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Nein, so hat sich Timo Schell seine Ehe mit der attraktiven, wenn auch etwas kapriziösen Lily nicht vorgestellt. Denn eins ist inzwischen gewiss: Es war nicht Liebe, weswegen Lily ihn geheiratet hat - nur ihr Interesse an seinem renommierten Beruf als Architekt und an Thimos zu erwartendem Einkommen und gesellschaftlichem Rang. Doch der berufliche und finanzielle Aufstieg geht Lily schlicht nicht schnell genug, der Alltag der Eheleute besteht nur noch aus Streit und Vorwürfen. Hinzu kommt, dass Lily statt sich um ihre häuslichen Pflichten zu kümmern, immer tiefer in die Scheinwelt der gefeierten Liebesromane der Schriftstellerin Anja Bach abtaucht, in denen die Frauen stets von ihren Männern auf Händen getragen werden. Für Timo steht fest, dass dringend jemand dieser Autorin klarmachen muss, welch falsche, überzogene Vorstellungen und Ansprüche sie ihren Leserinnen eingibt. Und dann bekommt er eines Tages überraschend genau dazu die Gelegenheit - eine Gelegenheit, die ihn zu einem Fehler mit dramatischen Folgen verleitet ...
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Seitenzahl: 123
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Gib Acht, dass nicht dein Glück zerbricht
Vorschau
Impressum
Gib Acht, dass nicht dein Glück zerbricht
Ein Schicksalsschlag wird zur schweren Prüfung ihrer Liebe
Von Renate Busch
Nein, so hat sich Timo Schell seine Ehe mit der attraktiven, wenn auch etwas kapriziösen Lily nicht vorgestellt. Denn eins ist inzwischen gewiss: Es war nicht Liebe, weswegen Lily ihn geheiratet hat – nur ihr Interesse an seinem renommierten Beruf als Architekt und an Timos zu erwartendem Einkommen und gesellschaftlichem Rang. Doch der berufliche und finanzielle Aufstieg geht Lily schlicht nicht schnell genug, der Alltag der Eheleute besteht nur noch aus Streit und Vorwürfen. Hinzu kommt, dass Lily statt sich um ihre häuslichen Pflichten zu kümmern, immer tiefer in die Scheinwelt der gefeierten Liebesromane der Schriftstellerin Anja Bach abtaucht, in denen die Frauen stets von ihren Männern auf Händen getragen werden. Für Timo steht fest, dass dringend jemand dieser Autorin klarmachen muss, welch falsche, überzogene Vorstellungen und Ansprüche sie ihren Leserinnen eingibt. Und dann bekommt er eines Tages überraschend genau dazu die Gelegenheit – eine Gelegenheit, die ihn zu einem Fehler mit dramatischen Folgen verleitet ...
Timo hielt mit seinem klapprigen Kleinwagen vor dem großen Wohnblock. Sein Fuß stockte, als er auf das riesige Haus zuging. Als Architekt hatte er eigentlich andere Vorstellungen, wie man wohnen könnte, aber sie ließen sich nicht immer realisieren.
Er strebte auf den Fahrstuhl zu und drückte auf den Knopf – aber es tat sich nichts.
Eine Frau kam die Treppe herunter.
»Der ist mal wieder kaputt, da müssen Sie schon zu Fuß gehen«, erklärte sie mitleidig, um im nächsten Moment tief zu seufzen. »In diesem Haus ist immer irgendetwas kaputt.«
Timos Stimmung wurde dadurch nicht gerade besser.
»Das stimmt leider«, brummelte er und machte sich daran, bis zum sechsten Stock hinaufzusteigen.
Hätte er nicht gerade solch ein seelisches Tief gehabt, er hätte das Missgeschick sicher mit Humor getragen und darin einen Trimm-dich-Akt gesehen, aber dazu fehlte ihm im Moment die innere Kraft.
Ein wenig atemlos erreichte er schließlich die sechste Etage, von der viele Türen zu den einzelnen Wohnungen abgingen. Eine von ihnen öffnete er.
In dem winzigen Flur stolperte er über eine Tasche voller Lebensmittel. Er öffnete ahnungsvoll die Wohnzimmertür, hielt den Griff noch immer umklammert und nickte grimmig.
Natürlich – so hatte er sich die Situation vorgestellt, nachdem er hatte feststellen müssen, dass Lily noch nicht einmal die Tasche mit den Lebensmitteln ausgepackt hatte. Seine Frau lag, angetan mit einem schicken Hausanzug, auf der Couch. Den Kopf hatte sie auf beide Hände gestützt und ruhte auf dem Bauch, während sich ihre angewinkelten Unterschenkel hoch in die Luft reckten.
Sie las – wie meistens.
Timo räusperte sich, aber Lily war so in dem Lesestoff vertieft, dass sie ihn nicht hörte.
In Timo kochte allmählich Ärger hoch.
»Guten Tag, liebe Lily«, grüßte er mit schneidendem Spott.
Jetzt zuckte seine Frau zusammen. Die Beine klappten herab. Sie sah zur Seite. Auf ihren ebenmäßigen Zügen spiegelte sich eine gewisse Enttäuschung, ihre Wangen waren hochrot.
»Guten Tag, du kommst schon?«
»Wie du siehst. Ich habe nämlich Feierabend, meine Liebe!«
Timo kam nun langsam näher und sank erschöpft in einen Sessel.
»Nun fang bloß nicht gleich wieder so an«, ging die kapriziöse schwarzhaarige Lily Schell sofort zum Angriff über.
»Wie soll ich denn sonst deiner Meinung nach reagieren, wenn ich müde und hungrig nach Hause komme, die Wohnung völlig unaufgeräumt vorfinde und sehr wahrscheinlich auch nicht mit einer warmen Mahlzeit rechnen kann?«
Timos Stimme klang resigniert und bitter.
»Kann ich dafür, wenn du für einen Hungerlohn arbeitest und das Schlusslicht in eurer Firma bist? Andere Männer kommen nach Hause, küssen ihre Frau und sagen zu ihr: ›Schätzchen, zieh dich bitte um, ich will dich ganz groß ausführen!‹ Dann lassen sie sich von ihrem Chauffeur vor ein Schlemmerlokal fahren und ...«
»Du nimmst diese Weisheiten aus deinen Romanen, du Närrin«, unterbrach Timo seine Frau. »Merk dir endlich, dass ich kein Romanheld, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Mann bin.«
»Gewöhnlich, ja, das bist du – leider«, hakte Lily sofort wütend ein. »Du bist und bleibst ein Versager!«
Jetzt stand seine Frau vor ihm, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte mit ihren dunklen Augen.
Urplötzlich war Timos Wut wie fortgeblasen, zurück blieben Enttäuschung und Resignation.
Als er Lily einst geheiratet hatte, hatte er geglaubt, von nun an mit ihr im siebten Himmel zu leben, aber gleich nach der Hochzeitsreise war er auf die Erde zurückgekommen. Lily war keine Hausfrau und wollte auch keine sein. Mitarbeiten kam für sie nicht infrage, da sie ja angeblich mit der Führung des Haushaltes zu sehr beschäftigt war.
»Lass uns nicht wieder streiten«, bat Timo.
»Hah, du lenkst vom Thema ab«, bekam Lily sofort Oberwasser. »Ich habe dich geheiratet, weil du mir vorgegaukelt hast, ein gesuchter Architekt zu werden und viel Geld zu verdienen. Wir wollten Reisen machen, und du wolltest uns einen tollen Bungalow bauen. Wir wollten Bekannte einladen und mit ihnen zusammen feiern. Du wolltest mir ein eigenes Auto kaufen, und bei besonders guten Aufträgen stecktest du mir entweder einen Brillantring an den Finger oder überraschtest mich mit einem kostbaren Collier ...«
»Hör auf, Lily«, murmelte Timo erschüttert.
Nicht nur, dass er immer wieder erfahren musste, dass Lily ihn einst nicht aus Liebe, sondern seines späteren beruflichen Erfolges wegen geheiratet hatte, entdeckte er auch immer wieder, dass sie durch ihre Romane in einer Scheinwelt lebte.
»Das magst du nicht hören, nicht wahr?«, trumpfte seine Frau auf. »Die Wahrheit ist oft unangenehm. Was bietest du mir stattdessen – he? Diese primitive Wohnung in diesem entsetzlichen Wohnsilo vor den Toren der Stadt! Und wohin verreisen wir, wenn du Urlaub hast? Nach Balkonien allenfalls! Vier Quadratmeter für zwei Personen, da kann man sich herrlich erholen, vor allem, wenn der Sommer wieder so mies wie in den vergangenen Jahren wird.«
Timo verzichtete darauf, seine Frau darauf hinzuweisen, dass sie letzten Endes auch zum Haushalt mit beisteuern könnte, wenn sie nicht so bequem wäre.
Er verteidigte sich nicht gegen ihre ungerechtfertigten Anschuldigungen, sondern fragte nur ironisch: »Wohin führt der Held deines jetzigen Buches seine Angebetete?«
Lily stutzte einen Moment.
»In die Karibik, wenn du es genau wissen willst! Aber du brauchst dich darüber nicht so lustig zu machen.«
Als wolle sie Timos Angriffe auf die Romanfiguren abfangen, wandte sie sich um, klappte liebevoll das Buch zu, nachdem sie ein Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt hatte, und stellte den Roman ins Regal.
»Ich decke den Tisch. Um zu kochen, ist es jetzt zu spät.«
»Ich habe keinen Hunger mehr«, erwiderte Timo.
Er konnte seinen Grimm nicht verbergen, aber der glitt an seiner Frau ab.
»Na gut, dann essen wir Obst, das ist auch viel gesünder und erhält die schlanke Linie«, befand Lily.
Timo aß später einen Apfel und zwei Bananen, dann nahm er aus seiner Aktentasche Zeichnungen und Entwürfe und vertiefte sich darin.
»Was soll der Blödsinn, heraus kommt dabei ohnehin nichts«, konnte sich Lily eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.
Ihr Mann ging nicht darauf ein und tat so, als sei er taub. Auch später, als das Telefon läutete, ignorierte er das Gebimmel.
Lily dagegen griff begierig zum Hörer. Sie telefonierte genauso leidenschaftlich gern, wie sie las, was sich allerdings an der Höhe der Rechnung bemerkbar machte.
»Hallo, Mutti«, hörte Timo sie glücklich sagen.
Ihn interessierte das Gespräch nicht. Er nahm seine mitgebrachten Arbeiten und verschwand im Schlafzimmer. Hier stand ein Reißbrett, sehr zum Missfallen seiner Frau.
Auf dem Bett fand Timo noch ein freies Plätzchen, wo er seine Sachen hinlegte. Dann zeichnete er weiter an seinem Traumentwurf für ein Krankenhaus. In stillen Stunden beschäftigte er sich mit Traumobjekten, die er so gern einmal gebaut hätte und die er wahrscheinlich doch nie bauen würde.
In gewisser Weise hatte Lily recht! Er war ein Versager, ein Mensch, der einst große Pläne gehabt und nichts erreicht hatte. In der Firma, in der er arbeitete, kam er nicht zum Zuge. Mitunter kam er sich eher wie ein Laufjunge als wie ein Architekt vor.
Vielleicht wäre Lily eine gute Ehefrau geworden, wenn er auch nur einen Teil ihrer Träume hätte erfüllen können. Seitdem sie eine Vorliebe für die Romane dieser Schriftstellerin Anja Bach entwickelt hatte, war sie noch wirklichkeitsfremder geworden.
Timo hielt in seiner Arbeit inne. Er fragte sich, ob diese Bach eigentlich wusste, was sie mit ihrem Geschreibe anrichtete? Was für ein Mensch mochte sie sein? War sie bereits älter und abgeklärt oder noch jung? Hatte sie etwa selbst ähnliche Träume wie Lily?
Timo wurde es gar nicht bewusst, dass sich seine Unzufriedenheit über sein Leben in tiefste Abneigung gegen diese ihm unbekannte Schriftstellerin ausdrückte. Er ballte sogar seine Hand zur Faust, und obwohl er ein sehr friedliebender Mensch war, hatte er nicht wenig Lust, dieser Anja Bach einmal seine Meinung zu sagen.
Plötzlich riss Lily die Schlafzimmertür auf.
»Stell dir vor, was mir Mutti angeboten hat ...!«, rief sie atemlos vor Aufregung, ihre Stimme überschlug sich.
Timo war wenig interessiert. Wahrscheinlich waren sie zum Sonntag wieder bei den Schwiegereltern zum Mittagessen eingeladen!
»Offenbar lässt es dich völlig kalt, was Mutti mir gesagt hat«, fauchte seine junge Frau.
Um einen neuen Streit zu vermeiden, lenkte Timo ein: »Selbstverständlich nicht, ich warte, dass du es mir mitteilst.«
Lily strahlte schon wieder. Daraus schloss Timo, dass es wohl mehr als ein Mittagbrot sein musste, was die Mutter seiner Frau in Aussicht gestellt hatte.
»Sie nehmen mich mit in den Urlaub! Na, was sagst du nun?«
Offenbar erwartete seine Frau von ihm einen Luftsprung.
»Wie schön für dich«, sagte Timo trocken.
»Du brauchst nicht eingeschnappt zu sein, aber wir können schließlich nicht verlangen, dass meine Eltern dich auch noch einladen. Das wäre zu teuer. Mutti meint, ich brauche dringend einmal eine Luftveränderung und eine Erholung vom Alltagsstress. Immer an Küche und Herd angebunden sein, ist schließlich recht anstrengend.«
»Du sagst es.«
Vor Freude hörte Lily nicht, wie ironisch Timos Stimme klang.
»Meine Eltern wollen nach Italien. Herrlich – Sonne, blaues Wasser, Wärme«, schwärmte sie. Als Timo sich darauf nicht äußerte, umarmte sie ihn impulsiv und stürmisch. »Du gönnst mir doch das Vergnügen und bist nicht böse?« Oh, sie konnte wie ein Vogel zwitschern – wenn sie es wollte! »Du bist doch ein Schatz«, setzte sie hinzu. »Es wird sicher himmlisch. Ich schreibe dir auch. Sicher wird das Wetter in diesem Jahr besser. Dann kannst du es dir auf unserem Balkon auch gemütlich machen.«
Sie strahlte ihn an, und Timo unterdrückte ein hartes Lachen.
»Natürlich«, versicherte er betont gleichgültig.
Nun, wenn er es sich richtig überlegte, war ein Urlaub allein in seiner Wohnung besser als einer mit Lily zusammen, die ihn täglich darauf aufmerksam machen würde, wohin man hätte reisen können, wenn er erfolgreicher wäre.
***
In den nächsten Monaten war Lily erträglicher. Die Aussicht auf die Italienreise hatte ihre Stimmung gehoben. Sie kämpfte allerdings noch um einen neuen Bikini, obwohl sie bereits zwei besaß. Sie musste ihrer Meinung nach auch noch unbedingt einige Kleider und Hosen haben.
Um des lieben Friedens willen gab Timo nach. In vierzehn Tagen würde Lily mit ihren Eltern fahren. Der junge Architekt dachte an sein völlig geplündertes Gehaltskonto.
Dass er nicht nur zurückblieb, sondern sich sehr einschränken musste, kümmerte Lily absolut nicht. Ihre Garderobe war vervollständigt – alles andere war ihr egal.
Nach einer Wärmeperiode regnete es heute wieder einmal in Strömen. Timo fuhr nicht wie üblich vom Büro gleich nach Hause. Sozusagen als stummer Protest gegen Lilys Verschwendungssucht und ihren Egoismus beschloss er, auch einmal leichtsinnig zu sein.
Er liebäugelte schon seit Langem mit einem Kunstbuch über moderne Architektur, hatte aber nie daran gedacht, es auch käuflich zu erwerben. Es war sehr teuer. Aber warum sollte er auf alles verzichten, woran sein Herz hing, wenn Lily nie nach dem Kontostand fragte und sich jeden unvernünftigen Wunsch erfüllte?
Timo musste den klapprigen Wagen leider ein gutes Stück von der Buchhandlung entfernt parken. Dann rannte er mit hochgeschlagenem Kragen durch den Regen.
Die Buchhandlung war völlig überfüllt. Im ersten Moment wollte Timo auf dem Absatz wieder kehrtmachen und ein anderes Mal wiederkommen. Dann blieb er. Er wusste, dass er sehr wahrscheinlich von dem Kauf Abstand nehmen würde, wenn er nicht heute das Buch kaufte.
»Sagen Sie mal, was ist hier eigentlich los?«, fragte er einen Verkäufer.
Die Menschen strebten alle einen bestimmten Punkt an.
»Haben Sie es nicht im Schaufenster gelesen?«, fragte der Angesprochene verwundert.
»Nein, leider nicht.« Timo grinste.
»Heute ist Anja Bach bei uns und signiert ihr neuestes Buch!«
In der Stimme des jungen Mannes lag eine gewisse Ehrfurcht.
Timo überlegte. Anja Bach? Das war doch die ...! Er nickte grimmig, während der Verkäufer sich entfernte, um ihm den Kunstband zu holen.
Der junge Mann musste daran denken, wie überglücklich Lily sicher gewesen wäre, hätte sie sich zufällig hier in dieses Geschäft verirrt. In ihm stieg eine gewisse Wut auf. Dann erhaschte er einen kurzen Blick auf die offensichtlich sehr beliebte Schriftstellerin – und war überrascht, wie jung sie noch war.
Anja Bach trug ein schlichtes Sommerkleid. Timo nahm außerdem wahr, dass sie hellblonde Haare hatte. – Wahrscheinlich gefärbt, überlegte er. Frauen hatten es heutzutage nicht schwer, ihr Aussehen nach ihrem Geschmack zu verändern.
»Wollen Sie auch ein Autogramm haben?«
Sein Hintermann sah ihn missbilligend an, weil er nicht aufrückte.
Timo kam sich gescholten vor. Erst jetzt merkte er, dass er den Betrieb aufhielt.
»Nein, das habe ich wirklich nicht vor«, entgegnete er sarkastisch und erntete von allen Seiten vernichtende Blicke.
Danach war Timo froh, als er mit seinem Architekturband die Buchhandlung wieder verlassen konnte.
***
In den Tagen vor ihrer Abreise überschlug sich Lily vor Liebenswürdigkeit. Sie kochte täglich und versuchte, ihrem Mann jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
Timo blieb davon ziemlich unbeeindruckt. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wusste er. In ihm regte sich für Lily nichts mehr, seine Gefühle für sie waren gestorben! Die Erkenntnis erschreckte ihn. Bisher hatte er es sich verboten, sich seine Gefühle für seine Frau so klar und nüchtern einzugestehen.
Beim Abschied warf sich Lily an seine Brust. Offenbar war sie ehrgeizig genug, seine Passivität zu durchbrechen. Sie weinte sogar einige unechte Tränen.
»Ich komme ja bald wieder«, meinte sie tröstend.
»Ja, ja, erhole dich gut«, sagte Timo lasch.
Zu herzlicheren Worten konnte er sich nicht aufraffen.
In einigen Tagen bekam auch er Ferien. Da er mehr als knapp bei Kasse war, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als auf gutes Wetter zu hoffen und in seinem Balkon eine Erholungsstätte zu sehen.
Nach Feierabend sauste er noch zum nahen Supermarkt, um das Nötigste einzukaufen. Lily hatte leider so gut wie keine Vorräte hinterlassen. Er war endlich durch die Kasse und hatte das Schlangestehen hinter sich, als ihn eine ältere Frau ansprach.
»Entschuldigen Sie, Sie sind doch Herr Schell – ich kenne Ihre Frau recht gut.«
»Ja, der bin ich«, bestätigte Timo und fragte sich, was die Fremde von ihm wolle.
»Sie sind doch Architekt, nicht wahr?«