Meister Frantz: Beutelschneiders Lehrlinge - Edith Parzefall - E-Book

Meister Frantz: Beutelschneiders Lehrlinge E-Book

Edith Parzefall

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Beschreibung

Freie Reichsstadt Nürnberg 1593: Plötzlich häufen sich die Diebstähle in der Stadt. Und die Täter werden immer jünger. Ein Zehnjähriger sitzt im Lochgefängnis und schweigt hartnäckig über seine Herkunft. Der Stadtrat lässt Gnade walten und setzt ihn auf freien Fuß – allerdings bleibt er unter heimlicher Beobachtung. Ausgerechnet der Henkersbub Jorgen Schmidt schafft es, der Spur des Beutelschneiders zu folgen, wird prompt als Kundschafter gedungen und gibt den entscheidenden Hinweis. Ein Netz aus Kindsverderbern kommt zum Vorschein, und Meister Frantz muss um Jorgen bangen.

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Meister Frantz: Beutelschneiders Lehrlinge
Henker von Nürnberg, Band 14
Handelnde Personen
Glossar
Kapitel 1: Ein ratloser Rat
Kapitel 2: Von Strolchen und Mutproben
Kapitel 3: Die Kundschafter
Kapitel 4: Die Beschatter
Kapitel 5: Bringet die Kindlein
Kapitel 6: Verlockende Aussichten
Kapitel 7: Auf der Pirsch
Kapitel 8: Die Wächter
Kapitel 9: Ein Spaziergang
Kapitel 10: Vorbereitungen
Kapitel 11: Der rätselhafte Patient
Kapitel 12: Lehrreiches
Kapitel 13: Heimkehr
Kapitel 14: Ränkeschmiede
Kapitel 15: Flucht aus Nürnberg
Kapitel 16: Sichere Zuflucht?
Kapitel 17: Verrat
Kapitel 18: Neue Gäste im Loch
Kapitel 19: Arbeit für den Henker
Kapitel 20: Alles kommt anders
Kapitel 21: Auf Abwegen
Kapitel 22: Pfad der Tugend?
Kapitel 23: Triumphzug
Kapitel 24: Hüterin der Kinder
Kapitel 25: Galgenvögel
Kapitel 26: Drohungen und Finten
Kapitel 27: Wunderlichkeiten
Kapitel 28: Buße
Kapitel 29: Gnadenhalber
Nachwort
Über die Autorin

 

 

 

 

Meister Frantz: Beutelschneiders Lehrlinge

Henker von Nürnberg, Band 14

 

von Edith Parzefall

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright © 2023 Edith Parzefall

E-Mail: [email protected]

Ritter-von-Schuh-Platz 1

90459 Nürnberg, Deutschland

 

Lektorat: Marion Voigt, www.folio-lektorat.de

Umschlag: Kathrin Brückmann

Originalabbildung von Pieter Bruegel der Ältere: Der Misanthrop, um 1568.

 

ISBN: 9783757957896

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Handelnde Personen

 

Historische Figuren sind kursiv gesetzt. Sie werden in diesem Roman fiktional verwendet, obwohl ich mich weitgehend an die überlieferten Fakten halte. Wie damals üblich tragen alle Nachnamen von Frauen die Endung -in. Die Anrede Frau und Herr für gewöhnliche Leute war noch nicht geläufig.

 

Meister Frantz Schmidt: der Nachrichter, also Henker von Nürnberg.

Maria Schmidtin: Ehefrau von Frantz, wird auch als Henkerin bezeichnet.

Frantz Stefan, Marie, Rosina und Jorgen Schmidt: Kinder von Frantz und Maria.

Apollonia Hofferin: Magd der Schmidts.

Augustin Ammon: der ehemalige Löwe, wie man den Henkersknecht in Nürnberg nannte, Ehewirt von Agnes.

Klaus Kohler: Nachwuchslöwe und Ehewirt von Bernadette Kohlerin.

Maximilian (Max) Leinfelder: Stadtknecht und Ehewirt von Katharina (Kathi), Vater von Ursula (Ursel).

Michel Hasenbart: Stadtknecht und Freund von Max Leinfelder.

Hieronymus Paumgartner: Vorderster Losunger und Hauptmann der Reichsstadt Nürnberg.

Andreas II. Imhoff: Ratsherr, Schöffe und zweiter Hauptmann sowie Losunger mit Suspens, das heißt, er muss vorläufig nur im Notfall dieser Aufgabe nachkommen und darf weiterhin seine Geschäfte führen.

Julius Geuder: dritter Hauptmann und Ratsherr.

Ernst Haller: Ratsmitglied und Kriegsherr.

Laurenz Dürrenhofer: ehemaliger Lochschreiber, jetzt in der Registratur beschäftigt.

Jeronymus Praun: Nachfolger als Lochschreiber.

Jakob Stark und Jobst Friedrich Tetzel:Lochschöffen.

Eugen Schaller, unterstützt von seiner Frau Anna Schallerin: Lochhüter, liebevoll auch Lochwirt genannt; oberster Aufseher im Lochgefängnis.

Benedikt, Zacharias: Lochknechte, Wächter im Lochgefängnis.

Christoph Scheurl: Bannrichter der Reichsstadt Nürnberg.

Lew Jud: Patient in Pappenheim.

Caspar Mayr: Stadtvogt von Pappenheim.

Andreas Meyer und Wolf Amos: junge Diebe aus Hersbruck.

Georg Haffner und Hainz Braun: Diebe aus Lauf.

Georg Mülner (Dürr Georg genannt): Dieb, Räuber und Mörder aus Dormitz.

Margarethe Mülnerin: Ehewirtin des Georg Mülner.

Heinrich Hausmann: Dieb, Räuber und Mörder aus Kalkar, Lehrmeister junger Diebe und Ehewirt von Brigitte Hausmann.

Caspar und Hensa Wechter: Lehrlinge von Heinrich Hausmann, aus Würzburg stammend.

Steffan Rebweller: Krämer und Dieb aus Savoyen, der Jugendbanden unterhalten und zu Beutelschneidern ausgebildet hat, verheiratet mit Anna Rebwellerin.

Hensa Geiler und Wolf Frank: Diebsgesellen aus München.

Jakob (Jackl) Faber: Lehrling von Hausmann und Rebweller, der sich davonstielt.

Sabina: Kustorin des Spinnhauses.

 

 

Glossar

 

Atzung: Geld, das Gefangene für ihre Kost bezahlen mussten.

Garaus: Torschluss.

Keuche: Gefängniszelle.

Knollfink: Beschimpfung für einen tölpelhaften oder dummen Menschen.

Loch(gefängnis): Verlies unter dem Rathaus, das als Untersuchungsgefängnis diente. Hier wurden auch Delinquenten festgehalten, die auf ihre Hinrichtung warteten.

Lochwirt: Lochhüter, oberster Gefängniswärter im Loch.

Losunger: Der vorderste Losunger war der mächtigste Mann der Stadt, zuständig für Finanzen und Verteidigung, da er gleichzeitig einer der drei obersten Hauptleute war. Unterstützt wurde er vom zweiten Losunger und von Mitarbeitern in der Losungsstube.

Löwe: Henkersknecht. Es gibt verschiedene Theorien dazu, wie der Henkersknecht zu seinem Spitznamen kam, den es so nur in Nürnberg gab, allerdings überzeugt keine so recht. In Bamberg hieß der Henkersknecht beispielsweise Peinlein.

Mark, Markgraf: Als Mark wurde das Grenzland eines Reichs bezeichnet, so zum Beispiel die Mark Brandenburg. Davon leitete sich der Adelstitel Markgraf ab, der über dem eines Grafen rangierte und dem eines Fürsten entsprach. Deshalb wurde Markgraf Georg Friedrich sowohl als Fürst wie auch als Markgraf bezeichnet.

Marxbruder: Angehöriger der ältesten Fechtbruderschaft, benannt nach dem heiligen Sankt Marx (Markus).

Nachrichter: So wurde der Scharfrichter in Nürnberg und in anderen Gebieten genannt, da er nach dem Richter seines Amts waltete.

Policey: Gesellschaftliche Ordnung, meist wurde das Wort in Zusammenhang mit guter Policey verwendet.

Prisaun: Gefängnis, meist zur kurzfristigen Verwahrung von Delinquenten. Im Närrischen Prisaun wurden Geisteskranke verwahrt, die für sich oder ihre Umwelt eine Gefahr darstellten.

Torquieren: foltern, martern, peinlich befragen.

Tummel: Alkoholrausch.

Urgicht: Geständnis.

 

Die Himmelsrichtungen wurden damals nach dem Sonnenstand bezeichnet, was sich bis heute in Begriffen wie Morgenland und Abendland erhalten hat.

Mitternacht: Norden.

Morgen/Aufgang: Osten.

Mittag: Süden.

Abend/Niedergang: Westen.

 

Kalender alten Stils: Julianischer Kalender, der in protestantischen Gebieten weiterhin verwendet wurde, nachdem Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 den neuen Kalender eingeführt hatte. Die Datumsangaben in diesem Roman entsprechen dem julianischen Kalender, der in Nürnberg galt, obwohl er zehn Tage zurück lag. Inzwischen sind es bereits dreizehn Tage.

 

Kapitel 1: Ein ratloser Rat

Nürnberg am Mittwoch, den 9. Mai 1593

 

Frantz Schmidt riss den Fensterladen in der Kinderstube auf und hielt das Gesicht in die Sonne, die bald den höchsten Stand erreichen würde. Unten auf dem Säumarkt schaute der Hirte zu ihm herauf und nickte ihm grinsend zu. Das Geschrei der Kinder schallte bestimmt bis zu ihm hinunter. Rosina und Marie versuchten, Steinchen in eine Holzschale zu werfen, und kreischten bei jedem Treffer.

Der kleine Stefla krabbelte immer wieder dazwischen, kippte die Schale aus und klopfte damit auf den Holzboden, bis ihn die Mädel mit etwas anderem fortlockten und sie sich wieder ihrem Spiel widmen konnten.

Die Mutter dieser vorwitzigen Geschöpfe kam mit einem Stecken, der als Besenstiel ausgedient hatte, aus der angrenzenden Küche. »Schaut mal, was ich hier habe.«

Etwas ratlos betrachtete Frantz den alten Lumpen, den Maria um ein Ende gebunden hatte. Sie fuhr mit der Hand durch die Fransen.

Da rief Rosina begeistert: »Ein Steckenpferd, hurra!«

Die fünfjährige Marie schaute verwundert ihre gut ein Jahr ältere Schwester an, bis diese in hohem Bogen ein Bein um den Stecken schwang und in die gute Stube hopste.

Frantz rief ihr nach: »Pass auf, dass du nicht über den Stock stolperst.«

»Bin doch kein kleines Kind mehr!«, rief sie zurück. Einen Augenblick später krachte es.

Frantz spitzte die Ohren. Kein Weinen, nur ein Stöhnen. Er lugte durch die Tür. Das Mädel war gegen den Schrank gefallen, in dem er sein Richtschwert verwahrte. Finster schaute Rosina das Möbelstück an, als hätte es sich ihr absichtlich in den Weg gestellt.

Maria hielt sich eine Hand vor den Mund und kam auf Zehenspitzen näher. Ihre rehbraunen Augen ruhten auf ihm. Zwei kastanienbraune Locken hatten sich aus ihrer Haube gelöst. Frantz schüttelte beschwichtigend den Kopf, und einen Augenblick später hörten sie Rosina nun langsamer durch den angrenzenden Raum hopsen.

»Will auch reiten«, sagte die kleine Marie und sprang auf.

»Wenn sich Rosina ausgetobt hat«, versprach Maria und strich dem Mädel übers Haar.

»Dann helf ich dir beim Waschen!«

Maria atmete tief durch. »Dann bist du hinterher bestimmt wieder klatschnass. Spiel doch lieber mit deinem kleinen Bruder.«

»Der kann aber noch kaum was.«

Das hatte der Bub anscheinend verstanden. Er krabbelte zu seiner Schwester, zog sich an ihr hoch und packte ihre Nase.

»Auaauaaua«, flötete die Kleine und grinste.

Maria lächelte und rieb sich die roten Hände.

»Haben wir noch Ringelblumensalbe hier oben?«, fragte Frantz. Wenn sie jetzt auch noch Wäsche wusch, wäre die Haut hinterher bestimmt rissig.

»Nein, die hab ich letztes Mal aufgebraucht. Aber haben wir nicht noch welche?«

»Ich schau mal.« Auf dem Weg zum Henkerturm musste er einem sich aufbäumenden Pferd ausweichen und wäre beinah über seine Tochter gestolpert, die sich auf den Boden fallen ließ. Lachend stieg er über sie hinweg und tätschelte den Stock. »Brr, brr, ganz ruhig, Brauner. Los, Rosina, wenn man aus dem Sattel fällt, muss man gleich wieder aufsteigen. Wenn du wartest, traust du dich vielleicht nicht mehr.«

»Jawohl!« Sie klopfte sich den Rock ab, als wäre sie in den Dreck gefallen. »Komm her, du störrisches Vieh!«

Frantz reichte ihr den Stecken und flüchtete hinaus in den Turm. Es roch muffig in dem alten Gemäuer, also stieß er unten angelangt das Tor auf. Zu seiner Überraschung eilte der neue Lochschreiber über den Säumarkt und winkte ihm zu. Rotgesichtig und schnaufend stieß Jeronymus Praun hervor: »Meister Frantz, Ihr werdet im Rathaus gebraucht.«

»Wurde jemand verhaftet?«

»Nein, es geht wohl um etwas ganz anderes.« Der schmächtige Mann mit gestutztem Bart und ungewöhnlich kurzen Haaren, schaute ihn unsicher an.

»Hat man Euch nichts weiter gesagt?«, fragte Frantz.

»Nein.« Er zog einen Schmollmund, der einer von Frantzens Töchtern besser zu Gesicht stünde. Dann brummte er: »Dem Dürrenhofer hätten die Herren Räte bestimmt mehr erzählt.«

»Grämt Euch nicht. Vermutlich geht es um Belangloses«, versuchte Frantz den Mann zu trösten. Natürlich war es schwierig, Dürrenhofers Nachfolge anzutreten, besonders wenn dieser einem trotzdem noch über die Schulter schaute, auf Geheiß des Stadtrats. Doch auch Frantz war froh, dass sich der altgediente Lochschreiber noch nicht ausschließlich der Registratur widmete. »Ich sag nur schnell meiner Frau Bescheid.« Er fand einen letzten Tiegel mit Salbe und eilte die Stufen hinauf zu seiner Brückenwohnung, wo Marie und Rosina um den Stecken rangen.

»Aus dem Weg, ihr Süßen, und stecht euch nicht die Augen aus!«, rief Frantz. In der Küche waren Maria und ihre Magd Apollonia schon mit der Wäsche zugange.

»Ich muss ins Rathaus«, sagte er und stellte die Salbe auf das Fensterbrett. »Warte mit dem Auftragen, bis du wirklich nicht mehr mit Seifenwasser hantieren musst, sonst ist sie verschwendet. Das ist die letzte, und bis zur nächsten Ernte dauert es noch zwei oder drei Monate.«

»Ich weiß«, seufzte Maria. »Ist ein Verbrechen geschehen?« Jetzt schwang Sorge in der Stimme seiner Frau mit.

»Anscheinend nicht. Ich werd gleich mehr wissen.« Er bahnte sich einen Weg zurück in die gute Stube, schlüpfte in die Joppe und stieg hinunter zum Schreiber. »Gehen wir.« Draußen auf dem Säumarkt hielt er wieder das Gesicht in die Sonne. Er liebte den Frühling, das eingelöste Versprechen erwachender Natur. Die Bäume bildeten Knospen, manch ein Strauch blühte gar schon.

»Ist es normal, dass der Rat einen Schreiber als Boten losschickt?«, fragte Praun, der hoch erhobenen Hauptes mit leicht hüpfenden Schritten und etwas Abstand ging. Es wirkte, als fürchtete der Mann, neben dem Henker von Nürnberg noch kleiner zu wirken als sonst. Ob nun wegen seines Amts oder weil Frantz die meisten Menschen um ein Stück überragte.

Frantz bemühte sich, langsam zu gehen, damit der Mann nicht laufen musste. »Nein, das passiert eher selten, aber wahrscheinlich war kein Schütze oder Stadtknecht verfügbar.«

Bei den Fleischbänken am Pegnitzufer balgten sich ein paar Jungen. Natürlich musterte Frantz sofort die Gesichter, doch sein Sohn war glücklicherweise nicht unter den Rabauken. »Heda!«, rief Frantz dennoch. »Benehmt euch.«

Nur ein Junge schaute sich nach dem Rufer um und riss die Augen auf. »Der Nachrichter! Haut ab!«

Diese Reaktion überraschte nicht nur Frantz. Der Lochschreiber schaute ihn erstaunt an. »Pardauz, Ihr macht sogar auf diese Strolche Eindruck.«

Frantz rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vielleicht zu viel Eindruck, schließlich sind solche Raufereien kein Verbrechen.« Sein Beruf lehrte ihn Misstrauen, doch er versuchte, den Verdacht abzuschütteln, es könnte sich um eine Diebsbande handeln. Das Spinnhaus war ganz nah. Falls die Burschen noch keine zehn Jahre alt waren, lebten und arbeiteten sie womöglich dort, hatten sich aber heimlich davongeschlichen und wollten nicht erwischt werden. Andererseits lebten im Spinnhaus vor allem Kinder zwischen drei und sieben Jahren, die zu alt für die Findel waren. Mit sieben wurden sie strafmündig …

Als sie die offenen Tore des Schlachthauses passierten, spähte Frantz hinein und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er nicht lieber hätte Schlachter werden sollen, ebenfalls ein unehrlicher Beruf, aber wenigstens müsste er dann keine Menschen vom Leben zum Tod bringen. Wehmütig dachte er an den Marxbruder, der vergangenes Jahr auf dem Schafott in letzter Sekunde begnadigt worden war. Was für ein schönes Gefühl das damals war. Insgesamt hatte er in dem Jahr nur zwei Menschen hinrichten müssen. So viele waren es dieses Jahr allein im Februar, aber vielleicht würde es dabei bleiben, und er könnte sich vor allem der Heilkunst widmen. Doch wenn der Stadtrat ihn rief, verhieß das selten Gutes …

Auf dem Markt vor dem Rathaus tummelten sich ungewöhnlich viele Menschen, die das sonnige Wetter aus den muffigen Häusern lockte. Da fielen ihm drei der Jungen auf, die sich bei den Fleischbänken gebalgt hatten. Sie umringten einen Stand mit Spezereien. Durfte er den Rat warten lassen, um sie zu beobachten? Noch langsamer als zuvor ging er weiter zum Eingangsportal, ließ dabei aber nicht die Buben aus den Augen. »Da sind sie wieder«, sagte er zu Praun.

»Wer, wo?« Der Kopf des kleinen Mannes schnellte herum.

»Die raufenden Bürschlein, zweiter Stand, dritte Reihe von rechts.«

»Ah ja, ich seh sie. Wenigstens raufen sie nicht mehr.«

»Wo erwartet man mich?«

»Das müssen wir erfragen. Nicht einmal so viel hat man mir als Laufburschen verraten.«

»Tut mir den Gefallen und behaltet die Frechdachse im Auge, während ich nachfrage.«

Praun zog die Augenbrauen hoch. »Ihr meint, sie wollen womöglich etwas stehlen?«

»Wer weiß. Jedenfalls haben sie sich arg vor mir gefürchtet.«

»Ist recht, ich beobachte sie. Aber falls ich gebraucht werde, schickt nach mir oder holt mich.«

»Selbstverständlich.«

Frantz betrat das Rathaus und wandte sich zur Kanzleistube, als Ernst Haller aus einem Gang kam und auf den Ausgang zustrebte. Der Mann war Kriegsherr und jüngerer Bürgermeister, aber kein Schöffe, sodass es Frantz überraschte, als ausgerechnet Haller ihn heranwinkte. »Meister Frantz, gut, dass Ihr da seid. Kommt mit.«

Frantz folgte ihm in einen der kleineren Besprechungsräume und setzte sich auf den angewiesenen Stuhl, während Haller auf und ab lief. »Wo habt Ihr den Schreiber gelassen?«

»Er beobachtet verdächtiges Gelichter auf dem Markt. Soll ich ihn holen?«

»Nein, ist nicht nötig.« Er kratzte sich die Schläfe und fuhr sich dann mit dem Handrücken über den Mund.

»Was bedrückt Euch?«, fragte Frantz, der den selbstbewussten Mann nur selten so rastlos gesehen hatte.

Haller lachte und schien sich zu entspannen. Dann sank er ihm gegenüber auf den Stuhl. »Ihr seid vom Stadtvogt von Pappenheim angefordert worden.«

Doch schon bald die nächste Hinrichtung, dachte Frantz und versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. »Schwert, Strang oder Schlimmeres?«

Verwirrung kräuselte Hallers Stirn, dann verstand er und winkte ab. »Nicht als Nachrichter, sondern als Heiler.«

Erleichtert und geschmeichelt fragte Frantz: »Welche Beschwerden plagen den Stadtvogt?«

Haller schnaubte. »Caspar Mayr ist nicht der Patient, nur dessen Fürsprecher.«

Warum ließ sich der Ratsherr alles aus der Nase ziehen? Vielleicht war Geheimhaltung erbeten worden. Sich von einem Henker behandeln zu lassen hatte für viele Menschen etwas Anrüchiges, Zauberisches. »Könnt Ihr mir mehr über das Gebrechen verraten?«, drängte Frantz. Wenn er als Heiler angefordert wurde, musste es sich um etwas Außergewöhnliches handeln, wie beim Überbein des Freiherrn, oder die Ärzte hatten alle Hoffnung fahren lassen, sodass der Sieche nun wirklich auf die Zauberkräfte eines Henkers hoffte.

»Nicht viel.« Haller kratzte sich die Stirn. »Es handelt sich offenbar um eine immer wiederkehrende Krankheit, die allerlei verschiedene Formen annehmen kann. Davon hat er sich bisher immer wieder erholt, und man munkelt, es handle sich um das malum hypochondriacum.«

Frantz runzelte die Stirn. Malum hatte er schon als Begriff für Krankheiten gelesen, aber … »Hypo-wie?«

»Ihr kennt das vielleicht als Milzsucht. Die Befallenen spüren allerlei Krankheiten, sind aber kerngesund. Nur in diesem Fall bleiben inzwischen nach jeder Erkrankung körperliche Beeinträchtigungen zurück.«

Verblüfft kratzte sich Frantz den Kopf. »Ob ich da helfen kann, weiß ich wirklich nicht. Von der Milzsucht habe ich zwar schon gehört, behandle auch einen Mann, der wegen vieler kleiner Zipperlein zu mir kommt und auch zu anderen Ärzten geht, aber ihn plagen auch wirklich viele Kleinigkeiten wie vor Kurzem ein Furunkel am Hintern oder die Lungenfäule letztes Jahr.«

Haller nickte vor sich hin. »Ja, da kommt die Milzsucht wohl nicht infrage. Bei unserem Pappenheimer könnte die Sache anders liegen. Untersucht den Mann, vielleicht fällt Euch etwas ein. Die studierten Ärzte sind jedenfalls mit ihrem Latein am Ende.«

Frantz schmunzelte über diese Redewendung. »Ich fange mit meinem Latein erst an, daher kenne ich nur ein paar Brocken. Wisst Ihr, weshalb ausgerechnet ich angefordert werde? Hofft der Mann auf die besondere Wirkung meiner Henkerhände, auf Salben aus Menschenfett und Bandagen aus menschlichen Häuten?«

»Schwer zu sagen, denn – jetzt kommt es – der Patient ist Jude.«

»Was?« Frantz ließ sich gegen die Lehne sinken. »Ein Stadtvogt fordert für einen Juden den Nachrichter von Nürnberg als Heiler an?«

»Ganz recht. Ihr versteht nun vermutlich meine Verwirrung.«

»Ich denke schon … Wird der Rat dem Ansinnen zustimmen?«

»Ist schon letzte Woche geschehen. Ihr dürft vier Tage nach Pappenheim reisen und Euch um den Lew Juden kümmern. Außerdem bekommt dessen Sohn die Erlaubnis, hier in Nürnberg – trotz des Judenbanns – Medizin einzukaufen, falls dies nötig sein sollte. Aber nur in ständiger Begleitung eines Aufpassers. Und Zoll muss er dafür auch zahlen.«

»Verblüffend. Dieser Lew Jud muss fürwahr ein wichtiger Mann sein.« Fragend schaute er den Ratsherrn an, aber entweder wollte Haller nichts preisgeben, oder er wusste nichts weiter über den Patienten.

»Natürlich geht Eure Arbeit für die Reichsstadt Nürnberg vor. Ihr dürft nur nach Pappenheim reisen, wenn es im Loch nichts zu tun gibt.« Mit diesen Worten erhob Haller sich. »Ihr versteht das hoffentlich als Wertschätzung des Stadtrats. Seit Paumgartner auf Eure Empfehlung hin die Schmerzen in seinen Gliedern mit Brennnesseln lindert, trauen wir Euch einiges als Heiler zu.«

Frantz schluckte schwer. »Das hat eine Patientin von mir durch Zufall herausgefunden.«

»Aber Ihr habt es ernst genommen und weiteren Geplagten verraten. Ein Medicus hätte das womöglich nicht getan. Ihr wisst ja, ein Schmerz überlagert den anderen.« Der Kriegsherr feixte. »Wenn jemand Kopfschmerzen hat und man schlägt ihm mit einem Knüppel auf den Schädel, spürt er die ursprünglichen Schmerzen womöglich auch nicht mehr. Das meinte ein Wundarzt, dem Paumgartner davon erzählt hatte.«

»Auf die innere Anwendung von Weihrauch ist er allerdings selbst gestoßen. In alten arabischen Schriften.«

»Hm, mag sein.«

Frantz nickte, rang sich ein Lächeln ab und stand ebenfalls auf. »Dann werde ich möglichst bald zu dem Siechen reisen.« Soweit er wusste, langweilte sich der Lochhüter derzeit. Vielleicht sollte er sich vergewissern, doch erst musste er den Schreiber von dessen Beobachtungsposten entlassen. Falls sich die Bürschlein denn benommen hatten …

 

 

Kapitel 2: Von Strolchen und Mutproben

Nürnberg am Mittwoch, den 9. Mai 1593

 

Draußen vor dem Rathaus schaute Frantz sich nach Praun um, entdeckte ihn jedoch nicht. Kein Verlass auf den Mann? Das wunderte ihn. Da, Tumult am anderen Ende des Markts. Praun! Und er hatte einen der Jungen am Wickel. Ein paar der Marktleute schimpften, andere lachten. Frantz bewegte sich langsam auf die Stelle zu und bemerkte, dass zwei der Stände umgeworfen worden waren. Praun hatte alle Mühe, den Burschen festzuhalten, der sich wand, trat und um sich schlug. »Lasst mich los, ich hab nichts gemacht.«

»Von wegen«, stieß Praun hervor.

Frantz hatte die beiden erreicht und packte einen Arm des Bürschleins. »Genug.«

Praun strahlte ihn an. »Ihr hattet recht, Meister Frantz. Diebsgelichter. Leider sind mir die anderen beiden entwischt.«

»Schade, dass ich mich doch nicht getäuscht habe.«

Verwundert blickte der Lochschreiber zu ihm auf. »Wie meint Ihr das?«

»Eine Welt ohne Diebe wäre schöner, und ich könnte den ganzen Tag auf der faulen Bärenhaut liegen oder mich um Sieche kümmern.«

»Träumt weiter, Meister Frantz.« Eine Marktfrau zog dem Jungen die Kappe vom Kopf. »Oder kannst du die bezahlen, du Strolch?«

Nun wirkte der Junge doch etwas erschrocken. Aus weit aufgerissenen Augen schaute er sie flehend an. »Reichen zwei Groschen?«

»Pah. Sperrt ihn ein«, sprach sie und eilte zurück zu ihrem Stand.

»Zu Befehl, Frau Majorin«, raunte Frantz und zwinkerte Praun zu.

Der lächelte und hielt den anderen Arm des Jungen. Gemeinsam führten sie ihn zum Eingang des Lochgefängnisses unter dem Rathaus. Seit die Marktfrau den Buben angeblafft hatte, leistete er keine Gegenwehr mehr.

Der Lochwirt persönlich öffnete ihnen. »Wen haben wir denn da?«, fragte Eugen Schaller.

»Einen Dieb«, verkündete Praun. »Auf frischer Tat erwischt. Meister Frantz wird ihn wohl nicht torquieren müssen.«

»Was ist denn torquieren?«, fragte der Delinquent.

»Martern, Schmerzen zufügen«, erklärte Frantz heiter, als wäre es eine vergnügliche Angelegenheit. »Das werde ich bei dir wohl nicht machen dürfen, denn du wirst ja nicht leugnen wollen, wenn es so viele Zeugen gibt.«

»Aber ich bin doch erst zehn! Dürft Ihr das?«

»Wie du weißt, bin ich der Nachrichter. Ich darf alles, was der Rat mir befiehlt. Und mehr. Außerdem bist du mit sieben schon strafmündig geworden.«

Flehend schaute der Junge ihn an. »Nehmt die zwei Groschen in meiner Tasche und lasst mich laufen, bitte!«

Schaller packte ihn am Genick und zog ihn durch die Tür. »Du bleibst schön hier. Den Bestechungsversuch lassen wir netterweise unter den Tisch fallen. Los, die Treppe runter.«

Erst zehn Jahre alt … Umso mehr bedauerte Frantz, dass sich sein Verdacht bestätigt hatte, doch die Diebereien in der Stadt nahmen dieser Tage drastisch zu, was auch am milderen Wetter lag. Die Menschen verkrochen sich weniger in ihren Behausungen, und das lockte Langfinger an. Dem musste Einhalt geboten werden.

Praun warf Frantz einen fragenden Blick zu. »Was müssen wir jetzt machen?«

»Gebt im Rathaus Bescheid. Vielleicht hat gleich ein Lochschöffe Zeit, den Burschen zu verhören.«

»Und was macht Ihr?«

»Ich werde im Loch warten. Vielleicht braucht man mich als Kinderschreck.«

Praun lächelte eher gequält, dann hastete er davon.

Frantz verriegelte hinter sich die Tür zum Verlies und stieg die Steinstufen hinunter. Schaller tastete gerade den Buben ab und fischte ein kleines Messer aus einer Innentasche des Wamses. »Ideal zum Beutel auf- oder abschneiden.«

»Wer waren die anderen Buben?«, fragte Frantz. »Wo ist euer Versteck?«

»Verrat ich nicht.« Trotzig schaute er drein und mied Blickkontakt.

Erst jetzt fiel Frantz auf, dass der Junge recht gepflegt wirkte. Die schulterlangen Haare gekämmt, die Kleidung schlicht, aber sauber, abgesehen von dem frischen Dreckfleck am Knie, den er sich beim Balgen geholt hatte. »Du schaust nicht aus, als hättest du es nötig zu stehlen. Was habt ihr überhaupt geklaut?«

»Nur die Kappe. So viel Geld hab ich nicht dabeigehabt, aber ich hätt sie später bestimmt bezahlt.«

Schaller schnaubte. »Bestimmt.«

Das Bürschlein sah sich jetzt doch etwas verunsichert in dem unterirdischen Gewölbe um. Die Mundwinkel hingen herunter. »Es war doch nur eine Mutprobe. Auf die Idee sind wir gekommen, weil wir vorher vom Nachrichter verscheucht worden sind, weil wir gerauft haben, aber nur im Spaß.«

Konnte das stimmen? Frantz wollte ihm gern glauben. »Davon wirst du den Rat nur überzeugen können, wenn du deinen Namen verrätst und wo du wohnst.«

Wie aufs Stichwort kam Praun mit dem Lochschöffen Jakob Stark die Treppe herunter, die direkt vom Rathaus ins Lochgefängnis führte. »Wovon soll er uns überzeugen?«, fragte Stark. Das blonde Haar und der etwas dunklere Vollbart wirkten zerzaust. Hatte er sich wegen des Ansinnens, Frantz nach Pappenheim zu schicken, die Haare gerauft? Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Der Ratsherr war schon länger jüngerer Bürgermeister, aber erst in diesem Jahr zu den Schöffen gewechselt. Dies war sein erster Fall als Lochschöffe. Dabei würde ihm natürlich einer der älteren Bürgermeister und Schöffen zur Seite stehen.

Frantz sah den Buben an. »Na los, erzähl dem Herrn Stark, was du getan hast und warum.«

Misstrauisch beäugte der Junge den Neuankömmling, ließ kurz den Blick zu Praun schweifen, dann wiederholte er mit hängenden Schultern seine Geschichte von der Mutprobe.

»Soso. Dann verrate uns, wer du bist und wo du wohnst, damit wir dich deinen Eltern übergeben können, mit einer Ermahnung.«

Der Delinquent presste die Lippen aufeinander und schüttelte langsam den Kopf.

Stark zuckte die Schultern. »Wenn du meinst. Lochhüter, sperrt den Schelm ein, dann ändert er vielleicht seine Meinung.«

Schaller führte den Buben weg, und Stark wandte sich zur Treppe, doch dann drehte er sich noch einmal um. »Glaubt Ihr ihm?«

Frantz überlegte kurz, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Dass er uns nicht verraten will, wer er ist, kommt mir sehr verdächtig vor, außer er muss fürchten, dass ihn sein Vater grün und blau schlagen wird. Nur hat er davon kein Wort gesagt. Vielleicht sollte ihm jemand auf dem Nachhauseweg folgen, falls Ihr entscheidet, ihn freizulassen.«

»Guter Vorschlag. Wenn er seinen Verfolger nicht abschüttelt, wird er uns zu seinen Eltern führen oder zu seinen Spießgesellen. Über Nacht werden wir ihn sehr wahrscheinlich behalten. Vielleicht ist er am Morgen dann schon viel gesprächiger.« Stark hob die Hand zum Abschied und stieg die Treppe hinauf.

Frantz ging den schmalen Gang zur Küche entlang, wo er nur die Magd der Lochwirtin antraf. Sie schnitt Winteräpfel klein, bestimmt, um daraus Mus zu kochen. Dann hatte der Bub Glück im Unglück.

»Grüß dich. Die Schallerin ist nicht da?«

Die junge Maid blickte auf und sah ihn überrascht an. »Ah, Meister Frantz, was führt Euch ins Loch? Gibt doch momentan gar keine Gäste in der Lochwirtschaft.«

»Ich hab gerade einen gebracht, obendrein einen sehr jungen. Der Bub ist angeblich erst zehn, könnte aber auch schon elf oder zwölf sein. Ist beim Stehlen erwischt worden.«

»Oje. Ich sag der Schallerin Bescheid. Bestimmt wird sie ihn etwas bemuttern, wenn er nicht einer dieser garstigen Rabauken ist.«

»Dank dir.«

Nun blieb auch Frantz nichts weiter zu tun, als nach Hause zu gehen. Unterwegs hielt er nach den anderen Jungen Ausschau, allerdings vergeblich. Vor ein paar Minuten hatten die Totenglocken geläutet, was für gewöhnlich das Zeichen dafür war, dass der Vormittagsunterricht für die Schulkinder endete. Dem entsprechend waren viele Kinder und Jugendliche auf den Straßen unterwegs. Hm, falls jemand den Jungen verfolgen sollte, wären Kinder die idealen Kundschafter. Ob er das Jorgen zumuten konnte? Sein Sohn müsste dann die Verantwortung dafür mittragen, was mit den jungen Dieben geschah. Falls es nicht doch nur eine alberne Mutprobe war.

Beim Schlachthaus entdeckte er zwei Mädchen, die im Spinnhaus lebten. Sie holten wohl Fleisch für die Hüterin. Und da kam auch sein Sohn angeschlappt – mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf. Doch sowie er die beiden bemerkte, straffte er sich, schlich auf eines der Mädel zu und zog sie an ihrem blonden Zopf. Sie quiekte und schlug nach ihm. Gerade rechtzeitig sprang Jorgen zurück und lachte. Auch die Freundin der Geplagten lachte, da konnte auch sie nicht anders. Mit frecher Miene rief sie ihm etwas zu.

Frantz trat in den Schatten des Eingangs zum Fleischhaus. Jorgen faltete die Hände und verneigte sich tief vor der Maid, die er an den Haaren gezogen hatte. Ob er Abbitte für seine Frechheit leistete oder sie verspottete?

In dem Moment rannten zwei Jungs herbei. Ein Rotschopf, den Frantz schon öfter hier gesehen hatte, schlug Jorgen die Kappe vom Kopf, der andere schubste ihn. Frantz fühlte Zorn aufsteigen, doch er zwang sich, nicht einzugreifen. Jorgen hob seine Kopfbedeckung vom Boden auf und klopfte sie sauber. Demütig dreinschauend trat er zu dem Jungen, der ihn geschubst hatte. Bevor der auch nur zurückzucken konnte, schlug Jorgen ihm die Kappe übers Gesicht und rief etwas. Frantz meinte »Strolch« herauszuhören. Beide Jungs ballten die Fäuste, traten allerdings einen Schritt zurück.

Langsam näherte sich Frantz. Er wollte hören, was sie redeten.

Jorgen legte den Kopf schief. »War’s das jetzt, oder wollt ihr doch eine Abreibung?«

»Hah, du allein gegen uns zwei? Das schaffst du nicht!«, rief der Rotschopf.

Ein älterer, gut gekleideter Junge näherte sich und blieb gespannt stehen. »Was wird denn das hier?«, fragte er ohne Scheu. Seine Sprache klang gewöhnlich, kein Sohn aus vornehmem Haus, aber er redete auch nicht wirklich Nürnbergerisch.

»Der Henkersbub will frech werden«, antwortete der Rotschopf. Das Mädel mit dem langen blonden Zopf gesellte sich zu ihm und hielt den Jungen am Arm fest. »Lass das, Florian.«

»So, du bist der Sohn des Henkers?«, fragte der Neuankömmling und musterte Jorgen interessiert. »Das ist doch mal was Besonderes.«

Frantz ging jetzt mit abgewandtem Gesicht an den Kindern vorbei, damit es nicht so aussah, als wollte er sie auskundschaften.

»Und ob das was Besonderes ist!«, verkündete Jorgen mit Inbrunst. »Mein Vater vollstreckt das Gesetz, und das sehr ordentlich.«

Frantz musste ein Grinsen unterdrücken.

Der ältere Junge antwortete: »Hab ich auch schon gehört. Vielleicht kann ich ihm ja eines Tages bei der Arbeit zuschauen. Und du willst mal sein Nachfolger werden?«

Frantz musste sich zwingen, weiterzugehen, nicht zurückzublicken, doch er spitzte die Ohren.

»Nein, ich will Wundarzt werden, vielleicht sogar Medicus.«

»Hah, du gefällst mir.«

»Und wer bist du? Hab dich hier noch nie gesehen.«

»Ich bin der Caspar aus Würzburg.«

Frantz trat auf die Brücke zum Säumarkt hinüber und blickte zurück.

Wie nicht anders zu erwarten, bemerkte Jorgen ihn jetzt. »Ich muss nach Hause.« Er schaute sich nach dem Rotschopf und dessen Spießgesellen um, dann lief er zur Brücke. Frantz wartete auf ihn.

»Vater, was machst du denn hier?«

Frantz seufzte. »Wir haben einen jungen Dieb erwischt, kaum älter als du. Der sitzt jetzt im Loch.«

Die Augen seines Sohns weiteten sich. »Dann musst du ihn hoffentlich nicht hinrichten, oder? Weil er noch so jung und dumm ist.«

Frantz lächelte. »Bist du auch noch dumm?«

Jorgen blickte zurück zu den anderen Kindern. »Weil ich dem Kerl Prügel angedroht hab? Nein, das war notwendig. Der Flori ist immer so frech, aber auch feig.«

»Lebt er im Spinnhaus?«

»Nein, das ist der Sohn von einem Abdecker, hält sich aber trotzdem für was Besseres. Der andere lebt mit seiner Mutter und Schwester im Spinnhaus. Der Vater ist gestorben, und jetzt haben sie nichts mehr.«

Im Weitergehen schaute sich Frantz noch einmal nach den Kindern um. Der ältere Junge, Caspar, unterhielt sich angeregt mit dem Rotschopf und dessen Kumpel, doch die Mädel waren verschwunden. »Du kommst gut zurecht mit den Kindern im Spinnhaus, oder?«

»Freilich, die meisten sind ganz harmlos und froh, sich mit Arbeit Essen und Unterkunft verdienen zu können. Und weil sie wissen, dass ich dein Sohn bin, haben sie auch vor mir etwas mehr Respekt als vor anderen.« Schelmisch grinsend blickte er zu Frantz auf.

Jorgen war ein prächtiger Sohn, und der Gedanke, ihn als Kundschafter einzusetzen, gefiel ihm immer besser. Er schaute zu seiner Brückenwohnung hinüber. Bevor er dem Jungen etwas davon verriet, musste er mit Maria reden – allein. Was die Kinder betraf, bekam sie ja doch viel mehr mit als er.

Beim Mittagessen erzählte er, dass er nach Pappenheim reisen sollte, um einen Juden zu behandeln. Maria und Apollonia staunten. Jorgen sah ihn fragend an. »Was ist da so besonders? Nur weil die nicht in die Stadt dürfen, kannst du ja trotzdem zu ihnen reiten.«

Frantz lächelte breit. »Kluger Junge. Aber als Nachrichter von Nürnberg brauche ich natürlich die Erlaubnis des Stadtrats, wenn ich länger fortgehe. Nun werde ich aber nicht nur dafür freigestellt, sondern bin auch noch gebeten worden, nach Pappenheim zu reisen.«

Maria fragte: »Bekommst du dazu sogar ein Pferd aus der Peunt?«

»Das weiß ich noch nicht, aber bei der Vorstellung, so weit zu reiten, tut mir jetzt schon der Hintern weh.«

Marie und Rosina kicherten und hielten sich die Hände vor den Mund.

»Ich sollte den guten Rosenberg fragen, ob er nicht gelegentlich in Pappenheim zu tun hat. Dann könnte er mich mitnehmen. Der weiß vielleicht auch etwas über diesen Lew Juden.«

Maria wiegte den Kopf. »Gute Idee, aber auf seinem Karren bist du wahrscheinlich noch länger unterwegs als zu Ross.«

»Stimmt auch wieder. Trotzdem werde ich schauen, ob ich von ihm etwas erfahren kann. Magst du mich zum Plärrer begleiten? Dort bietet er gern seine Waren feil, wenn er nicht unterwegs ist.«

Verwundert sah sein Weib ihn an. »Ich? Wieso?«

»Ich begleite dich!«, rief Rosina.

»Und ich!«, fiel die kleine Marie ein.

Jorgen verschränkte die Arme und lehnte sich entspannt zurück. »Sehr schön, dann sind wir die Plagegeister los, und ich kann in Ruhe Schreiben üben. Schöne Schrift ist dem Lehrer ja viel wichtiger als Rechnen.«

Frantz schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Rasselbande, aber ich brauche dazu eure Mutter, denn wenn mir der Rosenberg etwas über die Krankheit des Lew Juden verraten kann, muss sie mir vielleicht helfen, die richtigen Kräuter zu suchen oder zu kaufen.«

Apollonia warf ihm einen enttäuschten Blick zu. Sie hatte früher für ein Kräuterweib gearbeitet und kannte sich bestens mit heilkräftigen Pflanzen aus. Frantz ließ den Blick über die Kinder schweifen und presste dabei die Lippen zusammen. Seine Magd nickte verstehend und lächelte.

Maria ahnte noch nicht, dass es ein Vorwand war, um mit ihr allein zu sprechen. Daher zeigte sich ein Anflug von Stolz in ihrem Gesicht. Bevor Apollonia zu ihnen gekommen war, hatte sie ihm oft geholfen. »Sehr gern mach ich das, die Mädel nehmen wir trotzdem mit, dann können sie suchen helfen.«

Frantz überlegte kurz, dann nickte er. »Ja, dann lernen sie auch gleich was.« Die beiden würden ihrer Unterhaltung kaum Beachtung schenken und sowieso nicht viel davon verstehen, selbst wenn sie etwas aufschnappten.

Apollonia stapelte die Schalen. »Dann nutze ich die Gelegenheit und fege den Boden, solange Stefla noch schläft. Sonst macht es ihm das größte Vergnügen, mit mir um den Besen zu ringen und den Dreck zu verteilen.«

»Ja, das ist eine gute Gelegenheit.« Maria legte eine Hand auf ihre Brüste. »Der Bub sollte noch ein oder zwei Stunden schlafen, aber dann hat er sicher Hunger.«

»Dann geb ich ihm etwas Apfelmus«, erwiderte Apollonia.

»Krieg ich auch was?«, fragte Jorgen sogleich und schaute seine Mutter Mitleid heischend an.

»Viel ist nicht mehr da«, wandte die Magd ein. »Und bis nur nächsten Ernte dauert es noch ein paar Monate. Winteräpfel sind alle aufgebraucht.«

Maria seufzte. »Tut mir leid, junger Mann, aber dein kleiner Bruder braucht es dringender, weil er noch nicht beißen kann, und du hast schon alle Zähne.«

Eben jene fletschte der Junge jetzt, doch seine Mutter lachte nur.

 

 

Kapitel 3: Die Kundschafter

Nürnberg am Mittwoch, den 9. Mai 1593

 

»Fühlt sich fast wie ein Familienausflug an«, sagte Maria, als sie über die kleine Fußgängerbrücke unter der Wohnung des Henkersknechts auf die Sankt Lorenzer Seite der Stadt liefen. Die Mädchen sprangen voraus, doch sie wussten, dass sie immer in Sichtweite bleiben mussten. »Aber wenn ich mich nicht sehr irre, willst du mit mir etwas besprechen, das Jorgen nicht hören soll?«

»Du hast mich also doch durchschaut.« Frantz lächelte sie an. »Ich würde ihn gern als Kundschafter einspannen, bin mir aber nicht sicher, ob er schon reif genug dafür ist.«

Ihre Stirn warf nun Falten, die leicht in Sorgenfalten ausarten konnten. »Worum geht es?«

Frantz erzählte ihr, was er heute beobachtet hatte, und von dem kleinen Dieb im Loch. »Den würde ich gern beobachten lassen, wenn er morgen wieder auf freien Fuß gesetzt wird. Nur wären Stadtknechte auch ohne ihre Tracht bestimmt zu auffällig.«

Maria strahlte. »Und ich dachte, du hast etwas Gefährliches mit ihm vor.« Jetzt entfuhr ihr sogar ein Lachen. »Kathi und Ursel werden uns bestimmt gern dabei helfen.«

»Uns?«

»Ich mache auch mit«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Je mehr unverdächtige Leute, desto einfacher. Und bei so schönem Wetter ist es ein Vergnügen, in der Stadt herumzulaufen.«

»Natürlich! Warum bin ich da nicht selbst draufgekommen?«

»Und wir gehen jetzt trotzdem noch nach dem Rosenberg schauen?«

»Ja, auch wenn der wahrscheinlich nicht gerade um die Mittagszeit dort sein wird. Vielleicht kann mir jemand sagen, wann er am leichtesten anzutreffen ist.«

»Der Rat konnte dir gar nichts zu den Gebrechen des Mannes sagen?«

»Oh doch, aber es ergibt für mich wenig Sinn. Dem Haller schien die ganze Angelegenheit auch recht unangenehm zu sein. Der Sohn von Lew darf sogar in der Stadt einkaufen, aber nur in Begleitung eines Aufpassers. Das kann er aber erst tun, nachdem ich den Siechen untersucht habe.«

Maria rief die Mädchen heran und nahm sie an den Händen, bevor sie aus dem Schatten der Stadtmauer auf die breite Fahrstraße treten würden. Im Sonnenschein spazierten sie auf das Spittlertor zu. Der Torhüter grüßte freundlich und winkte den Mädchen zu.

Auf dem Plärrer ging es um diese Tageszeit umtriebig zu. Vor allem Speisen wurden jetzt feilgeboten. Für Tagelöhner und Händler war das offenbar ein verlockendes Angebot.

»Siehst du ihn?«, fragte Maria.

»Nein, aber da drüben, das könnte sein Sohn sein. Den hab ich aber auch nur einmal gesehen. Der Karren kommt mir allerdings bekannt vor. Darauf bin ich vielleicht schon bis nach Hiltpoltstein gerollt.«

»Frag ihn einfach.«

Der junge Mann merkte bald, dass sie auf ihn zustrebten. Er setzte sich gerader hin und musterte vor allem Frantz. Als sie nur noch ein paar Schritte entfernt waren, lächelte er unsicher. »Meister Frantz?«

»Ganz recht. Irre ich mich oder bist du ein Sohn von Abraham Rosenberg?«

»Ihr irrt Euch nicht. David heiß ich. Sucht Ihr meinen Vater?«

»Ja, weißt du, wann er wieder hier anzutreffen sein wird?«

»Hoffentlich in ein paar Tagen. Er hat sich böse den Knöchel verstaucht.«

»Das tut mir leid. Ich könnte ihn zu Hause besuchen, wenn du denkst, dass es deiner Familie nicht unangenehm ist.«

»Ihr seid ein Freund der Juden, wie könnte uns da ein Besuch von Euch unangenehm sein?«

Frantz zog eine Augenbraue hoch. »Weil ich auch der Nachrichter bin?«

Jetzt grinste der junge Mann. »Wir sind froh, dass Ihr der Nachrichter seid und kein anderer an Eurer Stelle dieses Amt versieht. Ihr ward sehr anständig zum Mosche.«

Frantz lächelte, dann fragte er: »Kennst du einen Juden in Pappenheim, der sich Lew nennt?«

Der junge Rosenberg kratzte sich die Stirn. »Gehört hab ich schon von dem. Er ist ziemlich bekannt, handelt mit kostbaren Gewürzen und Spezereien, daher ist er sehr wohlhabend, aber mehr weiß ich auch nicht.«

»Denkst du, dein Vater kennt ihn näher?«

»Der hat ihn auf alle Fälle schon gelegentlich getroffen, mag ihn nicht sonderlich, aber da spielt vielleicht auch etwas Neid mit rein, auch wenn mein Vater kein missgünstiger Mensch ist.«

»Dessen bin ich mir sicher. Ich werde ihn wahrscheinlich noch heute besuchen, spätestens morgen. Vielleicht kann ich auch etwas für seinen Knöchel tun.«

»Vielen Dank, ich sage Vater Bescheid, falls ich vor Euch nach Hause komme. Süße Maidlein habt Ihr.« Jetzt lächelte er Maria an, die sich sofort nach den beiden umschaute.

Auf Zehenspitzen hopsend lugten die beiden auf die Ladefläche eines anderen Karren.

»Marie, Rosi, kommt her«, rief Maria freundlich. »Wenn man nicht immer aufpasst, fällt ihnen allerdings viel Unfug ein.«

»Was verkaufst du?«, fragte Frantz neugierig.

»Glaswaren, auch Spiegel. Das beste Geschäft hier, weil in Nürnberg solche Kostbarkeiten viel teurer sind.«

Frantz nickte.

Maria murmelte andächtig: »Richtige Glasspiegel?«

»Ja, nur kleine, aber immerhin.«

Hm, Frantz wunderte sich, dass Maria sich überhaupt für so etwas interessierte, das sie doch eigentlich als eitlen Tand ablehnte.

»Darf ich einen sehen?«

»Natürlich.« David zog einen Handspiegel aus einem Stoffsäckchen und reichte ihn ihr. »Kostet einen Taler.«

Äußerst vorsichtig nahm sie ihn in die Hand und schaute hinein. Dann kicherte sie wie ein kleines Kind. »Sehr schön.« Schnell gab sie ihn zurück. »Danke dir, aber so etwas brauchen wir nicht.«

»Wirklich?«, fragte Frantz. Sie könnten es sich leisten, aber es wäre doch eine recht unnütze Ausgabe. Trotzdem würde er sein Weib gern mit etwas Besonderem verwöhnen.

Sie strahlte ihn an. »Brauchen wir wirklich nicht. Ich wollte nur mal einen in Händen halten und mein Gesicht sehen, so wie du es siehst. Jetzt reicht es mir wieder, mich in deinem Blick zu spiegeln.«

Frantz lachte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich denke, ich laufe gleich nach Fürth. Morgen müssen wir uns schließlich um den jungen Gast des Lochwirts kümmern.«

»Stimmt, soll ich Jorgen schon von unseren Plänen erzählen?«

»Hm, da wär ich gern dabei, um seine Reaktion zu sehen. Aber auf dem Heimweg könntet ihr bei Kathi vorbeischauen und fragen, ob sie und Ursel helfen wollen.«

»Das mach ich lieber, wenn die Kleine wieder in der Schule ist, sonst erzählt sie Jorgla alles brühwarm. Ich lad dann die Leinfelders für heute Abend zu uns ein. Dann können wir alles in Ruhe besprechen.«

»Wunderbar. Ich sollte spätestens in vier Stunden zurück sein, wahrscheinlich früher, wenn wir uns nicht verratschen.«

»Lass dir ruhig Zeit.«

Frantz verabschiedete sich von David Rosenberg und wanderte die Fahrstraße nach Fürth entlang. Unwillkürlich musste er daran denken, wie er letztes Jahr diesen Weg gegangen war, auf der Suche nach der Fleischmännin, die vor den Schergen des Markgrafen in den Freitod geflohen war. Welch eine Ungerechtigkeit, dass dem Tyrannen niemand Einhalt gebieten konnte.

Kaum eine Stunde brauchte er, um die Kate des jüdischen Händlers zu erreichen. Dessen Frau und Tochter hatten letztes Jahr die Fleischmännin versteckt, nachdem diese von einer gemarterten Seele in der markgräflichen Folterkammer der Hexerei bezichtigt worden war. Eigentlich würde er gern wissen, wie es der Familie der Verstorbenen ging, aber ob sich der Witwer über seinen Besuch freuen würde, war schwer einzuschätzen. Immerhin hatte Frantz im Dienst der Reichsstadt Nürnberg verhindern können, dass das gesamte Vermögen der Familie vom Markgrafen eingezogen wurde. Er hatte bezeugt, dass es an ihrem Leichnam keine Hexenmale oder andere Anzeichen für einen Bund mit dem Teufel gegeben hatte.

Rosenbergs Tochter – Rachel oder so ähnlich – goss ein Gemüsebeet. Sie bemerkte ihn, schaute aber nur kurz in seine Richtung, bevor sie weiter ihrer Arbeit nachging. Erst als er vom Weg abwich und direkt auf sie zumarschierte, musterte sie ihn neugierig aus blaugrauen Augen. Das rötliche Haar leuchtete im Sonnenschein. »Meister Frantz?«, fragte sie unsicher.

»Der bin ich. Und du musst Rosenbergs Tochter sein. Rachel?«

»Richtig. Wollt Ihr zu Vater? Das würde sich nämlich gut treffen. Er hat sich den Knöchel verstaucht, will damit aber nicht eigens einen Wundarzt behelligen.« Sie seufzte. »Kostet ja auch Geld.«

Frantz lächelte. »Davon hat mir dein Bruder schon erzählt, und weil ich deinen Vater sowieso etwas fragen wollte, schau ich mir den Knöchel gern an.«

»Das ist gut, dann kann er nicht ablehnen! Ich bring Euch zu ihm.«

Frantz betrat hinter ihr die Kate, in der es ungemein warm war. Im Kamin brannte ein Feuer, und trotzdem hatte Rosenberg eine Decke über den Beinen. Seltsam.

»Vater, ich bring dir Besuch.«

»Was? Ich hab doch gar niemanden eingeladen. Wenn’s ein Arzt ist, kannst du ihn gleich wieder wegschicken. Kosten viel Geld und sagen mir nur, dass ich das Bein stillhalten muss.«

Frantz entfuhr ein Lachen. »Da hast du ganz recht, Rosenberg, deshalb besucht dich auch kein Wundarzt, sondern der Henker.«

»Meister Frantz! Welch eine Ehre. Euch kann ich natürlich nicht die Tür weisen. Setzt Euch zu mir.« Rosenberg standen Schweißperlen auf der Stirn.

»Ist dir nicht zu warm hier drinnen?«, fragte Frantz.

»Schon, aber Wärme ist doch gut für schmerzende Gelenke! So muss ich eben schwitzen.«

»Wer hat dir das denn gesagt? Gegen die Schmerzen würde dir eher Kühlung helfen.«

»Pardauz, aber letztes Jahr haben mich Rückenschmerzen geplagt, und Wärme hat mir sehr gutgetan.«

»Da waren bestimmt die Muskeln überanstrengt. Darf ich mir den Knöchel anschauen? Als Gegenleistung wünsche ich mir nur ein paar Informationen.« Frantz zog schnell die Decke weg, bevor Rosenberg protestieren konnte. Beide Beine lagen auf einem Schemel, ein Fuß war nackt und sah völlig in Ordnung aus, keine Rötung, keine Schwellung. Der andere war in einen dicken Strumpf gepackt.

»Was für Informationen?«

»Kennst du den Lew Juden in Pappenheim?«, fragte er, während er vorsichtig den Strumpf abstreifte.

»Autsch, Vorsicht!«

Frantz befühlte den Knöchel, der leicht geschwollen war und im Vergleich zu seinen kühlen Händen zu glühen schien.

»So angenehm kalt ist Eure Hand, aber ist das wirklich gesund?«

»Oh ja.« Er nahm jetzt beide Hände zum Kühlen und blickte sich nach Rachel um, die bei der Tür wartete. »Bringst du ihm einen Eimer kaltes Wasser?«

»Gern.« Sie eilte davon.

Vorsichtig bewegte Frantz den Fuß. Rosenberg wimmerte leise, aber es wirkte ein wenig übertrieben. Die Knochen befanden sich alle am rechten Platz, und keine Stelle war besonders druckempfindlich. »Ein oder zwei Tage Ruhe, dann ist er wieder völlig in Ordnung. Bis dahin solltest du ihn kühlen, wenn er schmerzt, bewegen schadet auch nichts, nur belasten solltest du ihn möglichst wenig.«

»Bewegen? Wirklich?«

»Muss nicht sein, aber ja. Leicht kreisen, auf- und abwippen …«

Da schleppte Rachel den Eimer heran. »Frisch aus dem Brunnen.«

Frantz ließ den Fuß hineingleiten.

Rosenberg japste. »So kalt!«

»Es wird dir guttun.«

»Hm, ja, ähm, doch.« Leicht bewegte er den Fuß im Eimer. »Schadet wohl nicht. Also, was wolltet Ihr wissen, Meister Frantz?«

»Alles, was du mir über den Lew Juden in Pappenheim sagen kannst.«

Rosenberg kratzte sich die Wange, dann hinterm Ohr. Die Frage schien ihm nicht zu behagen. »Ja, der Lew, dem bin ich zwei Mal in meinem Leben in einer Herberge begegnet. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn sonderlich gut leiden kann, will ihn aber auch nicht schlechtmachen, denn eigentlich kenne ich ihn kaum. Aber jedes Mal hat er mir vorgejammert. Einmal hat er alles doppelt gesehen, aber nur mit dem einen Auge. Ein Jahr später hatte er ein lahmes Bein …?« Forschend sah er Frantz an. Als er nicht gleich ein Urteil dazu abgab, fuhr Rosenberg fort: » Und er hat erzählt, dass er schon mal einen lahmen Arm hatte, aber auf der anderen Seite, also hat ihn wohl nicht der Schlag getroffen.« Rosenberg schüttelte den Kopf. »Der Mann ist wohlhabend, rennt von einem Medicus zum anderen, weil er ständig was anderes hat, aber helfen kann ihm niemand. Mir scheint …« Er räusperte sich, sah verlegen hin und her.

»Sprich es aus, ich tratsche nicht«, versicherte Frantz ihm.

---ENDE DER LESEPROBE---