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Alex Bayne ist ein gescheitertes Experiment. Von seinem eigenen Vater als Versuchsobjekt missbraucht, um genetisch verbesserte Soldaten zu erschaffen, hat er in einem Wutanfall die gesamte Forschungseinrichtung dem Erdboden gleich gemacht und dabei unzählige Menschen getötet. Seither ist er auf der Flucht. Vor dem Militär, das ihren wertvollsten Besitz nicht frei herumlaufen lassen will, aber besonders vor sich selbst, denn Alex hat keine Kontrolle über seine Kräfte. Er weiß nur, dass er sich nicht aufregen darf, weil negative Gefühle das Feuer in ihm wie einen Vulkan ausbrechen lassen. Nur wie soll Alex ruhig bleiben, wenn der einzige Mensch, dem er je vertraut hat, heute wie ein Eremit am Ufer des Lake Vermilion lebt und nichts mehr mit ihm zu tun haben will?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Mathilda Grace
LIEBE IM AUGE DES FEUERS
Liebe im Auge des Feuers
1. Auflage, November 2020
Impressum
© 2020 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2019
Foto: efes; Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Korrektorat: Corina Ponta
Web: www.mathilda-grace.de
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Liebe im Auge des Feuers enthält homoerotische Szenen.
Mathilda Grace
Sci Fi & Romance
Liebe Leserin, Lieber Leser,
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Liebe Grüße
Mathilda Grace
Alex Bayne ist ein gescheitertes Experiment. Von seinem eigenen Vater als Versuchsobjekt missbraucht, um genetisch verbesserte Soldaten zu erschaffen, hat er in einem Wutanfall die gesamte Forschungseinrichtung dem Erdboden gleich gemacht und dabei unzählige Menschen getötet. Seither ist er auf der Flucht. Vor dem Militär, das ihren wertvollsten Besitz nicht frei herumlaufen lassen will, aber besonders vor sich selbst, denn Alex hat keine Kontrolle über seine Kräfte. Er weiß nur, dass er sich nicht aufregen darf, weil negative Gefühle das Feuer in ihm wie einen Vulkan ausbrechen lassen. Nur wie soll Alex ruhig bleiben, wenn der einzige Mensch, dem er je vertraut hat, heute wie ein Eremit am Ufer des Lake Vermilion lebt und nichts mehr mit ihm zu tun haben will?
Prolog
John
Er schien ein netter, aufgeweckter Junge zu sein.
Keine Ahnung, warum er in diesem Krankenhaus festsaß, aber das ging mich auch nichts an. Ich gehörte schließlich nur zur Putztruppe und hatte keine neugierigen Fragen zu stellen.
Das Denken stellte ich deshalb allerdings nicht ein. Ich war nicht mein Boss, dem alles egal war, solange er jeden Monat bezahlt wurde. Das hatte seiner Reinigungsfirma und damit auch mir den Job immerhin eingebracht. Das Militär hatte nach jemandem gesucht, der ohne zu fragen den Dreck wegmachte, und mein Boss war ihnen empfohlen worden.
Ein sehr gutes Geschäft für beide Seiten und somit auch für mich, denn ich brauchte diesen Job dringend, wenn ich meine Spielschulden in der nächsten Zeit loswerden wollte, und das war zu schaffen, denn für unser Schweigen wurden wir mehr als großzügig bezahlt.
Ich musste mich bloß aus allem heraushalten und meinen Job machen, das konnte doch nicht so schwer sein.
Wenn da nur nicht dieser Junge gewesen wäre.
Alex. Er hieß Alex und war zehn Jahre alt.
Das hatte er mir lächelnd erzählt, als wir uns im Flur das erste Mal über den Weg liefen. Was nur ein Versehen war, denn üblicherweise blieben er und die restlichen Patienten immer in ihren Zimmern, wenn wir putzten.
Medizinische Labore, Toiletten und Duschen, Flure, Mensa, Küche, die Treppenhäuser, Vorratsräume – eben alles, wo man jemanden zum Putzen brauchte. Nur ins Kellergeschoss und in die Zimmer der Patienten durften wir nicht.
Und die Patienten durften in den Stunden, während wir da waren, ihre Zimmer nicht verlassen. Das war eine Regel, an die sich beide Seiten hielten, obwohl es mir von Anfang an etwas merkwürdig vorgekommen war, Patienten vor jenen Menschen wegzusperren, die ihren Dreck wegräumten.
Aber gut, da sie es so wollten.
Und wie gesagt, es ging mich im Grunde nichts an.
Alex war diese Regel an dem Tag jedoch egal, im Gegenteil, er war stolz darauf, dass er den Pflegern entwischt war.
Ein ganz normales Kind eben.
Ich gab ihm einen Schokoriegel, weil er Hunger hatte – sein eigentlicher Grund für den unerlaubten Ausflug –, sagte ihm meinen Namen und ging meiner Wege, um meine Arbeit zu erledigen.
Dann habe ich ihn wiedergesehen.
Doch der glückliche, breit grinsende Junge, den ich Wochen zuvor auf dem Flur kennengelernt hatte, war verschwunden. Zurückgeblieben waren tiefblaue Augen voller Angst, in denen eine dermaßen tiefe Resignation stand, dass es wiederum mir Angst machte.
Ich hielt nicht inne, als zwei finster dreinblickende Soldaten in Uniform, mit Gewehren über den Schultern, ihn schweigend an mir vorbeiführten, in Richtung Keller.
An diesen Ort, wo furchtbare Dinge geschahen.
Ich wusste nicht, was sie dort mit den Patienten taten, ich wusste nur, dass sie es taten, und dass alle von uns darüber redeten. Ganz egal, wie viel Geld mein Boss bekam, ganz egal, wie oft er uns sagte, dass es uns nichts anging – fünf Kollegen hatten zu diesem Zeitpunkt schon gekündigt und drei weitere, mich eingeschlossen, standen kurz davor, weil wir kaum noch ertrugen, was wir von dort unten hörten.
Diese Geräusche. Das Stöhnen. Die Schreie.
Unmenschliche Schreie.
Und dazu dieser Geruch nach verbranntem Fleisch, der uns vom Treppenhaus her immer wieder entgegenschlug. Der sich durch jede Tür, jedes Fenster, jede noch so kleine Ritze zog. Er war einfach überall und kaum zu ertragen. Kein Duftspray, kein Lüften, kein Öffnen der Fenster – nichts half.
Jeden Tag wurde es schlimmer.
Jeden Tag duschte ich nach meiner Schicht, trotzdem roch irgendwann sogar meine Bettwäsche danach. Es war ekelhaft und ich wollte mir nicht ausmalen, was sie diesem Kind dort unten antaten. Natürlich tat ich es trotzdem, vor allem seit die Zimmer in den Fluren weniger wurden. Oder besser gesagt, ihre Bewohner wurden immer weniger.
Anfangs waren es dreißig, nummeriert an den Türen.
Dann war plötzlich die erste Nummer durchgestrichen und die Tür zu dem Zimmer stand weit offen.
Ich habe einen Blick riskiert und den Anblick des schmalen, metallenen Bettgestells, der nackten Matratze und der kleinen Nasszelle mit Toilette tagelang nicht aus dem Kopf bekommen.
An dem Tag habe ich begriffen, dass wir kein Krankenhaus putzten, sondern ein Gefängnis.
Dann waren plötzlich nur noch acht Zimmer belegt.
Eines davon gehörte Alex.
Ich habe fast zwei Wochen gebraucht, um herauszufinden, welches seines ist, weil ich nicht erwischt und gefeuert werden wollte. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste es wenigstens versuchen. Ich konnte nicht mehr länger den Kopf in den Sand stecken und wegsehen.
Zu der Zeit waren wir nur noch zu sechst.
Alle anderen Kollegen hatten bereits gekündigt und mein Boss holte keine neuen Leute ins Team. Man hatte uns deshalb bedeutend mehr Zeit für die Reinigung der einzelnen Bereiche zugestanden, und weil ich in jener Woche für die Flure vor den Zimmern zuständig war, war die Gelegenheit günstig.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und tat es.
Zwei Monate ging es gut.
Zwei Monate, in denen ich ihm regelmäßig Briefe unter der Tür hindurchschob und er mir antwortete, indem er seine Nachrichten für mich in eine leere Dose Wandlack legte, die ich in einem Vorratsraum extra dafür deponiert hatte.
Alex Bayne, fast elf Jahre alt und von seinem Vater hierher gebracht, nachdem er dreimal wegen aufmüpfigem Verhaltens von der Schule geflogen war.
Seine Mutter hatte er nie kennengelernt.
Doch anstatt für seinen Sohn da zu sein und ihm zu helfen, hatte Major Christopher Bayne, der militärische Leiter dieser Horroranlage, kurzerhand beschlossen, aus seinem eigenen Sohn ein Forschungsobjekt zu machen.
Ich habe Alex nicht geglaubt, als er mir das schrieb.
Ich dachte, er hätte eine blühende Fantasie.
Bis mir die Schreie aus dem Keller wieder einfielen.
Bis mir der Geruch wieder in die Nase stieg.
Ich wollte helfen und ihn hier rausholen.
Irgendwie.
Aber ich war noch nie ein mutiger Mensch.
Und als ein Soldat auf der Suche nach einem Mopp zufällig unsere Dose umstieß, war ich am nächsten Tag meinen Job los und nahm das Schweigegeld, das sie mir anboten, damit ich auch in Zukunft weiter den Mund hielt, weil sie mich sonst für immer begraben hätten.
Und das war´s.
Ich ging fort, ohne zurückzublicken.
Ich bezahlte meine Schulden, kündigte meine Wohnung auf und nahm den nächsten Zug raus aus der Stadt.
Er brachte mich hoch nach Minnesota und der Bundesstaat war so gut wie jeder andere, darum tat ich das, was ich bereits seit jeher hatte tun wollen – mir ein kleines Häuschen an einem ruhigen See kaufen und dort mein Leben leben.
Zehn Jahre ist das jetzt her, doch ich kann nicht vergessen, was ich an diesem furchtbaren Ort über Monate hinweg gehört und vor allem gerochen habe.
Ich kann nicht vergessen, dass ich mich wie ein Verbrecher für mein Wegsehen bezahlen ließ, und dass für all das, was mir heute gehört, Menschen mit ihrem Leben bezahlt haben.
Ich kann nicht vergessen, dass ich lieber schwieg, als etwas zu tun. Dass ich zu feige war, Hilfe für diejenigen zu besorgen, die noch Nummern an den Zimmertüren hatten.
Ich kann nicht vergessen, dass ich Alex im Stich ließ.
Kapitel 1
Alex
Sie sind tot.
Jeder einzelne von ihnen.
Ich habe alle umgebracht. Eingeäschert.
Sie sind von dieser Welt verschwunden, als hätten sie nie in ihr existiert, und sie haben all ihre Dateien, ihre Computer, ihr Wissen, ihre Forschungen, ihre Labore und ihre widerwärtigen Gerätschaften und Folterinstrumente – einfach alles haben sie mit in ihren Tod genommen, denn ich habe nichts von ihnen übrig gelassen, nur einen dicken Ascheregen, der tagelang vom Himmel fiel und überall im ganzen Land das Topthema in den Nachrichten war.
Ein Wetterphänomen, sagen die einen.
Eine Verschwörung der Regierung, sagen die anderen.
Niemand weiß es wirklich, denn niemand war dort.
Außer mir.
Und niemand wird wohl je wieder dorthin gelangen, denn das Militär hat das gesamte Gelände weiträumig gesperrt und untersucht den Vorfall. So nennen sie es jedenfalls offiziell und weitere Informationen werden nicht herausgegeben. Weder an die Presse noch sonst jemanden, was gut für mich ist, denn die Chance, ihnen zu entkommen, steigt mit jedem neuen Tag, an dem kein Bild von mir in den Nachrichten auftaucht.
Ich weiß nicht mal, ob es überhaupt eins gibt.
Ich weiß nicht, ob mein Vater außerhalb seiner Anlage von mir Bilder oder Unterlagen aufbewahrte.
Ich weiß nicht, ob er mich jemals geliebt oder in mir bloß einen nervenden Störenfried und später das vielversprechende Objekt seiner Forschungen gesehen hat.
Ich weiß nur, dass ich bei Tante Alice gelebt habe, bis sie an Krebs starb, und dass ich es total cool fand, als er mich zu sich nahm. Der große Held, von dem Tante Alice mir immer erzählt hat. Keine Ahnung, von wem sie damals geredet hat, denn ein Held war dieser Verrückte, der mich gezeugt hat, keineswegs. Ganz im Gegenteil, er war ein noch viel schlimmeres Monster als ich und diese Wissenschaftler, die aus mir etwas machten, das ich bislang nur aus Büchern und Filmen kannte.
Doch jetzt sind sie alle tot und sie haben es, abgesehen von diesem einen Soldaten, verdient zu sterben.
Er hat versucht, was John damals nicht gelang, und ich bete und hoffe, dass er recht behält. Dass John nicht tot ist, so wie es mein Vater mir erzählt hat. Ich habe ihm nie geglaubt, aber erst vor acht Tagen bekam ich endlich einen Beweis in die Hand.
Einen Notizzettel mit einer Adresse und dem Namen einer Kleinstadt in Minnesota.
Dort ist John hingegangen, nachdem sie ihn bezahlt hatten, hat der junge Soldat mir erzählt. Für sein Schweigen. Sie haben seine Angst ausgenutzt, um ihn aus der Forschungseinrichtung zu bekommen, und so wütend, wie ich zuerst darüber war, so sehr verstehe ich jetzt, dass er vor der Wahrheit geflohen ist.
Denn ich bin eine abartige Kreatur geworden und ich habe, obwohl ich es gar nicht wollte, den einzigen Mann getötet, der wirklich versucht hat, mir zu helfen.
Aus Wut über die vielen Lügen meines Vaters ist das Feuer in mir schließlich ausgebrochen.
Was die Tests der Ärzte und die Quälereien der Soldaten in all den Jahren niemals geschafft haben, ist meiner Wut spielend gelungen. Mein Vater wäre begeistert, wäre er noch am Leben. Endlich hätten sie einen Auslöser, um die lodernden Flammen zu entfesseln, die sie zu Asche verbrannt haben. Um sie trauere ich nicht, aber um diesen Soldaten, dessen richtigen Namen ich nicht kenne, weil er sich eingeschleust hatte, um die Wahrheit über die Forschungen meines Vaters ans Licht zu bringen. Aber sie haben ihn ertappt und wollten mich zwingen, ihn als Strafe dafür zu töten.
Stattdessen habe ich alle getötet. Auch ihn.
Aber ich habe wenigstens noch die Information, die er mir gab. Und ich habe das Bargeld, das er mir heimlich zugesteckt hat, denn die kleine Dose, in der ich es in einem Versteck im Spülkasten der Toilette aufbewahrte, hat das Feuer tatsächlich überstanden. Es wird ausreichen, um damit nach Minnesota zu kommen, und wenn der junge Soldat die Wahrheit gesagt hat, dann werde ich John dort finden, denn er ist der Einzige, der mir geblieben ist.
Ich weiß, dass das, was ich vorhabe, vollkommen verrückt ist, denn wir kennen uns im Grunde gar nicht, aber ich hoffe so sehr, dass ich für eine Weile bei ihm bleiben darf, weil es sonst keinen Ort gibt, an den ich gehen könnte.
Es gibt kein Zuhause, das mich Willkommen heißen würde.
Es gibt nichts für mich, nur einen qualvollen Tod, sollte das Militär herausfinden, dass ich nicht mit all den anderen in der Forschungseinrichtung verbrannt bin.
Darum ist John Donahue meine letzte Hoffnung.
Vielleicht kann er mir dabei helfen, diese Wut in mir unter Kontrolle zu halten, damit ich niemals wieder einen Menschen bei lebendigem Leib verbrenne. Verdient oder nicht, was ich in dieser mondlosen Nacht vor über einer Woche getan habe, darf nicht wieder passieren. Nie wieder will ich diese entsetzlichen Schreie hören. Nie wieder will ich dabei zusehen müssen, wie sich Männer und Frauen, vor Schmerzen völlig von Sinnen, auf dem Boden winden, bis aufs Fleisch von Flammen verbrannt, die so glühend heiß wurden, dass sich ihre Körper am Ende in Asche verwandelten, während ich selbst zwar nackt, aber ohne einen Kratzer dem Inferno entkam.
Pyrokinese.
Das haben sie hinter erhobenen Händen geflüstert. Ich war der Dritte, bei dem es funktionierte. Der Dritte von insgesamt dreißig Probanden, der bei den Experimenten nicht starb. Doch während die anderen zwei vor mir sich selbst verbrannten, bei den Versuchen, ihr inneres Feuer zu kontrollieren, habe ich nie die Kontrolle darüber erlangt. Ich konnte es nicht entzünden. Egal, was ich versucht habe, egal, wie sehr ich mich wehrte, als sie schließlich anfingen, mich zu verletzen und zu quälen, um eine Reaktion herauszufordern.
Nichts hat funktioniert.
Bis sie den Soldaten, meinen unbekannten Helfer, ins Labor brachten und mir befahlen, ihn zu töten, sonst würden sie es für mich tun, und zwar auf eine Art und Weise, an die ich mich mein Leben lang in Albträumen erinnern würde.
Und sie hatten recht, denn ich werde mich definitiv für den Rest meines Lebens an das entsetzliche Massaker erinnern, das nach dieser Drohung folgte.
Ich weiß nicht genau, was ich bin.
Ich weiß auch nicht, wie sie dieses, was immer es ist, das da in mir schlummert, aus mir gemacht haben.
Doch eines weiß ich – wenn es unmöglich sein sollte, wenn es keinen Weg gibt, dieses Monster in mir in Schach zu halten, dann muss John dafür sorgen, dass es für immer von der Welt verschwindet, bevor das Feuer in mir erneut ausbricht.
Ich will nie mehr jemanden so grausam sterben sehen.
Und wenn ich das nur erreichen kann, indem mein eigenes Leben ein Ende findet, dann muss es eben so sein.
Kapitel 2
John
Ich habe ein ungutes Gefühl.
Seit ich letzte Woche die erste, große Schlagzeile über einen dicken Ascheregen im nordwestlichen Nebraska gesehen habe, schlafe ich schlecht und blicke mich immer wieder um, sobald ich mich draußen im Garten um mein Gemüse kümmere.
Ausgelöst von einem unerklärlichen Wetterphänomen oder durch von der Regierung in Auftrag gegebene, streng geheime Forschungen, die jetzt natürlich vertuscht werden müssen – je nachdem, auf welchen Sender man schaltet, kann man sich die wildesten Verschwörungstheorien darüber anhören, was den Ascheregen verursacht hat, aber keiner weiß wirklich Bescheid, da das Militär das betreffende Gelände weiträumig abgesperrt hat und sämtliche Informationen unter Verschluss hält.
Und obwohl ich keinerlei Beweise dafür habe, wusste ich vom ersten Augenblick an rein instinktiv, dass es sich um jene Forschungseinrichtung handelt, in der ich damals für ein paar Monate gearbeitet habe.
Dabei hat man das Krankenhaus, oder was auch immer die Armee aus diesem Ort gemacht hat, bislang nicht mal in einem Nebensatz erwähnt. Es geht immer nur um den Ascheregen. In allen Berichten oder Spekulationen. Ich schätze, die Armee hält einen gewaltigen Deckel auf der ganzen Angelegenheit und ich will gar nicht wissen, was das für jene Menschen bedeutet, die dort gearbeitet haben und für ihr Schweigen genauso bezahlt wurden wie ich.
Oh Gott, und ich dachte wirklich, ich hätte das alles hinter mir gelassen.
So viele Jahre habe ich gebraucht, um die Erinnerungen an meine Erlebnisse dort tief in mir zu vergraben, doch auf einmal sind sie wieder voll da und bescheren mir Nacht für Nacht die schlimmsten Albträume von brennenden Kindern mit blauen Augen, die mich wütend ansehen, während eine junge Stimme mir wieder und wieder vorwirft, ich hätte ihn für Geld und ein schönes, bequemes Leben im Stich und damit seinem Schicksal überlassen.
Was ich auch getan habe, daran gibt es nicht das Geringste schönzureden.
Ich habe ein unschuldiges Kind seinem wahnsinnigen Vater und damit dem sicheren Tod überlassen, nur weil ich zu feige war, wenigstens ein einziges Mal in meinem verkorksten Leben das Richtige zu tun.
Zehn Jahre.
Zehn gottverdammte Jahre, die dieser Junge meinetwegen in der Hölle verbracht hat, bis es endlich vorbei war. Ich konnte schon damals kaum mit der Schuld daran leben, und wie ich es heute tun soll, mit dem Wissen, dass das, was letzte Woche in Nebraska passiert ist, so viel schlimmer gewesen sein muss, als das, was ich mir vorgestellt habe – ich weiß es nicht.
Ich kann nur hoffen, dass er im Tod endlich seinen Frieden gefunden hat.
Ein Auto fährt über den Kiesweg, den ich erst vergangenes Jahr erneuert habe, auf mein Haus zu und hält dann auf dem sandigen Vorplatz. Drei Türen klappen und ich höre fröhliches Kinderlachen. Meine ersten Kunden heute und sie kommen, um sich mit saftigen Erdbeeren, würzigen Kräutern, als Bund oder im Topf, und mit knackigem Salat einzudecken.
»Morgen, John.«
Ah, die Wilsons. Ein schwules Paar, das vor vier Jahren ein Mädchen adoptiert hat. Robert ist der einzige Arzt in der Stadt und sein Ehemann Christian hilft im Sommer bei der Ernte auf den umliegenden Feldern der großen Farmen, während er den Rest des Jahres Angel- und Bootstouren auf dem See anbietet. Ihre Tochter Tabita ist dunkelhäutig und wurde anfangs in der Stadt deshalb eine ganze Weile schräg angesehen. Aber das hat sich gegeben, seit Sheriff Drumwell sie vorletzten Sommer auf den Umzugswagen zu den Feierlichkeiten rund um den 4. Juli hat mitfahren lassen.
Und das alles weiß ich, weil Robert und Christian ziemlich gerne erzählen und sich nicht daran stören, dass ich meistens nur mit Nicken und zustimmenden »Hm«-Lauten reagiere. Mit Tabita rede ich hingegen etwas mehr, aber auch bloß, weil die Kleine meinen Obst- und Gemüsegarten liebt und im Sommer regelmäßig mit ihren Vätern hier auftaucht, um Erdbeeren zu pflücken, von denen dann die meisten nicht im mitgebrachten Korb, sondern in ihrem Mund landen.
Dafür ist es in diesem Jahr aber noch zu früh. Das Frühjahr war lange kalt und auch wenn es mittlerweile langsam losgeht, wird es wohl bis Mitte Juni dauern, bis die Erdbeersaison so richtig starten kann.
Außerdem ist Tabita für Gartenarbeit heute Morgen viel zu schick angezogen, erkenne ich bei einem kurzen Seitenblick in Richtung der kleinen Familie. Die Vorschule wartet auf sie und so wie sie lacht und mir winkt, freut sie sich definitiv darauf, dort heute früh wieder hinzugehen.
Ich erwidere ihr Winken und tippe mir danach grüßend an den alten Strohhut, den ich gegen die trotz der frühen Uhrzeit bereits heftig brennende Sonne trage, und deute dann wortlos auf die vielen Kisten mit vorhin geerntetem Obst und Gemüse, die auf einem Regal am Lattenzaun stehen, der meinen Garten umgibt. Direkt bei den Kisten habe ich eine Kasse aufgestellt, in die jeder das Geld für die bestellten Waren legt und sich sein Wechselgeld selbst herausnimmt, denn die Preise stehen gleich auf Kreideschildern bei den Kisten.
Zusätzlich liegen ein Stift und ein Schreibblock neben der Kasse, wo jeder seinen Namen und dazu neue Bestellungen für die nächsten Tage eintragen kann. Ich habe zwar einen uralten Computer und auch Internet, aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich viel damit beschäftigen würde. Und ein Handy habe ich mir gar nicht erst wieder angeschafft, nachdem mein altes kurz nach meinem Einzug den Geist aufgegeben hat. Was sollte ich hier draußen damit anfangen? Ein Funkgerät für den Notfall tut es auch.
Ich widme mich dem Unkraut zwischen meinen Karotten und höre die beiden Männer hinter mir lachen. Sie kennen das schon, da ich nie viel rede, seit ich in diesem kleinen Haus am See lebe, und suchen sich ihre Bestellung heraus. Noch ist es zu früh für größere Ernten, aber verschiedene Kräuter, Kohlrabi, Salat, Radieschen und die ersten Karotten und Erdbeeren gibt es schon, und wenn ich mir meine Tomaten so anschaue, kann ich im Gewächshaus bald mit dem Ernten anfangen.
Vom Putzmann zum Gärtner, das ist mal ein merkwürdiger Karrieresprung. Aber von irgendetwas musste ich ja leben, als das Schweigegeld der Army alle war, und als sich herausstellte, dass ich ein Händchen zum Anbau von Obst und Gemüse und neben meinem Haus einen großen Garten habe, habe ich nicht lange überlegt und mir ein eigenes, kleines Geschäft aufgebaut. Ich habe keinen Laden oder einen Angestellten, dafür reicht es nicht, aber ich kann mittlerweile ganz gut von meinen Ernten leben und das ist alles, worauf es mir ankommt, denn je mehr ich hier selbst anbaue, um seltener muss ich in die Stadt fahren, um einzukaufen.
Ich brauche nur sehr wenig zum Leben und mein jüngster, gefiederter Mitbewohner ist in dieser Hinsicht auch ziemlich genügsam. Ein kleiner Rabe, den ich vor ein paar Wochen bei einem Spaziergang im Wald hinter meinem Haus fand, und da weder ein Nest noch seine Eltern in Sicht waren, habe ich ihn abends schließlich mitgenommen und ziehe ihn seither mit der Hand auf, weil er noch zu jung ist, um sich selbst zu versorgen. Ich hoffe, dass er irgendwann seinen eigenen Weg findet, doch falls nicht, werde ich mich weiter um ihn kümmern.
Alex habe ich im Stich gelassen, bei diesem Raben passiert mir das genauso wenig wie bei den wilden Katzen, die ab und an bei mir reinschauen, sich etwas Milch und Fleisch schnorren und mir dafür Wühlmäuse und anderes Getier aus dem Garten fernhalten.
Tiere sind tolle Begleiter, habe ich festgestellt. Sie reden dir keine Schuldgefühle ein, sie beschweren sich nicht und wenn du ihrer Meinung nach Mist baust, drehen sie dir einfach den Rücken zu und lassen dich stehen. Damit kann ich leben, denn so weiß ich immer, woran ich bin.
Ich wünschte, Menschen wären genauso, aber eigentlich ist es besser so, wie es jetzt ist. Seit damals habe ich mit Menschen nicht mehr viel am Hut und bleibe lieber für mich. Ich kann nie wieder gutmachen, was ich getan habe, weil ich ein feiger Idiot war, der nicht genug Verstand im Kopf hatte, um zu kapieren, dass das Haus am Ende immer gewinnt. Statt also mein Geld für die Zukunft vernünftig zusammenzuhalten, hatte ich mit Mitte Zwanzig schon jede Menge Jobs verloren und einen Berg Spielschulden angehäuft.
Tja, Dummheit wird immer bestraft, wobei in meinem Fall leider Alex der Bestrafte war, denn er ist gestorben, damit ich schuldenfrei hier draußen leben kann.
Scheiße, ich muss wirklich damit aufhören.
Es bringt nichts mehr, mich Tag für Tag deswegen selbst zu verurteilen. Alex ist tot und selbst wenn er das nicht wäre, was hätte ich schon für ihn tun können? Wer hört denn bitteschön auf einen abgehalfterten Typen wie mich? Wäre ich damals zur Polizei gegangen, hätten sie mich mit Sicherheit nur ausgelacht und weggeschickt.
Es ist, wie es eben ist, ganz gleich, wie lange ich mich noch für meine damalige Feigheit schäme.
»Tschüssie, Onkel John.«
Ich muss unwillkürlich schmunzeln und hebe die Hand zu einem kurzen Gruß. Wenig später fährt der Wagen davon und ich bin wieder allein mit meinen umherwirbelnden Gedanken, meinem Garten und dem Unkraut.
Onkel John. Damit hat Tabita im Frühjahr angefangen und ich kann mir lebhaft denken, wer ihr das beigebracht hat. Ihre Väter sind nämlich ziemlich gesellig und obwohl sie mich so akzeptieren, wie ich bin, bedeutet das nicht, dass sie nicht doch gelegentlich versuchen, mir mehr als einen Satz zu entlocken.
Ich glaube, das Paar mag mich. Warum auch immer. Wobei es nicht so ist, dass man mich in der Stadt ablehnen würde, im Gegenteil. Alle waren von Beginn an freundlich und höflich zu mir und haben mich mein Leben leben lassen. Trotzdem ist mir sehr wohl klar, dass ich als seltsamer Sonderling gelte, ich habe schließlich Ohren und weiß diese zu benutzen, wenn ich dann doch mal in die Stadt muss, um Kleidung oder triviale Dinge wie Klopapier zu kaufen.
Alles kann man ja nun mal nicht selbst anbauen oder eben herstellen, und so weit geht meine Liebe zum autarken Leben dann doch nicht, dass ich anfange, mich mit kaltem Wasser aus dem See zu waschen oder mir mit Blättern von umliegenden Büschen den Hintern abzuwischen. Dann hätte ich auch gleich in eine von diesen recht karg ausgestatteten Sommerhütten in den nahen Wäldern ziehen können.
Stattdessen habe ich mich für dieses kleine, aber durchaus feine Blockhaus entschieden, das einem jungen Paar mit zwei Kindern gehört hat, ehe sie in die Großstadt gezogen sind, weil es dort die besseren Schulen gibt. Es ist bereits seit Jahren ans öffentliche Strom- und Wassernetz angeschlossen, daher gibt es auch hier draußen, außerhalb der Stadt, alle wichtigen und alltäglichen Annehmlichkeiten, und für den Notfall stehen ein Generator, genug Benzin für einige Tage, ein Campingkocher und Vorräte in Dosen in meinem Schuppen.
Aber genug davon.
Da wartet noch jede Menge Unkraut in den Beeten darauf, gezupft und auf den Kompost geworfen zu werden, der meine natürliche Düngerquelle ist, weil ich sämtliches Obst und auch das Gemüse ohne giftige Unkrautvernichter züchte. Das macht mir zwar mehr Arbeit, aber ich will einfach nichts mit diesem künstlichen Zeug zu tun haben. Die ganzen Skandale rund um Glyphosat haben mir gereicht. Ständig hört man davon in den Nachrichten – so was will ich nicht in meinen Nahrungsmitteln haben, jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt.
Früher waren mir solche Dinge egal, ich habe gegessen und gekauft, was billig war, aber heute …
Die Begegnung mit Alex, so schlimm sie auch ausging, hat mich verändert, und manchmal frage ich mich, ob es das alles überhaupt wert ist. Vor allem nach einem langen, harten Tag, wenn ich kaum noch kriechen kann, weil ich im nächsten Jahr Vierzig werde und die Arbeit im Garten nun mal keine leichte ist. Vor allem nicht, weil mein Garten größer ist als mein Haus. Aber ich lebe davon, also werde ich weiter schuften, bis meine Knochen mir irgendwann deutlich zu verstehen geben, dass es Zeit ist, mir etwas anderes zu suchen.
Und vielleicht werde ich irgendwann auch dazu bereit sein, mir selbst zu vergeben, was ich getan habe.
Nach einigen Stunden und vier weitere Kunden später, die ihre Bestellungen geholt haben, protestiert mein Rücken wegen der unnatürlichen Haltung so heftig, dass ich mir eine längere Pause zugestehe.
Ich habe großen Durst und etwas zu essen wäre auch nicht schlecht. Ich bin kein Frühstückstyp, das war ich noch nie, aber mittlerweile ist es beinahe 11 Uhr vormittags und ich habe vom Vortag noch einen Rest Gemüseeintopf im Kühlschrank stehen. Dazu schmiere ich mir eine Scheibe frisches, selbst gebackenes Brot mit Butter, gönne mir ein Glas ebenfalls selbst gemachten Eistee und kann mich anschließend um den Rest des Unkrauts kümmern, ehe ich die letzten Kisten ernte, für jene Kunden, die erst abends nach der Arbeit zu mir kommen können.
Unkraut jäten ist eine wirklich leidige, nie enden wollende Arbeit, aber sie muss gemacht werden, wenn ich Ernten haben will. Nach zwei richtig guten Jahren hätte ich nichts gegen ein weiteres gutes Jahr einzuwenden, denn dann könnte ich meine wenigen Rücklagen wieder etwas aufstocken – für den Notfall oder unerwartete Auslagen, wie beispielsweise den Kauf eines neuen Autos, denn mein alter Pick-up wird es nicht mehr lange machen. Aber noch fährt er und ich hoffe, er bringt mich noch durch das laufende Jahr, denn momentan bin ich wirklich nicht in der Stimmung, mehr als unbedingt nötig mit Menschen zu reden. Schon gar nicht mit einem Autoverkäufer.
Vielleicht sollte ich das Angebot von Karl, dem die hiesige Werkstatt gehört, annehmen, der nicht nur alte Autos und alle möglichen technischen Geräte repariert, sondern sie hinterher zu guten Preisen wieder verkauft. Und er hat mich schon mehr als einmal gefragt, ob ich ihm meinen klapprigen Pick-up nicht als Ersatzteillager überlasse, wenn er mir dafür einen anderen Wagen organisiert.
Aber auch das muss warten, denn mein Magen knurrt jetzt immer energischer. Es wird wirklich Zeit für eine Pause.
Mein Gemüsegarten hat zwei Ein- und Ausgänge, und ich nehme den weiter vom Haus weg gelegenen, um einen Blick in die Kasse zu werfen und gleich darauf den Kopf zu schütteln. Sie können es einfach nicht lassen. Es liegen mindestens zehn Dollar zu viel in der Kasse und bis zum Abend werden es noch weitere zehn bis zwanzig Dollar sein, ich weiß schließlich, wer heute noch alles seine Bestellungen holen wird. Allerdings bin ich nicht so verrückt, ihnen noch mal Wechselgeld rausgeben zu wollen. Das habe ich anfangs ein paar Mal versucht, bis mir Patricia Booker, eine rüstige Witwe, die mindestens einmal pro Woche einen Strafzettel kassiert, da sie ständig zu schnell fährt, erbost erklärt hat, ich solle mich besser nicht wagen, die alten Leute in der Stadt weiter gegen mich aufzubringen, in dem ich sie beleidige, weil sie für frisches Obst und Gemüse einen Preis bezahlen, den sie für angemessen halten.
Dass der üblicherweise zwei bis drei Dollar über dem liegt, was ich auf die Kreideschilder schreibe – ohne Worte.
Ich stutze irritiert.
Am anderen Ende des Regals liegt ein flacher, dunkelroter Stein, der heute früh definitiv noch nicht da war. Nanu? Als ich näher herangehe, weiten sich meine Augen verblüfft. Der Stein ist tatsächlich ein Stein, aber offensichtlich soll er ein Geschenk für mich sein, weil Tabita ihn bemalt hat. In rot, schwarz und weiß. Ein Marienkäfer.
Diese Kleine ist unmöglich. Trotzdem zupft ein Lächeln an meinen Mundwinkeln, als ich den Stein nehme und mit einem Finger über die Punkte auf den Flügeln streiche, bevor ich ihn schnell in der Hosentasche verschwinden lasse, weil plötzlich ein SUV auf den Weg zu mir einbiegt.
Das Gesicht des Fahrers entlockt mir ein Seufzen. Er ist viel zu früh, ich habe die Gemüsebestellung seiner Frau noch nicht geerntet, aber das hat Sheriff Sam Drumwell noch nie davon abgehalten in seiner Stadt und natürlich auch außerhalb nach dem Rechten zu sehen. Was für ihn heißt, dass er einmal jede Woche alle Grundstücke und die kleinen und größeren Farmen in der näheren Umgebung abfährt, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung ist.
Die Bewohner lieben ihn dafür, weil er sich kümmert, wenn Hilfe gebraucht wird, deswegen ist der Mann auch schon eine halbe Ewigkeit Sheriff und das wird wahrscheinlich so bleiben, bis er irgendwann tot vom Stuhl fällt.
Ich wünschte, er würde den Besuch bei mir wenigstens alle paar Wochen mal vergessen, denn Drumwell sieht zu viel, was sein Job natürlich so mit sich bringt, aber für mich bedeutet das jedes Mal Schwerstarbeit, da der Mann sturer ist als ein Ochse und einfach so lange wartet, bis ich die Fragen nach meinem Befinden beantworte. Und er akzeptiert dabei leider weder ein Nicken noch mein maulfaules »Hm.«, weil er der Meinung ist, ich würde, käme er nicht wöchentlich vorbei, eines Tages völlig das Reden verlernen.
Als würde das irgendwen hier stören. Also abgesehen von Sheriff Drumwell natürlich, der jetzt aus seinem Wagen steigt, sich seinen Hut aufsetzt und mit lässigen Schritten den Weg zu mir herüberkommt.
»Morgen, John. Gute Ernte heute?«
Ich nicke und er stützt sich mit einem behaglichen Seufzen auf dem Zaun ab. Danach schweigt Drumwell, was mich nicht weiter stört, während ich die vorhin geernteten Radieschen auf die vorbereiteten Kisten für heute Abend verteile. Das wollte ich zwar erst nach dem Essen machen, aber nun ja.
»Trisha kommt später vorbei, bringt dir drei Pakete Eier mit und holt ihre Bestellung ab. Sie bat mich, dir auszurichten, falls du noch ein oder zwei Schälchen Erdbeeren übrig hast ...«
Er lässt den Satz unbeendet und wieder nicke ich, denn das müsste gehen. Sie hat Salat, Kohlrabi und Möhren bestellt, eine Schale Erdbeeren bekomme ich in ihrer Kiste problemlos noch unter. Vielleicht auch zwei, je nachdem, wie viele ich im Laufe des Nachmittags noch frisch ernten kann.
Hoffentlich fängt sie nachher nicht wieder eine Diskussion wegen der Eier an, denn mit der Frau kann man einfach nicht vernünftig diskutieren. Trisha Drumwell züchtet Gänse, Enten und Kaninchen, und ist damit mein Eier- und Fleischlieferant Nummer eins. Allerdings ist ihr Geschäft bedeutend größer als meins, weswegen sie sich auch standhaft weigert, von mir Geld zu nehmen, aber trotzdem immer ihr Gemüse bezahlt.
»Sie hat übrigens nicht vor, für die Eier Geld zu nehmen.«
Ich stöhne unwillkürlich und Drumwell lacht dröhnend.
»Ja, das dachte ich mir schon. Gewöhn dich einfach daran, sie wird sich nicht ändern. Außerdem weiß sie, dass du immer viel zu viel in ihre Kiste packst, um eure unendliche Geschichte wegen der Eier etwas auszugleichen.«
Mein frustriertes Schnauben lässt ihn albern kichern. Diese Frau ist genauso unmöglich wie die kleine Tabita, nur dass sie dabei viel mehr redet. Leider.
»Genau so hat sie auch reagiert, als ich ihr beim Frühstück vorschlug, dich in Zukunft einfach die Eier bezahlen zu lassen. Laut Trisha kannst du froh sein, dass du dein Fleisch bezahlen darfst. Meine Frau hat eindeutig einen Narren an dir gefressen und das würde mir vermutlich sehr zu denken geben, wenn sie nicht so verrückt nach mir wäre.«
Bitte? Ich sehe verdattert zu Drumwell, der erneut loslacht, bevor er zu mir kommt, mir kumpelhaft auf die Schulter klopft und sich danach grüßend an den Hut tippt.
»Guter Mann. Ich fahre weiter. Melde dich, falls irgendwas sein sollte.«
Der dezent beunruhigte Tonfall in seiner Stimme lässt mich die Stirn runzeln. Was soll denn hier schon passieren? Wir sind in Minnesota, noch dazu am sprichwörtlichen Arsch der Welt. Um uns herum gibt es doch nur Farmen, gewaltige Felder mit Mais und Erbsen und dazu jede Menge Wald und Wasser. Die Gefahr eines Abends von einem irren Axtmörder überfallen zu werden, dürfte also gering sein.
»Muss ich mein Gewehr aus dem Schrank holen?«, will ich wissen und Drumwell zuckt genauso zusammen wie ich selbst, weil meine Stimme ziemlich kratzig klingt. Ich sollte dringend etwas trinken … und in Zukunft möglicherweise ein bisschen mehr reden.
Drumwell schürzt überlegend die Lippen, während er mich mustert. »Nein. Aber halt deine Augen offen. Ich habe mehrere Anrufe wegen eines Landstreichers bekommen, der sich schon eine Weile in der Gegend herumtreiben soll. Vorrangig in der Nähe deines Grundstücks. Das muss nichts heißen, hier gibt es dichten Wald und einige Sommerhütten, vielleicht versteckt er sich in einer von ihnen, weil er nicht weiß, wo er sonst hin soll. Aber man kann nie wissen … Wie gesagt, wenn dir irgendwas komisches auffällt, ruf mich an.«
Ich nicke stumm, dabei wissen wir beide ganz genau, dass das niemals passieren wird.
Ich brauche keine Hilfe. Von niemandem.
Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt.
Kapitel 3
Alex
Was soll ich ihm bloß sagen?
Seit zwei Tagen schleiche ich jetzt bereits um sein hübsches Grundstück herum, beobachte ihn tagsüber bei den Arbeiten in seinem Garten und abends, wenn er, ein Bier in der Hand, auf der großen, überdachten Veranda vor seinem Haus sitzt, den Blick auf den See gerichtet und mit seinen Gedanken offenbar meilenweit weg.
Natürlich halte ich immer gebührenden Abstand, weil ich Angst habe, mich ihm zu zeigen, was mich gestern beinahe ins Grab brachte, als ich nachdenklich die schmale Straße in die kleine Stadt entlanglief, die einzige Ortschaft in der Nähe, und dabei fast von einer alten Dame überfahren worden wäre, die diese Straße scheinbar für eine Rennstrecke hält. Sie hat sofort angehalten und nach mir gerufen, aber ich blieb in Deckung, wo ich sicherer war. Sie mag zwar nur eine alte Frau sein, aber davon gab es im Labor auch einige und die waren alles andere als harmlos.
Mich schaudert prompt bei der Erinnerung daran, was man dort mit mir gemacht hat, und ich atme mehrmals tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Ruhe. Stille. Ich lausche auf die Geräusche der Natur – das Rascheln der Bäume im Wind, das Zwitschern der Vögel und in der Ferne plätschert Wasser. Ich muss ruhig bleiben. Immer. Und falls ich das nicht kann, muss ich Angst haben. Angst unterdrückt das Feuer. Zumindest hat es das bisher getan, und ich bete und hoffe, dass es so bleibt, denn ich habe Angst. So große Angst. Vor dem, was ich schon bald tun muss, denn ich habe mein letztes Geld gestern in eine Flasche Wasser in der Stadt investiert. Gegessen habe ich nichts mehr, seit ich in Minneapolis in den letzten Bus stieg, der mich schließlich hierher brachte.
Ich habe unglaublichen Hunger, doch ich kenne mich mit der Natur überhaupt nicht aus und weiß nicht, was man ohne Gefahr im Wald essen kann. Und ich habe Durst. Es wird jeden Tag heißer draußen und das Wasser vom See schmeckt seltsam. Gestern habe ich an einem kleinen Bachlauf übernachtet, damit ich wenigstens meine Kleidung waschen konnte. Aber auch an das Wasser habe ich mich nicht herangetraut.
Ich bin vielleicht erwachsen, aber ich weiß fast nichts über das wirkliche Leben in Freiheit. Das kommt davon, wenn man mehr als zehn Jahre ein geheimes Labor sein Zuhause nennen muss und dort kaum das Tageslicht sieht.
Vielleicht kann ich etwas von dem Gemüse essen, das er in seinem Garten anbaut. Wenn ich nachts dorthin gehe … Wenn er schläft … Es könnte klappen.
Ich will John nicht erschrecken, doch mein Magen schmerzt bereits vor Hunger und er verkauft das Gemüse an Leute, die bei ihm vorbeischauen. Man kann es also gefahrlos essen. Und ich muss wirklich bald etwas essen, das weiß ich. Sie haben im Labor immer gesagt, dass essen und trinken Menschen kräftig und gesund hält, und er hat diesen Schlauch am Schuppen, mit dem er sein Gemüse wässert. Kaltes, klares Wasser, das man auch trinken kann, denn er hat heute früh ebenfalls direkt am Schlauch getrunken.
Ich muss es einfach versuchen.
Heute Nacht, sobald das Licht im Haus ausgeht.
Diese Erdbeeren sind wirklich köstlich.
Süß, saftig und dermaßen groß, wie ich noch nie im Leben welche gesehen, geschweige denn gegessen habe. Dabei haben sie mir in der Forschungseinrichtung immer recht gutes Essen gegeben, oft auch mit Gemüse oder frischem Obst, aber solche leckeren Erdbeeren gab es in all den Jahren nie.
Hoffentlich habe ich nicht zu viele kaputt getreten, als ich über den Zaun in den Garten geklettert bin, aber hier draußen gibt es, abgesehen von Solarleuchten an den Wegen und rund um das Haus herum, kein Licht und der fehlende Mond macht mir die Orientierung noch viel schwieriger. Ich muss mich mit vorsichtigen Schritten vortasten und meine Erinnerung an den Garten aus der Ferne nutzen, mehr habe ich leider nicht. Aber sie hat gereicht, um die Erdbeeren zu finden, und ich hoffe, ich kann mir auch noch etwas Gemüse holen, ehe ich zurück in den Wald flüchte, um …
Ein Klicken links von mir lässt mich abrupt erstarren.
Ich kenne diese Art von Geräusch nur zu gut aus meinem jahrelangen Gefängnis, denn die Wachen dort hatten Gewehre und sie haben sie oft genug entsichert und auf mich gerichtet. Anfangs nur aus Spaß, um mir Angst zu machen, wenn ich mal wieder aus meinem Zimmer ausgebüxt war, aber später wurde aus dem einst kindlichen Spaß für mich der pure Ernst und ich greife mir automatisch an den linken Oberarm, wo mich eine kleine, runde Narbe für immer an die Kugel erinnern wird, die meinen Arm durchschlagen hat, um mich dazu zu bringen, die lebensgroße Puppe in ein Häufchen Asche zu verwandeln, die sie an jenem Tag in einem Versuchsraum einige Meter vor mir aufgebaut hatten.
Es hat nicht funktioniert, weil ich vor lauter Tränen und der Angst um mein Leben überhaupt nicht fähig war, irgendetwas anderes zu tun als zu weinen, da ich nie gedacht hatte, dass die Soldaten tatsächlich auf mich schießen würden, immerhin war ich doch nur ein vierzehnjähriger Junge, der kaum begriff, was man mit ihm anstellte, sondern der bloß wusste, dass er diese langen Nadeln, mit denen die Wissenschaftler ihn Tag für Tag stachen, mittlerweile genauso sehr hasste, wie die unzähligen, anderen Tests, die ihm am Ende nur wieder starke Schmerzen und sonst nichts einbrachten.
Und wenn John auf mich schießt, wird das neue Schmerzen bedeuten. Große Schmerzen. Ich schaudere unwillkürlich und hebe die Arme. »Bitte nicht schießen.«
»Dir ist klar, dass das Diebstahl ist, oder?«
Oh Gott, es ist so schön, seine Stimme zu hören, auch wenn sie anders klingt als damals. Trotzdem, er ist es, und ich würde ihm so gern sagen, wer ich bin und ihm in die Arme fallen, um ihm zu sagen, dass ich ihm verzeihe und nicht mehr sauer auf ihn bin, weil er damals fortgegangen ist. Stattdessen verharre ich an Ort und Stelle, als wäre ich festgefroren, während mein Magen auf einmal erbärmlich knurrt.
»Wann hast du zuletzt etwas gegessen?«, fragt er, weil ihm das Geräusch nicht entgangen ist, doch über seine Frage muss ich erst mal nachdenken, was mir, so peinlich mir das auch ist, von Tag zu Tag schwerer fällt.
»Vier Tage, glaube ich. Ich bin nicht ganz sicher.«
»Getrunken?«
Ich deute schweigend zu seinem Wasserschlauch, denn das war das Erste, das ich getan habe, als ich den hüfthohen Zaun überwunden hatte. John seufzt in der Dunkelheit und ich fange an zu zittern, da mir plötzlich ganz kalt ist, dabei ist die Nacht nicht wirklich kalt. Es ist die Angst, die mich zittern lässt, wie so oft. Mein Vater hat mich in den Laboren zuletzt öfters einen Jammerlappen und weinerlich genannt, aber da ich der Einzige war, bei dem seine Experimente schlussendlich so anschlugen, wie er sich das von Anfang an erhofft hatte, musste er sich mit mir zufriedengeben. Mit der B-Ware, wie er einmal abfällig zu einem Arzt sagte, als er dachte, ich wäre ohnmächtig, nachdem sie eine Ewigkeit eiskaltes Wasser auf einen Lappen gegossen hatten, der über meinem Gesicht gelegen hatte. An jenem Tag hatte ich das erste Mal wirklich Angst um mein Leben, doch es blieb leider nicht der letzte.
»Dreh dich um.«
Ich tue, was John sagt und stolpere vor Eile fast über meine eigenen Füße. Als ich mich endlich wieder gefangen habe, hält er mir den Lauf seines Gewehrs direkt vor die Nase. Vor lauter Angst, dass er doch noch schießt, halte ich so still wie möglich, während John nach etwas tastet, das er offenbar in seiner Hose bei sich trägt. Dann geht auf einmal ein grelles Licht an und ich muss heftig blinzeln. Eine Taschenlampe, wird mir dann klar.
»Wie alt bist du?« John schnaubt, als ich es ihm sage. »Red keinen Quatsch, Kleiner. Du siehst aus wie zwölf.«
Das weiß ich selbst, immerhin hatte ich so einige Probleme, mir die Bustickets hierher zu kaufen, weil man mich ständig für zu jung hielt. Ich bin zu klein für mein Alter, im Moment auch viel zu dünn und habe zudem keinerlei Papiere, um mich irgendwie auszuweisen. Es ist alles verbrannt.
In den Laboren sagten sie immer, ich käme körperlich nach meiner Mutter, aber da ich sie nicht kenne, kann ich das nicht beurteilen. Mein Vater hat nicht viel über sie erzählt, nur dass sie gute Gene hatte, so wie er, und dass er sie deswegen für ein Kind ausgesucht hat.
---ENDE DER LESEPROBE---