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Stellan Archer hat fast sein gesamtes Leben allein verbracht und ist damit vollauf zufrieden, bis er auf dem Rückweg von einer Hochzeit die Bekanntschaft von Claudine Fairchild macht. Das Mädchen ist gerade mit ihrem Vater Connor nach Sanoro gezogen und lässt sich durch nichts davon abhalten, wiederholt in seinem Revier aufzutauchen. Stellan weiß weder mit ihrer Hartnäckigkeit umzugehen noch mit dem plötzlich in ihm erwachenden Bedürfnis, Claudine und ihren Vater beschützen zu wollen. Und als wäre das alles nicht schon irritierend genug, entscheidet sein Alpha, Rick Malloy, auf einmal, dass er der perfekte Kandidat ist, um in naher Zukunft die Führung des Sanoro-Rudels zu übernehmen.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Mathilda Grace
NACHTJÄGER
Band 3 der Nacht – Trilogie
Impressum
© 2017 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2016/2017
Foto: werner22brigitte, Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Korrektorat: Corina Ponta
Web: www.mathilda-grace.blogspot.de
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden. Diese Geschichte spielt in einer fiktiven Kleinstadt in den USA.
Nachtjäger enthält homoerotische Beschreibungen.
- Roman -
Liebe Leserin, Lieber Leser,
ohne deine Unterstützung und Wertschätzung meiner Arbeit könnte ich nicht in meinem Traumberuf arbeiten.
Mit deinem Kauf dieses E-Books schaffst du die Grundlage für viele weitere Geschichten aus meiner Feder, die dir in Zukunft hoffentlich wundervolle Lesestunden bescheren werden.
Dankeschön.
Liebe Grüße
Mathilda Grace
Für Claudia und ihre Biene. Danke, dass ich deiner Süßen ein kleines Andenken schreiben durfte.
Stellan Archer hat fast sein gesamtes Leben allein verbracht und ist damit vollauf zufrieden, bis er auf dem Rückweg von einer Hochzeit die Bekanntschaft von Claudine Fairchild macht. Das Mädchen ist gerade mit ihrem Vater Connor nach Sanoro gezogen und lässt sich durch nichts davon abhalten, wiederholt in seinem Revier aufzutauchen. Stellan weiß weder mit ihrer Hartnäckigkeit umzugehen noch mit dem plötzlich in ihm erwachenden Bedürfnis, Claudine und ihren Vater beschützen zu wollen. Und als wäre das alles nicht schon irritierend genug, entscheidet sein Alpha, Rick Malloy, auf einmal, dass er der perfekte Kandidat ist, um in naher Zukunft die Führung des Sanoro-Rudels zu übernehmen.
Prolog
- Stellan -
Eine Hochzeit.
Was machte er auf einer Hochzeit?
Er ging nicht auf Feiern, wo Menschen waren, was also tat er hier? Er könnte ein paar Kinder erschrecken, nur würde das Brautpaar das wohl kaum gutheißen. Rick würde es auch nicht gutheißen. Von den Eltern besagter Kinder ganz zu schweigen. Dann hätten sie noch einen Grund mehr ihn anzuknurren und mit drohenden Blicken zu überhäufen, wobei er letzteres meist nur amüsant fand. Sie waren keine Bedrohung für ihn. Keiner in diesem Rudel war es. Selbst als Gruppe würden sie ihn nicht ohne Weiteres niederringen können. Nicht ohne Tote auf ihrer Seite. Er war ein Tiger, kein kleiner Kater wie der Bräutigam.
Stellan knurrte leise, als einer der neuesten Wächter ihm zu dicht auf die Pelle rückte, und grinste abfällig, als der Wolf mit einem Fauchen das Weite suchte.
So lief es schon seit seinem Eintreffen hier ab. Die Jüngeren versuchten ihr Glück mit kindischen Kompetenzrangeleien, in der Hoffnung, er würde sich darauf einlassen. Hielten sie ihn wirklich für so dumm? Rick Malloy mochte ihm kräftemäßig unterlegen sein, aber er hatte den Bär als Alpha anerkannt und würde sich an dessen Kampfverbot halten.
Keine Ausnahmen.
Zumindest solange sie sich von seinem Revier fernhielten. Der kranke Schläfer hatte das nicht getan. Sein falscher Geruch war wie eine dichte, dunkle Wolke um ihn herum gewesen, die bis tief in seinen Geist gereicht hatte. Ihn von den Katzen töten zu lassen, war ein Gnadenakt gewesen, obwohl das niemand verstand. Nicht einmal Rick. Andererseits hatte Stellan sich auch nicht an einer Erklärung versucht.
Zeitverschwendung in seinen Augen, und das galt ebenso für diese unselige Feier. Aber dieses Rudel mochte Hochzeiten und die gefühlsmäßigen Bindungen, die sie mit sich brachten, das hatte er in den vergangenen Jahren gelernt. Sie liebten das, was sie mit einem Lächeln Familienbande nannten.
Ein Wort, dessen Bedeutung Stellan ebenso fremd war, wie der Großteil dessen, was diese Gestaltwandler als Leben, Liebe, Familie und Freundschaft betitelten. Er verstand nicht, was an diesen Dingen so wertvoll war. Er verstand nicht, warum Trent Morgan und Sebastian Monroe heirateten. Er verstand ebenso wenig, warum Jasper Rivers Erregung dabei empfand, wenn er von seinem Mann geschlagen wurde. Und noch viel weniger sah er irgendeinen Sinn darin, dass die Gefährtin seines Alpha Tränen vergoss, als das Hochzeitspaar einander mit eigens für diesen Tag geschriebenen Reden die Treue schwor.
Stellan wusste, dass er durch sein Tier einer von ihnen war, ein Gestaltwandler. Dennoch würde er niemals wirklich dazu gehören, würde nie einer der Ihren sein. Das hatte er schon vor langer Zeit begriffen, doch im Gegensatz zu Rick Malloy störte ihn selbst diese Tatsache nicht im Geringsten.
Kapitel 1
- Connor -
Dieser dunkelhaarige Riese war ihm unheimlich.
Seit fast einer Stunde stand Stellan Archer jetzt in der Ecke, hielt sich an einer halb ausgetrunkenen Wasserflasche fest und beobachtete mit wechselnden Gesichtsausdrücken, die von abschätzig über ratlos bis hin zu verärgert reichten, sobald ihm einer von den Jüngeren zu dicht auf den Pelz rückte, wie Sebastian und Trent den offiziellen Bund der Ehe eingingen.
Jasper hatte ihn zwar vorgewarnt, dass der Mann schwierig war und er ihn am besten ignorieren sollte, doch von einem baumhohen Riesen mit Muskeln jenseits von gut und böse war dabei nicht die Rede gewesen. Wie groß war der Typ? Zwei Meter? Eher mehr. Dazu breit wie ein Baum und er fühlte sich hier offensichtlich mehr als unwohl. Daran änderte auch der teure Maßanzug nichts, für den garantiert Trent Morgan, Pardon, er hieß ja seit einigen Minuten Monroe, verantwortlich war. Dunkle Augen, erkannte Connor, als Stellan einer Gruppe kichernder Mädchen nachblickte, die ihn offenbar irritierten.
Connor verkniff sich ein Schmunzeln, denn diese Irritation kannte er selbst gut von diversen Pyjamapartys, die Claudine mit ihren Freundinnen veranstaltet hatte. Connor schnitt eine Grimasse, als ihm einfiel, dass es damit jetzt vorbei war. Noch ein Grund mehr für seine Tochter, ihn wegen des Umzugs nach Sanoro zu hassen, und er hatte keinerlei Zweifel daran, dass es nicht lange dauerte, bis sie ihn wieder spüren ließ, was sie von ihm und seinem neuen Lebensplan hielt, sich mit ihr in dieser Wandlergruft, O-Ton Claudine, niederzulassen.
Ein bisschen konnte er sie sogar verstehen. Sanoro war eben nicht New York City, aber als er von einem Bekannten erfahren hatte, dass Rick Malloy dabei war, sein Rudel zu vergrößern, hatte er die Chance ergriffen und Jasper kontaktiert.
Heute, sieben Monate später, war er stolzer Besitzer eines für ihn und Claudine renovierten Hauses, in dem Jasper bis zu seiner Hochzeit gewohnt hatte, und in welchem es genug Platz für sie und Hündin Bee gab, eine kniehohe Mischlingsdame, deren liebster Platz ihr Kissen vor der warmen Heizung war. Noch besser fand sie es, wenn vor dem Kissen eine Schale mit Käsestückchen lag. Bee war verrückt nach Käse. Sie klaute ihn sogar vom Teller. Oder von frisch gemachten Broten, wie heute Morgen am Frühstückstisch. Connor lachte bei der Erinnerung daran, wie Claudine grinsend und entrüstet zugleich ihrem geklauten Käsebrot nachgesehen hatte.
Ob sein dunkelhaariger Riese wohl auch für Käse zu haben war? Kopfschüttelnd trank er einen Schluck Bier und wandte den Blick ab. Dieser Kerl würde nie seiner sein. Solche Männer interessierten sich nicht für Ärzte mit Untergewicht, die vor lauter Arbeit ständig das Essen vergaßen und noch dazu eine Teenagertochter im Haus hatten. Nun ja, zumindest den Punkt mit seinem Gewicht würde er in Sanoro hoffentlich angehen können, denn eine Praxisteilung bedeutete für Jasper und ihn eben auch geteilte Arbeit und mit Sicherheit mehr Freizeit, als bei seinem letzten Job in der Notaufnahme, den er ohnehin nur angenommen hatte, um nicht ständig mit den Erinnerungen an Christy konfrontiert zu sein.
Connors Blick wanderte, ohne dass er es wollte, zurück zu Stellan Archer. Diese Augen waren wirklich der Hammer. Wie Schokolade. Er mochte Schokolade. Er mochte auch diesen Typ Mann, obwohl er von Archer wirklich besser die Finger ließ. Der Tiger würde ihn mit einem einzigen Faustschlag auf die Hälfte seiner Größe zurechtstutzen und ihn dann als Sitzklotz benutzen. Und wie er sich ständig umsah und dabei alles und jeden auf der Feier zu verachten schien … Das war ein wirklich merkwürdiger Wandler, der auf diese Hochzeit passte, wie ein Elefant in den nächsten Porzellanladen. Aber das Brautpaar, zumindest Trent, mochte ihn offenbar und selbst Rick hatte vor einiger Zeit ein paar Worte mit Archer gewechselt. Die übrigen Gäste hielten sich allerdings fern, von diesen chancenlosen Herausforderern einmal abgesehen.
Connor versteckte ein Grinsen hinter seinem Bier, weil es in dem Moment wieder einer versuchte. Ein junger Wolf. Archers Antwort war ein Knurren, das bis zu ihm herüberwehte, dicht gefolgt von einem empörten Fauchen des Verlierers, bevor der Wolf den sprichwörtlichen Schwanz einzog und sich zu seiner Gruppe Freunde verdrückte, die ihn feixend und schadenfroh in ihrer Mitte willkommen hießen.
So ein Mann hätte Christy gefallen und sie hätte garantiert versucht, ihn für eine Nacht in ihr Ehebett zu locken. Vielleicht sogar mehr. Was das betraf, hatten sie einander keine Grenzen gesetzt, solange sie es nicht heimlich taten.
Connor seufzte tief. Das war ebenfalls ein Punkt auf einer ellenlangen Liste von Gründen, der Christys erzkonservative Eltern glauben ließ, dass er als Vater ein totaler Versager und damit völlig untragbar war. Welcher Mann ließ schon zu, dass die eigene Ehefrau fremde Männer ins Bett holte?
Dass Christy bei ihren sexuellen Abenteuern fast immer den ersten Schritt gemacht hatte, interessierte sie nicht. Sie war schließlich ihre einzige Tochter, so ein liebes Kind, welches er mit seiner unnatürlichen Bisexualität völlig verdorben hatte, und sie würden niemals zulassen, dass er Claudine auch noch vom Pfad der Tugend holte. Kompletter Unsinn, aber Christys Eltern waren derart verbohrt, dass sie bis heute nicht erkannt hatten, dass es ihre Schuld war, dass Christy sofort nach ihrem Schulabschluss ihr Elternhaus verlassen und jeglichen Kontakt abgebrochen hatte.
Er hätte sie niemals zur Beerdigung einladen dürfen, aber Connors schlechtes Gewissen war am Ende so groß gewesen, dass er es einfach nicht über sich gebracht hatte, zu schweigen.
Der Dank dafür war ein Sorgerechtsstreit um Claudine, der ihn im schlimmsten Fall seine Tochter kostete. Dabei kannte sie ihre Großeltern nicht einmal und wollte auch nicht bei ihnen leben. Das hatte sie bei einem Termin im Jugendamt klipp und klar deutlich gemacht, aber mit erst 13 Jahren war sie vor dem Gesetz eben leider noch zu jung, um diese Entscheidung allein zu treffen, daher war ihm geraten worden, sich schnellstens einen guten Anwalt zu suchen, um das Sorgerecht abschließend und dauerhaft zu klären.
Nur wo man so jemanden fand und vor allem wie er diesen Mann oder diese Frau bezahlen sollte, das hatte ihm niemand sagen können. Connor war mit dem ganzen Hickhack schlicht überfordert gewesen und hatte schlussendlich das getan, was er für das Beste hielt. Nämlich das Haus zu verkaufen, weil er es mit nur einem Gehalt ohnehin nicht unterhalten konnte, den Job zu kündigen und am nächsten Tag seine Sachen zu packen und mit Claudine aus New York zu verschwinden.
Connor war bewusst, dass ihm das auf Dauer nicht helfen würde. Früher oder später würden Christys Eltern ihn finden und dann hatte er mit Sicherheit noch mehr Probleme am Hals, weil er mitten in einem laufenden Prozess nicht nur die Stadt, sondern gleich den Bundesstaat hinter sich gelassen hatte.
Nicht zu vergessen, dass er Jasper und Rick zwar von dem Sorgerechtsstreit erzählt, die Sache aber heruntergespielt hatte, um zu verheimlichen, dass er überhaupt keinen Anwalt hatte, der sich darum kümmerte, weil er schlichtweg pleite war. Eine Beerdigung war teuer und nach dem Hausverkauf hatte das Geld gerade ausgereicht, um den restlichen Kredit auszulösen und den Hauskauf hier in Sanoro zu arrangieren. Vom Umzug und Einkauf in die Klinik ganz zu schweigen.
Momentan besaß Connor nur noch ein paar tausend Dollar und wenn sich die Arbeit in der Klinik nicht rentierte, war er in einem halben Jahr abgebrannt. Spätestens. Und das mit einer minderjährigen Tochter, für die er sorgen musste. Nicht gerade gute Voraussetzungen für einen Sieg vor Gericht, denn seine Mittellosigkeit würde einem Richter kaum gefallen.
Wie Connor es auch drehte und wendete, er saß mächtig in der Tinte.
»Gefällt dir der Ausblick?«
Connor zuckte zusammen und drehte sich zu Rick Malloy, als sein Alpha neben ihn trat. »Es ist eine schöne Feier.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
Aha, seine Blicke waren offenbar bemerkt worden. Connor zuckte betont gelassen mit den Schultern. »Ich bin nicht blind, aber auch nicht lebensmüde. Wächst eigentlich wieder Gras an den Stellen, auf die er schon draufgehauen hat?«
Rick begann zu lachen und klopfte ihm auf die Schulter. »Du gefällst mir, und bei meinem letzten Rundgang schien das Gras in seiner Nähe noch frisch und munter zu sein. Wo hast du denn deine Kleine gelassen?«
Connor deutete über die Menge. »Irgendwo auf der Feier. Sie hat mir auf dem Weg hierher sehr deutlich erklärt, dass sie zu alt für einen Babysitter wäre. Vor allem, wenn derjenige ihr Vater ist. Also habe ich sie ziehen lassen.«
»Das kommt mir bekannt vor«, murmelte Rick und sah ihn scharf an. »Du siehst scheiße aus.«
»Wow, wie freundlich.« Connor wusste nicht, ob er sich für die Ehrlichkeit bedanken oder beleidigt sein sollte.
»Ich bin dein Alpha und nicht für Nettigkeiten zuständig. Vor allem dann nicht, wenn mein zweiter Arzt Augenringe von der Größe der Rocky Mountains hat. Du solltest dich dringend mal ausschlafen. Sonst wird das nichts mit der Klinikeröffnung nächsten Monat.«
»Bis dahin ist noch genug Zeit, den fehlenden Schlaf etwas auszugleichen. Ich muss nämlich noch gefühlt tausend Kartons auspacken.«
Rick nickte verständnisvoll. »Ein Umzug dauert eine Weile. Wir hatten davon einige in den letzten Monaten. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und falls du jetzt gehen willst, um dich ins Bett zu legen, nur zu. Ich sorge persönlich dafür, dass deine Kleine sicher nach Hause kommt.«
»Du?«, fragte Connor erstaunt nach.
»Ich kümmere mich um mein Rudel«, war Ricks Antwort, ehe er ihm erneut auf die Schulter klopfte und ihn dann wieder allein ließ.
Vielleicht sollte er ja wirklich nach Hause gehen, überlegte Connor, während er zusah, wie Rick sich durch die Menge der Feiernden schob, direkt auf seine Frau Annie zu. Als die zwei sich kurz darauf küssten, was mit dreckigen Pfiffen und Johlen kommentiert wurde, wandte Connor grinsend und gleichzeitig kopfschüttelnd den Blick ab und entschied zu gehen.
Es war zwar noch ziemlich früh am Tag, aber er kannte hier doch ohnehin kaum jemanden und wenn ihn sogar sein neuer Alpha auf seine unübersehbare Müdigkeit ansprach, musste er wirklich schlimm aussehen. Nun ja, verwunderlich war das für Connor nicht, so schlecht wie er seit Christys Tod schlief. Es gab Tage, da fragte er sich, wieso er überhaupt noch aufstand, und normalerweise wäre er heute nicht einmal hergekommen. Aber Jasper hatte ihn darum gebeten, um die Bewohner von Sanoro ein bisschen kennenzulernen, und das hatte er einfach nicht ablehnen können.
Die gesamte Stadt war zur Hochzeit ihres Traumpaares, wie Jasper seine besten Freunde lächelnd betitelt hatte, gekommen, und anfangs hatte Connor sich auch sehr gut unterhalten, aber langsam kehrten die Gedanken an Christy zurück, die sich auf dieser Party mit Sicherheit verdammt wohlgefühlt hätte. Doch Christy war für immer fort und alles, was ihm jetzt noch blieb, war ein frecher, schwarzhaariger Wirbelwind, den Christy und er in einer Nacht voller Musik, Tanz und jeder Menge bunter, verbotener Pillen geschaffen hatten.
Die Pillen hatten Christy und er nach jener Nacht nie mehr angerührt und seit Claudines Geburt hatten sie auch auf lange Partynächte verzichtet. Nichts war so wichtig gewesen, wie die Gesundheit und Sicherheit dieses hübschen, zarten Wesens, an das er seit dem Tod ihrer Mutter kaum noch herankam.
Connor ließ seinen Blick über die Menge schweifen, konnte Claudine aber nirgendwo entdecken. Was ihn vermutlich hätte erschrecken sollen, aber wundersamerweise machte er sich um sie keine Sorgen. Er wusste, dass die Stadt sicher war. Dass es, dank Rick Malloy, selbst heute genügend Wächter gab, die ein oder auch beide Augen auf die Jüngeren hatten, während ihre Eltern feierten. Claudine wurde hier beschützt, mit allem, was die Männer und Frauen dieser Stadt zu geben hatten, und das gab schließlich den Ausschlag für Connor, Claudine eine kurze Nachricht zu schreiben, dass er sich auf den Heimweg machte und sie bitte Bescheid geben solle, wenn sie abgeholt werden oder ihn begleiten wollte.
Zurück kam: Bin spazieren. Alles okay.
Und das war schon mehr, als Connor erwartet hatte. Aber nach ihrem letzten großen Streit, der darin gegipfelt war, dass er seiner eigenen Tochter, mit den Nerven völlig am Ende, laut vorgeworfen hatte, sie wolle ihm mit Absicht wehtun und ihm Angst machen, weil sie nie zurückrief oder sich meldete, wenn sie länger wegblieb, reagierte Claudine auf jede einzelne seiner Nachrichten und das war im Augenblick alles, was für Connor zählte. Daran klammerte er sich, denn von einem normalen Vater-Tochter-Verhältnis waren sie derzeit so weit entfernt, wie die Sonne von der Erde.
Hinter der Haustür erwartete ihn ein Chaos aus Kisten und Kartons, die noch ausgeräumt werden mussten, und Bee, die ihm schwanzwedelnd aus dem Wohnzimmer entgegenkam.
»Hallo, altes Mädchen«, begrüßte er die Hündin leise und ging in die Hocke, um sie ausgiebig zu streicheln, was Bee sich begeistert gefallen ließ. Nun ja, so begeistert wie sie es in ihrem Alter hinbekam, denn Bee war kurz nach Claudines Geburt zu ihnen gekommen, als Christy eines nachts mit dem Welpen auf dem Arm nach Hause gekommen war, den irgendwer einfach in den Müllcontainer hinter dem Restaurant geworfen hatte, in dem sie arbeitete.
Claudine liebte die gutmütige, hellhaarige Lady über alles, doch Connor fürchtete, dass sie Christy bald folgen würde. In den vergangenen Monaten hatte Bee mehr und mehr abgebaut und mit einem stolzen Alter von 13 Jahren war sie bereits älter als viele ihrer Rasse. Connor streichelte Bee hinter den Ohren, bis sie die Zunge heraushängen ließ.
»Das magst du, hm?«, murmelte er und schaute ein wenig genauer hin. Bees Augen trübten sich immer mehr ein. »Lange bleibst du nicht mehr, stimmt's?« Die Hündin sah zu ihm auf und nicht zum ersten Mal hatte Connor das Gefühl, als würde sie ihn genau verstehen. Ihm stiegen die Tränen in die Augen. »Du musst noch ein bisschen durchhalten, hörst du? Nur noch ein bisschen.« Bee bellte einmal und leckte ihm übers Gesicht, was Connor gleichzeitig lachen und weinen ließ. »Ja, ich liebe dich auch, hübsche Lady.« Er richtete sich auf. »Komm, Süße. Heute schläfst du bei mir, okay? Aber vorher drehen wir noch eine Runde durch die Stadt und sehen uns unsere neue Heimat ein bisschen genauer an, einverstanden?«
Viel zu sehen gab es natürlich nicht, weil erstens Samstag war und zweitens alle Läden wegen der Hochzeit geschlossen hatten. Trotzdem ließ er Bee erst von der Leine, nachdem sie die Hauptstraße wieder verlassen und den ersten Waldweg zu Connors Linken eingeschlagen hatten. Das Hochzeitspaar hatte sein Haus direkt am Ende der Straße und wenn er diesen Weg weiterging, würde er laut Jasper irgendwann auf Stellan Archer stoßen.
Der Tiger lebte mitten im Wald, ohne direkten Anschluss, aber angeblich gab es einen schmalen Schotterweg, sodass man ihn durchaus mit einem Wagen erreichen konnte. Was jedoch nur für den Notfall erlaubt war, Rick hatte sich dahingehend sehr deutlich ausgedrückt. Archer war gefährlich und wer sein Revier ohne Erlaubnis betrat, bezahlte das mitunter mit seinem Leben. Connor war sich nicht sicher, ob er die Gerüchte über den Tod eines jungen Wandlers glauben sollte, der Archer mit Absicht auf die Pelle gerückt war, bis der ihn getötet hatte, aber nachdem er den Tiger heute gesehen hatte, hatte er zumindest keinen Zweifel daran, dass Stellan Archer körperlich zu einem Mord in der Lage war.
Wobei Wandler da ein wenig differenzierten. Ein Mord war bei ihnen nicht unbedingt ein Mord, sofern es Umstände gab, die eine Tötung rechtfertigten. Und ein Wandler, der sich, trotz Verbots seines Alpha, wiederholt über Grenzen hinwegsetzte, musste eben mit den Folgen leben. Selbst wenn das seinen Tod bedeutete. Das war in New York nicht anders gewesen, obwohl ihr altes Rudel mit Sicherheit größere Probleme gehabt hätte, eine Leiche zu entsorgen. Hier in Sanoro, geschützt von einem Senator und mit jeder Menge dicht gewachsenem Wald um die Stadt, würde ein Toter nie wieder auftauchen, wenn das Rudel es nicht wollte.
Bee bellte plötzlich aufgeregt und wenig später rannte ein Eichhörnchen quer über den Weg und verschwand auf einem Baum. Connor lachte, als Bee deutlich langsamer hinterherkam und sich mit den Vorderpfoten am Stamm aufrichtete, um ihn dann vorwurfsvoll anzusehen.
»Was? Ich hole es dir nicht da runter.« Wieso nicht?, schien ihr folgender Blick zu fragen und Connor schüttelte mit einem Grinsen den Kopf. »Kommt nicht in die Tüte. Ich werde mich hier nicht für dich zum Affen machen. Wölfe klettern nicht auf Bäume, Süße.«
Sein Handy begann zu klingeln und Connor zog es aus der Tasche, um nachzusehen, ob Claudine ihn anrief. Er stutzte, da auf dem Display eine Nummer stand, die er nicht kannte. Im nächsten Moment fiel es ihm wie die berühmten Schuppen von den Augen. 917 war eine Vorwahl aus New York City. Scheiße. Das waren bestimmt Christys Eltern oder ihr Anwalt. Connor starrte hilflos auf sein Handy, weil er nicht wusste, was er jetzt tun sollte. Annehmen? Auf keinen Fall. Den Anruf wegdrücken und aufs Beste hoffen? Als ob das was nützen würde. Vielleicht sollte er sein Handy einfach wegwerfen? Nein, das ging nicht. Er musste für Claudine erreichbar sein.
Das Handy verstummte und Connor atmete erleichtert auf. Gerettet. Zumindest fürs Erste.
Kapitel 2
- Stellan -
Es wurde Zeit zu gehen.
Er hatte lang genug hier ausgeharrt, zudem ging die Sonne gerade unter und er brauchte mindestens eine Stunde für den Heimweg, wenn er gemütlich ging. Doch für Eile gab es in seinen Augen keinen Grund, also konnte er den warmen Frühsommerabend ruhig in allen Zügen genießen.
Vielleicht konnte er einen Teil der Strecke als Tiger laufen. Nur würde er damit den Anzug ruinieren und bei den Blicken, die Sienna und Eduardo ständig tauschten, würde er selbigen möglicherweise bald wieder brauchen. Nicht, dass er vorhatte, freiwillig auf deren Hochzeit zu erscheinen, aber vor allem der Tochter seines Alpha war zuzutrauen, dass sie ihn einlud und dann war er geliefert, denn Rick würde davon erfahren und ihm die Hölle heißmachen, wenn er es wagte, trotz Einladung fernzubleiben. Aber noch gab es keine Einladung, also bestand Hoffnung.
Stellan trank sein Wasser aus, brachte die Flasche anständig zurück zur Bar und machte sich anschließend aus dem Staub. Niemand würde es bemerken oder sich daran stören, bei den Massen an Gästen, die auf dem Schießgelände von Culpeo Inc. herumliefen, das als Platz für die Hochzeitsfeier umgestaltet worden war. Er brauchte nur wenige Minuten bis zur Straße und als die Sonne sich gerade anschickte, hinter den Bäumen zu verschwinden, schlug er bereits den Weg in den Wald ein.
»Hey, warte.«
Stellan runzelte die Stirn, da er die helle Stimme hinter seinem Rücken nicht einordnen konnte. Aber sie klang jung und kam noch dazu von einem weiblichen Wesen, sie konnte unmöglich ihm gegolten haben. Er ging also weiter in den Wald hinein.
»Kannst du nicht hören?«
Irritiert wegen der eiligen, unbeholfenen Schritte, die jetzt in seine Richtung kamen, verlangsamte er sein Tempo etwas. Falls tatsächlich eines der Kinder vorhatte, ihm in den Rücken zu springen, würde er den Störenfried lehren, was es hieß, ihn zu verärgern.
»Mann, renn' doch nicht so, du Baumstamm auf Beinen.«
Baumstamm auf Beinen? Eine seltsame Formulierung, und sie brachte Stellan komplett außer Konzept. Er drehte den Kopf nach hinten. Tatsächlich. Ein junges Mädchen folgte ihm. Sie versuchte es zumindest, denn selbst mit seinem gemächlichen Tempo konnte sie nur schwer mithalten. Er musste eine Weile überlegen, bis er ihrem von schwarzen Locken eingerahmten Gesicht den passenden Namen zuordnen konnte. Das war der Zögling des neuen Rudelarztes. Claudine Fairchild. Ihr Vater hatte in den letzten Tagen unzählige Stunden mit Jasper Rivers in ihrer Gemeinschaftspraxis verbracht, um die Räume fertig einzurichten. Sehr modern. Sehr kalt. Und mit einem äußerst unangenehmen, klinischen Geruch, an den Stellan sich nur mit Widerwillen erinnerte.
»Wow, bist du riesig«, sagte das Mädchen hörbar verblüfft und stand auf einmal neben ihm.
Stellan sah auf sie hinunter. »Du bist klein.«
»Ja, ich weiß. Aber ich wachse noch.« Sie begann auf ihren Fersen zu wippen. »Wohin gehst du?«
»Weg.«
»Das sehe ich. Kann ich mitkommen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Stellan war über die Frage so verblüfft, dass er sie anstarrte, bis das Kind anfing zu grinsen.
»Es stimmt also echt?«
»Was?«
»Dass du kleine Kinder frisst.«
Wer behauptete das denn? Wobei es für seinen schlechten Ruf mit Sicherheit ziemlich praktisch war. Stellan beließ es bei einem abfälligen Blick und setzte sich wieder in Bewegung.
»Oh Gott, geh' nicht so schnell. Da braucht man ja ein Auto, um dranzubleiben.«
»Geh' zurück.«
»Pfft. Ich bleibe bei dir, du bist cooler. Auch wenn Rick sagt, ich soll vorsichtig sein, weil du niemanden magst.«
»Richtig.«
»So schlimm kannst du nicht sein, du hast mich schließlich noch nicht gefressen.«
»Soll ich?«
»Machst du das echt?« Das Kind schien von der Vorstellung wundersamerweise eher fasziniert als ängstlich zu sein. »Wie schmeckt ein Mensch?«, fragte sie weiter und Stellan sah zu ihr hinunter.
Sie hatte grüne Augen mit einem Stich ins Braune. Warum ihm das auffiel, wusste Stellan zwar nicht, aber es erinnerte ihn an ihren Vater. Der hatte die gleichen Augen und sich vorhin auf der Hochzeit sichtlich über die jungen Wächter amüsiert, die ihn immer wieder herausgefordert hatten.
»Zäh. Bitter.«
Ihr Erstaunen war förmlich mit den Händen greifbar. »Du hast wirklich schon einen gefressen?«
»Angebissen. Hat aber nicht geschmeckt. Habe ihn wieder ausgespuckt.«
»Ihhhh, ist ja eklig … Und voll cool.«
Das Mädchen lachte und rannte an ihm vorbei, um dann in einigen Metern Entfernung breitbeinig auf dem Weg vor ihm stehenzubleiben. Sie ging auch nicht weg, als er in Reichweite kam und einen Moment lang überlegte Stellan sie einfach zur Seite zu stoßen. Nur würde sie dann wohl im Dornengebüsch landen, zu ihrem Vater rennen und der würde ihm garantiert Rick auf den Hals hetzen oder die Sache selbst klären wollen. Was dann wiederum mit einer Leiche enden dürfte. Eine sehr unangenehme Vorstellung und den hinterher zu erwartenden Ärger nicht wert, entschied Stellan, blieb stehen und starrte drohend auf seine lästige Begleitung hinunter.
»Du bist seltsam. Geh' zurück.«
»Du bist noch seltsamer. Aber ich mag dich trotzdem.«
»Warum?«, fragte er irritiert und sah dem Kind dann mehr als verwirrt hinterher, weil sie ihn nach ihrer Antwort wirklich allein ließ, aber beim Weggehen noch winkte und lachend rief: »Tschüss, Baumstamm.«
Einfach so, hatte sie gesagt. Was sollte das bedeuten? Wieso sollte jemand einen anderen einfach so mögen? Kinder waren wirklich sonderbar. Noch sonderbarer als Erwachsene, wobei er mit Rick und Paul mittlerweile recht gut auskam. Sofern sie es mit ihrer Gesellschaft nicht übertrieben. Doch da bestand zumindest bei Paul keine Gefahr mehr, seit er bei dem Löwen in der Stadt lebte. Rick war jedoch ein anderes Kaliber, wobei ihn das Gespräch mit diesem Mädchen gerade weitaus ratloser zurückließ, als es Gespräche mit dem Bären meist taten.
Stellan war so in Gedanken versunken, dass er das Miauen erst wahrnahm, als der Eingang seiner großen Wohnhöhle in Sicht kam. Mit einem langen Blick sicherte er die Umgebung ab und trat dann überlegend an seine Tür, vor der ihn fünf kleine Katzen und ihre tote Mutter erwarteten.
Sie hatte es also wirklich getan. Er war schon vor mehreren Tagen bei einem seiner abendlichen Streifzüge über das kranke Tier gestolpert. Die Katze musste angegriffen worden sein und die Bisswunden hatten sich entzündet. Doch sie hatte alles in ihrer Macht stehende getan, um ihren Wurf zu retten. Zweimal war sie mit ihnen hier aufgetaucht, jedes Mal hatte er sie in den Wald zurückgescheucht. Heute war er nicht da gewesen und jetzt war es zu spät, um sie zu verjagen. Stattdessen lag es nun an ihm, sich um die Jungen zu kümmern.
Er würde es schnell und schmerzlos tun. Das war er ihrer tapferen Mutter schuldig. Stellan nahm eines der Kätzchen auf die Hand. Dunkelblaue Augen starrten ihn müde, aber auch ein wenig kampflustig an. Ein Kater. Der auf einmal ein Geräusch machte, das wohl ein Fauchen sein sollte. Stellan fand es eher belustigend, vor allem als seine Geschwister antworteten.
»Du wirst nicht leiden«, versprach er dem kleinen Wesen und packte ihn mit der zweiten Hand im Genick. Es würde ihn nicht viel Kraft kosten. Eigentlich gar keine.
Der Kater zwickte ihn und Stellan zuckte heftig zusammen. Mit Gegenwehr hatte er nicht gerechnet. Mit dem trotzigen Blick, der darauf folgte, ebenso wenig. Es verwunderte Stellan. Das kleine Wesen musste doch wissen, dass es ohne die Mutter nicht überleben konnte. Dafür war es viel zu jung. »Du bist zu klein. Du brauchst eine Mutter und Milch. Du wirst sterben.«
Das sah die Miniausführung eines Katers offenbar anders, der sich jetzt in seiner Hand zusammenrollte und begann, die Stelle abzulecken, in die er zuvor gebissen hatte. Stellan sah fasziniert dabei zu und fragte sich gleichzeitig, was er mit dem winzigen Tier nun anfangen sollte. Es hatte einen sehr starken Lebenswillen. Bei der Mutter wunderte ihn das nicht, nur war sie tot und ohne sie würde ihr Wurf in weniger als einer halben Woche verhungert sein.
Was taten Tigermütter mit ihren Jungen? Er hatte darüber gelesen, dass sie gesäugt wurden. Aber er hatte auch von den sogenannten Auffangstationen gelesen, wo Menschen sich um verwaiste oder verlassene Tiere kümmerten. Wenn es diese Orte gab, musste es logischerweise funktionieren. Zumindest bei Tigern. Und möglicherweise auch bei Katzen. Aber war es den Aufwand überhaupt wert? Stellan sah zu der toten Katze, die, umringt von ihrem miauenden Wurf, auf seiner Schwelle lag. Sie hatte daran geglaubt. Sie hatte bis zuletzt gekämpft. Sie hatte nicht aufgegeben, obwohl er sie abgewiesen hatte. Diese Katze hatte so viel Mut und Stärke in sich getragen, es war das Mindeste, dass er ihrem Mut mit dem nötigen Respekt und der verdienten Ehre begegnete und nachforschte, ob es vielleicht eine Möglichkeit gab, die Jungen zu retten.
Zwei Stunden später war Stellan um einige Informationen reicher und zugleich auch um einiges ratloser. Tierheime oder Aufzuchtstationen gab es in dieser Gegend keine und wo sollte er hier draußen Aufzuchtmilch herbekommen? Es würde zwar kein Aufwand sein, sie über Caruso im Laden zu bestellen, so organisierte er schließlich seit jeher seine Einkäufe, aber selbst wenn das klappte, würde sie frühestens übermorgen geliefert, bis dahin waren die Kleinen tot. Falls er sie nicht vorher doch umbrachte, denn seit er ihre Mutter begraben hatte, brüllten die Winzlinge ununterbrochen. Sie saßen auf einem Handtuch in einem alten Karton neben ihm am Boden und obwohl sie so klein waren, noch keine Zähne hatten und eines der fünf nicht mal die Augen aufbekam, schrien sie wie eine ganze Armee.
Er brauchte jetzt Milch und vor allem brauchte er etwas, um sie in ihre kleinen Münder zu bekommen. Fläschchen, wie für Babys, waren hier sinnlos, da erschien ihm der Ratschlag in einem Forum sinnvoller, es mit Pipetten zu versuchen. Nur wo bekam er die nun wieder auf die Schnelle her? Von der Milch ganz zu schweigen. Vielleicht sollte er den Versuch wagen, den ein Tierzüchter in dem Forum genannt hatte. Normale Milch oder Kaffeesahne mit Wasser zu verdünnen. Nicht perfekt, für den Notfall aber angeblich machbar. Und zu verlieren hatte er nichts, ohne Hilfe starben die Jungen ohnehin.
Jetzt blieb bloß noch die Frage nach den Pipetten und dafür fielen ihm nur die beiden Ärzte ein. In der neuen Klinik würde es derartige Dinge hoffentlich geben, allerdings sollte er wohl besser bei Connor Fairchild an die Tür klopfen. Jasper Rivers war seit ihrem winterlichen Zusammentreffen auf der Straße mehr als reserviert in seiner Nähe.
Stellan runzelte die Stirn. Das gefiel ihm gar nicht. Bei dem neuen Arzt würde er garantiert wieder auf dieses Kind treffen. Ob sie ihrem Vater auch so viele Fragen stellte? Vermutlich. Sie schien sich da nicht großartig von anderen Kindern in Sanoro zu unterscheiden. Mit ein Grund warum er sich von ihnen seit seiner Ankunft hier meist fernhielt, obwohl es ihn manchmal faszinierte, mit welchem Eifer sich ein Kind viele Stunden lang damit beschäftigen konnte, ein buntes Stück Holz von eckiger Form in eine runde Öffnung zu pressen.
Die im Wald aufwachsenden Tierkinder waren klüger, fand er und sah zu den Kätzchen neben sich, von denen mittlerweile nur noch vier lauthals schrien. Das fünfte lag still auf der Seite und nach einem Blick auf den reglosen, kleinen Körper, wusste er, dass es zu spät war.
Stellan erhob sich. Er würde sofort in die Stadt laufen und für die Jungen die vorgeschlagenen Pipetten und frische Milch oder Kaffeesahne besorgen. Alles andere musste warten.
Die Tür wurde mit einem empörten »Es ist nach zehn Uhr abends, was soll der Scheiß?« aufgerissen, dann starrte ihn sein Gegenüber mit offenen Mund an. Es dauerte etwas, bis Connor Fairchild sich dazu durchringen konnte, den Kopf von seiner Brust hoch in sein Gesicht zu richten. Grüne Augen, deren Ausdruck ihn ein bisschen an den frechen Kater erinnerte, der ihn vorhin gezwickt hatte, weiteten sich überrascht.
»Stellan Archer. Was führt Sie her?«
»Pipetten.«
»Pipetten?«
»Ich brauche welche«, sagte er und als Fairchild irritiert die Stirn runzelte, fügte er »Für Katzenbabys.« hinzu.
Der Arzt blinzelte, gähnte anschließend und lehnte sich im nächsten Moment mit der Schulter gegen den Türrahmen. »Es gibt dazu aber noch eine etwas ausführlichere Erklärung oder soll ich einfach die Klinik aufschließen und Ihnen drei Pipetten geben?«
»Acht. Mindestens. Zum Wechseln.«
»Vier Kätzchen also«, murmelte der Mann und gähnte ein weiteres Mal. »Wobei ich lieber auf 12 Pipetten setzen würde. Und unbedingt auch etwas zum Sterilisieren der benutzten. Ich schätze mal, es eilt?«
Stellan nickte. »Ein Junges ist bereits tot.«
»Haben Sie Aufzuchtmilch?«
»Muss ich bestellen.«
»Also brauchen Sie vorübergehend Milch.« Fairchild nickte, den Ernst der Lage jetzt offenbar begreifend. »Ich ziehe mich an und komme mit. Warten Sie hier.«
»Nein!«
Fairchild stöhnte. »Archer, ich bin Arzt und Sie haben mich gerade um meine Hilfe gebeten. Also sehe ich mir die Kätzchen an, basta.«
Auf keinen Fall. Niemand betrat seine Höhle. Von Paul und Rick einmal abgesehen, aber das war etwas anderes. Rick war sein Alpha und Paul hatte einen Unterschlupf gebraucht. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben, war der Panther eigentlich in sein Revier gekommen, um getötet zu werden. Aber wen er tötete und aus welchem Grund, entschied allein Stellan. Nicht jemand, der vor Kummer gerade seinen Verstand verlor. Daher hatte er Paul nicht getötet, sondern ihm für die Frechheit seines Eindringens lediglich eine Abreibung verpasst.
Ergebnis dieser Mildtätigkeit war, dass er in dem Panther einen Jagdgefährten gefunden hatte, der seiner eigenen Stärke und seinem Zorn durchaus ebenbürtig sein konnte. In L.A. war Paul es auf jeden Fall gewesen.
Allerdings war dieser dünne Mann vor ihm nicht Paul, ihm weder ebenbürtig noch sonst etwas. Er war ein Fremder. Einer, der zwar helfen konnte und es offensichtlich auch wollte, aber das bedeutete in Stellans Augen noch lange nicht, dass er ihn deshalb in seinem Heim dulden musste.
»Nicht bei mir.«
»Normalerweise würde ich jetzt vorschlagen, dass Sie sie in die Klinik bringen, aber Ihrem Blick nach zu urteilen, sitze ich dann die ganze Nacht dort herum, weil Sie nämlich gar nicht vorhaben zurückzukommen. Also gehe ich mit.«
Stellan knurrte. »Nein!«
»Gut, dann bleiben die Pipetten hier.«
Die Entschlossenheit hinter den Worten brachte Stellan ins Wanken. »Aber Sie sind Arzt! Sie müssen helfen.«
»Und Sie sind ein störrischer Idiot. Natürlich werde ich den Kätzchen helfen, doch dazu gehört etwas mehr, als Ihnen einen Stapel Pipetten zum Füttern in die Hand zu drücken und das Beste zu hoffen. Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von der Aufzucht junger Katzen.«
»Ich lerne es«, grollte Stellan und fühlte sich seltsamerweise beleidigt. Dabei hatte dieser Mann nichts gesagt, das nicht der Wahrheit entsprach.
»Ich behaupte auch nicht das Gegenteil. Ich sage nur, dass es leichter ist, wenn man anfangs hilfreiche Tipps bekommt. Zum Beispiel den, dass Sie nach jeder Mahlzeit den Bauch und den After massieren sollten, um die Verdauung anzuregen. Die Kleinen werden von der normalen Milch vermutlich Durchfall bekommen und was machen Sie dann?«
Stellan schwieg überrascht.
»Haben Sie eine Wärmelampe?«
»Wofür?«
»Katzenbabys brauchen viel Wärme, die können Sie ihnen nicht geben.«
»Ich habe einen Kamin.«
»Der Sommer steht vor der Tür. Wollen Sie in Ihrem Haus ersticken, wenn Sie den für die Katzen anheizen?«
Er hätte den Wurf doch töten sollen, das wäre viel einfacher gewesen, als diese ellenlange Liste von Dingen, die er offenbar brauchte und die er zu tun oder zu lassen hatte.
»Du nimmst die Katzen«, entschied er knurrig und sah den Arzt verwundert an, als der anfing zu lachen.
»Das hättest du gerne, was? Vergiss es, Archer. Ich helfe dir, aber du wirst die Bande schön selbst aufziehen. Wenn wir hier allerdings noch lange stehen und diskutieren, brauchst du dir um Aufzuchtmilch keine Sorgen mehr zu machen.«
Dieser schwache Wolf war ja noch schlimmer als sein Kind. Unglaublich. »Gut. Du kommst mit.« Stellan knurrte warnend. »Wenn du verrätst, wo ich wohne, fresse ich dich.«
Statt beeindruckt zu sein, winkte Fairchild schnaubend ab. »Soweit ich weiß, drohst du damit ständig. Das kümmert mich nicht im Geringsten. Und jetzt raus. Ich will mich anziehen.«
Kein Respekt. Nicht mal den Ansatz davon. Er sollte diesen Mann wirklich fressen. Nur leider würde der vermutlich nicht viel besser schmecken als diese Verrückten in der Stadt, die er mit Paul getötet hatte. Menschen waren eben kein Reh oder ein saftiges Steak aus dem Kühlschrank. Außerdem brauchte er in nächster Zeit Hilfe, wenn er die Kätzchen retten wollte, und da wäre es wohl mehr als kontraproduktiv denjenigen zu fressen, der einem diese Hilfe anbot.
»Gar nicht übel, für eine Höhle im Wald«, meinte Fairchild, als Stellan ihn einige Zeit später ins Innere seiner Wohnhöhle ließ, und machte umgehend den Wurf Katzen aus, der nicht zu überhören war.
Kurz darauf war seine Küchenzeile übersät mit seltsamen Gerätschaften, und der Vorschlag, die Kleinen mit Pipetten zu füttern, entpuppte sich als voller Erfolg. Während er selbst mit zwei Kätzchen dasaß und sie massierte, wie Fairchild es ihm gezeigt hatte, kümmerte der sich um das dritte und letzte Tier des Wurfs, denn bei ihrer Rückkehr war ein weiteres Junges tot gewesen. Fairchild hatte bereits entschieden, die verstorbenen Tiere in die Klinik mitzunehmen und genauer zu untersuchen, um auszuschließen, dass sie eine Krankheit in sich trugen und vielleicht ihre Geschwister angesteckt hatten.
Denen ging es indes gut. Sogar sehr gut, stellte Stellan mehr als angewidert fest, als seine Hand auf einmal feucht wurde. Er knurrte ablehnend und Connor sah auf, um heiter zu lachen, ehe er sich wieder der Fütterung des letzten Tiers widmete. Es war der freche Kater mit den blauen Augen, die ihn irgendwie belustigt anzusehen schienen. Seufzend setzte er die Katzen in den Karton und ging seine Hände waschen und das dreckige Hemd wechseln, wobei er feststellte, dass er immer noch den Anzug von der Hochzeitsfeier trug. Kopfschüttelnd verließ er das Badezimmer und ging in seinen Schlafbereich hinüber, um sich umzuziehen.
»Wo kommt der Strom her?«, fragte der Arzt von der Küche aus. »Ich habe keine Stromleitung gesehen. Solarzellen?«
»Ja.«
»Generator für den Winter oder Notfälle?«
»Ja.«
»Was machst du hier draußen? Ich meine, du hast einen PC und vermutlich auch Internet. Du hast einen Kühlschrank, aber keinen Fernseher. Dafür Unmengen von Büchern, also liest du gerne und viel, genauso wie meine Tochter. Und außer dass du seit Jahresanfang die Westgrenze bewachst, hast du keinen Job. Zumindest hat mir das Jasper erzählt.«
Das zu der Frage, ob der Vater ebenso viele Fragen stellte wie sein neugieriger Zögling. Stellan runzelte die Stirn, als ihm etwas einfiel. »Baumstamm.«
»Was?«
»So hat dein Kind mich genannt.«
Fairchild lachte. »Passt doch. Du bist groß wie einer … Hey, Sekunde, woher kennst du Claudine?«
»Hochzeit.«
»Stimmt. Da habe ich dich auch gesehen. Wie oft versuchen die jungen Wächter eigentlich dich herauszufordern?«
»Ständig.«
»Erstaunlich, dass du noch keinen gefressen hast.«
»Rick hat es verboten«, grollte Stellan und ging zurück in den Wohnbereich. Mittlerweile lagen alle drei Katzen sicher im Karton und schliefen. Das würde er ebenfalls tun, nachdem er diesen Arzt nach Hause gebracht hatte, denn seine Lust, sich mit Rick darüber zu unterhalten, wenn der Mann irgendwo im Wald verloren ging, hielt sich doch arg in Grenzen. »Ich bringe dich heim. Jetzt.«
»Ah, ein äußerst subtiler Rauswurf.« Fairchild gähnte. »Mir soll es recht sein, ich will ohnehin zurück ins Bett. Hast du ein Handy? Oder überhaupt ein Telefon?«
»Ja.«
»Ich gebe dir meine Nummer. Falls mit den Kätzchen etwas ist, ruf' mich an. Dann bitte ich Rick mich herzufahren. Allein finde ich hier nie wieder her und ich denke mal, er weiß genau, wo du wohnst?«
»Ja.«
»Gut.«
Nach einem letzten Blick auf den Wurf, erhob sich der Arzt und folgte ihm nach draußen. Sie sprachen auf der Rückfahrt nicht miteinander. Stellan zeigte Fairchild mit Handzeichen an, wann der abbiegen musste, und kommentierte dessen Ansage der Telefonnummer mit einem Nicken, nachdem er sie in sein Handy gespeichert hatte.
In der Stadt eingetroffen, ließ er den Wolf halten, bedankte sich höflich für dessen Hilfe und machte sich dann zu Fuß und in schnellem Tempo auf den Rückweg.
Die Katzen schliefen noch, als er um Mitternacht wieder in seine Höhle trat, die vom roten Licht der Wärmelampe erhellt wurde. Fairchild hatte sie dicht vor dem Karton aufgebaut, der neben der Couch auf dem Boden stand.
Stellan schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie, bevor er sich lautlos zu seiner Couch schlich und vor ihr stehenblieb, um, anstatt sich hinzusetzen, den Blick durch seine Wohnhöhle gleiten zu lassen. Gar nicht übel, hatte Fairchild vorhin gesagt, was auch immer das bedeuten sollte. Für ihn war es eine große Höhle, die er seinen Bedürfnissen angepasst hatte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Im Grunde bestand alles aus einem großen Raum, der über vier natürliche Luftabzüge verfügte, was gut war, weil er einen Kamin zum Heizen nutzte. Im Sommer war sie herrlich kühl, im Winter angenehm warm. Er hatte eine Küchenzeile, in der es alles gab, was er brauchte. Dazu gab es einen abgetrennten Schlafbereich und ein kleines Badezimmer, das, dank der Hilfe von Rick, an das Abwassersystem der Stadt angeschlossen war, was ihn ein kleines Vermögen gekostet hatte. Aber es war die Investition wert gewesen, denn nur weil er gerne ein Einsiedler war, musste er noch lange nicht wie ein Wilder leben.
Das hatte er lange genug getan, bis Steven ihn beim Klauen erwischt und unter seine Fittiche genommen hatte. Steven Tall, der eine eigene Baufirma besessen und ihm bis zu seinem Tod durch Herzinfarkt alles beigebracht hatte, was es zum Thema Hausbau und eigener Lebensqualität zu wissen gab. Dass der alte Mann keine Ehefrau und Kinder gehabt hatte, hatte Stellan gewusst, ihm war aber erst klargeworden, dass Steven mehr in ihm sah als einen Mitarbeiter, nachdem der Nachlassverwalter ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er der einzige Erbe war.
Seither lebte Stellan von diesem Geld und da er, abgesehen für Bücher und notwendige Anschaffungen, nicht viel ausgab, würde es mit dem zusätzlichen Verdienst, den Rick ihm für die Arbeit als Wächter bezahlte, vermutlich bis an sein Lebensende reichen. Stevens Tod hatte ihm seinen Neuanfang in Sanoro erst möglich gemacht und das würde Stellan dem alten Mann niemals vergessen.
Kapitel 3
- Stellan -
Einen Monat später starrte Stellan eines nachmittags völlig verdattert auf einen lockigen, schwarzen Haarschopf.
Als seinem Tiger der fremde Geruch in die Nase gestiegen war, hatten beide, Mann und Tier, einen hiesigen Wächter oder irgendeinen Dummkopf erwartet, der sich aus Versehen in sein Revier verirrt hatte. Das passierte manchmal, obwohl vor allem die Wächter es immer wieder absichtlich taten, um zu sehen, wie lange es dauerte, bis er sie vertrieb. Mit Fairchilds Zögling hatte er jedoch nicht gerechnet, und warum weinte das Kind? Als er sie vor vier Tagen am Waldsee beobachtet hatte, war sie mit einer Gruppe anderer Kinder zusammen gewesen und es war ihr gut gegangen. Hatte sie sich vielleicht verletzt? Stellan konnte kein Blut an ihr riechen, als er schnupperte, machte das Kind damit aber auf sich aufmerksam.
»Geh' weg!«, verlangte sie und zog den Kopf zwischen die Schultern, als er leise knurrte. Dieser Wald war immerhin sein Revier. Wenn, dann würde dieses Kind gehen, nicht er. »Kann man hier nicht mal in Ruhe heulen?«, fragte sie ihn verärgert und sah wütend über die Schulter. »Geh' weg!«
»Geh' du weg. Das ist mein Wald.«
»Weiß ich«, konterte sie altklug und drehte ihm wieder den Rücken zu. »Was glaubst du, weshalb ich hier bin? Keiner traut sich hierher. Sind alles Schisshasen.«
»Schisshasen?« Stellan runzelte irritiert die Stirn. So ein Tier kannte er nicht. »Das verstehe ich nicht.«
Das Mädchen seufzte. »Ist mir klar. Du bist komisch.«
Damit erklärte sie ihm nun wirklich nichts Neues. Ratlos hob er die Nase in die Luft und schnupperte noch einmal, um sich zu vergewissern, dass sie alleine und damit in Sicherheit waren, dann zog er sein Handy aus der Hosentasche, das Rick ihm befohlen hatte bei sich zu tragen, damit er im Notfall erreichbar war, um seinen Alpha anzurufen. Der hatte Kinder und wusste mit Sicherheit, wie in so einer Situation zu verfahren war.
»Du bist genau wie sie.«
Stellan hielt inne. »Wer?«
»Du verpetzt mich, dabei will ich nur ein bisschen im Wald sitzen und heulen. Typisch Erwachsene. Du bist doof.«
»Warum?«, fragte Stellan vollkommen irritiert, da sich noch nie jemand gewagt hatte, ihn offen zu beleidigen. Zudem fand er es mehr als sonderbar, dass dieses Kind sich ausgerechnet in sein Revier begab, um zu weinen. Menschen. Ob Wandler oder nicht, er verstand sie einfach nicht.
»Darum.«
Das war keine Antwort. »Warum?«, fragte Stellan erneut.
»Mann, weil ich mit Dad gestritten habe, okay?«
Sie hatte sich mit dem Arzt gestritten, der die Katzenbabys gerettet hatte? Aber der Wolf war ihr Erzeuger. Stritt man sich mit den eigenen Erzeugern? Stellan schrieb Rick eine Nachricht und steckte sein Handy wieder ein. »Warum?«
»Weil er doof ist.«
Das war Connor Fairchild keineswegs, immerhin wuchsen und gediehen die drei Katzen dank ihm prächtig und er hatte bereits damit begonnen, sie zusätzlich neben der Katzenmilch, nach der sie immer noch lautstark verlangten, mit Frischfleisch zu versorgen. »Dein Erzeuger ist klug«, widersprach Stellan, weil er das Gefühl hatte, den Wolf verteidigen zu müssen, auch wenn er sich das nicht erklären konnte.
»Erzeuger?« Das Mädchen drehte sich auf dem im letzten Winter umgestürzten Baumstamm, der ihr bislang als Sitzgelegenheit gedient hatte, zu ihm um und wischte sich mit beiden Händen über Wangen und Augen. »Du redest komisch. Er ist mein Dad.«
Stellan nickte. »Er hat dich gezeugt.«
»Habe ich doch gesagt.«
»Ich auch.«
»Er weint nicht.«
»Warum sollte er?«, fragte Stellan verdutzt.
»Weil Mama tot ist.«
»Muss man dann weinen?«, hakte Stellan nach, weil er das nicht verstand. Er hatte nie Erzeuger gehabt und die Nonnen im Kloster waren nicht sonderlich freundlich zu ihm und allen anderen Kindern gewesen. Wenn im Kloster ein Kind geweint hatte, hatten sie es dafür ausgeschimpft und manchmal auch geschlagen. Aber immer nur, wenn sie glaubten, dass niemand sie dabei beobachtete.
»Ja, muss man.«
»Warum?«
»Weil man trauern soll. Das ist wichtig.«
»Warum?«
Ihr verweinter Blick wich einem interessierten. »Du hast keine Mama, oder?«
»Nein.«
Sie nickte und sah zu Boden. »Ich auch nicht. Nicht mehr. Und jetzt muss ich vielleicht bald Dad verlassen.«
»Warum?«
»Meine Großeltern sagen, er ist kein guter Vater. Ich soll zu ihnen, dabei kenne ich sie gar nicht. Ich will nicht weg. Ich will bei Dad bleiben.«
Und schon begannen erneut Tränen zu fließen, was Stellan noch ratloser machte als ohnehin schon. Wer nahm denn einem Vater sein Kind weg? Noch dazu, wo das betroffene Kind dies überhaupt nicht wollte? Menschen, dachte er wiederholt und dabei verständnislos mit dem Kopf schüttelnd. Kein Wunder, dass er lieber hier draußen im Wald lebte, wo alles einfach war und keine große Erklärungen brauchte.
»Warum weint man?«, fragte Stellan, denn das Prinzip der Trauerbewältigung verstand er nicht. Er hatte darüber einiges im Internet gelesen, weil Jasper Rivers im letzten Jahr sehr oft geweint hatte, nachdem er entführt worden war, und Rick hatte mehrmals versucht, ihm die Zusammenhänge genauer zu erklären. Wirklich begriffen hatte Stellan es allerdings nicht.
»Weil es wehtut?« Das Mädchen sah ihn verständnislos an und zeigte dann auf seine Brust. »Hier.«
»Du hast Schmerzen? Dann musst du zum Arzt.«
»Nein, nicht so«, wehrte sie ab und schniefte. »Der Schmerz ist in mir drin, weil Mama tot ist und weil Dad nicht trauert. Er arbeitet die ganze Zeit.«
»Arbeit ist falsch?«
»Nein … Mann, du hast ja gar keine Peilung. Wenn jemand stirbt, den du gern hast, musst du um ihn weinen.«
Das sagten alle und Stellan hatte es auch gelesen, aber aus welchem Grund war das so? Und was, wenn jemand einfach nicht weinte? Weil er es nicht wollte oder konnte. Was stimmte dann nicht mit ihm? Stellan überlegte. War vielleicht etwas an ihm verkehrt, weil er noch nie um jemanden geweint hatte?
»Hast du noch nie um jemanden geweint?«, sprach sie dann auch ausgerechnet diese Frage aus und Stellan dachte prompt an Steven, bevor er den Kopf schüttelte. »Das ist krass. Aber du hast schon jemanden verloren, den du gern hattest, oder?«
»Ja«, gab Stellan zu.
»Und du hast deswegen nicht geweint?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich wusste nicht, dass man das tun muss.«
»Hat er dir nicht gefehlt? Warst du nicht traurig, weil er auf einmal nicht mehr da war?«
Stellan überlegte. Er war überrascht gewesen, als er Steven gefunden hatte. Er hatte es erst nicht glauben wollen. Er hatte sich seltsamerweise von Steven betrogen gefühlt, was natürlich völliger Unsinn war. Ein Toter konnte niemanden betrügen. Er war trotzdem enttäuscht gewesen. Und verärgert. Nein, er war nicht nur verärgert, sondern wütend gewesen. So wütend. Weil Steven ihn alleingelassen hatte. Weil er einfach weggegangen war. Weil er ihn verlassen hatte.
Genauso wie die Jungen im Kloster, sobald sie älter wurden und ihn nachts nicht mehr wärmen konnten, wenn es kalt war und er unter der dünnen Decke erbärmlich gefroren hatte.
»Ich war wütend.«
»Warum?«
»Weil er weggegangen ist.«
Das Mädchen nickte. »Ich war auch wütend auf Mama.« Sie sah wieder zu Boden. »Jetzt bin ich nur noch traurig.«
»Warum?«
»Weil ich will, dass sie wiederkommt.«
Aber das war irrational. Tote waren tot und blieben es. »Sie ist tot. Verstorbene kommen nicht zurück.«
»Ich weiß.« Sie sah ihn an, als hielte sie ihn für einen großen Dummkopf. »Wenn Eltern sterben, vermisst man sie. Mama ist tot und ich will sie wiederhaben.«
»Du hast deinen Erz... Vater«, wandte Stellan ein, während er sich gleichzeitig von Minute zu Minute unwohler fühlte. Er war nicht der richtige Ansprechpartner für ein Kind. Schon gar nicht für eines, das traurig war und weinte. Er wusste zu wenig über solche Dinge, um zu helfen. Wieso wollte er das überhaupt? Er hätte sie vertreiben sollen, wie er es sonst immer tat, und nicht mit ihr reden. Stellan verstand sich selbst nicht mehr.
»Hab' ich nicht«, riss sie ihn aus der Verwirrung über sein eigenes Verhalten. »Er ist viel zu traurig, um sich um mich zu kümmern. Darum arbeitet er ständig. Und er sieht mich immer so komisch an, wenn ich heule.«
»Komisch?«, hakte Stellan sofort nach und war erstaunt, als er erkannte, dass er auf Fairchild wütend war, weil der zuließ, dass sein Junges traurig war.
»Als wäre es meine Schuld, dass Mama tot ist.«
»Das ist nicht wahr, Claudine.«
Das Mädchen fuhr mit einem Schrei herum und Stellan trat instinktiv vor sie, während er sich ebenfalls umdrehte, um den unerwarteten Eindringling lautstark anzuknurren. Den er nicht einmal bemerkt hatte, so abgelenkt war er gewesen. Und Ricks Schmunzeln verriet ihm, dass der Bär das sehr wohl wusste.
»Stellan, würdest du uns bitte entschuldigen?«
Stellan fletschte die Zähne und Rick seufzte leise.
»Du weißt, dass ich keine Gefahr für sie bin. Im Gegenteil. Außerdem warten bei dir drei verdammt hungrige Biester auf ihre Fütterung, und ihrem Geschrei nach zu urteilen, das auf dem Weg hierher im Übrigen nicht zu überhören war, sind sie äußerst ungehalten darüber, dass ihr Daddy so lange mit dem Frischfleisch auf sich warten lässt.«
Verdammt. Die Katzenbabys. Er hatte ein Kaninchen für sie erjagen wollen, als ihm unerwarteterweise der fremde Geruch dazwischen gekommen war.
Stellan machte sich mit einem abfälligen Schnauben auf den Rückweg, doch die verblüffte Frage des Mädchens, ob er etwa Kinder hatte, hörte er trotzdem. Ebenso wie Ricks Antwort, dass drei niedliche Katzenbabys das Zepter in seinem Heim übernommen hatten. Stellan knurrte ein zweites Mal und beschloss danach, das folgende Gelächter seines Alpha besser zu ignorieren. Seit Rick von den Katzen wusste, schien er sich die ganze Zeit über die Vorstellung zu amüsieren, dass ein mächtiger Tiger wie er sich um Jungkatzen kümmerte. Was daran so lustig war, verstand Stellan zwar nicht, aber das war in seinem Leben nun wahrlich nichts Neues.
Zwei Stunden hatte er Ruhe, dann stieg ihm plötzlich die herbe Duftnote des Bären in die Nase. Rick war direkt vor der Höhle und das überraschte Stellan nicht, darum blieb er in der Küche, wo er gerade den jungen Hasen für die Katzen zerlegte, die lautstark miauend zu seinen Füßen saßen. Es hatte ihn drei Tage und eine Menge an Fauchen und Knurren gekostet, bis sie gelernt hatten, nicht an seinen Hosenbeinen hochzuklettern, während er das Futter vorbereitete.
Das höfliche Klopfen an seiner Tür beantwortete er mit stoischem Schweigen. Nicht dass Rick sich davon abhalten ließ, denn schon kurz darauf trat er zu ihm in die Küchenzeile und ging mit einem leisen Lachen in die Hocke, um die Katzen zu streicheln, die sich das schnurrend gefallen ließen.
»Hast du ihnen mittlerweile Namen gegeben?«
»Nein.«
»Mach' es.« Rick wich etwas zurück, als Stellan ihn wütend ansah, und lehnte sich entspannt gegen die Wand. »Ich habe Claudine nach Hause gebracht.«
»Gut«, sagte Stellan, weil er annahm, dass es das war, und füllte derweil die Schüssel mit den blutigen Fleischstücken, um sie dann auf die Schmutzmatte zu stellen, die er besorgt hatte, um nicht jeden Tag den Küchenboden reinigen zu müssen.
»Hast du verstanden, was sie dir zu erklären versucht hat?«
»Nein.« Stellan betrachtete die gierig fressenden Katzen. Er mochte sie, obwohl sie ihn manchmal nervten. Es würde ihm nicht gefallen, wenn sie starben. »Nun … vielleicht.«
»Vielleicht?«
»Ich wäre nicht erfreut, wenn die Katzen sterben.«
»Ach so?« Rick grinste, als Stellan zu ihm sah. Er knurrte warnend, doch sein Alpha winkte lässig ab. »Fahr' die Krallen wieder ein, ich weiß, was du mir sagen willst. Trotzdem bist du noch weit davon entfernt, wirklich zu begreifen, aus welchem Grund Claudine vorhin geweint hat.«
»Sie sagt, es ist richtig und wichtig.«
Rick nickte. »Das ist es auch und irgendwann wirst du mir erzählen, wo du herkommst und was der Grund dafür ist, dass du niemals geweint hast.«
Das würde nicht passieren. Niemand wusste, wo Stellan in seiner Kindheit gelebt und was er dort erlebt hatte, und genau so würde es bleiben. Nicht weil er Rick nicht vertraute oder ihn für eine Bedrohung hielt, sondern weil diese Zeiten hinter ihm lagen. Steven hatte ihn gelehrt, was wichtig war, um sich selbst versorgen zu können, und jetzt hatte er ein Revier, das beinahe ihm gehörte. Er hatte einen Alpha, der ihn sein Leben so leben ließ, wie Stellan das wollte. Warum sollte er daran irgendetwas ändern, um über Dinge zu reden, die unwichtig waren?
»Eher fresse ich dich«, drohte er, weil er das von Anfang an getan hatte, dabei war es längst nicht mehr so ernst gemeint, wie in der ersten Zeit nach seiner Ankunft in Sanoro. Was auch erklärte, warum Rick lachte, bevor er den Kopf schüttelte. Sein Alpha hatte ihn längst durchschaut. Leider.
»Ein Wächter frisst seinen Alpha nicht.«
»Bin kein Wächter.«
»Doch, das bist du, denn du hast zugesagt und kümmerst dich seit Anfang des Jahres offiziell um unsere Reviergrenzen im Westen. Darüber will ich ohnehin mit dir reden.«
Stellan warf dem Bären einen finsteren Blick zu. »Niemand ist eingedrungen.«
»Ich weiß. Du machst gute Arbeit, ich hatte nicht vor, dich zu kritisieren. Im Gegenteil.« Rick stieß sich von der Wand ab und trat dicht vor ihn. »Ich ziehe dich mit sofortiger Wirkung vom Grenzschutz ab. Dein Gehalt wird weiter gezahlt.«
Stellan blinzelte überrascht. »Warum?«
»Weil du eine andere Aufgabe übernehmen wirst.«
Eine andere Aufgabe? Es gab keine Aufgabe, die er besser ausführen konnte, als den Schutz der Grenze, und Rick wusste das ebenso gut wie Stellan selbst. Er eignete sich für nichts, das einen regelmäßigen Umgang mit Rudelmitgliedern beinhaltete, und er besaß auch keine Ausbildung, die seinem Alpha hätte nützlich sein können. Das Einzige, was er wirklich gut konnte, war Ricks Rudel zu schützen, indem er Fremde von der Grenze und damit von der Stadt fernhielt.
»Welche Aufgabe?«
»Eine abwechslungsreiche.«
»Das ist keine Antwort.«
»Sicher ist es das. Du wirst so viel zu tun haben, dass du dir jeden Abend wünschen wirst, mich gefressen zu haben, was du natürlich nie tun wirst.«
Rick grinste und Stellan dämmerte etwas, das der sture Bär auf gar keinen Fall meinen konnte. Oder vielleicht doch? Egal. Er würde nicht fragen. Er würde es einfach nicht tun. »Nein.«
»Doch. Und du wirst es tun, weil ich dich darum bitte.«
Stellan schüttelte entschieden den Kopf. »Nein!«
Sein Alpha lächelte nachsichtig. »Du erinnerst mich immer mehr an mich, als ich in deinem Alter war. Ich war ebenso stur, stolz und arrogant. Ich dachte, die Welt würde mir gehören. Zu einem gewissen Teil ist das auch korrekt, aber es gibt mehr als unseren Stolz, Stellan. Es gibt viel mehr, als die Einsamkeit hier draußen. Es wird nicht leicht werden, für uns beide nicht, und es wird Zeit brauchen, da du von Grund auf lernen musst, was es heißt, ein Rudel zu führen. Ich werde dir beibringen, was du dafür wissen musst, damit du in ein paar Jahren meinen Platz einnehmen kannst, Stellan Archer.«
Stellan blieb der Mund offenstehen.
»Du bist freigestellt, bis du dich an den Gedanken gewöhnt hast, der Alpha meines Rudels zu werden.«
»Nein!«
Rick wandte sich ab. »Wir telefonieren.«
Stellan knurrte warnend. »Die Antwort ist Nein.«
»Doch.« Rick zog die Tür auf. »Denn wenn du es nicht tust, Stellan, wird das Rudel ohne mich aufhören zu existieren.«
»Nimm einen anderen«, verlangte er und da sah sein Alpha ihn wieder an. »Nicht mich. Du hast viele Wächter. Erfahrene Wandler. Es gibt genügend andere.«
»Keiner von ihnen hat deine Stärke und das weißt du.«
Nach diesen eindringlichen Worten verließ Rick die Höhle und schloss die Tür hinter sich, während Stellan vollkommen fassungslos auf die Stelle starrte, an der sein Alpha eben noch gestanden hatte.
Kapitel 4
- Rick Malloy -
»Wenn er dich hier erwischt, landest du als nettes Bärenfell vor seinem Kamin.