Mörderisches Aachen - Kurt Lehmkuhl - E-Book

Mörderisches Aachen E-Book

Kurt Lehmkuhl

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Beschreibung

Aachen, westlichste Großstadt der Republik, gegründet von Karl dem Großen, Sitz der RWTH, Heimat der Printen und Schauplatz des weltweit größten Reit-Turniers CHIO. Kann es dort, in dieser Idylle am Nordrand der Eifel, im Dreiländereck mit den Niederlanden und dem Königreich Belgien, tatsächlich Mord und Totschlag geben? Elf Kurzgeschichten, in denen Sehenswürdigkeiten und Attraktionen in und rund um Aachen eine Rolle spielen, geben die Antwort auf die Frage. Oft mitten im Geschehen ist Kriminalhauptkommissar Rudolf-Günther Böhnke.

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Kurt Lehmkuhl

Mörderisches Aachen

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © davis / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5516-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Altlasten

Sein Unbehagen wuchs, je mehr er sich Aachen näherte. Vor rund 30 Jahren hatte er seine Geburtsstadt verlassen, die er mittlerweile längst nicht mehr als seine Heimat ansehen würde.

Jetzt musste er in die westlichste Großstadt Deutschlands zurückkommen, die von ihren Bürgern liebevoll »Oche« genannt wurde. Er selbst würde sich jedoch nie als geborener Öcher bezeichnen.

Notgedrungen und nicht aufschiebbar war seine Rückkehr in die Stadt Karls des Großen nach dem Ableben seiner Mutter. Er hatte schon als Kind auswendig gelernt, wahrscheinlich sogar schon im Kindergarten, was jedem Öcher zu jeder Tages- und Nachtzeit und in jedmöglichem geistigen Zustand flüssig über die Lippen kommt: Karl der Große (Carolus Magnus, 747 bis 814) wurde 768 zum König des Fränkischen Reichs und 800 in Rom zum Kaiser gekrönt. Er machte Aachen zu seinem Hauptsitz. Nach seinem Tod am 28. Januar 814 wurde er in der Pfalzkapelle beigesetzt. Sie stellt die Keimzelle des Aachener Doms  1  dar. Im Mittelalter wurde Karl der Große als der ideale Kaiser angesehen. Er wurde als starker und kühner Herrscher verehrt und trug maßgeblich zur Christianisierung zahlreicher Volksstämme bei.

Und auf diesen »Großen« berufen sich offenbar fast alle Aachener. Die »Öcher« sind stolz auf »ihren« Karl und auf das historische Erbe des Kaisers, das überall in der Stadt zu erkennen ist. Und wahrscheinlich jeder von ihnen hat die »Wolfstür« mit den Löwenköpfen am Dom berührt. Diese Tür ist Thema einer der vielen Aachener Sagen.  2 

Der Notar, bei dem seine Mutter ihr Testament hinterlegt hatte, hatte ihn suchen und anrufen lassen. Er sollte sein Erbe antreten, von dem er nicht wusste, worin es bestehen würde. Erst durch die Mitteilung des Notariats, dessen Namen ihm durchaus bekannt vorkam, hatte er überhaupt von ihrem Tod erfahren. Sie war schon vor einiger Zeit beerdigt worden, während einer seiner vielen Dienstreisen ins Ausland.

Damals, als er Aachen verlassen hatte, besaßen seine Eltern an der Krämerstraße ein Wohn- und Geschäftshaus, in dem sie ihrem Juwelierhandwerk nachgingen, und in der Fußgängerzone an der Adalbert­straße eine Zweigstelle. Er hatte sich nicht für ihre berufliche Tätigkeit interessiert, und sie hatten schnell erkannt, dass er weder die notwendigen kaufmännischen Ambitionen noch das künstlerische Geschick besaß, um in ihre Fußstapfen zu treten. So stand schon früh fest, dass irgendwann einmal seine Schwester den Familienbetrieb übernehmen würde. Er durfte seinen Vorlieben nachgehen, und die waren rein technischer Natur.

Doch blieben die Zukunftspläne der Eltern für die Familie letztendlich allesamt Makulatur.

Nach dem Tod des Vaters vor mehr als einem Jahrzehnt war die Mutter in ein Haus für Betreutes Wohnen ins Kurviertel nach Burtscheid umgezogen. Auch zur Beerdigung seines Vaters war er nicht gekommen; eine Gastprofessur in China hatte ihn davon ferngehalten. Es hatte ihn nicht gekümmert, ob seine Mutter die Häuser behalten oder verkauft hatte. Das Kapitel Aachen war für ihn beendet.

Er war seinen eigenen Weg gegangen, der ihn letztendlich nach dem Studium und der Promotion zum Lehrstuhl an der Technischen Universität Clausthal in Clausthal-Zellerfeld gebracht hatte.

Nun also führte ihn der Tod seiner Mutter zurück nach Aachen und verursachte ein gewisses Unbehagen. Doch gab es dafür noch einen anderen Grund …

Ursprünglich hatte er mit dem Zug in die Kaiserstadt am Rande der Nordeifel fahren wollen. Doch der Weg war ihm zu umständlich und zeitaufwendig gewesen, zumal er vom abgelegenen Bahnhof im Harz mehrmals hätte umsteigen müssen, um endlich im westlichen Dreiländereck anzukommen. So ließ er sich von seiner Sekretärin den Routenplan ausdrucken, der sonderbarerweise eine andere Streckenführung vorsah als der Autopilot in seinem Daimler.

Was wird sich wohl verändert haben in den 30 Jahren?, fragte er sich bei der Fahrt über die Autobahn in Richtung Aachen. Was war aus der Stadt geworden? Aus der Innenstadt, in der er seine Jugend verbracht hatte? Gespannt war er auch auf das Institut für Bergbaukunde der RWTH, das oft als großer Bruder und Vorbild für die kleine Fakultät im Harz angesehen wurde. Den Studenten hatte er immer wieder empfohlen, sich dieses Institut anzusehen. Viele seiner Kollegen schwärmten von den Möglichkeiten an dieser renommierten Hochschule, die es schon seit 1870 gab. Sie war mit über 42.000 Studenten die größte Universität für technische Studiengänge in Deutschland und damit um ein Wesentliches größer als seine kleine Hochschule im Harz.

Er selbst als Öcher wider Willen machte sich deswegen keine Gedanken. Er hatte seine Geburtsstadt nicht ein einziges Mal wieder besucht, nachdem er damals Abschied von der Heimat, von der Jugend, von den Freunden und von seiner großen Liebe genommen hatte.

Ob Renate …?

Er verdrängte die angefangene Frage, wollte nicht darüber nachdenken. Immer noch, auch nach so vielen Jahren, suchte er die Antwort und konnte sie nicht finden. Deshalb war es wohl besser, den Mantel des Vergessens darüberzulegen. Aber es ging nicht.

Sie hatten damals nach der Entlassfeier am KKG, dem ehrwürdigen Kaiser-Karls-Gymnasium am Augustinerbach, im Kreise der Freunde den Schulabschluss in unmittelbarer Nähe zum weitläufigen Kurpark  3  an der Monheimsallee gefeiert; der Vater eines Klassenkameraden betrieb dort in der Nähe ein Kleingewerbe und hatte eine leergeräumte Lagerhalle für das Fest angeboten.

Das Abitur in der Tasche und den Bundeswehrdienst vor Augen feierten sie an einem warmen Samstag im Sommer.

Nur Renate wusste, was er vorhatte.

Er wollte am frühen Morgen mit seinem Motorrad aufbrechen zu einer »Fahrt ohne Ziel«, wie er es nannte. Durch die Sahara, vielleicht nach Südafrika, danach auch noch die Route 66 von Norden bis Süden durch den amerikanischen Kontinent. Abenteuer nannte er das, was ihm andere als Flucht auslegten.

Als Spinnerei bezeichnete Renate seinen Traum, den er verwirklichen wollte. Dennoch hielt sie ihn nicht fest, sie ließ ihn gehen im Glauben an eine unverbrüchliche Liebe.

Am späten Abend verließen die beiden die Gruppe der feiernden Freunde, verschwanden hinter der Halle und über die Straße in Richtung Kurpark, liebten sich im Dickicht, versprachen sich gegenseitig, aufeinander zu warten und überreichten sich Abschiedsgeschenke.

Noch in derselben Nacht fuhr er los.

Er erfüllte sich seinen Traum. Als er Jahre später nach Deutschland zurückkehrte, hatte er nicht nur große Teile der Welt mit dem Motorrad durchfahren, sondern auch in der Schweiz das Vordiplom in seinem Ingenieurstudium abgelegt. Dort hatte er vor seinem Wechsel nach Clausthal-Zellerfeld studiert, um die Zeit zu überbrücken und nicht doch noch zum Wehrdienst in Deutschland eingezogen zu werden. Er hatte sich ohne finanzielle Unterstützung seiner Eltern durchgeschlagen und irgendwann fast schon vergessen, dass dort in Aachen Vater und Mutter warteten.

Nur an Renate dachte er oft.

Doch sie schien verschwunden. Auf seine Karten und Briefe reagierte sie nicht. Seine gelegentlichen Anrufe gingen ins Leere. Ihre Familie war unbekannt verzogen – so hatte ihm ein Detektiv vor einigen Jahren auftragsgemäß berichtet. Offenbar kannte niemand mehr in Aachen seine Liebe Renate.

Irgendwie war er deswegen sogar erleichtert.

Und dennoch wuchs das Unbehagen.

Was wäre, wenn …?

Autobahnkreuz Köln-West, Wechsel auf die A4 und dann hinter dem unübersichtlichen Aachener Kreuz bis nach Aachen hinein.

Er kannte sich nicht mehr aus. 30 Jahre hatten viele Veränderungen gebracht. Oder hatte er vieles vergessen? Die Hinweisschilder an den Hauptverkehrsstraßen zum Hotel erleichterten ihm die Suche bei der Fahrt durch die Stadt. Als er sich an der Rezeption anmeldete, wurde er behandelt wie jeder andere Gast auch, nicht wie ein Rückkehrer.

»Professor Horn? Ja, für Sie ist ein Einzelzimmer reserviert. Wie gewünscht, ruhige Lage. Einen angenehmen Aufenthalt in Aachen wünschen wir Ihnen.«

Er dankte und überprüfte im sauberen und geräumigen Zimmer zunächst die Zusicherung der »ruhigen Lage«. In der Tat hörte er nichts vom Autolärm auf der Franzstraße, als er das Fenster öffnete und auf das Marschiertor  4  blickte. Er kramte nach dem Filofax, suchte die Telefonnummer und rief den Notar an, derweil er seinen Blick aus dem Fenster schweifen ließ und sich an dem Anblick des historischen Gebäudes ergötzte.

Für Horn war die Begegnung überraschender als für den Notar, obwohl er eine Vermutung gehabt hatte.

»Ich wusste doch, dass du es bist, Manfred«, begrüßte ihn der Jurist überschwänglich in seinem schlicht-eleganten Büro in einem neuen Geschäfts- und Wohnkomplex an der Theaterstraße. Der moderne Neubau aus Stahl und Glas passte nicht so recht in das Bild, das sich Horn von seinem Geburtsort gemacht hatte. Er erinnerte sich eher an viergeschossige Fassaden aus der Zeit des Jugendstils oder der Gründerzeit, so wie er sie teilweise noch bei der Fahrt durch die Stadt vorgefunden hatte, als an diese moderne Architektur.

Durch die erste Begegnung mit dem Notar fühlte er sich bestätigt. Werner Schmitz war in der Tat einer seiner Kameraden gewesen, mit denen er für das Abitur gepaukt hatte zu einer Zeit, als es weder Leistungskurse noch Tutoren, sondern Klassenverbände, Klassenlehrer und freiwillige Arbeitsgemeinschaften gab.

»Du hast dich überhaupt nicht verändert, immer noch der Sonnyboy und Strahlemann.«

Horn schwieg dazu. Er hätte aus dem angedickten, kurzatmigen Notar kein jungenhaftes, schlankes Bild filtern können. Auf seine eigene äußerliche Veränderung hatte er nie geachtet. Solange das Gewicht im passenden Verhältnis zur Körpergröße stand und der sogenannte BMI stimmte, war alles in Ordnung. Und gegen das leicht grau unterlegte, hellbraune Haar wollte er nichts machen. Es kam bei den wenigen Studentinnen seines Lehrstuhls und den vielen Uni-Mitarbeiterinnen gut an.

Er war Junggeselle geblieben – wegen Renate, wenn er ehrlich zu sich selbst war.

»Du kommst zum rechten Zeitpunkt«, unterbrach der Notar seine Gedanken. »Morgen ist ein Klassentreffen. Habe ich organisiert. Fast alle kommen. Du bist doch auch dabei, wenn du schon mal im Städtchen bist. Oder?«

Horn nickte. Wenn er schon mal hier war.

Renate würde er dort wahrscheinlich nicht treffen. Seine Liebe hatte nicht zur Klasse gehört und war außerdem nach seinem Wissensstand spurlos verschwunden.

Der geschäftliche Teil des Gesprächs war schnell erledigt. Der Notar hatte sich hinter dem fast leeren Schreibtisch verschanzt, auf dessen Platte lediglich ein Telefon und ein Bildhalter standen, in dem die Fotografie einer jungen Frau mit asiatischem Antlitz steckte.

»Mein Goldstück«, sagte Schmitz selbstgefällig, als er das Bild an Horn zur Ansicht reichte.

Nach dem Testament erhielt Horn als Alleinerbe neben dem Mobiliar aus der Wohnung in der Seniorenresidenz in Burtscheid eine gut gefüllte Schmuckkassette, ein Girokonto, ein umfangreiches Aktiendepot und ein beachtliches Sparbuch.

»Dafür muss eine alte Frau lange stricken«, sagte Schmitz lapidar. »Bestimmt mehr als eine Million Euro, wenn ich grob überschlage. Selbst wenn du die Erbschaftssteuer abziehst, bleibt noch ein dicker Batzen für dich.«

Das Geld interessierte Horn nicht sonderlich. Er hatte genug, um ein angenehmes, unbeschwertes Leben zu führen. Einige Patente bescherten ihm ein Dasein ohne finanzielle Sorgen. »Was ist aus den Häusern meiner Eltern geworden?«, fragte er. Etwas sträubte sich in Horn, »mein Elternhaus« zu sagen.

»Hat deine Mutter zur richtigen Zeit zu einem verdammt guten Preis verkauft. Soviel ich weiß, ist in der Adalbertstraße jetzt ein Schnellimbiss drin und in der Krämerstraße  5  eine Boutique.«

Der Notar war zweifelsohne ein Organisationstalent. Fast alle ehemaligen Abiturienten versammelten sich pünktlich am Karlsbrunnen auf dem Markt  6 . Wo auch sonst?, fragte sich Horn schmunzelnd. Der Treffpunkt mitten im Zentrum ließ alle Wege offen, zur Altstadt hinab genauso wie ins Studentenviertel. Der Weg ins Grüne war auch nicht viel weiter. Ebenso gab es für Lauffaule an dieser Stelle und ihrer näheren Umgebung nicht nur Sehenswürdigkeiten, sondern auch Restaurants und Kneipen zuhauf.

Horn hatte Schwierigkeiten, den Gesichtern Namen zuzuordnen. Die Männer und wenigen Frauen in seinem Alter waren ihm fremd. Fremder noch als diese Stadt, die ihm dennoch Herzklopfen verursachte, als er die Fassaden der umliegenden Häuser und das historische Rathaus  7  betrachtete.

Im Gegensatz zu ihm erkannten sich die anderen und wussten schnell von gemeinsamen Erlebnissen zu berichten. Wenige waren in Aachen geblieben, die meisten waren weggezogen und als Lehrer, Ärzte, Juristen und Beamte tätig. Viele waren als Akademiker oder Bürokraten erfolgreich – und es gab einen Professor.

»Du bist halt immer die Ausnahme gewesen«, lachte Schmitz, der sich eigenmächtig zu seinem Paten gemacht hatte.

Der Notar führte die Gruppe stolz durch den Stadtkern. Er sang sein Loblied auf die Stadt, als er von der Erweiterung um die neuen Ortsteile bei einer Einwohnerzahl von etwas über 240.000 und die wirtschaftliche Bedeutung des neuen Campus Melaten berichtete, der Aachens Ruf als Stadt der Wissenschaft noch stärken würde. Mit dem Campus Melaten würde auf dem Erweiterungsgebiet der RWTH Aachen in unmittelbarer Nähe zum Universitätsklinikum ein topmodernes neues Zentrum entstehen, behauptete Schmitz. Neben Hochschuleinrichtungen sollen auch ein Hotel, ein Weiterbildungs- und Qualifizierungszentrum sowie eine Kindertagesstätte geschaffen werden. Der knapp zwei Kilometer lange Campus-Boulevard würde in einigen Jahren als »Lebensader« die bestehenden Institute mit den neuen Forschungsclustern verbinden.

»Die ehemalige Tuch- und Printenstadt hat sich gewandelt. Auch die Industrie – Philips oder Continental beispielsweise – spielt längst nicht mehr die Rolle, die sie einmal innehatte. Dienstleistung und Handel sind wichtig geworden. Die RWTH und die dadurch entstehenden neuen Unternehmen sind unsere Zukunft.« Er sprach vom Streetscooter, was niemandem etwas sagte. Das sei ein an der RWTH entwickeltes Elektroauto, das ausschließlich für die Deutsche Post hergestellt würde. »Aachen wird damit zur Automobilstadt«, jubilierte Schmitz.

Das heutige Aachen war eine andere Stadt als die, die Horn in Erinnerung hatte. Sie war nicht größer geworden, sie war anders. Das wurde ihm bewusst, als der ortskundige Notar die Gruppe über den Katschhof  8  führte und dabei nicht einmal mehr einen Blick auf die rückwärtige Front des Rathauses oder für den Aachener Dom übrig hatte. Dem Notar und den hier Lebenden waren diese Gebäude so vertraut und damit selbstverständlich geworden, dass sie sie nicht einmal mehr für erwähnenswert erachteten. Viele Geschäftslokale in den kleinen, oft nur zweigeschossigen Häusern entlang der Straßen und Plätze in der Altstadt hatten nach Horns Eindruck offenbar die Inhaber gewechselt. Als sie über die Krämerstraße gelaufen waren, hatte Horn sich noch nicht einmal für das Haus interessiert, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Es war ihm fremd geworden, so wie ihm die gesamte Stadt fremd vorkam.

Horn vermisste die alten Namen, wie etwa »Wilhelmy« oder »Noppeney«. Früher wäre es ihm wahrscheinlich nicht aufgefallen und hätte ihn auch nicht sonderlich interessiert, wenn etwa am Fischmarkt  9  ein neues Geschäft eröffnet hätte, das mit dem Fischverkauf überhaupt nichts zu tun hatte, oder am Domhof Waren verkauft worden wären, die sich nicht auf den Dom oder Karl den Großen bezogen. Jetzt rieb er sich daran, dass Aachen nicht so war, wie er die Stadt in seiner Erinnerung behalten hatte. Heute war Aachen eine Stadt im Umbruch und versuchte langsam, die Lücken zu schließen, die der Verlust der wirtschaftlichen Bedeutung gerissen hatte.

»Der internationale Tourismus in Aachen, der bringt viel Geld in die Stadt.« Das sei ein zweites Faustpfand neben den Studenten.

Als wollte Schmitz seine Worte mit Taten unterstreichen, führte er die Gruppe noch einmal durch den historischen Stadtkern mit Dom, Katschhof und Rathaus. »Hier in dieser Idylle findet auf dem Markt, dem Katschhof und dem Münsterplatz  10  auch der Aachener Weihnachtsmarkt  11  statt. Er ist mit Abstand der schönste in Deutschland«, behauptete er mit größter Selbstverständlichkeit, die von Horn als anmaßende Überheblichkeit gewertet wurde. Bei der Erwähnung des Münsterplatzes war er kurz hellhörig geworden. Dort war er in einem Haus geboren worden, aber schon wenige Monate nach seiner Geburt waren die Eltern in die Krämerstraße umgezogen. Schwitzend winkte der Notar seine Gruppe zusammen, um mit ihnen im traditionsreichen »Domkeller« am Hof  12  Einkehr zu halten.

Horn staunte während der Rast über die Gesprächsthemen. Familie, Gesundheit, Karriere, besonders aber die Ereignisse der gemeinsamen Schulzeit wurden ausgiebig besprochen. Das meiste war ihm unbekannt. Was gelogen, was verfälscht, was wahr war, interessierte ihn nicht sonderlich. Er blieb stummer Zuhörer.

»Für den Abend habe ich noch eine besondere Attraktion für euch«, ließ sich Schmitz vernehmen. »Ich habe die Erlaubnis erhalten, im Neuen Kurhaus  13  eine Führung zu leiten. Ist eine besondere Ehre. Normalerweise ist das Haus während des Umbaus für Besucher tabu.«

Mit wachsender Erregung folgte Horn seinen ehemaligen Klassenkameraden zur Monheimsallee. Die Erinnerung an Renate stieg.

Sein Atem stockte, als er den Eingang zum Kurpark erblickte. Dann trottete er hinter den anderen her und ließ sich beim Rundgang durch die Baustelle treiben, ohne den Erläuterungen Gehör zu schenken. Er langweilte sich und bedauerte schon seine Teilnahme an diesem Klassentreffen. Am Ende der uninteressanten Besichtigung atmete er deshalb erleichtert auf. Die Einladung zu einem Umtrunk im benachbarten Restaurant hätte er gerne abgelehnt, doch zerrte ihn der schwitzende Notar mit.

»Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen«, sagte Schmitz lachend.

Beim geselligen Beisammensein kreisten die Gespräche wieder um die üblichen Themen. Niemand sah eine Notwendigkeit, Horn einzubinden.

Er kam sich ein wenig verloren vor. Er hatte Schmerzen. Die Gedanken an Renate machten sich mehr und mehr breit. Die Frau, seine Liebe, sie waren nahezu körperlich spürbar.

Es ging nicht anders, er musste tätig werden.

»Was ist eigentlich aus Renate geworden?«

Urplötzlich brach die Unterhaltung ab. Alle schauten ihn an, erstaunt darüber, dass er das Wort ergriffen hatte, überrascht wegen der Frage, die nicht jedermann auf Anhieb verstand.

Endlich räusperte sich einer, ein Oberstudienrat, wie Horn glaubte. »Du meinst deine Renate? Ich dachte, die ist mit dir gefahren, damals, als ihr bei der Abifeier in der Nacht verschwunden und nicht wieder aufgetaucht seid?«

Horn schüttelte den Kopf.

»Soweit ich mich erinnere«, fuhr der Mann fort, »seid ihr beide gemeinsam gegangen. Wir haben geglaubt, sie hätte dich begleitet.«

Die Gespräche wollten nicht mehr in Gang kommen. Wie ein Schatten schien die Frage nach Renate über ihnen zu hängen.

Wo war Renate? Was war mit ihr geschehen?

»Du warst der Letzte, der mit ihr gesehen wurde«, machte sich Schmitz bemerkbar. »Ist sie etwa nicht mit dir …?«

Horn verneinte.

»Dann ist sie«, Schmitz schluckte schwer, »dann ist sie also in der damaligen Nacht verschwunden.« Er legte eine Pause ein. »Und niemand hat je wieder etwas von ihr gehört oder gesehen.«

Horn erhob sich und ging grußlos. Der Vollmond am wolkenlosen Himmel gab ihm genügend Licht. Wie magisch angezogen lief er in den Kurpark, fand die Stelle, an der er mit Renate die Nacht verbracht und an der er sie zurückgelassen hatte. Er erinnerte sich an ihr Handeln, ihr Reden, ihr Lieben, er sah wieder ihren Blick, als er Abschied nahm.

Er torkelte durch die hoch aufragenden, alten Bäume hin zu dem kleinen Platz, an dem er damals sein Motorrad abgestellt hatte.

Hier, wo sein Leben beginnen sollte, hatte es, wie er 30 Jahre später erfahren musste, offensichtlich seinen Sinn verloren.

Renate gab es nicht mehr.

Der Schuss, der durch die Luft peitschte, ließ ihn zusammenzucken. Dann brach er zusammen.

»Manfred, du hast mehr Glück als Verstand.« Nur leise vernahm Horn die Worte. Durch einen Schleier blickte er in das Gesicht eines grün gekleideten Mannes.

»Ich bin’s, dein alter Kumpel Paul«, hörte er eine beruhigend klingende Stimme. »Ich habe dich wieder ins Leben zurückgeholt.«

Mühsam drehte Horn den Kopf. Er lag in einem Krankenbett, verkabelt und angestöpselt an Ampullen und Apparaturen.

»Du bist bei uns im Klinikum gelandet. Feuerwehrleute haben dich zufällig bei einer Nachtübung gefunden, nachdem sie einen Schuss gehört haben. Ich habe dich noch in der Nacht operiert. Du hast verdammt viel Schwein gehabt, alter Schwede.«

Paul? Wer war Paul?

»Du warst nicht beim Klassentreffen, oder?« Das Reden fiel Horn schwer, es klang mehr nach einem Krächzen.

»Nein, so einen Unfug mache ich nicht mit. Ich flicke lieber Menschen zusammen«, antwortete der Mediziner. Er wollte gehen.

»Eine Frage noch.« Horn hielt ihn zurück. »Weißt du, was aus Renate geworden ist?«

»Deine Renate?« Der Arzt versuchte ein Lächeln und schüttelte den Kopf. »Wir haben geglaubt, sie ist mit dir gegangen. Ist sie etwa nicht?«

Er erhielt keine Antwort. Horn war erneut eingedämmert.

Erstaunlich schnell kam Horn wieder auf die Beine. Die gute Behandlung, mehr aber noch die langen Gespräche mit Paul Jerusalem trugen zur raschen Genesung bei. Sie hatten zwar ihre Gymnasialzeit gemeinsam verbracht, waren aber nie Freunde gewesen. Sie hatten sich als Klassenkameraden respektiert; nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Der Notar brachte ihn aus dem Krankenhaus zurück ins Hotel an der Franzstraße.

»Willst du im schönen Aachen heimisch werden?«

»Nein«, war Horns knappe Antwort. »Ich verschwinde bald wieder. Aber zunächst habe ich etwas zu erledigen.«

»Und was?«

Horn winkte ab. »Ich muss doch der Polizei helfen, denjenigen zu erwischen, der auf mich geschossen hat. Oder?«

»Kannst du abhaken. Wie ich beim Juristenstammtisch von einem Kommissar mitbekommen habe, werden die Ermittlungen wohl eingestellt. Schuss aus irgendeiner Jagdflinte, die es massenhaft gibt. Keine Spuren im Park, die auf irgendeinen Täter hinweisen. Ich weiß es aus dem Dezernat für Tötungsdelikte im Polizeipräsidium. Da herrscht jetzt dicke Luft, weil der Chef stinksauer ist. Der Böhnke kann es gar nicht leiden, wenn ihm ein Mörder oder versuchter Mörder durch die Lappen geht.« Schmitz grinste gequält. »Du hast es nicht mitbekommen, aber kurz, nachdem du von der Feuerwehr gefunden wurdest, hat es ein gewaltiges Sommergewitter gegeben.«

Nachdenklich legte sich Horn auf das Bett in seinem Hotelzimmer. Er tat, was er lange nicht getan hatte. Er nestelte an seiner Halskette und nahm den daran befestigten Ring in die Hand, ein Teil seines Abschiedsgeschenks für Renate.

Sein Vater hatte den Schmuck gefertigt, ein Paar fast identischer Ringe. Ursprünglich war der Schmuck für seine Schwester bestimmt gewesen, doch als sie und ihr Verlobter bei einem Unfall starben, hatte der Vater ihm die einmalige Anfertigung übergeben. Den Ring für die Frau, den hatte er in der Nacht Renate angesteckt, den Ring für den Mann, den trug er seitdem an der Halskette. Zärtlich küsste er das Metall.

»Das verspreche ich dir, Renate, ich überführe deinen Mörder.«

Tagelang lief er durch Aachen, beobachtete das Geschehen am Markt, auf dem Katschhof, lungerte vor dem Büro von Schmitz an der Theaterstraße herum, ohne sich dazu durchzuringen, den ehemaligen Weggefährten zu besuchen, und überlegte lange, ob er den Kontakt zur Kripo suchen sollte.

Wie war noch mal der Name des leitenden Ermittlers, den Schmitz ihm genannt hatte? Böhnke, so hieß der Chef, erinnerte er sich endlich. Vielleicht sollte er mit ihm sprechen. Doch dann entschied er sich dagegen.

Endlich glaubte er, den richtigen Schritt machen zu können. Begleitet von Jerusalem suchte er das schmucke Haus an der Oppenhoffallee im Frankenberger Viertel  14  auf. Eine kleine, augenscheinlich aus Thailand stammende junge Schönheit öffnete ihnen.

Die Frau ließ sie gutgläubig eintreten, nachdem sie sich als vermeintliche Freunde ihres Mannes vorgestellt hatten, mit dem sie verabredet seien.

Sie trage schöne Ringe, schmeichelte ihr Horn. »Alle aus Gold?«

»Nein.« Bereitwillig streckte sie ihm ihre Hände entgegen. »Einer ist aus Metall.«

»Darf ich?«, aufgeregt griff Horn nach ihren zierlichen Fingern. »Ich habe hier einen Ring, der Ihrem sehr ähnelt.« Schnell drückte er seinen Ring gegen den der Frau. Sofort verbanden sie sich. Nahtlos schob sich der schmale Stift an seinem Ring in die kleine Einlassung des anderen Ringes.

Horn sah Paul an, der zustimmend nickte.

»Von wem haben Sie den Ring?«

»Er ist von meinem Mann. Ich habe ihn in einer Schublade gefunden. Er ist so schön, da habe ich ihn mir genommen.«

Das Öffnen der Haustür unterbrach das Gespräch.

»Was macht ihr hier?«, keuchte der Notar.

»Was schon, du feige Ratte?«, brauste Horn auf. »Ich will dich ans Messer liefern. Du hast Renate auf dem Gewissen.«