Nachtgeflüster 4. Das verhängnisvolle Rendezvous - Nora Roberts - E-Book

Nachtgeflüster 4. Das verhängnisvolle Rendezvous E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Die Erfolgsserie von Nora Roberts: Spannend, geheimnisvoll, aufregend wie ein Flüstern in der Nacht

Natalie Fletcher steht kurz davor, das Flagship-Store für eine neue Kette exquisiter Dessous zu eröffnen, da brennt das Lagerhaus nieder, in dem ihre Bestände untergebracht sind. Inspector Ryan Piasecki ermittelt. Das Feuer war Brandstiftung, aber wo liegt das Motiv? War es vielleicht sogar die attraktive Geschäftsfrau selbst, die verantwortlich für das vernichtende Feuer war? Obwohl der grausame Verdacht im Raum steht, können sich Natalie und Ryan nicht dagegen wehren, dass ihre Leidenschaft immer heißer brennt.

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Seitenzahl: 289

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Nora Roberts

Nachtgeflüster 4

Das verhängnisvolle Rendezvous

Roman

Aus dem Amerikanischen von Emma Luxx

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe Night Smokeist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/Pavel SierakowskySatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12077-1V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

PROLOG

Feuer. Es reinigt. Und es zerstört. Seine Hitze kann Leben retten. Oder vernichteten. Sich die Kraft des Feuers zunutze zu machen war eine der großartigsten Entdeckungen der Menschheit. Doch zugleich ist das Feuer eine Hauptquelle von Ängsten. Rationalen und irrationalen.

Feuer fasziniert. Mütter müssen ihre Kinder davor warnen, mit dem Feuer zu spielen. Wie aufregend ist doch eine züngelnde Flamme und wie prickelnd und wohltuend die Wärme, die sie ausstrahlt!

Wer liebt es nicht, in gelöster Atmosphäre am Kaminfeuer zu sitzen, während die heißen Flammen gelb-orangerot emporschlagen und die verglühenden Holzscheite geheimnisvoll knistern? Es ist die Stunde der Romantiker und Träumer.

Wenn am Lagerfeuer die Funken hoch aufsprühen zum sternenbestickten Nachthimmel, rösten sich Kinder ihre Kartoffeln in der heißen Glut und genießen den wohligen Schauer, der ihnen beim Anhören von Gruselgeschichten den Rücken hinabläuft.

In den dunklen Ecken der Stadt kauern obdachlose Menschen an Feuern, dicht zusammengedrängt und mit gesenkten Köpfen. Längst zu müde und zu desillusioniert zum Träumen, wärmen sie sich die halb erfrorenen Hände über den Flammen, die sie aus zusammengesammeltem Müll und alten Zeitungen entfacht haben.

In den großen Städten gibt es viele Brände. Und ebenso viele verschiedene Ursachen dafür.

Ein unachtsam ausgedrückter Zigarettenstummel, der in einer Matratze langsam vor sich hinschwelt, ein defektes Stromkabel, eine Herdplatte, die jemand vergessen hat abzustellen, eine Kerze, die vor dem Schlafengehen nicht ausgelöscht wurde.

All dies kann den Verlust von Eigentum nach sich ziehen und Menschenleben kosten. Es kann ein Leben von einem Moment zum anderen von Grund auf verändern. Oft ist Unachtsamkeit im Spiel, und manchmal ist es ein Unfall. Vielleicht auch das Schicksal.

Doch es gibt noch andere, abwegigere Ursachen.

Endlich in dem Gebäude, holte er kurz und flach ein paarmal Luft. Es war einfach gewesen, wirklich einfach. Und erregend. Nun hatte er es in der Hand. Er wusste genau, was jetzt zu tun war, und es verursachte ihm den Nervenkitzel, nach dem er ständig so besessen suchte. Er tat es allein. In der Dunkelheit.

Doch es würde nicht mehr lange dunkel sein. Bei dem Gedanken daran begann er zu kichern, während er die Treppe zum zweiten Stock hinaufstieg. Gleich würde es hell werden. Viel heller, als es das Licht von Lampen je ermöglichen könnte.

Zwei Kanister dürften ausreichen. Er schraubte den ersten auf und zog eine Benzinspur über den hölzernen Fußboden und die Wände. In den anderen Räumen tat er dasselbe. Dann riss er Akten aus den Regalen, Berge von Papier, alles, was ihm leicht entflammbar erschien, türmte es auf dem Boden auf zu riesigen Haufen, die er mit Benzin tränkte. Flammen waren hungrig, sie wollten ausreichend gefüttert werden. Er kicherte wieder.

Die Vorfreude auf das, was gleich kommen würde, verursachte ihm ein Kribbeln im Bauch. Seine Fantasie schlug Purzelbäume, wobei seine Erregung wuchs. Doch er war trotz des Aufruhrs in seinem Innern ruhig, und jede seiner Handlungen war wohl überlegt und präzise. Er bewegte sich mit katzenhafter Gewandtheit und war peinlich bemüht, auch das geringste Geräusch zu vermeiden, obgleich er wusste, dass ihm von dem Wachmann keine Gefahr auf Entdeckung drohte. Der hatte erst vor Kurzem seine Runde gemacht und saß nun friedlich über einen Stapel Illustrierten gebeugt in einem anderen Teil des Gebäudes.

Dieses Feuer würde brennen und brennen und brennen. Immer heller lodernd, würde es der Benzinspur folgen. Die Fensterscheiben würden zerbersten, weil sie dem Druck der Hitze nicht standhalten konnten. Die Farbe an den Wänden würde Blasen werfen, Metall würde schmelzen, Regale umstürzen, alles, alles würde ein Opfer der gierigen Flammen werden.

Er wünschte sich für einen Moment, er könnte bleiben, hier, mittendrin im Zentrum, wo gleich eine rot glühende Feuerwalze gierig alles verschlingen würde. Er wünschte sich, er könnte bleiben, um mit eigenen Augen die befreiende Gewalt der Flammen erleben zu können.

Mit einem sehnsüchtigen Seufzer riss er ein Streichholz an und warf es auf den benzindurchtränkten Haufen. Eine grelle Stichflamme fuhr zischend empor. Einen kurzen Blick auf das Feuer gönnte er sich noch, bevor er lautlos verschwand.

1. KAPITEL

Verärgert und erschöpft betrat Natalie ihr Penthouse-Apartment. Das Arbeitsessen mit ihren leitenden Angestellten hatte fast bis Mitternacht gedauert. Natürlich hätte sie anschließend gleich nach Hause gehen können. Doch da sie auf dem Heimweg an ihrem Büro vorbeikam, hatte sie einfach nicht widerstehen können, noch mal kurz hineinzuschauen, um einen Blick auf die Werbekampagne zu werfen, die die Eröffnung ihres neuen Geschäfts ankündigte.

Leicht taumelnd vor Müdigkeit betrat sie ihr Schlafzimmer. Wie spät mochte es wohl sein? Ein Blick auf den Wecker verursachte ihr Unbehagen. Himmel, schon zwei Uhr! Jetzt aber nichts wie ab in die Federn! Sie war ja wirklich besessen von ihrer Arbeit. Bereits morgen früh um acht stand das nächste Meeting mit einigen Führungsleuten aus den drei anderen Niederlassungen an.

Und wenn schon? Alles kein Problem für Natalie. Wer brauchte Schlaf? Sicherlich nicht Natalie Fletcher, die dynamische, zweiunddreißigjährige Generaldirektorin von Fletcher Industries, die voller Elan dabei war, dem Konzern eine weitere gewinnträchtige Einkommensquelle zu erschließen. In Hochform kam sie immer dann, wenn die Herausforderung groß war.

Und dieses Geschäft würde ebenso gut laufen wie alle anderen. Sogar besser noch. Das hatte sich Natalie fest vorgenommen und ihre ganze Kraft und Kreativität in dieses Vorhaben gesteckt. Von Anfang an hatte sie alles selbst in die Hand genommen, Lady’s Choice musste der Renner werden.

Ihr Baby. Jawohl, dieser neue Zweig des Konzerns, den sie allein geschaffen hatte, war ihr Baby, und sie würde es hegen und pflegen, auch wenn das bedeutete, dass sie noch um zwei Uhr morgens im Büro herumhocken musste! Der Versand lief schon seit einiger Zeit, und das Geschäft würde ebenso laufen.

Ein Blick in den Spiegel sagte ihr jedoch, dass sogar Natalie Fletcher gelegentlich Schlaf brauchte. Ihr Gesicht war blass und schmal vor Erschöpfung. Der Hauch von Rouge, den sie zu Beginn des Abends aufgelegt hatte, war längst dahin. Ihr honigblondes Haar, das sie heute Abend zu einem raffinierten Knoten im Nacken verschlungen hatte, unterstrich ihren eleganten, gepflegten Typ. Doch jetzt lagen dunkle Schatten unter ihren smaragdgrünen Augen, die besagten, dass Natalie im Moment nichts dringender brauchte als Nachtruhe.

Sie war eine Frau, die stolz war auf ihre Arbeit, ihre Energie und ihr Durchhaltevermögen. Jetzt trat sie vom Spiegel zurück und rollte die Schultern, um die Verspannungen im Nacken zu lösen. Haifische schlafen nicht, rief sie sich ins Gedächtnis. Auch Wirtschaftshaie nicht. Doch sie war so hundemüde, dass sie sich am liebsten mit Kleidern hätte aufs Bett fallen lassen, um gleich darauf in einem tiefen Schlaf zu versinken.

Das aber sollte sie besser nicht tun. In Kleidern zu schlafen bringt ja nun wirklich keine Erholung, ermahnte sie sich und schlüpfte aus ihrem Mantel. Organisation und Selbstkontrolle gehörten zu ihrem Wesen; und diese Eigenschaften waren verantwortlich dafür, dass sie auch jetzt noch, mit dieser unsäglichen Müdigkeit in den Knochen, hinüber zum Wandschrank ging, um ihr Samtcape ordentlich auf einen Bügel zu hängen. Da läutete das Telefon.

Nimm nicht ab, befahl sie sich selbst, der Anrufbeantworter ist ja eingeschaltet. Doch im selben Moment hatte sie schon zum Hörer gegriffen.

»Hallo?«

»Miss Fletcher?«

»Ja?« Ihr Smaragdohrring klapperte gegen den Hörer. Sie wollte ihn gerade abziehen, da ließ sie die Panik, die in der Stimme des Anrufers mitschwang, in ihrer Bewegung innehalten.

»Hier ist Jim Banks, Miss Fletcher. Der diensthabende Wachmann des Lagerhauses. Wir haben hier Probleme.«

»Probleme? Ist eingebrochen worden?«

»Es brennt. Heiliger Himmel, Miss Fletcher, das ganze Gebäude steht lichterloh in Flammen!«

»In Flammen?« Ihr stockte der Atem. »Die Lagerhalle brennt? Um Gottes willen! Ist noch jemand drin?«

»Nein, Ma’am, ich war der Einzige, der da war.« Seine Stimme überschlug sich. »Ich war unten in der Cafeteria im Westflügel, als ich die Explosion hörte. Es muss eine Bombe gewesen sein oder so was. Keine Ahnung. Ich bin sofort rausgerannt und hab von der Telefonzelle aus die Feuerwehr alarmiert.«

Im Hintergrund vernahm sie jetzt Sirenen, dann wurden Befehle gebrüllt. »Sind Sie verletzt?«

»Nein, ich bin grade noch rechtzeitig rausgekommen. Heilige Mutter Gottes, Miss Fletcher, es ist grauenhaft. Einfach grauenhaft.«

»Ich bin schon unterwegs.«

Eine Viertelstunde später war Natalie da. Schon von Weitem sah sie dichte Rauchschwaden am brandrot erleuchteten Nachthimmel emporsteigen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, während sie am Rand des Geschehens nach einem Parkplatz Ausschau hielt. Männer mit rußgeschwärzten Gesichtern rannten hin und her und bemühten sich verzweifelt, die rasende Feuersbrunst unter Kontrolle zu bringen. Flammen und Rauch schlugen aus den Fenstern, deren rußgeschwärzte Scheiben längst unter dem Druck der Hitze zerborsten waren. Der Dachstuhl war bereits völlig ausgebrannt und fiel gerade krachend in sich zusammen.

Sie stieg aus und blickte voller Entsetzen auf die gespenstische Szenerie. Obwohl sie in einiger Entfernung stand, wehte die Gluthitze des Feuers zu ihr hinüber und ließ sie den eisigen Februarwind, der an ihren Kleidern zerrte, nicht spüren.

Kein Zweifel. Alles. Alles, was in dem Gebäude gewesen war, war dem Inferno anheimgefallen.

Schwankend zwischen Faszination und Schrecken stand sie wie erstarrt und starrte mit aufgerissenen Augen in die Flammen. »Miss Fletcher?« Sie wandte sich um. Ein Mann mittleren Alters, der eine graue Uniform trug, stand vor ihr.

»Ich bin Jim Banks.«

»Oh. Ja.« Noch immer wie vor den Kopf geschlagen, griff sie nach der Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Sie war eiskalt und zitterte. »Sind Sie in Ordnung? Sind Sie sicher, dass Sie nicht verletzt sind?«

»Ja, Ma’am. Ist das nicht schrecklich?«

Sie schauten eine Zeit lang schweigend zusammen auf das Feuer und beobachteten die Männer, die ihr Letztes gaben. »Was war mit der Alarmanlage? Hat sie nicht funktioniert?«

»Ich hab nichts gehört. Erst als ich die Explosion hörte, bin ich aufmerksam geworden. Ich wollte nach oben rennen, da sah ich das Feuer. O Gott! Es war überall.« Er schlug sich die Hand vors Gesicht. Nein, diese Angst und Panik, die ihn bei dem schrecklichen Anblick überfallen hatte, wollte er niemals mehr erleben. »Es war einfach überall«, wiederholte er tonlos. »Ich bin sofort rausgerannt und hab die Feuerwehr von der Telefonzelle dort hinten alarmiert.«

»Sie haben vollkommen richtig gehandelt. Haben Sie eine Ahnung, wer hier der Verantwortliche ist?«

»Nein, Miss Fletcher.«

»Na gut. Ich werd’s rausfinden. Sie sollten jetzt nach Hause gehen, Jim. Ich werde mich um alles Weitere kümmern. Lassen Sie mir nur Ihre Nummer da, für den Fall, dass Sie jemand diese Nacht noch dringend sprechen möchte.«

Er nickte langsam und starrte wieder in die Flammen. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut, Miss Fletcher.« Wie hinterhältig und gemein muss jemand sein, um so ein Feuer zu legen?

»Ja. Es ist schrecklich. Rufen Sie mich morgen an, bitte.«

»Aber natürlich. Gute Nacht.« Damit wandte er sich um und ging zu seinem Wagen.

Natalie blieb stehen, wo sie war, und wartete.

Als Ry am Ort des Geschehens eintraf, hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt, die fasziniert in die prasselnden Flammen starrte. Jedes Feuer zieht unweigerlich Menschen an, das wusste er aus Erfahrung. Wie ein guter Boxkampf oder ein geschickter Jongleur.

Bald würde es für ihn Zeit sein, an die Arbeit zu gehen.

Er stieg aus, nahm vom Rücksitz einen langen schwarzen Schutzmantel und warf ihn sich über sein kariertes Flanellhemd und die Jeans. Er reichte ihm bis zu den Füßen. Mit den Fingern fuhr er sich durch sein widerspenstiges dunkelbraunes Haar und setzte sich dann einen breitkrempigen grauen Hut auf, den er tief in die Stirn zog. Ry war ein schlanker, breitschultriger Mann mit Augen von der Farbe eines rauchgrauen Winterhimmels.

Nun schüttelte er sich eine Zigarette aus dem Päckchen, das er aus seiner Manteltasche hervorgeholt hatte, klemmte sie sich zwischen die Lippen und steckte sie an. Das Licht der Flamme erleuchtete für Sekunden sein offenes, scharfkantiges, gut geschnittenes Gesicht. Es wirkte ruhig und beherrscht. Dann lief er mit federnden Schritten, denen man das jahrelange sportliche Training und die absolute Körperbeherrschung anmerkte, in Richtung des Geschehens. Obwohl das Feuer noch immer gierig loderte und Holzbalken knackten, um gleich darauf einzustürzen, sagte ihm seine Erfahrung, dass die Feuerwehrleute den Brand weitgehend unter Kontrolle gebracht hatten.

Er versuchte sich einen Überblick zu verschaffen und überflog mit einem kurzen Blick die Szenerie. Ein Mann in seiner Stellung hatte in einer solchen Situation auf alles zu achten. Wind, Wetter, all diese Dinge waren ausschlaggebend für den Verlauf eines Brandes. Nachdem seine Kollegen ihre Arbeit beendet hatten, würde er ausführlich mit ihnen sprechen und versuchen, verschiedene Dinge in Erfahrung zu bringen.

Doch erst einmal musste er sich auf seine eigenen Augen und seine eigene Nase verlassen.

Von der Lagerhalle war offensichtlich nicht mehr viel zu retten. Doch das war auch nicht sein Job. Sein Job war es, die Ursachen für die Entstehung des Feuers herauszufinden.

Aufmerksam studierte er die Gesichter der Umstehenden. Der Wachmann der Firma hatte den Brand gemeldet, so viel wusste er. Er würde ihn ausführlich befragen müssen. Auf den Zügen der jungen Frau, die ihm am nächsten stand, malte sich Panik, vermischt mit Erregung und Faszination. Das war normal. Er kannte die Reaktionen der Menschen, er hatte sie schon unzählige Male erlebt.

Dann fiel sein Blick auf die blonde Frau.

Sie stand ein wenig abseits von der Menge, allein, und starrte reglos in die Flammen. Der Wind hatte ein paar Strähnen ihres honigblonden Haars, das sie in einem eleganten Knoten im Nacken verschlungen trug, gelöst. Ihre Füße steckten in teuren hochhackigen Schuhen, und um ihre Schultern hatte sie ein raffiniertes Samtcape geworfen. Der Widerschein der Flammen beleuchtete ihr zartes, blasses, apart geschnittenes Gesicht.

Ein Wahnsinnsgesicht, registrierte er automatisch. Blass und vornehm, es ließ ihn an eine Statue denken. Die Augen … Er konnte die Farbe nicht erkennen, es war zu dunkel. Nicht die Spur von Erregung, grübelte er, während er sie betrachtete. Keine Panik. Kein Schock. Höchstens Ärger. Entweder war sie eine Frau mit sehr wenigen Emotionen, oder sie hatte sich ausgezeichnet unter Kontrolle.

Ein Rasseweib, entschied er für sich. Und absolut cool. Was tat sie hier, um vier Uhr morgens, weit entfernt von der vornehmen Gegend, in der sie mit Sicherheit zu Hause war?

»Hey, Inspector.« Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, und er sah Lieutenant Holden mit grimmigem Gesicht durch den Matsch auf sich zustapfen. Er schnorrte eine Zigarette von Ry. »Schreiben Sie’s an«, knurrte er.

Ry grinste. Typisch Holden. Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Sie sehen aus, als wollten Sie gleich jemand den Hals umdrehen.«

»Das war mal wieder so ein verdammter Hurensohn, darauf möcht ich wetten.« Der Lieutenant schirmte mit der Hand ein Streichholz ab gegen den Wind, riss es an und gab sich Feuer. »Seit fast zwei Stunden voll im Einsatz. Der Anruf kam gegen ein Uhr vierzig. Wir sind sofort mit einem Höllentempo angerückt. Als wir eintrafen, standen der erste und der zweite Stock bereits in Flammen. Nur das Erdgeschoss hatte das Feuer noch nicht erreicht. Doch das ging dann so schnell, dass wir auch nicht mehr viel machen konnten. Ich nehme an, Sie werden den Brandherd im ersten Stock entdecken.«

»Glauben Sie?«

»Wir haben auf der Treppe ausgerollte Stoffballen gefunden. Möglicherweise dienten sie dazu, dem Feuer Nahrung zu geben.«

»Was ist das hier für ein Laden?«

»Damenunterwäsche.«

»Hmmm?«

»Damenunterwäsche«, wiederholte Holden grinsend. »Hier ist tonnenweise Damenunterwäsche gelagert. Dessous besser gesagt. Unmengen von Reizwäsche.« Er tippte Ry auf die Schulter. »Viel Spaß damit! Hey, Azubi!«, rief er dann einem Auszubildenden zu. »Willst du mit dem Schlauch das Feuer löschen oder nur mit ihm spielen?« Im Weggehen brummte er Ry zu: »Dem muss man wirklich ständig auf die Finger sehen.«

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Ry, wie die schöne Blondine etwas unsicher auf ihren hohen Absätzen durch den Matsch auf das Feuerwehrauto, das Holden und ihm am nächsten stand, zustöckelte.

»Können Sie mir schon etwas über den Hergang sagen?«, fragte Natalie einen vollkommen erschöpften Feuerwehrmann. »Wann ist der Brand ausgebrochen?«

»Lady, ich bin nur dazu da, das Feuer zu löschen.« Damit wandte er sich unwillig ab, aber dann raffte er sich doch noch zu einer weiteren Auskunft auf. »Wenn Sie Ihre Fragen beantwortet haben wollen, wenden Sie sich an den Brand-Inspector.« Bei seinen Worten deutete er in Rys Richtung.

»Unbeteiligten erteilen wir keinerlei Auskünfte«, sagte Ry hinter ihrem Rücken knapp. Nachdem sie sich umgedreht hatte, sah er, dass ihre Augen von einem herrlichen Grün waren.

»Ich bin keine Unbeteiligte«, gab sie kühl zurück. »Es ist meine Lager- und Fabrikationshalle, die da eben abgebrannt ist«, fuhr sie erläuternd fort. »Meine Lagerhalle – und mein Problem.«

»So?« Ry musterte sie kurz und ergänzte seine Einschätzung. Sie war kalt. Er kannte diese Sorte Frauen. Jetzt straffte sie die Schultern und hob das zweifellos hübsche Kinn. »Darf ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe?«, fragte er.

»Natalie Fletcher. Ich bin die Eigentümerin.« Sie zögerte einen Moment. Dann erkundigte sie sich mit leicht erhobenen Augenbrauen: »Und mit wem habe ich es zu tun, wenn ich fragen darf?«

»Piasecki. Abteilung Brandstiftung.«

»Brandstiftung?« Für eine Sekunde malte sich Erschrecken auf ihrem Gesicht, doch sie hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. »Sie vermuten, dass es Brandstiftung gewesen sein könnte?«, fragte sie sachlich.

»Mein Job, das herauszufinden.« Er blickte nach unten. »Sie werden sich Ihre Schuhe ruinieren, Miss Fletcher«, spöttelte er.

»Meine Schuhe sind ja wohl nun wirklich das Letzte, was Sie etwas …« Sie unterbrach sich, als er ihren Arm nahm und sie beiseitezog.

»Was erlauben Sie sich?«, fauchte sie ihn an.

»Sie waren im Weg. Das ist doch Ihr Auto, oder?« Er nickte hinüber zu einem glänzenden neuen Mercedes Cabrio.

»Ja, aber …«

»Steigen Sie ein.«

»Ich denke ja gar nicht daran. Warum denn?« Sie versuchte, seine Hand abzuschütteln. »Hätten Sie vielleicht die Güte, mich loszulassen und mir zu erklären, was das bedeuten soll?«

Teufel noch mal, sie roch wesentlich besser als dieser verdammte rauchende Trümmerhaufen hier! Ry inhalierte ihren Duft tief, dann bemühte er sich um ein bisschen Diplomatie. Nicht gerade eine seiner starken Seiten, wie er sich oft genug eingestehen musste.

»Schauen Sie, Sie werden sich erkälten. Warum sollen wir hier draußen in Wind und Wetter herumstehen und frieren?«

Was bildete sich dieser Mensch eigentlich ein? »Weil das hier mein Lagerhaus ist. Oder das, was noch davon übrig ist.«

»Fein.« Sollte sie doch machen, was sie wollte! Dennoch gelang es ihm trickreich, sie hinter ihr Auto zu lotsen. Er stellte sich vor sie, damit sie wenigstens etwas im Windschatten stand. »Ist es nicht ein bisschen zu spät in der Nacht, um hier herumzustehen? Sie können ja eh an der Sachlage nichts mehr ändern.«

»Stimmt.« Sie steckte die Hände in ihre Manteltaschen, um sie gegen die Kälte zu schützen, doch es nützte nicht viel. »Nachdem mich der Wachmann angerufen hat, bin ich gleich hierher gefahren.«

»Und das war wann?«

»Ich weiß nicht genau. Etwa gegen zwei.«

»Gegen zwei«, wiederholte er nachdenklich und musterte sie unverschämt von Kopf bis Fuß. Flottes Abendkostüm, das sie da trug unter ihrem Samtcape. Der Stoff, der dieselbe Farbe hatte wie ihre Augen, wirkte teuer. Das erkannte er auf den ersten Blick. »Hübsches Outfit für einen Großbrand«, stellte er beißend fest.

»Ich hatte ein Arbeitsessen heute Abend. Tut mir leid, wenn ich nicht Ihren Vorstellungen entsprechend angezogen bin.« Idiot, dachte sie und schaute wehmütig auf die rauchenden Trümmer. »Ist das eigentlich wichtig?«

»Ihr Meeting hat bis zwei Uhr gedauert?«

»Nein, nur bis Mitternacht.«

»Wie kommt’s, dass Sie dann um zwei noch immer angezogen waren?«

»Was?«

»Wie es kommt, dass Sie noch immer dieselben Kleider tragen. Waren Sie noch nicht zu Bett gegangen?« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Hatten Sie hinterher noch ein spätes Rendezvous?«

»Nein. Ich fuhr anschließend ins Büro, um noch einige Dinge zu erledigen. Als mich Jim Banks, der Wachmann, anrief, war ich eben erst nach Hause gekommen.«

»Dann waren Sie also von Mitternacht bis zwei Uhr morgens allein?«

»Ja, aber …« Plötzlich verstand sie. Ein ungläubiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Nehmen Sie etwa an, ich sei verantwortlich für das Inferno hier? Das ist ja nicht zu fassen. Wie zum Teufel war noch mal Ihr Name?«

»Piasecki«, antwortete er mit betonter Höflichkeit und lächelte. »Ryan Piasecki. Und bis jetzt, Miss Fletcher, denke ich überhaupt gar nichts, haben Sie mich verstanden? Ich sortiere lediglich die Fakten.«

Nun blickte sie nicht mehr länger kühl und kontrolliert. Er hatte sie aus der Fassung gebracht. »Gut, dann will ich Ihnen noch ein paar Fakten mehr liefern. Das Gebäude samt Inhalt ist komplett versichert. Und zwar bei der United Security.«

»Was für ein Geschäft haben Sie?«

»Ich bin Fletcher Industries, Mr Piasecki. Vielleicht sagt Ihnen das ja was.«

Natürlich sagte ihm das was. Immobilien, Minen, Schiffe. Und verschiedene Holdings in Urbana. Doch es gab auch für große Gesellschaften und Konzerne genügend Gründe, ebenso wie für kleine, finanzielle Rettung beim Versicherungsbetrug zu suchen. Kam ja oft genug vor.

»Sie leiten Fletcher Industries?«

Ausweichend erwiderte Natalie: »Im Augenblick interessiert mich nur dieser Zweig des Unternehmens.« Bei diesen Worten deutete sie auf die rauchende Ruine. Besonders dieser eine, dachte sie und fühlte, wie sich ihr Herz schmerzlich zusammenzog. Ihr Baby! »Wir eröffnen im Frühjahr landesweit verschiedene Boutiquen, verbunden mit einem Bestellservice, der bereits seit anderthalb Jahren existiert und ganz hervorragend läuft. Ein großer Teil meiner Bestände befand sich hier in diesem Gebäude.«

»Bestände welcher Art?«

Jetzt lächelte sie ihn an. »Dessous, Inspector. Exklusive Dessous. BHs, Slips, Negligés. Seide, Satin, Spitzen. Alles erstklassige Ware.« Ein Kälteschauer durchfuhr sie, und sie kroch tiefer in ihr Samtcape hinein.

Ihre Füße müssen bereits zu Eiszapfen erstarrt sein in diesen Schuhen, dachte er. »Sie werden noch erfrieren hier in der Kälte. Sie können jetzt nach Hause fahren, ich denke, wir sind für heute fertig. Wir bleiben in Kontakt.«

»Ich will aber wissen, was von meinen Beständen noch übrig geblieben ist.«

»Das werden Sie heute nicht mehr erfahren. Oder doch. Sie sehen ja selbst, das Gebäude brennt nieder bis auf die Grundmauern. Da ist nichts mehr zu retten. Kaum zu glauben, dass da noch was drin sein könnte, was einem Mann das Blut schneller durch die Adern fließen ließe.« Er öffnete die Fahrertür. »Ich hab noch zu tun. Und Sie sollten morgen gleich Ihre Versicherung benachrichtigen.«

»Wirklich sehr fürsorglich, Inspector.«

»Nun«, erwiderte er vollkommen ernst, »das würde ich nicht gerade behaupten.« Er nahm ein Notizbuch und einen Stift aus seiner Manteltasche. »Geben Sie mir doch bitte Ihre Adresse und die Telefonnummer. Die von Ihrem Büro und auch Ihre private.«

Natalie holte tief Luft, bevor sie ihm die gewünschte Information zukommen ließ. »Sie müssen wissen«, fügte sie hinzu, »bisher hatte ich immer eine Schwäche für öffentliche Bedienstete, da mein Bruder Polizist in Denver ist.«

»Ach ja?«

»Ja.« Sie stieg ein und glitt hinters Steuer. »Sie allerdings haben mich in kurzer Zeit eines Besseren belehrt.« Mit diesen Worten knallte sie die Wagentür zu und bedauerte es, dass sie nicht schnell genug gewesen war, um ihm die Finger einzuklemmen. Während sie einen letzten Blick auf die zerstörte Lagerhalle warf, startete sie den Motor und rauschte dann davon.

Ry beobachtete, wie sich ihre Rücklichter in der Ferne verloren, und machte sich eine Notiz. Atemberaubende Beine. Nicht dass er es sonst vergessen hätte, aber ein guter Inspector schreibt sich eben alles auf.

Natalie schlief zwei Stunden, dann erwachte sie und fand, dass es keinen Sinn hatte, noch länger im Bett zu bleiben. Sie würde ja doch kein Auge mehr zutun. Also stand sie auf und nahm eine kalte Dusche.

Nachdem sie in Ruhe gefrühstückt hatte, sah sie zur Uhr. Es war acht. Ihre Assistentin müsste gerade im Büro eingetroffen sein. Sie rief sie an, erzählte kurz, was in der Nacht zuvor geschehen war, und bat sie, alle Morgentermine abzusagen. Dann telefonierte sie mit ihren Eltern in Colorado. Natürlich waren sie bestürzt, als sie die unangenehmen Neuigkeiten hörten, und erteilten ihr viele gute Ratschläge.

Als Nächstes setzte sie sich mit ihrem Versicherungsagenten in Verbindung und vereinbarte einen Termin. Während sie mit dem letzten Schluck Orangensaft ein Aspirin hinunterspülte, begann sie sich in Gedanken ihren Tagesplan zurechtzulegen und zog sich dann an. Es würde ein langer Tag werden.

Sie war schon an der Wohnungstür, als das Telefon läutete.

Der Anrufbeantworter ist ja eingeschaltet, sagte sie sich, doch da hatte sie schon abgehoben. »Hallo?«

»Natalie, hier ist Deborah. Ich hab’s gerade in den Nachrichten gehört.«

»Oh.« Sie rieb sich den schmerzenden Nacken, der verspannt war, weil sie zu wenig Schlaf gehabt hatte, und setzte sich auf die Sessellehne. Mit Deborah O’Roarke Guthrie war sie auf doppelte Weise eng verbunden. Sie war ihre Freundin und gehörte zugleich mit zur Familie. »Das hab ich mir gedacht, dass das die erste Meldung in den Lokalnachrichten sein würde.«

»Es tut mir so leid, Natalie. Wirklich. Wie schlimm ist es denn?«

»Ich weiß es noch nicht. Vergangene Nacht sah’s fürchterlich aus. Ich will jetzt gerade hinfahren. Wer weiß, vielleicht ist ja doch noch was zu retten.«

»Möchtest du, dass ich mitkomme? Ich könnte mir heute Vormittag freinehmen.«

Natalie lächelte. Deborah wäre glatt dazu imstande. Als hätte sie nicht genug mit ihrem eigenen Kram zu tun. Mit ihrem Mann, ihrem Baby und ihrem Job als stellvertretende Bezirksstaatsanwältin.

»Nein, Deborah, das ist lieb von dir, doch es ist nicht nötig. Aber trotzdem vielen Dank für das Angebot. Ich ruf dich an, wenn ich was Genaueres weiß.«

»Komm doch heute Abend zum Essen. Dann kannst du dich entspannen und dich ein bisschen umsorgen lassen, was meinst du?«

»Ja, gern.«

»Und wenn es irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann, lass es mich wissen.«

»Ach, du könntest in Denver anrufen. Halte deine Schwester und meinen Bruder davon ab, hierherzukommen. Wahrscheinlich will mein Bruder den Retter spielen, so wie ich ihn kenne.«

Deborah lachte. »Ich werd tun, was ich kann.«

»Und noch was.« Natalie erhob sich und ging den Inhalt ihrer Aktenmappe durch, während sie etwas zögernd weitersprach. »Kennst du zufälligerweise einen Inspector Piasecki? Ryan Piasecki? Sagt dir der Name was?«

»Piasecki?« Es dauerte einen Moment. Deborah blätterte in Windeseile in ihrem geistigen Notizbuch. Dann hatte sie es. »Abteilung Brandstiftung. Es gibt in seinem Fach keinen, der besser ist.«

»Das hätte er vielleicht gerne«, brummte Natalie unwirsch.

»Besteht denn ein Verdacht auf Brandstiftung?«, fragte Deborah.

»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass dieser Piasecki gestern Nacht auch da war, grob und unhöflich wie die Axt im Walde, und mir keinerlei Auskunft erteilen wollte.«

»Bis man eine Brandursache herausgefunden hat, dauert es eben seine Zeit, Natalie«, erwiderte Deborah besänftigend. »Doch wenn du möchtest, könnte ich versuchen, ein bisschen Druck dahinter zu machen.«

Verlockende Vorstellung, dachte Natalie, Piasecki ein bisschen ins Schwitzen zu bringen. »Nein, danke. Noch nicht. Warten wir erst mal ab, wie’s weitergeht. Wir sehen uns heute Abend.«

»Um sieben, ja?«

»Ich werd um sieben da sein.« Natalie legte auf und griff nach ihrer Aktenmappe. Jetzt aber nichts wie los, es gab viel zu tun. Vielleicht schaffte sie es ja mit etwas Glück, der morgendlichen Rushhour auszuweichen und in zwanzig Minuten bei der Lagerhalle zu sein.

Das Glück war ihr geneigt. Doch als Natalie bei der von der Feuerwehr abgesperrten Brandstelle vorfuhr, wurde ihr klar, dass sie viel, viel mehr brauchen würde als nur Glück, wenn sie diese Schlacht gewinnen wollte.

Ihr erster Eindruck heute Morgen war verheerend, einfach verheerend. Noch viel verheerender als in der Nacht zuvor.

Die Außenmauern des zweistöckigen Gebäudes hatten der Feuersbrunst zwar standgehalten, doch sie waren mit glitschigem schwarzen Ruß überzogen und wasserdurchtränkt. Natalie spähte durch die von den Flammen zerstörte Eingangstür ins Innere. Der Fußboden war mit verkohlten Holzbalken, rußgeschwärzten Glasscherben und halb geschmolzenen Metallteilen übersät. In der Luft hing der beißende Geruch von kaltem Rauch.

Schrecklich. Gerade als sie über die Schwelle treten wollte, hörte sie eine männliche Stimme.

»Was zum Teufel machen Sie denn hier?«

Sie fuhr zusammen. Die Stimme kannte sie doch. Sie hätte es sich ja wirklich denken können! Ry kam ihr, vorsichtig in den Trümmern einen Fuß vor den anderen setzend, entgegen. »Können Sie nicht lesen? Draußen steht ein großes Schild ›Betreten verboten‹.«

»Ich hab’s gesehen. Doch dies hier ist mein Eigentum, Inspector. Ich denke, ich habe durchaus ein Recht dazu, mir den entstandenen Schaden anzusehen.«

Er betrachtete sie verdrossen. »Haben Sie vielleicht noch ein anderes Paar Schuhe?«

»Wie bitte?«

»Bleiben Sie hier stehen.« Unwirsch murmelte er noch irgendetwas Unverständliches vor sich hin, stieg über die Trümmer und ging hinaus zu seinem Auto. Kurz darauf erschien er wieder und hielt ein paar überdimensionale Sicherheitsschuhe in Händen. »Los, ziehen Sie die an.«

»Aber …«

Er packte sie am Arm, sodass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Marsch jetzt, steigen Sie mit Ihrem lächerlichen Schuhwerk hier in diese Stiefel! Alles andere ist zu gefährlich. Sie könnten sich verletzen.«

»Na gut.« Sie schlüpfte hinein und kam sich irgendwie absurd vor in diesen riesigen Kähnen, deren Schäfte ihr bis zum Knie reichten.

»Hübsch sehen Sie aus.« Natürlich konnte er sich einen boshaften Kommentar nicht verkneifen. »Also, auf geht’s! Und im Übrigen – alles muss so bleiben, wie es ist, fassen Sie bitte nichts an.«

»Ich habe nicht die Absicht …«

»Das sagen sie immer alle …«

Sie wandte sich ihm zu. »Eine Frage, Inspector, arbeiten Sie allein, weil es Ihnen lieber ist, oder deshalb, weil es kein Mensch länger als fünf Minuten in Ihrer Nähe aushalten kann?«

»Beides.« Er grinste sie offen an. Charmant, dachte sie. Sehr verdächtig. Was führte er jetzt wieder im Schilde? »Was bringt Sie eigentlich auf die Idee, in einem Fünfhundertdollarkostümchen auf einer Brandstelle herumzuturnen?«

»Ich …« Noch immer misstrauisch, knöpfte sie ihren Mantel bis obenhin zu. »Ich hab heute Nachmittag noch einige Geschäftsbesprechungen und keine Zeit mehr, mich umzuziehen.«

»Manager«, brummte er abschätzig und legte seine Hand auf ihren Arm. »Na los, kommen Sie. Seien Sie vorsichtig, es besteht Einsturzgefahr. Aber ich denke, wir können’s riskieren. Ich kenne die Stellen, wo man aufpassen muss.«

Er reichte ihr die Hand, damit sie gefahrlos über ein verkohltes Holzregal steigen konnte. Sie sah nach oben. Wo früher die Decke zwischen den Stockwerken gewesen war, gähnte jetzt ein schwarzes Loch. Alles war nach unten durchgefallen und lag nun in Gestalt von verkohlten Trümmern hier unten auf dem Boden. Sie erschauderte beim Anblick einer geschmolzenen Masse, die früher eine Schaufensterpuppe gewesen war.

»Sie hat nicht gelitten«, versicherte ihr Ry, und sie blitzte ihn wütend an.

»Ich bin sicher, Sie sehen dies alles nur als einen Witz, aber …«

»Feuer ist niemals ein Witz. Passen Sie auf, wo Sie hintreten!«

An der Stelle, wo er gearbeitet hatte, als sie kam, lag eine Schaufel, die wie ein Kinderspielzeug aussah, einige Gefäße, ein Brecheisen, ein Zollstock. Während sie die Sachen betrachtete, zeichnete Ry an einer Fußbodenleiste etwas an.

»Was machen Sie da?«

»Meinen Job.«

Sie biss die Zähne zusammen. »Sind wir beide etwa aus demselben Grund hier?«

Er schaute hinauf zu ihr. »Vielleicht.« Mit einem Spachtel kratzte er etwas von der Wand. Er schnüffelte daran, brummte vor sich hin und tat es dann mit einem hochzufriedenen Gesichtsausdruck in eins der Gläser, die er mitgebracht hatte, und hielt es ihr dann hin. »Riechen Sie mal.«

Sie steckte ihre Nase hinein.

»Erkennen Sie den Geruch?«

»Rauch, Feuchtigkeit … Ich weiß nicht.«

Er schraubte das Gefäß zu. »Benzin«, klärte er sie dann auf. »Schauen Sie, hier läuft die Spur an der Wand entlang, und hier – eine Ritze im Fußboden, sehen Sie?« Sie sah, dass er auch hier gearbeitet und offensichtlich Benzinrückstände gefunden hatte. »Und hier!« Nun deutete er auf eine andere Stelle, wo er Schutt beiseitegeschaufelt hatte. Darunter war ein runder schwarzer Fleck zum Vorschein gekommen.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Es ist wie eine Landkarte. Ich trage es ab, Schicht für Schicht, und bin dann imstande, Ihnen zu sagen, was geschehen ist.«

»Wollen Sie behaupten, dass jemand hier im ganzen Haus Benzin ausgegossen und das Gebäude dann in Brand gesteckt hat?«

Er hüllte sich in Schweigen, hob einen halb verkohlten Stofffetzen auf und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. »Seide. Schade drum.« Er schnüffelte daran. »Stoff getränkt mit Benzin ist eine wunderbare Fackel und gibt dem Feuer Nahrung.« Er griff nach einem BH, dessen spitzenbesetze Schalen fast vollständig erhalten waren. Amüsiert lächelte er Natalie an. »Lustig, was übrig geblieben ist, finden Sie nicht auch?«

Ihr war kalt, doch nicht vom Wind, der durch das zerstörte Gebälk pfiff. Die Kälte kam von innen. Es war kalte Wut. »Das Feuer ist also mit voller Absicht gelegt worden.«

Ry kam langsam aus der Hocke hoch und studierte mit Interesse ihr Gesicht und ihre zornblitzenden Augen. Sein schwarzer Feuerwehrmantel stand offen und enthüllte seine ausgebleichten Jeans und dasselbe Flanellhemd, das er letzte Nacht getragen hatte. Er war noch nicht zu Hause gewesen, hatte seit seiner Ankunft heute Morgen um halb drei durchgearbeitet bis jetzt.

»Sie werden meinen Bericht bekommen.« Er stand jetzt neben ihr. »Wie hat es hier vor vierundzwanzig Stunden ausgesehen? Ich möchte es wissen, um mir vorstellen zu können, was geschehen sein könnte.«

Sie schloss für einen Moment die Augen, doch es half nichts. Der Geruch der Zerstörung lag in der Luft, sie atmete ihn ein, er drang ihr in die Nase.

»Zwei Stockwerke. Ungefähr zweitausend Quadratmeter. Hier war die Treppe. Da im zweiten Stock arbeiteten die Näherinnen. Alles, was wir verkaufen, ist Eigenproduktion.«

»Edel.«

»Ja. Das ist unser Konzept. Es ist das, was uns von anderen unterscheidet. Im ersten Stock befanden sich Büros. Unter anderem auch meins. Es war nur klein, denn meistens arbeite ich in unserem Hauptbüro in der Innenstadt und hatte das auch weiterhin vor. Hier unten wurde die Ware noch einmal überprüft, verpackt und verschickt. Außerdem gabs hier eine kleine Cafeteria und einen Aufenthaltsraum. Wir haben ja diesen Katalog-Bestellservice, wie Sie wissen. Wir hatten gerade angefangen, die Frühjahrsbestellungen in Angriff zu nehmen. Parallel zu dem Bestellservice wollen wir in den nächsten Wochen sowohl hier in Urbana als auch in Atlanta und Chicago Boutiquen einrichten. Sehr, sehr viel Arbeit.«

Natalie drehte sich um, machte ein paar Schritte, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich gehen wollte, und stolperte über einen Geröllhaufen. Ry reagierte blitzschnell und griff nach ihrem Arm.

»Fallen Sie nicht!«, murmelte er.