ich hab auch keine Familie, die für meinen guten Leumund zeugen könnte.

---ENDE DER LESEPROBE---