Milchkaffee – Das Glück der Liebe - Susanna Ernst - E-Book
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Milchkaffee – Das Glück der Liebe E-Book

Susanna Ernst

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Beschreibung

Die Geschichte einer tiefen Verbindung in den Wirren des Nachkriegs-Deutschlands. Ein rührender Liebesroman voller großer Gefühle. Erfurt, April 1945: Als sich der neunjährige Erik an Plünderungen beteiligt, wird er schwer verletzt. Der afroamerikanische Soldat Sam rettet ihm das Leben und kümmert sich in den folgenden Wochen in jeder freien Minute um den Jungen, nach dem eigenartigerweise niemand zu suchen scheint. Als Eriks Kräfte immer weiter nachlassen und er dem Tod näher ist als dem Leben, trifft Sam auf die siebenjährige Sophie, eine kleine Soloballerina des stillgelegten Stadttheaters. In seiner Verzweiflung bringt der Soldat das Mädchen zu Erik, nicht ahnend, dass er damit den Grundstein für eine ganz große Liebe legt. Denn mit ihrem Tanz und ihrer fröhlichen Art weckt Sophie nicht nur die Lebensgeister des Jungen, sie hinterlässt auch bleibenden Eindruck bei Sam selbst. »Milchkaffee« von Susanna Ernst ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Seitenzahl: 472

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Susanna Ernst

Milchkaffee – Das Glück der Liebe

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Geschichte einer tiefen Verbindung in den Wirren des Nachkriegs-Deutschlands. Ein rührender Liebesroman voller großer Gefühle.

Erfurt, April 1945: Als sich der neunjährige Erik an Plünderungen beteiligt, wird er schwer verletzt. Der afroamerikanische Soldat Sam rettet ihm das Leben und kümmert sich in den folgenden Wochen in jeder freien Minute um den Jungen, nach dem eigenartigerweise niemand zu suchen scheint.

Als Eriks Kräfte immer weiter nachlassen und er dem Tod näher ist als dem Leben, trifft Sam auf die siebenjährige Sophie, eine kleine Soloballerina des stillgelegten Stadttheaters. In seiner Verzweiflung bringt der Soldat das Mädchen zu Erik, nicht ahnend, dass er damit den Grundstein für eine ganz große Liebe legt. Denn mit ihrem Tanz und ihrer fröhlichen Art weckt Sophie nicht nur die Lebensgeister des Jungen, sie hinterlässt auch bleibenden Eindruck bei Sam selbst.

Inhaltsübersicht

WidmungFrühjahr 2017Kapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IVKapitel VKapitel VIKapitel VIIKapitel VIIIKapitel IXKapitel XKapitel XIKapitel XIIKapitel XIIISommer 2017Kapitel XIVKapitel XVKapitel XVIKapitel XVIIKapitel XVIIIHerbst 2017Kapitel XIXKapitel XXKapitel XXIKapitel XXIIKapitel XXIIIKapitel XXIVKapitel XXVKapitel XXVIKapitel XXVIIKapitel XXVIIIWinter 2017
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– Für meine geliebten Eltern –

 

Nur ihr wisst, wie viel Wahrheit

in diesem Buch steckt.

Danke für alles!

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Frühjahr 2017

Das Zirpen der Grillen klingt geradezu wehmütig an solch schwülen Frühlingsabenden wie diesem, an denen die Luft dermaßen schwer über den Köpfen aller Lebewesen hängt, dass man die Abkühlung eines kräftigen Gewitters förmlich herbeisehnt.

Beinahe hätte mich das monotone Surren der kleinen Insekten hier über meinem Buch einnicken lassen. Erst in letzter Sekunde – unmittelbar, bevor mich der Schlaf packt und in seine verlockenden Tiefen hinabzieht – schrecke ich auf. Etwa sechzig, siebzig Meter entfernt von meinem Rückzugsort auf der hinteren Veranda ist ein heftiger Streit im Gange.

»Ich werde dich mit dem Kopf voran in den Fluss schubsen«, droht Jakob, mein zweitjüngster Urenkel seinem noch jüngeren Bruder Michael.

»Ich habe es nicht extra gemacht. Der Flügel von deinem doofen Flieger ist einfach so abgebrochen. Das war doch nicht meine Schuld!«, beteuert der Kleine so laut, dass nun das halbe Dorf von seiner vermeintlichen Unschuld wissen dürfte.

Ich kneife die Augen zusammen, um die Streithähne besser erkennen zu können. Meine Sehkraft funktioniert längst nicht mehr so gut wie mein Gehör. Wie dankbar ich doch bin, dass es nicht andersherum ist. Die Laute dieser Welt waren mir schon immer ein Wunder – besonders die leisen, unscheinbaren –, während ich es oft nicht schaffte, meine Augen schnell genug von all dem Leid abzuwenden, das mir über die vielen Jahre meines Lebens begegnete.

Das Gerangel meiner Urenkel geht weiter. Ich mag die beiden zwar kaum erkennen, während sie wie verschwommene Farbblitze am äußersten Rand meines visuellen Wahrnehmungsfeldes hin und her flitzen, aber ich weiß auch so genau, was geschehen ist und dass keine ernst zu nehmende Gefahr droht. All seinen wütenden Ankündigungen zum Trotz, wird Jakob den Winzling auch dieses Mal nicht im Fluss ertränken, und Michael wird zum Dank dafür auch das nächste Spielzeug seines großen Bruders zerstören und anschließend lautstark krakeelen, er habe nichts damit zu tun.

Später, in zehn bis fünfzehn Jahren etwa, werden sie dann nebeneinander sitzen, jeder ein Bier in der Hand, und sich über die guten alten Kindheitstage austauschen, nach denen sie sich für den Rest ihres Lebens zurücksehnen werden. So, wie es unter Brüdern sein soll.

Als der Kleine hilfesuchend auf mich zustürmt, schließe ich schützend meine Arme um ihn und gewähre ihm dort so lange Asyl, bis Jakobs Blut nicht mehr gar so arg brodelt. Dann sehe ich mir den gebrochenen Flügel des Modellfliegers an und verspreche, ihn zu reparieren. Wie ich das mit meinen schlechten Augen und den leicht zittrigen Fingern hinkriegen soll, stellen die beiden gnädigerweise nicht in Frage. Und meine Schwiegertochter – der gütige Engel, der sie ist – deckt meine zunehmenden Unzulänglichkeiten, indem sie mir die delikaten Arbeiten abnimmt und mich anschließend dennoch den Helden spielen lässt, wenn ich den Jungs ihre reparierten Spielzeuge überreichen darf.

Bald schon haben sich die Gemüter wieder beruhigt und die Jungen brausen in einem neuen Spiel auf und davon. Rennen über das weite Grün, das unser Haus umgibt, bis sie sich wieder in undefinierbare Farbtupfer verwandeln und kurz darauf vollends von der milchigen Landschaft verschluckt werden. Nun höre ich nur noch ihr Lachen. Eine nette Abwechslung.

Zufrieden lehne ich mich auf meiner Bank zurück und inhaliere den Duft des Frühlings. Als Kind war mir diese Jahreszeit immer die liebste. Sie bedeutete viel Arbeit, aber auch ebenso viel Freude, und irgendwie schürte sie in jedem Jahr eine undefinierbare Euphorie in mir. Ja, immer dann, wenn sich Knospen öffneten, wenn neue Tiere geboren wurden und aus Samen winzige Pflanzen keimten, bekam ich schon als Junge eine Ahnung davon, wie großartig dieses Leben sein konnte. Natürlich kam erst mit zunehmendem Alter auch ein gewisser Respekt für diese wiederkehrenden Wunder hinzu. Später dann eine gewisse Unruhe, fast sogar eine Art Furcht, und letztlich – heute – die Ergebenheit.

Wie lange ich noch Zeuge dieses ewigen Kreislaufs der Jahreszeiten sein werde, weiß ich nicht. Fest steht, dass entweder dieser oder einer der nächsten mein letzter Frühling sein wird. Manchmal frage ich mich, ob es wohl ein gutes Zeichen ist, dass diese tiefe innere Ruhe, die der Duft von saftigem Gras und wilden Kirschblüten mittlerweile in mir auslöst, die langjährige Sorge abgelöst hat.

Ich weiß es nicht. Aber dieser Gedanke führt mich zurück zu meinem Buch. Denn es gibt noch eine letzte Aufgabe, die ich wie eine Last auf meinen alten Schultern spüre. Obwohl, nein, das ist nicht richtig. Nicht wie eine Last, das war es nie. Es ist eher … ein kameradschaftliches Klopfen, begleitet von einem sanft geflüsterten »Tu es, Junge!«

Ich überlese die letzte Zeile noch einmal, positioniere meine viel zu steifen Finger über den Tasten meiner alten Schreibmaschine und versuche angestrengt, den roten Faden wiederzufinden. Es gab Zeiten, in denen mir das um einiges leichter fiel. Doch jetzt ist es so, wie meine Mutter schon früher zu sagen pflegte: »Mit dem Alter wird manch einem selbst das Denken zu viel.«

Meine Mutter war eine weise Frau, aber … nun, ich werde mir diese Trägheit nicht gönnen, so einfach ist das. Nicht, bis dieses Buch, von dem ich immer so spreche, als läge es bereits fertig gebunden vor mir, auch wirklich vollständig geschrieben ist.

 

Meine Enkelin Anna unterbricht meinen frisch aufgenommenen Gedankenzug wieder, kaum dass ich ein paar Worte getippt habe.

Ich höre ihre Schritte, die hastig über die Holztreppe hinabklappern. Sofort – mit einer Vorahnung, die eher schon einer Gewissheit gleicht – stellen sich die Härchen an meinen Unterarmen auf.

Sophie!, durchfährt es mich, unmittelbar bevor Anna die letzte Hoffnung auf einen Irrtum beiseitewischt. »Opa, komm schnell! Oma ist wieder …«

Ich erhebe mich mit einem tiefen Seufzer, ignoriere den scharfen Schmerz, der mein linkes Bein durchzuckt, und wende mich dem hübschen Mädchen zu. Anna ähnelt ihrer Großmutter, um die sie sich so sorgt, wie kein anderes unserer Enkelkinder. Sie ist sechzehn Jahre alt, temperamentvoll, aber auch sanftmütig – und bildhübsch. Nur im Moment ist ihr Gesicht zu blass und die Augen sind ein wenig zu groß. Sophies Anfälle ängstigen das Mädchen jedes Mal.

»Schon gut, mein Kind«, sage ich und tätschele ihre Wange. Anna reicht mir meinen Gehstock und begleitet mich bis zur Treppe. »Möchtest du dieses Mal mitkommen?«, frage ich zögerlich. Zu meinem großen Erstaunen nickt sie, wenn auch mit schlecht kaschierter Unsicherheit in den Augen. Nun, die Tapferkeit liegt in unserer Familie.

Langsam humple ich voran. Die hölzernen Stufen ächzen unter meinem Gewicht. Als wir den oberen Korridor erreichen, überholt mich Anna und öffnet die Tür, hinter der uns ihre Großmutter erwartet.

Der Raum ist verdunkelt; Sophie hatte sich zurückgezogen, um wie jeden Nachmittag ein Nickerchen zu halten. Seit gut zweieinhalb Jahren mehren sich die Tage, an denen ihre Ruhepause gestört wird, ehe sie so recht begonnen hat. Eine Feststellung, die mir Sorge bereitet und mich antreibt, die Arbeiten zu meinem Buch schnellstmöglich zu beenden. Doch momentan muss das warten. Weil Sophie mich jetzt braucht.

Nur ein Blick auf die Frau, die zusammengekauert wie ein verängstigtes Kind im Schaukelstuhl am Fußende ihres Bettes sitzt und wirr vor sich hinmurmelt, bestätigt mir meine Vermutung.

Oh ja, sie braucht mich dringend!

Ihre Augen starren ins Leere. Die Worte fließen ohne jeden Zusammenhang monoton und scheinbar endlos über ihre Lippen. Beinahe mechanisch. Nur, dass keine Maschine der Welt mit ihrem Tempo mithalten könnte. »Dreizehnter, Zimt, Alfred, der Nussknacker, wenn ich nur wüsste, wie …« Ein nervöses Kichern.

Anna wirft mir einen hilfesuchenden Blick zu, den ich mit einem hoffentlich beruhigenden Lächeln erwidere. Es gerät wohl ganz gut, denn das Mädchen scheint mir meine eigene Unsicherheit nicht anzumerken. Die Körperhaltung meiner Enkelin entspannt sich ein wenig; ich reiche ihr meinen Gehstock.

»Was … redet sie da nur immer, Opa?«, fragt sie leise, obwohl das völlig unnötig ist. Ihre Großmutter nimmt uns in ihrem derzeitigen Zustand ohnehin nicht wahr.

»Es sind Fetzen dessen, was ihr im Kopf herumschwirrt«, erkläre ich und nehme umständlich auf der Bettkante an Sophies Seite Platz. »Dreizehnter, das kann Teil eines Datums sein. Zimt die Erinnerung an ein besonders eindrucksvolles Weihnachtsfest in der alten Heimat, und Alfred ein Spielkamerad aus Kindheitstagen, der Nussknacker ein Ballettstück, in dem sie vielleicht einmal solo getanzt hat. Aber ich weiß es nicht. Das sind nur Mutmaßungen«, gebe ich schulterzuckend zu und ergreife dann Sophies Hand. Behutsam löse ich die verkrampften Hände von den Armlehnen des Schaukelstuhls, Finger für Finger. Als mir das zunehmend gelingt, spüre ich, wie sehr sie beben.

»Liebes? … Liebes?«

Nach der vierten Ansprache dieser Art streift mich ihr Blick, geht jedoch durch mich hindurch. Mein Daumen zieht zärtliche Kreise auf ihrem Handrücken. Es wirkt nach wie vor unwirklich auf mich, dass ihre Haut fast ebenso faltig aussieht und sich lose über die Knöchel hin- und herschieben lässt wie die meine. Ich sehe sie so oft noch als das kleine Mädchen vor mir, als das ich sie kennenlernte. Die nun grauen Haare hellblond, der mittlerweile verblasste Grünstich ihrer Augen noch frisch und lebendig. Sprühend vor Elan.

Dennoch kann ich dem Bild, das sie mir in diesem Moment bietet, nichts Trauriges abgewinnen. Es ist Teil dessen, was sie ausmacht und schon immer ausgemacht hat. Teil ihres Wesens, das ich so sehr liebe und schätze. Denn Gott weiß, ohne Sophies besondere Art der Erinnerung, die ich immer als Gabe angesehen habe, so sehr sie mitunter auch einem Fluch glich, säßen wir beide nun nicht hier.

Wie jedes Mal in vergleichbaren Situationen, fällt mir auch jetzt wieder die erste Lektion ein, der erste Rat, den ich vor nahezu sieben Jahrzehnten in Bezug auf Sophies Besonderheit bekam. Er stammt aus dem Mund ihrer Mutter und lautet: »Hilf ihr zu vergessen, indem du sie gezielt erinnerst!«

Damals war ich noch sehr jung und kaum imstande gewesen, die Worte vollumfänglich zu verstehen. Doch jetzt verleihen sie mir Kraft. Schnell picke ich ein Bild aus meiner Erinnerung.

»Sophie?« Ich streichele ihre Wange, bis sie meinem Blick begegnet und ihn hält. Ihr Gemurmel reißt dabei nicht für eine Sekunde ab.

»Engel, weißt du, woran ich immer wieder denke?«

Natürlich antwortet sie nicht, aber meine Frage ist ja auch rein rhetorisch. Ein Einstieg, mehr nicht.

»Ich werde niemals vergessen, wie du aussahst, als du im Krankenhaus auf diesem schmalen Podest aus Tischen standest und getanzt hast. Niemals. Du trugst ein helles Kleid. Gelb, mit kleinen Blümchen.«

Abrupt schnappt sie aus ihrer Starre.

»Beige. Rosen. Blaue Rosen. Tante Lena hatte es genäht. Am zweiten Sonntag im Februar, das war der 11. in diesem Jahr. Alles war gefroren. Ein totes Kaninchen …«

Ich versuche, mein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Es war klar, dass sie meine Fehler nicht so stehenlassen würde, doch sie pendelt noch viel zu stark hin und her. Also weiter!

»Ja, richtig. Und die Musik, zu der du getanzt hast …«

»Nussknacker-Suite, Tschaikowski. Der Marsch der Zinnsoldaten«, erwidert sie prompt. Erleichtert atme ich durch. Heute macht sie es mir leicht. »Es war ein Donnerstag, nicht wahr?«, frage ich schnell. Sophie schüttelt den Kopf. Ihr Blick wird bereits ein wenig klarer. »Freitag, der 4. Mai 1945. Die Sonne schien, aber es war nicht zu heiß. Am Abend setzte leichter Regen ein. Mutter und ich rannten den gesamten Weg nach Hause, damit wir nicht zu nass wurden.«

»Bleib im Krankenhaus! Denk an das Lächeln!«, befehle ich leise, beinahe flüsternd. Ihre Lippen schließen sich, der rechte Mundwinkel zuckt. Ich weiß genau, was sie nun vor sich sieht. Den Jungen. Nur wenig älter als sie selbst, dem Tode näher als dem Leben. Damals. Seinem Zustand zum Trotz lächelnd.

Selig, ihretwegen. Immer nur ihretwegen.

Mit einem Mal hebt sich der Schleier vor Sophies Augen. Ihre Hände beben nicht länger, sie entspannen sich in meinem Griff. Es dauert etliche Sekunden, in denen sie tief und immer tiefer durchatmet. Dann hat sich die Panik, diese schreckliche Orientierungslosigkeit, endgültig gelegt.

»Danke«, wispert Sophie und lehnt ihre Stirn gegen meine. »Ich danke dir, mein Schatz.«

»Jederzeit.« Ich umfasse ihren Nacken. Massiere behutsam über die Stelle, von der ich weiß, dass sie immer latent schmerzt. Als sich auch diese letzte Verspannung etwas gelöst hat, stehe ich auf und ziehe Sophie mit mir. Ich führe sie zum Bett, wo ich ihr die Schuhe von den Füßen streife, während sie sich hinlegt, und bleibe an ihrer Seite, bis sie eingeschlafen ist.

Anna blende ich dabei aus, zumindest beinahe, denn unsere Enkeltochter verhält sich mucksmäuschenstill. Nur Sophies entschuldigender Blick, der lange auf Anna ruht, bevor sie die Augen endlich schließt, erinnert mich an die Anwesenheit des Mädchens.

 

»Weißt du schon, wann du fertig wirst, Opa?«, fragt Anna, als wir wieder auf der Veranda ankommen und sie sich neben mich auf die Bank setzt. Ihre Augen fixieren die blaue Mappe und das fast noch leere Blatt, das aus der alten Schreibmaschine ragt. »Ist es noch viel?«Ich verstehe ihre Ungeduld, doch ich werde mich nicht drängen lassen. Nicht von außen, zumindest. Meine innere Uhr ist mir schon Metronom genug.

Und so lege ich einen Arm um meine jüngste Enkelin und ziehe sie an meine Seite. Drücke einen Kuss auf ihren Scheitel und schmunzele glücklich, weil sie sich so bereitwillig an meine Schulter schmiegt.

»Nun, es ist ein volles Leben, Kleines. Und was für eines!«

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I.

– Erfurt, 13. April 1945 –

Erik wunderte sich, denn er hatte das Schlagen seines Herzens noch nie zuvor so stark und deutlich gespürt.

Der Junge erinnerte sich an die nette Frauenstimme, die ihm versprochen hatte, dass er erst wieder erwachen würde, wenn schon alles vorbei wäre. Aber konnte das denn wirklich sein? Hatten sie ihn tatsächlich schon operiert? Der grauhaarige Mann mit den vielen kleinen Schweißperlen auf der Stirn hatte ihm doch gerade erst diesen ekligen Lappen auf Mund und Nase gedrückt.

Erik versuchte die Augen zu öffnen, doch seine Lider blieben fest geschlossen. Der Junge war einfach zu schwach, und es ärgerte ihn, dass er nicht Herr über seinen Körper war. Aber dann war er auch wieder zu schwach, um richtig wütend darüber zu werden. Er glaubte zu seufzen, doch es klang eher wie ein Wimmern.

Ein großer rauer Daumen strich über Eriks Handrücken, vermutlich als Reaktion auf den kleinen Laut, den er von sich gegeben hatte.

Sofort schrak der Junge innerlich zusammen.

Ganz vorsichtig, mit nur einem Finger, den er mit aller Kraft beugte und wieder streckte – und der sich dennoch nur wenige Millimeter bewegte –, strich Erik über die Hand, die seine festhielt. Aber so sanft seine Berührung auch ausfallen mochte, es reichte aus, um die Schwielen und Risse zu erfühlen, die seine Hoffnung zusätzlich drückten. Denn sie passten einfach nicht, fühlten sich vollkommen fremd an.

Obwohl auch die Finger seiner Mutter rau und schwielig waren – die Arbeit in der Fabrik war hart –, war sich Erik nun ganz sicher, dass diese Hand nicht zu ihr gehörte. Sie war zu männlich.

Vati, durchfuhr es ihn. Und weil Erik seinen Vater schon so lange nicht mehr gesehen hatte, bemühte er sich umso heftiger, die Augen zu öffnen. Aber er kam einfach nicht gegen diese lähmende Trägheit an, die wie Blei auf ihm lag und ihn komplett beherrschte. Selbst das Überlegen fiel ihm unsagbar schwer, und Erik pendelte ständig zwischen halbwegs bewussten Gedanken und Traumsequenzen hin und her.

Auch die Geräusche, die ihn umgaben, klangen dumpf und viel zu weit entfernt. Sie bauschten sich auf und ebbten schon wieder ab, bevor der Junge sie zu fassen bekam. Nur Fetzen, Bruchstücke nahm er wahr, mehr nicht. Das schwache Husten eines Mannes, die energische Stimme einer Frau. Erik fragte sich, warum er hörte, wie aufgebracht sie war, und dennoch nicht verstehen konnte, was sie sagte.

Doch da sackte er auch schon wieder ein Stück tiefer, wurde noch schwerer. Erneut flackerte das Bild des Engels vor seinem geistigen Auge auf. Es war das Motiv eines Ölgemäldes, das einst über seinem Bett gehangen hatte. In der alten Wohnung, die es nun nicht mehr gab. Nur sehr wenige Erinnerungsstücke hatten sie aus den Trümmern geborgen, noch viel weniger mitgenommen. Das geliebte Bild des Schutzengels, das Erik früher an jedem Abend vor dem Einschlafen betrachtet hatte, war zurückgeblieben.

Doch nun sah er seinen Engel wieder. Mit blasser Hand winkte die himmlische Gestalt den Jungen heran und forderte ihn auf, ihr zu folgen. In gleißendem Licht stehend, aus dem der Engel selbst geschaffen zu sein schien, lockte er Erik wortlos mit dem Versprechen auf Erlösung und immerwährende Wärme. Und das war wirklich sehr verheißungsvoll, denn dem Jungen war kalt. O Gott, ihm war so fürchterlich kalt.

Dennoch schüttelte Erik in seinem Traum heftig den Kopf und stützte voller Trotz die Hände in die Hüften. Nein, sein Platz war nicht im Himmel, zumindest noch nicht. Das konnte er seinen lieben Eltern nicht antun.

Das Lächeln des Engels war mild und nachgiebig. Schließlich nickte er dem Jungen zu und winkte wieder. Aber dieses Mal war es eine andere Geste, ein Abschied.

Der Engel ging … und Erik durfte bleiben. Weiterleben.

Die Kälte krabbelte weiter durch seinen kleinen Körper, von den Zehen bis zu den Haarwurzeln überrollte sie den Jungen nun, und dahinter lag – leise und noch kaum mehr als eine Ahnung – der Schmerz. Da lauerte er also doch.

Das grelle Licht verschmolz endgültig mit dem Engel, schien ihn regelrecht zu schlucken, und binnen Sekunden wurde das gütige vertraute Gesicht durch ein anderes, viel dunkleres ersetzt.

Der Kannibale!

Erik fuhr zusammen, schreckte beinahe aus seinem benebelten Zustand, löste sich jedoch nicht genug, um endgültig zu erwachen.

Die Erinnerung an den fremden Soldaten ließ ihn erschaudern.

 

Ein paar Tage zuvor waren die Amerikaner auch in Erfurt einmarschiert; inzwischen hatte sich die Stadt ergeben. Heute hatte es erstmals keine neuen Kämpfe gegeben, und an den Fenstern hingen bereits weiße Handtücher, Schürzen, Bettlaken, Kissenbezüge, manchmal sogar nur Taschentücher, als Zeichen der Kapitulation. Langsam und voller Verunsicherung krochen die Menschen aus ihren Luftschutzkellern und Bunkern. Es gab keine Radioberichte, aber die Nachricht verbreitete sich auch von Mund zu Mund wie ein Lauffeuer. Und obwohl es die Kunde einer enormen Niederlage war, spiegelten die Gesichter der Bürger dabei vor allem eines wider: tiefe Erleichterung.

Erik hatte das alles nicht so recht begriffen. Aber auf diese Art – darauf lauschend, was die Erwachsenen so munkelten – war ihm schon bald zu Ohren gekommen, dass die Amerikaner die Wehrmachts- und Kriegsbestände an Lebensmitteln und Textilien zur kostenlosen Entnahme für die Erfurter Bevölkerung geöffnet und freigegeben hatten.

Der Junge hatte kaum glauben können, was er da hörte. Aber es stimmte wirklich, es musste einfach stimmen! Denn kaum war er den wachsamen Augen seiner Mutter entwischt und auf die nächstgrößere Straße gerannt, waren die Menschen mit vollen Armen an ihm vorbeigeeilt – und er war einfach immer weitergelaufen. Staunend, der Quelle entgegen, wo auch immer sie sich befand. Zumindest schien Erik auf einem guten Weg zu sein, denn je weiter er lief, desto mehr Menschen strömten ihm entgegen.

Jeder trug so viel er nur konnte.

Lebensmittel wie Mehl und Zucker wurden zentnerweise gekarrt, Kisten voller Chlorodont-Zahnpasta geschleppt, Kleidung und Schuhe geschultert. Sogar Beutel mit Puddingpulver erkannte Erik, als ein Mann an ihm vorbeihastete.

Und so war es dem Jungen schlichtweg unmöglich gewesen, sich an die Weisungen der Mutter zu halten – so strikt die auch gewesen sein mochten –, zumal er doch nichts im Magen und das Schlaraffenland direkt vor Augen hatte. Vor über einem Monat waren die Brot-, Nährmittel- und Fettzuteilungen an die Bürger noch einmal erheblich gekürzt worden, und seitdem hatte Erik ständig Hunger. Auch an diesem Vormittag des 13. April 1945 knurrte sein Magen lautstark.

Also war er zunächst noch gegangen, dann gelaufen und schließlich gerannt, wild entschlossen, sich seinen Teil des Kuchens auf eigene Faust zu sichern.

Freitag, der Dreizehnte hin oder her …

Mit Aberglauben hatte Erik ohnehin nichts am Hut; er fand, das war Weibersache. Und seinen Schwestern und der Mutter wollte er schon noch zeigen, was ihnen entgangen wäre, hätte er wirklich auf sie gehört. Später würde er seine Eroberungen vor ihnen ausbreiten und sich feiern lassen, so malte er es sich aus.

Und wer weiß, vielleicht wäre Erik wirklich der umjubelte Held seiner Familie geworden, wäre sein Vorhaben glücklicher ausgegangen. Doch das war es nicht.

Jetzt überlegte er, ob vielleicht doch etwas an diesem Aberglauben rund um den Unglückstag dran sein könnte?

Wieder seufzte er. Und wieder klang es eher wie ein Jammern.

Ach, wenn er doch auf seinem Weg nur nicht diesen anderen Jungen namens Paul getroffen hätte. Oder wenn Paul zumindest schon wieder weg gewesen wäre, als Erik die Panzerfaust entdeckt hatte. Schließlich hatte Erik selbst sofort gewusst, dass sie noch scharf war. Und er hätte bestimmt auch keinen Beweis dafür gebraucht. Aber Paul, dieser Dummkopf, hatte ihn ja ein Großmaul genannt und ihm einfach nicht glauben wollen.

Und nun lag Erik hier – in irgendeinem Krankenhaus, verletzt und offenbar sogar schon operiert. Aber vor allem: mit leeren Händen. Ohne ein einziges Paar Schuhe, verdammt noch mal!

Paul hingegen war irgendwo. Und zwar mit Eriks wertvoller Fliegeruhr.

Ach, wie sehr Erik es bereute, diesen dummen Tauschhandel eingegangen zu sein. Denn die Uhr hatte fest um sein Handgelenk gelegen. Im Gegensatz zu den Lederstiefeln, die er für einen Moment neben sich abgestellt hatte, um Paul zu beweisen, dass die blöde Panzerfaust sehr wohl noch scharf war.

»Jaja, hätte, hätte! Wenn der Hund nicht geschissen hätt’, hätt’ er den Hasen noch gekriegt«, hörte der Junge nun das Krächzen seines Großvaters in seiner Erinnerung.

Richtig, dachte Erik trotzig. Alles hätte nur ein ganz klein wenig anders laufen müssen …

Aber das war es nicht. Und da hatte er nun den Salat.

Nur durch Paul, diesen Idioten. Und vermutlich auch ein bisschen, weil er selbst nicht auf seine Mutter gehört hatte. Das musste Erik sich wohl oder übel eingestehen.

Er fragte sich, ob sie sehr böse auf ihn wäre. Oh, bestimmt. Sicher würde sie ihn sogar verhauen, trotz seiner Verletzungen, denn das hatte er verdient, befand der Junge.

Erik wusste, wie sehr sich die Mutter um ihn sorgte, und bereute aufrichtig, ihr solchen Kummer bereitet zu haben. Besonders, weil ihr Bauch nun schon so rund war und man zu Frauen, in denen Winzlinge heranwuchsen, doch eigentlich besonders lieb sein musste.

Das neue Kind würde schon bald kommen. Ende Juni, Anfang Juli, hatten sie gesagt. Also nur noch ein paar Monate. Erik hoffte sehr auf einen Bruder, denn mit den drei Schwestern war nicht immer gut Kirschen essen.

Dennoch hatte der Junge seinem Vater vor dessen Abreise natürlich fest versprochen, sich gut um die Mädchen zu kümmern und artig zu sein. Schließlich war Erik nun schon neun Jahre alt, der Zweitälteste nach Christel.

»Jetzt bist du der Mann im Haus«, hörte er die Stimme seines Vaters und spürte in der Erinnerung noch einmal die große Hand auf seiner Schulter, den festen Druck.

Und jetzt hatte er seiner Mutter solchen Ärger gemacht.

 

Wie schwer mochten seine Verletzungen wohl sein? Erik strengte sich an, bündelte Kraft und Willen und fuhr in Gedanken seinen kompletten Körper entlang – über die rechte Lende, den Oberschenkel, sein Knie. Hinab, bis zu den Zehen seines rechten Fußes. Er hielt die Luft an und kniff die Augen noch fester zusammen. Wenn er sie schon nicht öffnen konnte …

Langsam krümmte er seine Zehen. Es ging, der Junge spürte jeden einzelnen. Erleichtert atmete er aus und versank dabei noch etwas tiefer in der durchgelegenen Matratze.

Seinen linken Daumen hingegen spürte er nicht. Die gesamte Hand war taub, nach wie vor.

So ein Mist!

Er hatte direkt gewusst, dass diese Verletzung die schlimmste war. Gleich nachdem der Rückstrahl Erik erwischt hatte, war ihm das schon klar gewesen. Natürlich hatten ihm die Ohren zunächst noch so stark gesummt, dass er nicht einmal gewusst hatte, wo er lag und was überhaupt geschehen war. Vermutlich hätte er in diesen ersten Sekunden nicht einmal seinen Namen sagen können. Aber es hatte ohnehin niemand danach gefragt.

Der Anblick seiner Handverletzung hatte Erik dann so sehr entsetzt, dass er dadurch wieder ein wenig zu sich gekommen war.

 

Auf dem harten Boden liegend hatte er an sich hinabgeblickt und seinen linken Daumen betrachtet, der nur noch durch einen dünnen, fransigen Hautfetzen mit dem Rest der Hand verbunden war. In einer Art Reflex hatte er ihn an seinen Platz zurückgedrückt und angepresst, als hätte er ihn auf diese Weise wieder fixieren können. Doch sobald Erik losließ, klappte der Daumen leblos zurück und gab erneut den Blick auf Muskeln und Sehnen frei. Das Blut lief über seinen Unterarm. Einem endlosen Faden gleich, floss es auf das Kopfsteinpflaster unter ihm. Wie dunkel es war …

Der Junge sah weiter an sich hinab, erblickte seinen rechten Fuß, der seltsam verdreht in dem Strumpf lag und, als er das Bein anhob, darin hin und her baumelte wie das Gewicht an einem Pendel.

Gestank umgab ihn. Ein widerlicher Gestank nach verbranntem Fleisch. Mit jedem Atemzug sog Erik ihn ein. Sein Magen zog sich zusammen, und bitter schmeckender Speichel sammelte sich in seinem Mund. Von weit her drangen die Rufe einer Frau an sein Ohr. Auch ein Kleinkind weinte irgendwo, doch das hörte Erik kaum, so leise war das Geräusch hinter dem Rauschen und Fiepen in seinen Ohren.

Zwei Männer kamen, der eine alt, der andere ein Ausländer. Sie schienen ihn etwas zu fragen, aber der Junge antwortete nicht. Teilnahmslos sah er ihnen zu, wie sie mit bloßen Händen einen leeren Kohlesack zerrissen und sein Bein am Oberschenkel abbanden. Erst als die Männer ihn in eine uralte Kinderkarre gehoben hatten und einfach mit ihm losrannten, war wieder Leben in den Jungen gekommen.

»Warten Sie! Meine Stiefel! Ich muss die Lederstiefel für meinen Vater mitnehmen. Ich habe Onkel Ottos Fliegeruhr dafür eingetauscht!«, hatte Erik gebrüllt.

Aber niemand schenkte ihm Beachtung.

Im Laufschritt schoben ihn die Männer über das aufgeworfene Pflaster. Das Gestell quietschte und knarrte unter ihm, und Erik erwartete fast, dass es jeden Moment vollständig auseinanderbrechen würde. Schließlich war er schon viel zu groß für so eine klapprige Kleinkindkarre. Doch sie hielt ihn.

Bis sie unter einem bedrohlichen Ächzen zum Stillstand kam.

Denn auf einer großen Straßenkreuzung stand ein Panzer – breit und bedrohlich, wie ein Symbol der Macht und des Sieges. Ein Fahrzeug der Feinde, der Amerikaner.

Ein Riese stellte sich den Männern und dem verletzten Jungen in den Weg. Breitbeinig, in Uniform und mit einem Gewehr, dessen Griff er fest umklammerte.

Der Junge sah zu ihm auf und hielt zunächst noch das Sonnenlicht dafür verantwortlich, dass er den Riesen wie einen Scherenschnitt wahrnahm. Schwarz vor Weiß.

Doch dann beugte sich der Mann zu Erik hinab … und blieb genauso dunkel wie zuvor. Der Junge erstarrte.

Noch immer verspürte er weder Angst noch Schmerz, doch nun wusste er sicher, dass er sterben würde. Zwar nicht an seinen Verletzungen – zum Verbluten würde ihm vermutlich nicht einmal mehr Zeit bleiben –, aber der finstere Blick des Schwarzen vor ihm ließ keinen Platz für Zweifel.

Ein Kannibale!

Die wulstigen Lippen fest aufeinandergepresst, schüttelte der Menschenfresser-Soldat den Kopf und murmelte Worte in einer fremden Sprache. Er schien wütend zu sein. Dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf und redete aufgebracht auf die beiden Männer ein.

Als die ihn nur ratlos und ängstlich ansahen, wandte er sich ab und rief etwas, das wie eine Frage klang.

»Kranke-Haus«, brüllte eine Männerstimme mit einem eigenartigen Akzent zurück. Das Gesicht zu dieser Stimme bekam der Junge nicht zu sehen. Es klang, als käme sie direkt aus dem Panzer. Der Kannibale wandte sich erneut den Männern zu.

»Where is the next Kranke-Haus?«, fragte er und seine Stimme klang dabei, als stecke sie tief in seiner Kehle fest. Er deutete auf einen Lkw mit offener Ladefläche, der direkt neben dem feindlichen Panzer stand.

Die Männer neben Erik nickten.

Ruckartig hob der Fremde das schockgefrorene Kind aus der Karre und legte es über seine Schulter. In diesem Moment floss die erste Träne über Eriks Wange. Niemand bemerkte es, doch nun – ganz schlagartig – hatte er furchtbare Angst.

Der ältere der beiden Männer, die seine Verletzungen notdürftig versorgt hatten, hievte sich umständlich auf die Ladefläche des Lkws. Der Schwarze hob den Jungen so mühelos zu ihm empor, als wöge Erik nicht mehr als ein Kaninchen. Der Junge war erstaunt, als sich der uniformierte Kannibale hinter das Lenkrad setzte und selbst fuhr.

Können die Wilden denn so etwas?

Dies war zwar der erste Neger, den er in Natura sah, aber Erik fühlte sich dennoch nicht unwissend. Schließlich gab es in seinem Wilhelm-Busch-Buch einige Kannibalen, die genauso aussahen wie dieser Mann hier. Abgesehen von den Ringen, die ihre Nasen schmückten und den Knochen, die in ihren krausen Haaren verknotet waren. Obwohl … Vielleicht versteckte sich dieses Markenzeichen der Menschenfresser ja auch unter dem Helm des fremden Soldaten.

Der ältere Mann hielt den Jungen fest in seinem Schoß, redete von Zeit zu Zeit beruhigend auf ihn ein und versuchte konzentriert, die harten Schläge, die durch die Fahrt auf der zerstörten Straße unter ihnen ausgelöst wurden, abzufangen. Mit ausladenden Gesten und lauten Rufen erklärte er dem Fremden den Weg. Immer wieder blitzten die dunklen Augen des noch dunkleren Mannes im Rückspiegel auf. Sein zorniger Blick jagte dem Jungen eine Gänsehaut über den Körper.

Als sie ankamen, wurde Erik wieder dem mürrischen Kannibalen überreicht.

Verrat, durchzuckte es ihn. Wieso überließ der Deutsche ihn dem Feind? Was war denn nur los an diesem verflixten Tag, an dem alles auf dem Kopf stand und rein gar nichts mehr richtig zu sein schien?

Der Fremde zögerte keine Sekunde. Er spurtete sofort los, wobei er mit der einen Hand den losen Fuß des Kindes festhielt.

Noch immer spürte der Knabe keinen Schmerz, auch wenn die riesige Hand des Mannes sofort blutüberströmt war. Es tropfte nur so an seinen Fingern hinab.

Der Junge sah über die breite Schulter zu dem Lkw zurück, auf dessen Ladefläche der Alte stand und ihm mit sorgenvoller Miene nachblickte. Eine dunkelrote Spur markierte den Weg, den der Kannibale bereits hinter sich gebracht hatte. Doch Erik war von dem Anblick seines in den Pflasterfugen versickernden Blutes nicht schockiert. Zumindest nicht bewusst. Stumm verfolgte er die Spur bis zu ihrer Quelle. Dabei fiel ihm nur auf, dass die Handinnenfläche des Schwarzen an den wenigen nicht benetzten Stellen fast so hell war wie seine eigene.

Diese Entdeckung wiederum erinnerte den Jungen an seinen abgeklappten Daumen. Er versuchte ihn zu bewegen, doch die linke Hand war vollkommen taub.

Im Eingangsbereich des großen Hauses roch es nicht gut.

Gemischt mit dem rauchigen Gestank, der seiner Kleidung anhaftete, hüllte ihn der beißende Geruch ein. Eriks Magen zog sich zusammen. Der Junge würgte und würgte, doch es kam nichts – was er bedauerlich fand, denn vielleicht hätte das dem Menschenfresser ja den Appetit verdorben.

Langsam wurde der Junge müde. Obwohl ihn seine innere Stimme warnte, dass es verheerend sein könnte, jetzt das Bewusstsein zu verlieren, ergab er sich zunehmend der wohltuenden Schwere. Sie umfing ihn immer stärker und presste ihn tiefer und tiefer in die Arme des Fremden.

Schließlich fielen Eriks Augen zu.

»Help!«, rief der riesige Mann, der ihn trug. »Help!«

Kurz darauf klackerten eilige Schritte über die Fliesen des kahlen Gangs. »O Gott, ein Kind!«, rief eine Frau. »Schnell!«, sagte eine andere, bereits dicht an Eriks Gesicht. Der Junge spürte ihren Atem und sog ihn gierig ein, weil er wesentlich angenehmer roch als die übrige Luft in diesem Gebäude.

Man legte ihn ab, und Erik spürte verwundert, dass er geschoben wurde.

Ein fahrendes Bett?

Im Hintergrund hörte er die Frauenstimmen, doch er vernahm nur noch vereinzelte Wortfetzen ihres hektischen Dialogs.

»Die Hand … unzählige Splitter … der Fuß … hoffentlich nicht zu spät … der Ami …«

Wo ist der Kannibale? Warum hat er mich in ein Krankenhaus gebracht? Will er mich denn gar nicht fressen?

In Eriks Kopf schlugen die Gedanken Kapriolen. Er begann zu zittern, fühlte sich unsagbar erschöpft. Dennoch konnte er nicht schlafen, weil ihm so kalt war. Ganz furchtbar kalt. Und der innere Frost wurde nur noch mächtiger, dehnte sich von Sekunde zu Sekunde weiter aus.

Die Brust des Schwarzen war hart gewesen, aber warm. Beinahe wünschte sich Erik nun in die starken Arme des Fremden zurück, da bemerkte er die schweren Schritte an seiner Seite. Eine tiefe kehlige Männerstimme murmelte Worte in einer Sprache, die er nicht verstand.

Währenddessen strich eine flinke Hand die Haare aus Eriks Stirn zurück, federleicht. Eine der Frauen. »Armer Kleiner!«, wisperte sie. Eine Tür wurde aufgestoßen, die Scharniere quietschten. Der widerliche Geruch verstärkte sich schlagartig, und dann erklang plötzlich die energische Stimme eines deutschen Mannes: »Zerschneiden Sie die Hose und den Strumpf, Schwester Henriette! Schnell, man hat ihm das Bein nicht kräftig genug abgebunden!« Eriks Wange wurde getätschelt. »Junge! Sieh mich an, Junge!«, forderte der Mann. Der Knabe öffnete die Augen und wurde sofort geblendet. Eine kleine Lampe schwenkte direkt über seinem Gesicht. Das Licht zog lange Schlieren hinter sich her, die sich nur langsam auflösten und nichts weiter als tiefe Dunkelheit hinterließen.

»Beeilen Sie sich, er verliert zu viel Blut«, kommandierte der Mann. Als sein Gesicht aus der Dunkelheit auftauchte und Erik ihn endlich klar erkennen konnte, bemerkte er die Schweißperlen auf der faltigen Stirn. Sie glitzerten wie tausend kleine Diamanten. Der Junge hatte noch nie etwas Schöneres gesehen. Wie Morgentau.

Silbrige Haarsträhnen fielen in das runzelige Gesicht des Mannes, als er sich ruckartig abwandte. Frauenfinger strichen die grauen Haare zurück und fingen sie mit einer Haube ein. Ein Mundschutz folgte. Für einen Moment waren nur noch blassblaue Augen sichtbar, bis die große Hand des Alten zurückkam … und mit ihr ein feuchter Lappen, den man offenbar in die Quelle des ekelerregenden Geruchs getunkt hatte. Er stank so beißend, dass Erik sofort schwindelig wurde, doch die Hand legte sich mitsamt des getränkten Tuches über Mund und Nase des Jungen. Eriks Augen weiteten sich in Panik. Eine Frau sprach dicht an seinem Ohr und streichelte ihm dabei beruhigend über den Kopf. »Wir operieren dich jetzt, mein Kleiner. Du wirst nichts spüren, versprochen. Und wenn du aufwachst, ist schon alles vorbei. Schlaf jetzt! … Schlaf!«

Das waren die letzten Worte, die Erik klar gehört hatte.

Dann wich die Kälte aus seinem Körper und er wurde in eine nie gekannte Tiefe gezogen. Angstfrei, warm, ohne Schmerzen.

Der Engel aus seinem alten Bild hatte ihn empfangen und kurz begleitet. Nur für wenige Sekunden, wie es Erik rückblickend vorkam. Doch jetzt, nach dem Abschied des Engels und dem Wirbelsturm der noch so frischen Erinnerungen, spürte der erwachende Junge erneut die geballte Kraft der Kälte. Sie klomm in ihm empor und überrollte ihn wie eine Welle. Erik zitterte. Seine Zähne schlugen heftig aufeinander. Ein weiteres Wimmern wurde laut, und diesmal begriff er sofort, dass es sein eigenes war.

Die rauen Finger, die bisher nahezu reglos seine Hand gehalten hatten, schlossen sich nun um seinen Unterarm und streichelten ihn sanft dort, wo man den Puls ertasten konnte. »It’s alright. Everything’s gonna be alright, you’ll see.«

Die Worte klangen weich und fest zugleich. Obwohl er sie nicht verstand, spürte Erik den Trost in der Stimme des Mannes. Dennoch durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Stromschlag:

Der Kannibale! Er ist immer noch da!

Die plötzliche Panik setzte Kraftreserven frei; Eriks Augen schossen auf, als hätte man seine Lider an Schnüren hochgerissen. Er blickte dem Soldaten direkt ins Gesicht. Den schien das selbst ein wenig zu erschrecken. Doch dann, nach nur wenigen Sekunden, in denen der Junge seinen Blick ohne zu blinzeln in das erstarrte Gesicht des Fremden gerichtet hatte, verzog sich dessen Mund. Die wulstigen Lippen teilten sich und gaben den Blick auf zwei perfekte Zahnreihen preis. Derart weiße Zähne hatte Erik noch nie gesehen. Menschenfresser-Zähne, dachte er, bevor ihm klar wurde, dass der dunkelhäutige Mann neben ihm lächelte. Seine braunen Augen waren freundlich und sanft, Tränen schimmerten in den äußeren Winkeln. Der Griff seiner Hand war fest. »Thank God!«, murmelte er. Und das klang wie ein kleines Stoßgebet.

In diesem Moment wusste Erik, dass von dem Mann keine Gefahr ausging. Skeptisch, aber frei von Angst betrachtete er den Fremden genauer. Er musste die Augen zusammenkneifen, denn seine Sicht war noch etwas getrübt und verschwommen, als läge ein nebliger Schleier vor seinem Gesicht. Auch das Zittern, das mittlerweile seinen gesamten Körper erfasst hatte, war nicht gerade hilfreich. Doch so angestrengt Erik seinen Blick auch fokussierte, er wurde nicht fündig.

Der Soldat hatte seinen Helm abgenommen. Das kurze Haar war tatsächlich extrem lockig, ganz so wie in Wilhelm Buschs Zeichnungen. Aber in diesem krausen Haar steckte …

»Kein Knochen«, murmelte Erik mit noch bleischwerer Zunge.

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II.

So sehr Erik sich zuvor nach mehr Klarheit, mehr Bewusstsein gesehnt hatte, so sehr verdammte er seinen Zustand jetzt. Denn nun spürte er jede Faser eines jeden Muskels. Sein Körper, aufs Äußerste angespannt, zitterte unkontrolliert und heftig.

Oh, dieser Schmerz!

Noch nie in seinem Leben hatte der Junge solche Schmerzen verspürt. Seine Hand, sein Arm, sein Bein – alles schien in Flammen zu stehen. Tausend wunde Stellen. Schnitte, die so tief waren, dass er sie bis in seine Knochen spüren konnte. Prellungen, Abschürfungen. Wie hatte er all diese Wunden vorher nicht fühlen können? Und warum hatten sie ihn überhaupt operiert, wenn es doch jetzt noch viel schlimmer war als zu Beginn?

Das anfängliche Wimmern hatte sich zu einem verzweifelten Weinen gesteigert, aus dem mittlerweile ein scheinbar endloser Schrei erwachsen war.

Der fremde Soldat saß nicht länger neben ihm, er stand nun – das breite Gesicht mit den dunkelbraunen Augen dicht über Erik gebeugt – und hielt die Arme des Jungen fest, mit denen der bis dahin wild um sich geschlagen hatte. Wie stählerne Zangen umschlossen die Finger des Mannes die dünnen Unterarme. Eriks Finger wiederum krallten sich durch das Laken bis in die Matratze, und der kleine Oberkörper bäumte sich immer wieder auf.

Endlich kam jemand und stach ihm eine Nadel in den Arm. Der Schwarze flüsterte Worte, die Erik zwar nicht verstand, die ihn jedoch beruhigten, als läge Magie in ihnen.

Langsam, sehr langsam, verebbte das Zittern und wurde zu einem leichten Vibrieren. Je mehr Eriks Anspannung nachließ, desto lockerer wurde auch der Griff des Schwarzen. Schließlich zog er seine starken Hände ganz zurück. Mit nur einem Finger hob er Eriks Kinn an, schloss den Mund des Jungen und strich ihm die Haare aus der schweißnassen Stirn. In diesem Moment wurde Erik bewusst, dass er aufgehört hatte zu schreien und die Schmerzen erträglich geworden waren. Die bleierne Schwere kehrte zurück.

»Durst«, hauchte er.

»Thirsty?«, fragte der Soldat nach, tunkte dabei aber schon einen Lappen in die Schüssel mit Wasser, die neben Eriks Bett stand. Zunächst befeuchtete er Eriks heiße Stirn, dann tunkte er das Tuch abermals ein und legte es ihm auf die trockenen Lippen. Dabei sah sich der Mann um, als würde er etwas Verbotenes tun.

»Just suckle!«, flüsterte er und demonstrierte Saugbewegungen. Sein Nicken war eine klare Aufforderung, die Erik sofort verstand. Seine Augen schlossen sich, als ihm das Wasser den Rachen hinablief und das Brennen in seiner Kehle nachließ.

Erik wollte nicht schlafen. Er musste doch erfahren, wo er war, wie das Zimmer aussah und warum der Schwarze nun doch kein Kannibale war. Aber es war wie verhext: Schon wieder verweigerten ihm seine Lider den Dienst. Erik spürte nur noch die Nässe des Lakens unter seinem Rücken und fragte sich, ob er tatsächlich so stark geschwitzt hatte – und wie, wenn ihn doch diese schreckliche Kälte beherrscht hatte? Über diese Frage sackte der Junge zurück in die erlösende Tiefe des Schlafes.

 

Als er erwachte, war er allein. Nun, nicht wirklich allein, denn in vier Anläufen, bei denen er immer wieder all seine Kraft zusammennahm, um den Kopf für wenige Sekunden anzuheben, zählte er neun weitere Betten, in denen Männer unterschiedlichen Alters lagen. Die meisten waren sehr still. Zwei von ihnen unterhielten sich in ruhigem Ton, ein anderer hustete so seltsam, dass es sich eher wie ein heiseres Bellen anhörte.

Der Junge betrachtete sie alle, bis sein Blick an dem Mann hängenblieb, der rechts neben ihm lag. Der Kopf dieses Patienten war komplett bandagiert. Nur die Augen und den Mund sah man noch, über den Lippen lag eine dicke glänzende Cremeschicht. Der Mann jammerte; seine Hände und Arme, die ebenfalls vollständig umwickelt waren, bebten stark. Vor ihm saß eine junge Frau. Sie hatte ihren Kopf in die Hände gestützt, und ihre Schultern zuckten in unregelmäßigen Abständen.

Der Stuhl neben dem Bett des Jungen war leer. Der Schwarze war nicht mehr da … und auch sonst niemand.

Wo ist meine Mama?, fragte sich Erik.

Tränen brannten hinter seinen Augen, aber er biss sich auf die Innenseiten seiner Wangen und hielt sie tapfer zurück. Der Schmerz hatte ihn aus dem Schlaf gezogen. Nun wimmerte der Junge leise vor sich hin; das gestattete er sich, denn ein paar der erwachsenen Männer um ihn herum taten das schließlich auch.

Sekunden, Minuten, vielleicht sogar Stunden verstrichen. Erik wusste nicht, wie lange er so dalag und einfach nur wartete, dass etwas geschah. Doch dann kam endlich eine Schwester und tupfte seine Stirn mit dem feuchten Lappen ab. »Hast du Schmerzen, mein Kleiner?«

Erik erkannte ihre Stimme. Das war also die Schwester, die ihm unmittelbar vor der Operation so tröstend zugesprochen hatte. Sein Blick fiel auf den eingestickten Namen in ihrem Kittel. Henriette. Er nickte und schluckte schwer, um die Tränen aufzuhalten. Die Schwester hatte ein liebes Gesicht mit großen, strahlend blauen Augen. Wenn sie den Kopf drehte, wurde unter ihrer Haube der Ansatz strohblonder Haare sichtbar. Erik war immer ein wenig neidisch, wenn er Menschen sah, die dem Idealbild des Deutschen so perfekt entsprachen. Er selbst hatte dunkelbraunes, beinahe schwarzes Haar und ebenso dunkle Augen. Doch was zählte das nun noch? Der Krieg war ja ohnehin verloren.

Lügner!, dachte Erik, das Gesicht des Führers vor Augen, der doch immer den glorreichen Sieg versprochen hatte.

Schwester Henriette lächelte ihn mit traurigem Blick an. »Ich hole etwas, damit es dir besser geht, ja?«

Als sie zurückkam, hielt sie einen winzigen Becher in der Hand, beugte sich über Erik und hob seinen Kopf an. »Hier, trink das!«

Er schluckte. Bittere Flüssigkeit lief über seine Zunge. Ein Schauder packte und schüttelte ihn.

»Ich weiß, das schmeckt nicht. Aber es hilft, du wirst schon sehen!«, versprach die junge Frau.

»Durst«, flüsterte Erik wieder, aber Schwester Henriette schüttelte den Kopf. »Du darfst noch nichts trinken. Erst heute Mittag, wenn die Visite da war.«

Heute Mittag? Der Junge brauchte ein wenig, um zu verstehen, dass anscheinend schon ein neuer Tag angebrochen war. Hatte er tatsächlich so lange geschlafen?

Aber … warum war dann noch immer niemand hier, um nach ihm zu sehen?

Kälte packte Eriks kleines Herz bei dieser Frage – viel stärker als der körperliche Schauder, den er zuvor gespürt hatte. Nie zuvor hatte er sich so einsam gefühlt.

»Mama«, hauchte er. Eine einzelne Träne kullerte über seine Wange. Mit jedem Millimeter, den sie über seine Haut kroch, wuchs die Scham in ihm. Männer weinen nicht! Also weinte auch er nicht. Nie!

Als könnte sie seine Gedanken lesen, fing die Schwester die Träne mit ihrem Zeigefinger auf und strich sie weg. Sie ließ es ganz beiläufig wirken, fast so, als hätte sie Erik nur eine ausgefallene Wimper von der Wange gewischt. Die Lippen fest aufeinandergepresst, blinzelte die junge Frau ein paarmal schnell hintereinander. Dann schloss sie für einen Moment die Augen und holte tief Luft. »War deine Mutter bei dir, als … der Unfall passierte?« Ein Zittern lag in ihrer Stimme, dessen Ursprung Erik sofort begriff. Schwester Henriette wusste ja nicht so genau, was mit ihm geschehen war. Und sie fürchtete wohl, andere Familienmitglieder könnten ebenfalls zu Schaden gekommen sein, womöglich sogar noch schlimmer als Erik selbst. Also schüttelte er schnell den Kopf. Prompt weiteten sich die leuchtendblauen Augen vor ihm. »Nein? Du warst allein? Aber … deine Mutter lebt noch?«

Bei seinem Nicken breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf dem Gesicht der Schwester aus. Sie sah an die Decke, als wolle sie dem Herrgott danken. Und vermutlich tat sie auch genau das, denn ihr Tonfall änderte sich und wurde schlagartig nahezu euphorisch. »Dann musst du uns schnell sagen, wie du heißt, mein Junge, damit wir deine Mutter finden können. Noch besser wäre, du wüsstest eure Anschrift. Kennst du sie?«

Erik nickte erneut, doch dann hielt er abrupt inne.

Denn nein, er kannte sie nicht.

Die Wohnung im Bahnhofsviertel von Arnstadt, deren Adresse er gewohnheitsgemäß hatte nennen wollen, gab es ja nicht mehr. So zerstört, wie sie das Haus nach dem Luftangriff vorgefunden hatten, konnten sie von Glück sagen, unversehrt aus dem Keller entkommen zu sein. Das war jedem von ihnen, selbst der vierjährigen Luise, sofort klar gewesen.

»Der liebe Gott hat uns beschützt«, hatte Eriks jüngste Schwester verkündet und dabei mit ehrfurchtsvollem Blick genickt.

Nun suchte der Junge angestrengt in seiner Erinnerung nach der neuen Adresse, die ihm aber partout nicht einfallen wollte. Nicht, weil er sich nicht erinnerte, sondern weil er sie schlichtweg noch nicht kannte. Kein Wunder, waren seine Mutter und die vier Kinder doch erst vor wenigen Tagen in dieser ihm fremden Stadt untergekommen.

Die alte, stets ein wenig verwirrte Dame, der Eriks Familie zugeteilt worden war und in deren Haus sie nun wohnten, hatte sich den Kindern als Tante Hiltraud vorgestellt. Obwohl der Junge natürlich wusste, dass sie nicht ihre richtige Tante war.

Die neue Wohnung war viel kleiner als die in Arnstadt, auch wenn die Decken deutlich höher und stuckverziert waren. Sie befand sich in der ersten Etage eines vierstöckigen Hauses am Rande der Stadt, auch das wusste Erik. Nur die Adresse kannte er nicht. Nicht einmal den Weg zu seiner neuen Schule hatte er mit Christel und Reni ablaufen dürfen, weil die Mutter in diesen kampfintensiven letzten Tagen seit ihrer Ankunft in Erfurt zu viel Angst gehabt hatte, als dass sie den Kindern erlaubt hätte, sich vom Haus und somit von dem schützenden Keller zu entfernen.

Eriks Blinzeln verhalf einer neuen Träne auf den Weg. Wieder wischte ihm Schwester Henriette über die Wange.

»Schon gut, schon gut«, flüsterte sie. »Wir schaffen das auch so. Wie heißt du denn, mein Junge? Und wie alt bist du?«

Er öffnete den Mund erst, nachdem er ein paarmal geschluckt hatte. Dennoch brachte er nicht mehr als ein zittriges Krächzen hervor. »Erik Hensen, neun Jahre.«

Die junge Frau nickte und versuchte offensichtlich, so viel Zuversicht in ihr Lächeln zu legen, wie sie nur aufbringen konnte. »Sehr gut. Das werde ich sofort dem Roten Kreuz melden. Und die finden deine Mama schon, hab keine Angst.« Sanft tätschelte sie seinen Arm, doch plötzlich schien sie ein neuer Gedanke zu durchzucken, unter dem sich ihre Augen weiteten. »Wusste sie denn, wo du bist, Erik?«

Verschämt schüttelte der Junge den Kopf und senkte dann schuldbewusst seinen Blick. Ein paar stille Sekunden verstrichen, bevor die Schwester eine kleine Glocke aus der Tasche ihres Kittels zog und sie in Eriks heile Hand legte. »Wenn du etwas brauchst, dann läute das Glöckchen. Ich werde so schnell kommen, wie ich kann. Musst du denn mal aufs Klo?«

Der Junge überlegte einen Augenblick, wie das mit seinen Verletzungen gehen sollte. Dann beschloss er, dass der Druck seiner Blase noch erträglich war, und schüttelte den Kopf.

Noch einmal glitten die Finger der Schwester über seine Hand, bevor sie sich erhob. Im Vorbeigehen strich Henriette über den Rücken der weinenden Frau am Nachbarbett. Dann verließ sie den Raum.

 

Das Schmerzmittel wirkte. Nicht so gut wie die Spritze vom Vortag, aber ausreichend. Der Junge schlief ein und schlummerte, bis ihn eine dunkle Stimme aus seiner Versenkung zog.

Als er die Augen öffnete, dauerte es nur einen Wimpernschlag, bis ihm große, strahlend weiße Zähne aus tiefem Braun entgegenblitzten. Der fremde Soldat saß direkt neben ihm, auf seiner Bettkante.

»How are you today? … Wie geht’s?« Erik antwortete nicht. Er starrte bloß. »Do you like chocolate?«, fragte der Mann – offenbar ein wenig ernüchtert – und hielt ihm eine braun verpackte Tafel mit heller Aufschrift vor die Nase. HERSHEY’S, las der Junge und riss die Augen ganz weit auf, als er begriff, dass es sich tatsächlich um Schokolade handelte. Speichel lief auf seiner Zunge zusammen und verdeutlichte ihm, wie ausgetrocknet sein Mund zuvor gewesen war. Er nickte und streckte die Hände aus. Sofort fuhr ein scharfer Schmerz durch seinen linken Arm und ließ ihn zusammenzucken. Erik wandte den Kopf und blickte auf den riesigen Verband, der sich bis zu seinem Ellbogen erstreckte. Seine Hand war nicht länger taub, aber so weh, wie sie ihm nun tat, hätte er die Taubheit jederzeit vorgezogen.

Auch der Schwarze erschrak. »Wait!«, sagte er und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Dann riss er hastig das Papier auf, brach einen Riegel ab und legte ihn Erik in die unverletzte Hand. In einer verblüffend schnellen Bewegung verschwand die Schokolade im Mund des Jungen. Erik kaute mit vollen Wangen und schloss dabei genussvoll die Augen.

Der Soldat lachte und brach ein weiteres Stück ab. Doch dieses Mal hielt er es zwischen Daumen und Zeigefinger und klopfte mit der Hand gegen seine breite Brust. Langsam beugte er sich dichter über Erik.

»I’m Sam«, sagte er langsam und überdeutlich. »And you are? What’s your name? … Deine Name?«

Erik verstand die deutschen Worte kaum, so fremd klangen sie aus dem Mund des Schwarzen. »Erik«, erwiderte er endlich. Wieder war es kaum mehr als ein Flüstern.

»Ärick«, wiederholte der Fremde, der dem Knaben mittlerweile gar nicht mehr so fremd erschien, wobei er das ›r‹ tief in seinem Hals behielt. Dem Jungen fehlte die Kraft, ihn zu verbessern, also schwieg er und starrte stattdessen auf das bereits abgebrochene Stück Schokolade. Er wunderte sich kaum noch darüber, dass die Haut des riesigen Mannes noch dunkler war als der Schatz, den er hielt.

Sam grinste und schob das Stück direkt in Eriks Mund. Der Junge dankte es ihm mit einem schwachen Lächeln.

Kaum hatte Erik geschluckt, öffnete sich die Zimmertür.

Blitzschnell ließ der Soldat den Rest der Tafel zwischen seinen Oberschenkeln verschwinden.

»Visite!«, kündigte Schwester Henriette an.

Der Junge wandte den Kopf. Sofort erkannte er den grauhaarigen Arzt vom Vortag, auch wenn dessen Stirn heute nicht so schweißbenetzt war.

Der Alte durchschritt den Raum und zwinkerte Erik im Vorbeigehen aufmunternd zu. Den Soldaten Sam hingegen bedachte er nur mit einem kurzen Nicken, bevor er seinen Blick senkte. Empfand er Scham, Verbitterung oder Schmach? Der Junge wusste es nicht.

Zielstrebig lief der Grauhaarige auf den bandagierten Mann neben Erik zu, gefolgt von zwei jüngeren Ärzten und mehreren Schwestern.

Die verzweifelte Frau, die immer noch an der Seite des Schwerverletzten saß, erhob sich von der Bettkante und machte Anstalten, den Raum zu verlassen, doch der Oberarzt legte ihr seine Hände auf die Schultern. »Bleiben Sie ruhig hier«, sagte er leise. Sie schluchzte auf und nahm sofort wieder Platz. Der Alte wandte sich seinem Gefolge zu.

»Herr Heinrich, Opfer des gestrigen Brandes an der Farbfabrik. Verbrennungen dritten Grades an Torso, Armen, Beinen und im Gesicht. Wir behandelten mit …«

Erik wandte seinen Blick ab, die nüchterne Stimme drang in den Hintergrund. Verbrennungen. Das erklärte den beißenden Gestank, der ihn an den seines eigenen verbrannten Fleisches erinnerte. Von Übelkeit übermannt, zog sich sein Magen heftig zusammen.

»So, hier haben wir einen neunjährigen Buben.« Plötzlich stand der Oberarzt vor ihm. Eine Schwester stellte das Kopfteil des Bettes etwas höher, sodass Erik sich nun besser umschauen konnte. Der Raum war viel kleiner, als er ihn sich vorgestellt hatte. Die Ärzte und Schwestern fanden kaum Platz in dem Mittelgang. Mit ernsten Mienen standen sie vor ihm, zu seinen Füßen. Der Ältere blätterte durch einige Papiere, die Konzentration stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nur Schwester Henriette schenkte dem Jungen ein warmes Lächeln.

»Laut eigener Angaben heißt er Erik Hensen«, fuhr der Arzt fort. »Wir haben noch keine Angehörigen ausfindig machen können, das Rote Kreuz wurde aber bereits informiert.«

Damit nickte er der jungen Schwester zu. Sie trat vor, schlug die Bettdecke über Eriks Beinen zurück … und gab somit die Sicht auf einen Verband preis, der viel zu kurz war, viel zu weit oben endete – in einem merkwürdigen Knubbel. Die Augen des Jungen weiteten sich in Schock. Doch niemand bemerkte das.

Die nüchterne Stimme des älteren Mannes ging schlagartig im Rauschen in Eriks Ohren unter. Dennoch hörte er die Worte des Arztes, der ihn operiert hatte. »Das rechte Bein wurde in der Mitte des Unterschenkels abgesetzt. Einzeitiger Zirkelschnitt, da der Zustand des Kindes bedrohlich war und wir schnell handeln mussten. Keine Besonderheiten während der Operation, aber wir werden den Knochen so schnell es geht reamputieren, um eine bequeme Weichteil- und Hautdeckung über dem Stumpf zu gewährleisten. Des Weiteren …«

Erik schnappte nach Luft, doch ein schwerer Druck auf Brust und Magen verwehrte sie ihm. Wo war sein Fuß, wo der Rest seines Beines? Ungläubig starrte er auf den Verband. Er spürte seine Zehen doch … Ja, gerade jetzt krümmte er sie. Es schmerzte, doch er spürte jeden einzelnen.

Die Übelkeit wurde mit einem Mal so mächtig, dass keine Zeit mehr für Reaktionen blieb. Erik öffnete den Mund, um seinem Schock in einem Schrei Luft zu machen – und erbrach sich in einem heftigen Schwall.

»Herrgott, was …?«, rief der Grauhaarige. Hektik brach aus. Sam sprang auf, doch Schwester Henriette war schneller. Sie drängte sich vor ihn und hielt Erik eine silberne Schale hin. Auch die beiden jüngeren Ärzte eilten an die Seiten des Bettes und stützen den Jungen hoch. »Ist das Blut?«, fragte der eine von links, während Erik sich unter ihnen krümmte und ein weiterer dunkelbrauner Schwall in die metallene Schale schwappte. Der Arzt zu seiner Rechten verengte prüfend die Augen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist kein Blut. Das sieht eher aus wie …«

»Chocolate«, ertönte eine tiefe kehlige Stimme hinter ihm.

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III.

– Erfurt, Anfang Mai 1945 –

Private Samuel T. Jenkins war erschöpft. Er wunderte sich über die Zuverlässigkeit seiner Beine, die trotz allem einfach weiter funktionierten. Ein Fuß setzte sich vor den anderen, fast schon mechanisch, und Sam ließ sich von ihnen tragen, als hätte er rein gar nichts mit den Bewegungen zu tun.

Tag für Tag lief er diesen Weg, sobald die Truppe ihn für ein, zwei Stunden entbehren konnte. Von der ERMA, der Erfurter Maschinenfabrik, in deren verlassenen Räumlichkeiten sie ihre Feldbetten aufgestellt und sich für die kommenden Wochen eingerichtet hatten, quer durch die alte Innenstadt – die für die momentanen Zustände in Deutschland erstaunlich unversehrt geblieben war. Bis hin zu dem Krankenhaus, in dem der Junge lag.

Nur ein einziger Gedanke hämmerte an diesem Tag durch Sams Kopf:

Erik wird sterben.

Der Junge mit den riesigen braunen Augen war dem Tode geweiht. Noch sträubte sich der tapfere Kleine zwar, doch seine Lebensgeister ließen ihn mehr und mehr im Stich. Und irgendwer musste seine Hand halten, wenn es so weit war.

Darum lief Sam. Jeden Tag.

Als einziges Kind der Station lag Erik zwischen teils schwerstverletzten Männern. Mutterseelenallein, im wahrsten Sinne des Wortes. Man hatte seinen Namen auf die Listen des Roten Kreuzes gesetzt, doch bislang hatte sich keiner seiner Angehörigen gemeldet – seit nunmehr zweieinhalb Wochen. Der anfängliche Kampfgeist des Jungen hatte ihn während dieser langen Tage zunehmend verlassen und war schließlich purer Lethargie gewichen.

Sam seufzte schwer. Er wünschte sich, Louisiana nie verlassen zu haben. Und das, obwohl er sich noch vor ein paar Jahren nichts sehnlicher gewünscht hatte, als das verschlafene Städtchen, in dem er aufgewachsen war, hinter sich zu lassen. Darum war er auch mit gerade einmal siebzehn Jahren zu seinem Onkel nach West Virginia gezogen und hatte sich ein Jahr später von dort aus der US-Armee angeschlossen.

Nun war er hier, auf der anderen Seite der Welt, und sehnte sich danach, möglichst schnell wieder zurückzukehren und endlich um Shirleys Hand anzuhalten.