Liebesmärchen in New York - Nora Roberts - E-Book

Liebesmärchen in New York E-Book

Nora Roberts

4,5
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Letzte, was die alleinerziehende Hester braucht, ist jemand, der ihren sorgsam geplanten Alltag durcheinanderbringt. Doch zwei Männer sehen das anders: Ihr kleiner Sohn Radley wünscht sich nichts sehnlicher als einen Vater. Und ihr neuer Nachbar Mitch setzt mit unwiderstehlich jungenhaftem Charme alles daran, ihr das Leben von einer neuen, höchst verführerischen Seite zu zeigen. Dass er ein Künstler ist, der Comics zeichnet und sich nicht unnötig große Sorgen um das Morgen macht, verzaubert Radleys Herz schnell. Aber auch Hesters?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 279

Bewertungen
4,5 (34 Bewertungen)
23
5
6
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nora Roberts

Liebesmärchen in New York

Roman

Aus dem Amerikanischen von Melanie Lärke

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe Local Heroist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH & Co. KG, Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von ThinkstockSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12117-4V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-robert

1. KAPITEL

Zark holte tief Luft. Er wusste, dass es vielleicht sein letzter Atemzug war. Der Sauerstoff im Raumschiff ging zu Ende, und es blieb ihm kaum noch Zeit. Sekundenschnell lief sein Leben in der Erinnerung wie ein Film ab. Er war dankbar, dass er alleine war und niemand an den erlebten Freuden und Leiden teilnehmen konnte.

Leilah, immer wieder Leilah. Bei jedem der mühsamen Atemzüge sah er ihr Bild vor sich. Ihre klaren blauen Augen, das goldene Haar seiner einzig geliebten Frau. Als das Warnsignal im Cockpit losschrillte, glaubte er Leilahs Lachen zu hören. Erstaunt, süß, dann spöttisch.

»Bei der roten Sonne! Wie glücklich wir zusammen waren!« Keuchend stieß er die Worte hervor, während er über den Boden auf seinen Kommandostand zukroch. »Liebende, Partner, Freunde.« Der Schmerz in seiner Lunge wurde unerträglich. Es stach wie Messer mit scharfen Spitzen. Er verbot es sich, noch mehr Sauerstoff mit nutzlosem Reden zu verschwenden. Aber seine Gedanken … seine Gedanken waren selbst jetzt noch bei Leilah.

Dass sie, die einzige Frau, die er je geliebt hatte, die Ursache seiner Vernichtung sein sollte! Dass sie schuld sein sollte an seinem Untergang und dem Untergang der jetzigen Welt.

Welch teuflisches Geschick, dass sich die leidenschaftliche Wissenschaftlerin in eine Kraft des Bösen verwandelt hatte.

Jetzt war sie seine Feindin. Leilah, die einst seine Frau gewesen war. Sie ist es sogar immer noch, berichtigte Zark sich in Gedanken, während er sich mühsam am Schaltpult hochzog. Wenn es ihm gelang, am Leben zu bleiben und Leilahs Plan, die Zivilisation zu vernichten, zu vereiteln, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu verfolgen. Er musste sie töten. Wenn er die nötige Kraft dazu aufbrachte.

Commander Zark, Verteidiger des Universums, Herrscher über Perth, Held und Ehemann, drückte mit zitternder Hand auf einen Knopf …

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe!

»Verdammt!«, murmelte Radley Wallace vor sich hin und sah sogleich verstohlen über die Schulter, um festzustellen, ob seine Mutter das Fluchen mitbekommen hätte. Neuerdings fluchte er gelegentlich – aber meist nur leise, da seine Mutter es nicht hören sollte.

Die war jedoch vollauf damit beschäftigt, die ersten Umzugskartons auszupacken. Red hatte den Auftrag bekommen, seine eigenen Bücher einzuräumen, hatte jedoch beschlossen, zunächst einmal eine Pause einzulegen. Er liebte Pausen, besonders wenn er währenddessen Comics von Commander Zark lesen konnte. Seiner Mutter wäre es zwar lieber gewesen, er hätte sich mit richtigen Büchern beschäftigt, aber da es darin kaum Bilder zu sehen gab, zog Radley Comics vor. Und seiner Meinung nach war Commander Zark einem John Silver oder einem Huckleberry Finn haushoch überlegen.

Radley rollte sich auf den Rücken und starrte gegen die frisch gestrichene Decke seines Zimmers. Die neue Wohnung gefiel ihm, am meisten der Blick auf den Park. Und der Aufzug natürlich. Auf die neue Schule jedoch, die er ab Montag besuchen sollte, freute er sich überhaupt nicht.

Mom meinte zwar, die Schule sei gut, er würde bald neue Freunde kennenlernen, und außerdem könne er die alten immer noch besuchen, aber Mom brauchte sich ja nicht von allen Kindern anstarren zu lassen. Sie hatte auch gemeint, er solle am ersten Schultag den neuen Pulli anziehen, da dessen Farbe so gut zu seinen Augen passe. Aber Radley wollte lieber eins von seinen alten Sweatshirts anziehen, damit er sich wenigstens in seinen Sachen zu Hause fühlte. Mom wird das verstehen, sagte er sich. Sie versteht alles.

Er kuschelte den Kopf tiefer in sein Kissen und wünschte, sie wäre nicht länger traurig darüber, dass sein Vater weggegangen war. Das lag inzwischen schon lange zurück, und Radley konnte sich kaum noch vorstellen, wie sein Dad ausgesehen hatte. Er kam nie zu Besuch und rief nur ein paarmal im Jahr an. Radley fand das ganz in Ordnung, und er hätte es gern seiner Mutter gesagt, fürchtete aber, sie würde sich aufregen und wieder anfangen zu weinen.

Er brauchte eigentlich keinen Vater, solange er Mom hatte. Einmal hatte er ihr das gesagt, und sie hatte ihn so fest an sich gedrückt, dass er fast keine Luft mehr bekommen hatte. In der Nacht darauf hatte sie jedoch geweint. Deshalb sagte er es ihr lieber nicht noch einmal.

Mit der Weisheit seiner neun Jahre fand Radley die Erwachsenen im Allgemeinen komisch. Aber seine Mom war große Klasse. Sie schrie ihn fast nie an, und wenn es doch einmal vorkam, dann tat es ihr immer hinterher leid. Und sie war hübsch. Radley lächelte. Ihm fielen die Augen zu, und er dachte, dass selbst Prinzessin Leilah nicht hübscher sein könne als sie. Obgleich Moms Haare braun waren anstatt golden und ihre Augen grau statt kobaltblau.

Sie hatte ihm versprochen, zum Abendbrot eine Pizza kommen zu lassen, um den Umzug in die neue Wohnung zu feiern, und Radley liebte Pizza. Fast so sehr wie Commander Zark.

Er schlief zufrieden lächelnd ein und rettete im Traum gemeinsam mit Zark das Universum.

Als Hester ein wenig später nach ihm sah, fand sie ihren Sohn schlafend auf dem Bett. In der Hand hielt er einen Comic, während seine übrigen Bücher immer noch im Umzugskarton lagen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie sich vorgenommen, ihm nach dem Aufwachen eine milde Strafpredigt über Verantwortungsbewusstsein zu halten, aber an diesem Tag war ihr nicht danach zumute. Trotz der Stapel unausgepackter Kartons, die noch zu bewältigen waren, setzte sie sich zu ihm aufs Bett und betrachtete ihn.

Er ähnelte seinem Vater sehr. Das dunkelblonde Haar, die dunklen Augen, das markante Kinn. In letzter Zeit kam es nur noch selten vor, dass sie ihren Sohn ansah und dabei an den Mann dachte, mit dem sie einmal verheiratet gewesen war. Aber an diesem Tag war es anders. Dieser Tag war ein neuer Anfang für sie beide, und der neue Anfang erinnerte sie an die Vergangenheit.

Mehr als sechs Jahre ist es jetzt her, dachte sie und wunderte sich ein bisschen darüber, wie schnell die Zeit vergangen war. Radley hatte gerade angefangen zu laufen, als Allan sie verlassen hatte, weil er die vielen Rechnungen, seine Familie und insbesondere seine Frau sattgehabt hatte. Es hatte lange gedauert, bis sie ohne Schmerz daran zurückdenken konnte, aber sie würde Allan nie verzeihen, dass er es fertiggebracht hatte, seinen Sohn zu verlassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Glücklicherweise hatte zwischen Radley und seinem Vater keine enge Verbindung bestanden. Dennoch fragte sie sich manchmal, ob ihr Sohn nicht insgeheim unter der Trennung litt. Doch als sie ihn so betrachtete, hielt sie es kaum für möglich. Sie strich ihm übers Haar und sah durch das Fenster seines Schlafzimmers auf den Central Park. Radley war ein fröhliches, offenes und begabtes Kind. Um ihm innere Konflikte zu ersparen, hatte sie nie schlecht von seinem Vater gesprochen, obgleich es besonders in den letzten Jahren Zeiten gegeben hatte, in denen es ihr schwergefallen war, sich Bitterkeit und Zorn nicht anmerken zu lassen. Sie hatte versucht, ihm Mutter und Vater zugleich zu sein, und glaubte, dass ihr das im Großen und Ganzen auch gelungen war.

Sie hatte Bücher über Baseball gelesen, um mit Radley darüber reden zu können, hatte ihm das Radfahren beigebracht, und sie kannte natürlich auch Commander Zark. Hester lächelte und nahm ihm das Comicheft aus der Hand. Bisher war es ihr nicht gelungen, Commander Zark durch Dickens oder Twain abzulösen.

»Aber du hast ja noch viel Zeit«, murmelte sie, während sie sich neben ihrem Sohn ausstreckte, »Zeit genug für gute Bücher und das wirkliche Leben. O Radley, hoffentlich habe ich alles richtig gemacht.«

Sie schloss die Augen und wünschte, es gäbe jemanden, mit dem sie reden könnte, jemanden, der ihr hin und wieder einen Rat geben und bei Entscheidungen helfen würde.

Dann schlief auch sie ein.

Als Hester zerschlagen und von der neuen Umgebung verwirrt aufwachte, war es dämmrig geworden. Das Erste, was sie bemerkte, war, dass Radley nicht mehr neben ihr lag. Sogleich war sie hellwach. Sie spürte Panik in sich aufsteigen. Das war völlig unangebracht, weil sie wusste, dass Radley nie ohne ihre Erlaubnis die Wohnung verlassen würde. Er war zwar kein Kind, das blind gehorchte, respektierte aber die Regeln, die ihr am Herzen lagen. Sie stand auf, um nach ihm zu sehen.

»Hallo, Mom.« Radley war in der Küche und hielt ein Sandwich in der Hand, aus dem Erdnussbutter und Marmelade hervorquollen.

»Ich dachte, du wolltest Pizza essen«, sagte sie mit einem Blick auf einen Klecks heruntergetropfter Konfitüre.

»Will ich auch.« Er biss in sein Brot. »Aber ich brauchte unbedingt jetzt schon mal was vorweg.«

»Sprich nicht mit vollem Mund«, ermahnte Hester, wobei sie sich zu ihm hinunterbeugte, um ihn zu küssen. »Du hättest mich doch wecken können, wenn du Hunger hattest.«

»Ich kann mir schon alleine was machen. Nur die Gläser habe ich nicht gefunden.«

Hester sah sich um und bemerkte, dass Red zwei Kartons geleert hatte. Sie sagte sich, sie hätte zuerst die Küche einräumen sollen. »Na, das werden wir gleich haben.«

»Als ich wach geworden bin, hat es geschneit.«

»Wirklich?« Hester strich sich das Haar aus dem Gesicht und ging zum Fenster, um selbst nachzusehen. »Es schneit immer noch.«

»Vielleicht haben wir bald zwei Meter Schnee und die Schule fällt Montag aus.« Radley stieg auf einen Stuhl und setzte sich auf die Arbeitsplatte.

Und ich brauche meinen neuen Job noch nicht anzutreten, dachte Hester sehnsüchtig. Kein neuer Stress, keine neue Verantwortung. »Ich glaube, da haben wir keine großen Chancen.« Während sie Gläser auswusch, warf sie einen Blick über die Schulter. »Du hast doch keine Angst vor der neuen Schule?«

»Ein bisschen schon.« Er zuckte die Schultern. Bis Montag kann noch viel dazwischenkommen, dachte er. Ein Erdbeben. Ein Schneesturm. Ein Angriff aus dem All …

»Ich könnte mit dir gehen, wenn du möchtest.«

»Ach Mom, die anderen Kinder würden mich doch auslachen.« Er biss von seinem Sandwich ab. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Zumindest ist die blöde Angela Wiseberry nicht in meiner Klasse.«

Hester brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass es in jeder Schule eine blöde Angela Wiseberry gab. »Weißt du was? Wir treten am Montag beide unseren neuen Job an und treffen uns danach um Punkt sechzehn Uhr hier zum Rapport.«

Sofort erhellte sich sein Gesicht. Er liebte nichts mehr als militärische Aktionen. »Aye, aye, Sir.«

»Gut. Dann bestelle ich uns jetzt die Pizza, und während wir warten, räumen wir den Rest des Geschirrs in die Schränke.«

Mitchell Dempsey saß vor seinem Zeichenbrett und wartete auf eine Idee. Er nippte an seinem kalten Kaffee in der Hoffnung, der Kaffee würde seine Fantasie beflügeln, aber sein Kopf blieb so leer wie das Blatt, das vor ihm lag. Derartiges passierte ihm selten und schon gar nicht so kurz vor dem letzten Abgabetermin. Mitch knackte eine Erdnuss und schnippte die Schale in Richtung Papierkorb. Sie fiel prompt daneben und gesellte sich zu den anderen, die schon auf dem Boden lagen. Normalerweise schrieb Mitch zuerst die Story und machte dann die Illustrationen. Diesmal versuchte er es andersherum, um möglicherweise durch die Änderung der Routine auf einen neuen Gedanken zu kommen.

Es klappte nicht.

Er schloss die Augen und versuchte zu meditieren. Keine Inspiration. Keine Story. Mitch öffnete die Augen wieder und starrte auf das leere Papier. Es war ihm klar, dass er einem Verleger wie Rich Skinner kaum mit der Entschuldigung, er sei »künstlerisch indisponiert« gewesen, kommen könnte. Sich auf Hungersnot oder Pest zu berufen war auch schlecht möglich. Ungeduldig griff er nach der nächsten Erdnuss.

Was ich brauche, ist ein Szenenwechsel, sagte er sich, eine Abwechslung. Mein Leben ist zu eingefahren, zu normal und – abgesehen von meiner augenblicklichen Ideenlosigkeit – zu einfach. Ich brauche eine Herausforderung. Er warf die Erdnussschalen auf den Boden, stand auf und fing an, unruhig hin und her zu gehen.

Er war ein großer Mann mit athletischem Körper. Als Junge war er ungewöhnlich dünn gewesen, obgleich er immer gegessen hatte wie ein hungriger Wolf. Dass ihn die anderen neckten, hatte ihm nicht viel ausgemacht, bis er die Mädchen entdeckte. Dann hatte er mit der ihm eigenen ruhigen Entschlossenheit angefangen zu ändern, was zu ändern war. Jedenfalls hatte er Gewichte gehoben, an sich gearbeitet, und es hatte ihn viel Schweiß gekostet, bis er mit sich zufrieden war. Selbst jetzt noch trainierte er seinen Körper regelmäßig, und das Gleiche tat er für seinen Kopf.

Sein Arbeitszimmer war vollgestopft mit Büchern, alle gelesen und wieder gelesen. Am liebsten hätte er eins davon vom Regal geholt und sich darin vergraben. Aber er hatte seinen Termin einzuhalten.

Der große braune Hund auf dem Boden drehte sich nach ihm um und beobachtete ihn. Mitch hatte ihn Taz getauft. Er war nicht gerade ein Ausbund an Energie. Im Augenblick gähnte er und scheuerte sich faul den Rücken am Teppich. Er mochte Mitch. Mitch verlangte nichts von ihm, was er nicht wollte, und regte sich weder über Hundehaare auf den Möbeln noch über gelegentliches Herumstöbern im Müll auf. Am meisten liebte er, wenn Mitch sich zu ihm auf den Boden hockte, ihm über das dichte braune Fell strich und ihm von seinen Ideen erzählte. Dann sah Taz ihn an, als verstehe er jedes Wort.

Taz mochte auch Mitchs Gesicht. Es war freundlich und stark, und sein Mund drückte nur selten Missbilligung aus. Seine Augen waren hell und verträumt. Außerdem mochte Taz seine großen, kräftigen Hände, mit denen er ihn immer an genau den richtigen Stellen zu kraulen wusste. Taz war ein sehr zufriedener Hund. Er gähnte und schlief wieder ein.

Als jemand an die Tür klopfte, wachte Taz auf, schlug mit dem Schwanz auf den Boden und gab ein Knurren von sich.

»Ich erwarte niemanden. Du etwa?« Mitch erhob sich. »Ich gehe mal nachsehen.« Er trat mit seinen bloßen Füßen auf eine Erdnussschale und fluchte, machte sich aber nicht die Mühe, sie aufzuheben. Er ging um einen Stapel alter Zeitungen sowie einen Sack mit schmutziger Wäsche, den er vergessen hatte, zur Wäscherei zu bringen, herum. Bevor er die Tür öffnete, versetzte er einem Knochen, den Taz auf dem Boden hatte liegen lassen, einen Tritt, sodass er in die Ecke flog.

»Ich bringe die Pizza.«

Ein hoch aufgeschossener Junge von vielleicht achtzehn Jahren hielt ihm einen Karton hin, aus dem es verführerisch duftete. Mitch roch genießerisch daran. »Ich habe keine bestellt.«

»Ist das nicht die Wohnung 406?«

»Doch, aber ich habe trotzdem keine Pizza bestellt.« Er roch noch einmal und fügte hinzu: »Leider.«

»Dann bin ich hier nicht bei Wallace?«

»Nein. Ich heiße Dempsey.«

»Mist.«

Wallace, dachte Mitch und rieb sich das Kinn, während der Junge von einem Fuß auf den anderen trat. Wallace, heißt so nicht die langbeinige Brünette, die gerade die Wohnung 604 von Henley übernommen hat? Das lohnte sich doch herauszufinden.

»Ich kenne die Familie Wallace«, erklärte er deshalb und zog ein paar zerknitterte Scheine aus der Hosentasche. »Ich bringe ihnen die Pizza nach oben.«

»Also, ich weiß nicht. Ich glaube, ich sollte nicht …«

»Keine Sorge«, unterbrach Mitch den Jungen und legte noch einen Schein dazu. Pizza und neue Nachbarn, dachte er, das ist vielleicht genau die Abwechslung, die ich jetzt brauche. Und so machte er sich mit dem Karton auf den Weg nach oben.

»Das wird die Pizza sein«, rief Hester und hielt Radley gerade noch fest, bevor er zur Tür stürzen konnte. »Lass mich aufmachen. Du kennst doch die Regel?«

»Mach keinem die Tür auf, den du nicht kennst«, zitierte Radley und verdrehte hinter dem Rücken seiner Mutter die Augen.

Hester legte die Hand auf die Klinke und warf einen Blick durch das Guckloch. Hätte sie es nicht besser gewusst, so hätte sie geschworen, der Mann vor der Tür sähe ihr mit seinen klaren blauen Augen amüsiert entgegen. Sein Haar war dunkel und zerzaust, als wäre es schon lange nicht mehr gekämmt worden. Aber das Gesicht war faszinierend. Schmal, markant und unrasiert.

»Mom, warum machst du denn nicht auf?«

»Was?« Hester trat hastig einen Schritt zurück, als ihr aufging, dass sie den Boten reichlich lange angestarrt hatte.

»Ich komme um vor Hunger«, drängte Red.

Hester öffnete die Tür und bemerkte, dass zu dem faszinierenden Gesicht ein langer, kräftiger Körper gehörte. Und nackte Füße.

»Haben Sie Pizza bestellt?«

»Ja.« Draußen schneite es. Wieso hatte der Mann nackte Füße?

»Gut.« Bevor Hester wusste, was geschah, war der Bote eingetreten.

»Lassen Sie mich das nehmen«, sagte sie schnell. »Bring es in die Küche, Radley.« Sie stellte sich schützend vor ihren Sohn und überlegte, was sie notfalls als Waffe benutzen könnte.

»Nette Wohnung.« Mitch sah sich beiläufig um und bemerkte die Umzugskartons.

»Ich hole Ihnen das Geld.«

»Das geht auf Kosten des Hauses.« Mitch lächelte sie an. Hester fragte sich, ob der Selbstverteidigungskurs, an dem sie zwei Jahre zuvor teilgenommen hatte, in dieser Situation etwas nützen würde.

»Radley, bring die Pizza in die Küche. Ich bezahle inzwischen den Boten.«

»Nachbarn«, korrigierte Mitch. »Ich wohne in 406, wissen Sie, zwei Stockwerke unter Ihnen. Die Pizza ist irrtümlicherweise bei mir abgegeben worden.«

»Ach so.« Durch seine Erklärung wurde Hesters Nervosität nicht gemindert. »Tut mir leid, dass man Sie belästigt hat.« Hester griff nach ihrem Portemonnaie.

»Das habe ich schon erledigt.« Er war sich nicht ganz klar darüber, ob sie auf ihn losgehen oder lieber fliehen wollte, fand aber, es habe sich auf jeden Fall gelohnt heraufzukommen. Sie war groß, so groß wie ein Mannequin, und sie hatte auch die entsprechende Figur. Ihr braunes Haar war aus der Stirn zurückgekämmt. Große graue Augen und ein Mund, der fast eine Nummer zu groß war, beherrschten das ovale Gesicht. »Nehmen Sie die Pizza als Willkommensgruß von mir.«

»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, aber ich kann …«

»… ein nachbarliches Geschenk nicht annehmen?«

Weil sie sich für seinen Geschmack ein bisschen zu kühl und reserviert gab, sah Mitch an ihr vorbei zu dem Jungen hinüber. »Hallo, ich bin Mitch.« Dieses Mal wurde sein Lächeln erwidert.

»Ich bin Radley. Wir sind gerade eingezogen.«

»Das habe ich bemerkt. Von außerhalb?«

»Nein. Wir haben nur die Wohnung gewechselt, weil Mom eine neue Stellung angenommen hat und die andere zu klein war. Ich kann von meinem Fenster aus den Park sehen. Du auch?«

»Es heißt ›Sie‹, Radley«, mischte Hester sich ein.

»Nein, nein, ›du‹ ist schon in Ordnung, ich duze dich ja auch, Radley. Und ich kann den Park von meinen Fenstern aus auch sehen.«

»Entschuldigen Sie, Mr …?«

»Ich heiße Mitch«, wiederholte er mit einem Blick auf Hester.

»Ja, gut. Es war sehr nett von Ihnen, die Pizza raufzubringen, aber ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

»Du kannst ein Stück abhaben«, bot Radley an. »Wir kriegen sie sowieso nicht ganz auf.«

»Radley, ich bin sicher, Mr … Mitch hat etwas anderes vor.«

»Nein, absolut nichts.« Es war eigentlich nicht Mitchs Art, sich aufzudrängen, aber die Zurückhaltung der Frau und die Herzlichkeit des Kindes forderten ihn dazu heraus. »Haben Sie vielleicht ein Bier für mich?«

»Nein, tut mir leid. Ich …«

»Aber Sprudel«, meldete sich Radley, der von der Aussicht auf Gesellschaft begeistert war. Er lächelte Mitch vertrauensvoll an. »Möchtest du die Küche sehen?«

»Gern.« Hester glaubte in seinem Lächeln leisen Spott zu entdecken, als er ihrem Sohn in die Küche folgte.

Sie stand in der Mitte des Wohnzimmers und wusste nicht, ob sie erbittert oder wütend sein sollte. Dieser Fremde hatte ihr bei all ihrer Arbeit gerade noch gefehlt. Dann sagte sie sich, dass es wohl am besten wäre, ihm ein Stück von der Pizza zu geben, um ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

Radley zeigte dem Fremden gerade voller Stolz den Müllschlucker. »Du weißt doch, dass du das Ding nicht anstellen sollst, wenn es leer ist«, sagte Hester. »Wie Sie sehen, herrscht bei uns immer noch ein bisschen Unordnung«, fügte sie an Mitch gerichtet hinzu und nahm Teller aus dem gerade eingeräumten Hängeschrank.

»Ich wohne schon seit fünf Jahren hier, und bei mir herrscht immer noch Unordnung.«

»Wir kriegen eine kleine Katze.« Radley kletterte auf einen Stuhl und holte Servietten aus einem Schrank. »In der alten Wohnung durften wir keine Haustiere haben, aber hier wohl, nicht, Mom?«

»Sobald wir richtig eingerichtet sind. Sprudel, Mitch?«

»Ja, bitte. Sieht so aus, als hätten Sie heute schon eine Menge geschafft.« Die Küche wirkte vorbildlich aufgeräumt. Sie war kleiner als seine eigene, was er bedauerte, da Hester und ihr Sohn sie wahrscheinlich mehr benutzen würden als er. Er setzte sich an die Küchenbar und blickte sich um. Am Kühlschrank hing eine große Bleistiftzeichnung, die ein Raumschiff darstellte.

»Hast du das gemalt?«, fragte er den Jungen.

»Ja.« Red biss herzhaft in das Stück Pizza, das seine Mutter ihm auf den Teller gelegt hatte. Erdnussbutter und Marmelade waren längst vergessen.

»Es ist gut.«

»Das soll die ›Second Millennium‹ sein, Commander Zarks Raumschiff.«

»Ich weiß.« Mitch ließ sich die Pizza ebenfalls schmecken. »Hast du wirklich toll gemacht.«

Radley fand es selbstverständlich, dass Mitch Commander Zark und sein Gefährt kannte. Seiner Ansicht nach kannte sie jeder. »Ich wollte auch Leilahs Raumfähre, die ›Defiance‹ malen, aber das ist schwerer. Jetzt lohnt es sich sowieso nicht mehr, denn ich glaube, dass Zark sie im nächsten Heft in die Luft sprengt.«

»Meinst du?« Mitch lächelte Hester zu, als diese sich zu ihnen gesellte.

»Genau weiß ich es natürlich nicht, aber im Augenblick sitzt er ganz schön in der Patsche.«

»Er kommt schon wieder heraus.«

»Lesen Sie auch Comics?«, fragte Hester. Erst jetzt bemerkte sie, wie groß seine Hände waren. Sie wirkten geschickt und gepflegt und passten irgendwie nicht recht zu seiner nachlässigen Kleidung.

»Immer.«

»Ich habe eine größere Sammlung als alle meine Freunde. Mom hat mir die erste Ausgabe von Commander Zark zu Weihnachten geschenkt. Die Ausgabe ist zehn Jahre alt. Da war er erst Captain. Willst du sie sehen?«

Netter Kerl, dachte Mitch, natürlich und intelligent. Die Mutter konnte er noch nicht so recht einschätzen. »Ja, gern.«

Bevor Hester ihn ermahnen konnte, erst seine Pizza aufzuessen, war Radley schon davongeschossen. Sie saß schweigend da und überlegte, was das wohl für ein Mann war, der regelmäßig Comics las. Sie selbst blätterte auch hin und wieder darin herum, schon um zu wissen, womit ihr Sohn sich beschäftigte. Aber wirklich lesen? Ein Erwachsener?

»Ein richtig netter Kerl«, bemerkte Mitch.

»Ja, das ist er. Es ist freundlich von Ihnen, ihm zuzuhören, wenn er von seinen Comics spricht.«

»Comics sind mein Leben«, erklärte Mitch ernst.

Sie war so verblüfft, dass sie ihre Zurückhaltung einen Augenblick lang vergaß und ihn anstarrte. Dann räusperte sie sich und wandte sich wieder ihrer Pizza zu. »Tatsächlich?«

Mitch amüsierte sich innerlich, und er konnte der Versuchung, diese Frau ein wenig aufzuziehen, nicht widerstehen. »Ich nehme an, Sie lesen sie nie?«

»Nein. Für so etwas habe ich keine Zeit. Möchten Sie noch ein Stück?«

»Ja, bitte.« Er nahm sich das Stück, bevor sie es ihm geben konnte. »Sie sollten sich aber die Zeit nehmen. Wissen Sie, Comics sind manchmal ausgesprochen bildend. Was ist das für ein neuer Job, den Sie angenommen haben?«

»Oh, ich arbeite bei der Bank. Ich leite die Kreditabteilung bei der ›National Trust Bank‹.«

Mitch pfiff anerkennend. »Verantwortungsvolle Position für eine Frau in Ihrem Alter.«

Hester wirkte leicht gekränkt. »Ich habe schon mit sechzehn angefangen, in einer Bank zu arbeiten.«

Empfindlich ist sie also auch, stellte er fest, während er etwas Soße von seinem Daumen ableckte. »Das war als Kompliment gemeint.« Ein bisschen sehr defensiv, sagte er sich, aber vielleicht muss sie das sein. Sie trägt keinen Ehering, und an ihrem Ringfinger ist auch kein heller Streifen, als ob in letzter Zeit noch einer daran gesteckt hätte. »Habe selbst schon öfter mit Banken zu tun gehabt. Einzahlungen, Auszahlungen, zurückgekommene Schecks.«

Sie fragte sich, wann Radley wohl endlich zurückkommen würde. Irgendetwas an diesem Mann machte sie nervös. Normalerweise pflegte sie den Leuten ins Gesicht zu sehen und hatte auch nichts dagegen, von ihnen angesehen zu werden. Aber dieser Typ ließ sie ja überhaupt nicht mehr aus den Augen. »Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Das habe ich auch nicht so verstanden. Wenn ich also bei der ›National Trust Bank‹ einen Kredit haben möchte, nach wem müsste ich fragen?«

»Mrs Wallace.«

»Sie heißen ›Mrs‹ mit Vornamen?«, scherzte er.

»Nein, Hester«, antwortete sie unwillkürlich, obgleich sie ihm eigentlich nicht so weit hatte entgegenkommen wollen.

»Also, Hester«, Mitch hielt ihr die Hand hin, »ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Es dauerte einen Moment, bis sie sich überwand, ihm die Hand zu reichen. Ihr Lächeln war nur angedeutet. »Tut mir leid, wenn ich unhöflich war. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Eigentlich eine anstrengende Woche.«

»Ich finde Umzüge grässlich. Haben Sie jemanden, der Ihnen hilft?«

»Nein.« Sie zog ihre Hand zurück. »Wir kommen auch so zurecht.«

Verstanden. Hilfe unerwünscht. Er erkannte, dass er es besser nicht versuchen sollte, die von ihr errichtete Trennungslinie zu durchbrechen. Schade, dachte er.

»Ich hatte vergessen, in welche Kiste ich sie gepackt hatte.« Radley war mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht wieder in die Küche gekommen. »Das hier ist wertvoll, hat der Händler Mom gesagt.«

Und einen Wucherpreis dafür genommen, dachte Hester. Aber Red hatte sich über das Heft mehr gefreut als über alle anderen Geschenke.

»Sieht ja noch aus wie neu.« Mitch schlug die erste Seite so behutsam auf, als sei sie zerbrechlich.

»Ich wasche mir auch immer die Hände, bevor ich es lese«, erklärte Radley.

»Gute Idee.« Seltsam, dachte Mitch, nach so vielen Jahren bin ich immer noch stolz darauf. Ein großartiges Gefühl. Da stand es auf der ersten Seite: »Story und Illustration von Mitch Dempsey«. Commander Zark war sein Geschöpf, und in den vergangenen zehn Jahren waren sie gute Freunde geworden.

»Das ist eine super Geschichte, sag ich dir. Wie Zark dazu gekommen ist, sich für die Verteidigung des Universums einzusetzen und gegen das Böse zu kämpfen.«

»Weil seine Familie von dem bösen ›Red Arrow‹, der die Macht ergreifen wollte, ausgelöscht worden ist.«

»Genau.« Radley strahlte. »Aber er hat sich an ›Red Arrow‹ gerächt.«

»In Heft 73.«

Hester starrte von einem zum anderen. Der neue Nachbar unterhielt sich tatsächlich ernsthaft mit dem Jungen. Er wollte ihm damit nicht nur eine Freude machen, sondern war von Comics genauso besessen wie ihr neunjähriger Sohn.

Seltsam, dachte sie, eigentlich sieht er ganz normal aus. Er kann sich auch ordentlich ausdrücken. Sie gestand sich ein, dass es sie nervös machte, neben ihm zu sitzen, weil von seinem kräftigen Körper und seinem gut geschnittenen Gesicht eine so deutlich männliche Ausstrahlung ausging. Und sich von einem Nachbarn in dieser Hinsicht beeindrucken zu lassen war das Letzte, was sie im Sinn hatte, zumal dieser Nachbar in seiner geistigen Entwicklung offensichtlich zurückgeblieben zu sein schien.

Mitch blätterte ein paar Seiten um. Seine Zeichnungen waren in den letzten zehn Jahren eindeutig besser geworden. Es tat ihm gut, das festzustellen. Trotzdem war es ihm gelungen, die Einfachheit und Klarheit der Figuren zu erhalten, die ihm eingefallen waren, als er vor zehn Jahren noch in der Werbung sein freudloses Brot verdient hatte.

»Magst du den hier am liebsten?« Mitch zeigte mit dem Finger auf Zark.

»Na klar. Ich mag auch ›Three Faces‹, und ›Black Diamond‹ ist auch ganz nett, aber Commander Zark ist einfach spitze.«

»Finde ich auch.« Mitch zerraufte dem Jungen das Haar. Als er die Pizza heraufgebracht hatte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass er hier die Inspiration finden würde, auf die er den ganzen Nachmittag vergeblich gewartet hatte.

»Du kannst es mal lesen, wenn du willst. Ich würde es dir ja leihen, aber …«

»Verstehe. Ein Sammlerstück verleiht man nicht.«

»Es wird noch dazu kommen, dass Radley und Sie sich gegenseitig Hefte ausleihen.« Hester stand auf, um die Teller abzuräumen.

»Das amüsiert Sie wohl, was?«

Auf seinen Tonfall hin warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Sie konnte es nicht gerade Schärfe nennen, was sie darin zu hören geglaubt hatte, und seine Augen blickten immer noch klar und sanft, aber irgendetwas ermahnte sie, auf der Hut zu sein.

»Ich finde es nur ein wenig ungewöhnlich, dass ein erwachsener Mann eine Schwäche für Comics hat. Aber warum sollten Sie nicht ein solches Hobby haben.«

Er hob die Brauen. »Comics sind alles andere als ein Hobby für mich, Mrs Hester Wallace. Ich lese sie nicht nur, ich schreibe sie.«

»Wow! Wirklich?« Radley starrte Mitch an, als hätte er sich gerade in Superman verwandelt. »Ehrlich? O Mann, du bist Mitch Dempsey? Der richtige Mitch Dempsey?«

»In Fleisch und Blut.« Er zupfte Radley am Ohr, während Hester ihn ansah, als wäre er gerade von einem anderen Planeten gekommen.

»O Mann! Mitch Dempsey, Mom, das ist Commander Zark. Das glaubt mir kein Mensch. Kannst du das glauben, Mom? Commander Zark – hier, in unserer Küche!«

»Nein«, murmelte Hester und starrte Mitch weiter an. »Nein, das kann ich nicht glauben.«

2. KAPITEL

Hester wünschte, sie hätte es sich erlauben können, feige zu sein. Am liebsten wäre sie nach Hause gelaufen und hätte sich die Bettdecke über die Ohren gezogen, bis Radley aus der Schule zurückgekommen wäre. Niemandem, der die beherrschte junge Frau im roten Mantel und mit wehendem weißen Schal beobachtet hätte, wäre der Gedanke gekommen, dass sich ihr der Magen vor Nervosität zusammenzog und ihre Handflächen feucht waren. Sie musste sich zusammennehmen, um sich nicht auf die Lippen zu beißen und so den Lippenstift zu ruinieren, während sie die letzten Meter zur Bank zurücklegte.

Nun fasste sie ihre Aktentasche fester. Als sie an diesem Morgen Radley zur Schule brachte, hatte sie ihm einzureden versucht, wie großartig und aufregend es sei, etwas Neues anzufangen. So ein Unsinn, sagte sie sich jetzt und hoffte nur, ihr Sohn habe nicht halb so viel Angst gehabt wie sie selbst in diesem Augenblick.

Obgleich sie sich immer wieder sagte, nach zwölfjähriger Erfahrung sei sie durchaus für ihre neue Position qualifiziert, wurde sie ihre Nervosität nicht los. Sie nahm all ihren Mut zusammen, atmete tief durch und betrat die Bank.

Laurence Rosen, der Manager der Bank, warf einen Blick auf seine Uhr, nickte zustimmend und kam auf Hester zu, um sie zu begrüßen. Sein dunkelblauer Anzug wirkte ordentlich und konservativ. Seine Schuhe waren spiegelblank poliert.

»Auf die Minute pünktlich, Mrs Wallace, ein ausgezeichneter Anfang. Ich darf wohl behaupten, dass alle meine Mitarbeiter von der Zeit den rechten Gebrauch zu machen verstehen.« Mit einer Handbewegung forderte er sie auf, ihm in den hinteren Teil der Bank zu ihrem Büro zu folgen.

»Ich freue mich darauf, mit der Arbeit anzufangen, Mr Rosen«, erklärte Hester und spürte eine Welle der Erleichterung, weil die Bemerkung der Wahrheit entsprach.

»Gut, gut. Wir werden schon dafür sorgen, dass Sie sich nicht langweilen.« Mit einem Stirnrunzeln nahm er zur Kenntnis, dass zwei der Sekretärinnen noch nicht an ihrem Schreibtisch saßen. Mit einer offensichtlich gewohnheitsmäßigen Geste fuhr er sich durchs Haar. »Ihre Assistentin müsste jeden Augenblick hier sein. Wenn Sie sich erst eingewöhnt haben, Mrs Wallace, erwarte ich von Ihnen, dass Sie genau auf deren Kommen und Gehen achten. Ihre eigene Leistung wird nämlich weitgehend von der Ihrer Assistentin abhängen.«

»Natürlich.«

Das Büro war klein und langweilig. Hester versuchte sich nicht zu wünschen, es sei heller und luftiger und Rosen sei ein weniger langweiliger Chef. Das höhere Gehalt für diesen Job würde Radleys und ihr Leben leichter machen, und nur darauf kam es an. Ich werde es schaffen, sagte sich Hester, als sie ihren Mantel auszog. Ich werde es sogar sehr gut schaffen.

Rosen war offensichtlich angetan von ihrem schlichten schwarzen Kostüm, zu dem sie nur sparsam Schmuck angelegt hatte. In einer Bank waren auffällige Kleidung und ebensolches Benehmen nicht angebracht. »Ich nehme an, Sie haben die Unterlagen, die ich Ihnen mitgegeben hatte, durchgelesen?«

»Ich habe mich das Wochenende über damit beschäftigt.« Sie ging hinter den Schreibtisch in dem Bewusstsein, mit dieser Handlung ihre neue Stellung anzutreten. »Ich glaube, ich bin jetzt mit Verfahren und Arbeitsweise der ›National Trust Bank‹ vertraut.«

»Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Dann lasse ich Sie jetzt allein, damit Sie sich einrichten können. Ihren ersten Termin haben Sie um …«, er wendete die Seite ihres Tischkalenders, »… neun Uhr fünfzehn. Sollten Sie irgendwelche Probleme haben, so kommen Sie zu mir. Ich bin immer irgendwo in der Nähe.«

Das glaube ich Ihnen aufs Wort, dachte sie und sagte: »Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist, Mr Rosen. Danke.«

Mit einem abschließenden Nicken verließ Rosen das Zimmer. Leise klickend schloss sich die Tür hinter ihm. Endlich allein, ließ Hester sich kraftlos in ihren Stuhl sinken. Die erste Hürde war genommen. Rosen hielt sie für kompetent und tüchtig. Nun musste sie nur noch beweisen, dass sie das auch tatsächlich war. Und sie würde es beweisen. Das war sie schon ihrem Stolz schuldig. Sie hasste es, sich lächerlich zu machen. Das hatte sie zur Genüge am vergangenen Abend fertiggebracht.