Nietzsche in Turin - Volker Ebersbach - E-Book

Nietzsche in Turin E-Book

Volker Ebersbach

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Beschreibung

Sein Leben und Denken lässt sich exakt in ein Davor und ein Danach teilen. Am 3. Januar 1889 sah Nietzsche in Turin, wie ein Kutscher sein Pferd schlug, eilte hinzu, umarmte es voller Mitleid, umschlang seinen Hals – und brach zusammen. Danach war nichts mehr, wie es war. Aber wieso Turin? Wie heiß war der vorige Sommer in Sils gewesen. Diesmal zog es ihn nicht ans Meer, nicht nach Genua oder Nizza. Die Erlösung für Hirn und Auge wusste er anderwärts: Turin. Warum hatte er es nicht eher gefunden? Diese Stadt war im April ein einziger Blütenkelch voll guter Laune gewesen, er hatte trotz des Karossengerassels einen elysischen Schlaf genossen. Nirgends war er je mit so viel Freiheit herumgegangen wie in diesen blütenüberschütteten Alleen, im Halbschatten der aristokratisch ruhigen Arkaden und in den Promenaden am Po mit wechselnden Blicken über grünende Inselchen in die reiche, bunte, malerische, von Wipfeln überquellende Hügelwelt der Gärten und in die ferne, reine, in ihrer Klarheit dennoch übernahe Schneewildnis des Hochgebirges. Die Stadt, für die Füße wie für die Augen klassisch, würdig und ernst, großartig, nicht großstädtisch, ohne das prätentiöse Durcheinander widerstreitender Epochen durchweg in einem fürstlichen Geschmack erbaut, sich überall selbst entsprechend bis in die Farbe, gelb bis rötlichbraun, hatte mit ihrem angenehmen, dem Kurzsichtigen nicht mit Stolperkanten auflauernden Pflaster und ihrer Größe und Großartigkeit die angenehmste Gefangenschaft über ihn beschlossen, ihn bestrickt mit einem Fluidum, das immer schon das seine gewesen war. Mit dem Turiner Wetter ließ sich leicht fertig werden, sogar bei trübem Himmel. Mehr Sonnentage als Nizza! Die reizend leichte, leichtfertige, stets lichterfüllte Luft verlieh schwerfälligsten Gedanken Flügel. Sie hatte ihn, trocken und anregend, wie er sie brauchte, in einen Arbeitsrausch versetzt, manchmal bei offenem Fenster bis tief in die von Lauten der Lebenslust durchtanzte Nacht. Jedes Gesicht war ihm irgendwie liebenswürdig vorgekommen, keine Spur Vorteilsucht oder Betrug, nur Sympathie, die Sympathie erwidert, vor allem bei jungen Leuten und älteren Junggesellen, höheren Schülern und Offizieren, in Trattorien wie in luxuriösen Cafés ein unglaubliches Entgegenkommen, auch bei den Preisen, abends im Lichterglanz Musik ohne Aufpreis, hübsch, frivol und simpel und doch voll Noblesse, wie es sich für eine Residenz gehörte. Eine kapitale Entdeckung, dieses Turin. Der erste Ort, an dem er möglich war.

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Impressum

Volker Ebersbach

Nietzsche in Turin

Erzählung

ISBN 978-3-96521-632-7 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1994 im Hans Boldt Verlag Winse/Luhe und Weimar (Weimarer Reihe)

Für Ariadne

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

I. ZEUS

Die Nächte blieben in seinem Kopf hell von der reinen scharfen Lichtwelt der Berge. Der September hatte Schnee zwischen die Gipfel des Oberengadin gejagt. Die firnigen Flanken stachen ans dem Luftkristall grell in seine Träume. Meist gegen zwei Uhr trieb ihn Durst ins eisige Dunkel zurück. Es war die Stunde, zu der ein Einsiedler sagt: Horch, jetzt hört die Zeit auf! Er tastete nach Karaffe und Glas. Oft hielt ihn Kopfschmerz wach, bis es grau und faulig dämmerte. Dann ging er hinunter, wärmte sich einen Kakao. Ein Gedanke, hingekritzelt, zog andere nach. Eine Stunde schrieb er oder zwei, die kurzsichtigen Augen dicht am Papier, dem Knacken im Holz nachhorchend.

Manchmal aber zog ihn ein feines Sirren in den Ohren sofort wieder in den ätherischen Glanz, in dem nichts geschah, in diese diffuse Erleuchtung, die Bilder sogleich auflöste. So zerrannen ihm Träume im Erwachen. Nur der Glanz blieb, der seinen Augen früher so wehgetan halte.

Selten haftete ein Traum. Einmal kam der Glanz durch die kreisrunde Öffnung einer gewaltigen Kuppel, die eine von Streulicht erfüllte Halle überwölbte. In den Nischen schimmerten marmorn die Götter der Alten, die sieben Hüter des Himmelsgewölbes, die Planetengötter Zeus, Kronos, Ares und Aphrodite, Hermes, Helios und Selene. Inmitten der Rotunde saß auf erhöhtem Sessel, in golddurchwirktem Gewand, auf dem Haupt nur die einfache liturgische Mitra, der Bischof von Rom, Bonifatius lV., einer der frühen Päpste. Seine Rechte ruhte auf der kostbar gebundenen, mit Edelsteinen und goldenen Spangen besetzten Heiligen Schrift, die Linke stützte sich auf einen langen Stab, der zu einem schweren, in Bronze getriebenen Kruzifix auslief. Der Träumende war angewiesen, mit seinen Bauleuten jede der heidnischen Statuen vom Sockel zu holen und vor den Füßen des Heiligen Vaters mit schweren Eisenhämmern zu zerschlagen.

So geschah es. Der Bischof rief die Götzen, denen die Bücher der Heiden sieben wandelnde Gestirne zugeordnet hatten, gleichsam vor sich bei ihren lateinischen Namen. Die Bauleute schlangen Seile um die Gliedmaßen und Hälse, deren wächsernes Weiß den einfallenden Glanz aufsaugten, und rissen die Götter von ihren Sockeln. So fiel Luna, die Mondgöttin, die den Müllern beistand, wenn die Stunde des Gebärens kam, so fiel Sol, der Lenker des Sonnenwagens, ohne den die Erde kahl und finster wäre, so fiel Merkur, der flügelfüßige Bote der Unsterblichen, der redlichen wie unredlichen Erwerb beschützte und mehrte und wahre Worte wie auch die Überredungskunst des Schmeichlers begünstigte, so fiel Venus, die den Frauen Schönheit und Fruchtbarkeil gab und die Liebenden beseelte, so fiel der waffenklirrende Mars, der den Mut zum Streit weckte und das Kriegsglück lenkte, so fiel Saturn, Jupiters Vater, der voreinst ein goldenes Zeitalter regiert hatte und seit seinem Sturz auf den Inseln der Seligen weilte.

Und immer wenn die Hämmer niedergepoltert waren, hatte der Träumende, der den Takt der Schläge vorzählte, eine sonderbare Wahrnehmung: In den Widerhall aufprallenden Eisens, der die Kuppel erfüllte, mischte sich ein fernes, feines Sirren. War es das Schwirren der Schalen, die sich, wie die Pythagoreer meinten, aneinander rieben, je ein Gestirn über das Himmelsgewölbe führend, jene geheimnisvolle Musik der Sphären, verzerrt durch die Fernen des Baumes?

Da lag das kolossale, mit Gold und Glasfluss ausgelegte Bildnis Jupiters, des allgewaltigen, wolkenballenden, blitzeschleudernden, donnergrollenden, regenbringenden Himmelsbeherrschers dem obersten Priester der Christenheit zu Füßen, die weißen Gliedmaßen sperrig und wie verkrampft, wie in verzweifeltem Ringen erstarrt, die meisterliche Arbeit des Bildhauers lächerlich preisgegeben.

Doch als die Götzenhämmer wieder trafen, unterbrach sich der Zählende und gebot Einhalt. Jener Nachhall klang wie das Stöhnen gequälter Menschen, es war ein Wimmern, die zarte Klage wehrlos hingenommener Marter. Der Bischof von Rom befahl ungeduldig, die Arbeit fortzusetzen. Erneut schwangen sehnige, behaarte Arme die Hämmer, Eisen prallte auf splitternden Marmor. Der Leib des Göttervaters barst mit trockenem Krachen, seine Gliedmaßen sprangen in Stücke, seine Insignien jagten überden steinernen Boden. Aber nun unterbrachen auch die Bauleute den Gleichklang der Schläge, horchten: Die gew eiteten Augen der Lauschenden richteten sich auf den Stab des Papstes, auf den bronzenen Leib des Gekreuzigten, der mit gebreiteten Annen und geschlossenen Augen litt: Dorther kamen die Laute.

Weder der Bischof von Rom noch sein Gefolge schienen sie zu hören. Weiter! beharrte der schmallippige Mund. Bei jedem neuen Hammerschwingen zuckte der Träumende zusammen, als träfe es Ihn selbst. Das Wimmern klang immer höher, und die Wehelaute schwollen an, Klagerufe Gefolterter, Leidensschreie der Märtyrer, ein Chor des Erbarmens aus den Kehlen der Engel. Sie zerrten an seinem Herzen. Er hielt sich die Ohren zu und brüllte: Nein, nein, nein! Schon lag dieses letzte Götterbild vollkommen in Trümmern, seine leeren Augen starrten hinauf in die Öffnung der Kuppel, als schickten sie den letzten Seufzer des Gekreuzigten ins einflutende Licht. Aber der Pontifex maximus, der das Vorzählen des Taktes übernommen hatte, zählte weiter mit gebieterisch donnernder Stimme. Wurden da nicht lebendig zuckende Leiber blutig in Stücke gehauen? Der Träumende sah nichts mehr vor Tränen. Er krümmte sich in heiligem Schauder - Nietzsche erwachte in lautem Schluchzen.

Die Kerze, weit heruntergebrannt, spiegelte sich in der Nacht des Fensters. Hieß das: mit dem Hammer philosophieren? Gott ist tot. An seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben. Und was könnte ich schaffen, wenn es Götter gäbe? Woher noch frommer Gehorsam! In mir selber steckt eine Priesterseele, dachte er, während er Wasser trank, kaltes, klares Wasser aus diesen Bergen, das ihm das Salz des Schinkens aus dem geschwollenen Zahnfleisch spülte. Ich bin priesterlich durch und durch! Nur darum ist keiner so geeignet wie ich, den Priester zu entlarven, in einer Vivisektion alle Falten seiner Seele zu zerlegen und noch aus den letzten Verkippungen den Schmutz ans Licht zu befördern: Ein Judas des pfäffischen Instinkts!

Er wusste: Sein Mitleiden saß tief, eine Gefahr vom Vater her, vielleicht hereditär wie das Kränkeln des Kopfes und der Eingeweide. Solche wie ich dürften nicht leben, halte er schon gedacht. Mir fehlt nicht nur Gesundheit, sondern auch ihre Voraussetzung. Einem wie mir sollte man den Gnadentod gönnen. Warum tu ich‘s nicht selber? Warum warten auf den erlösenden Gehirnschlag? Sich selber durchstreichen! Das wäre noch achtbar. Wer sonst als ich wäre der hässlichste Mensch und der Mörder Gottes? Das Leben verachten! Kann man tiefer sinken? Mein Leben hat keine Rechtfertigung als: Lebenden die Gefahr zeigen, die ich in mir selber spüre. Ich bin der decedent und sein Gegenteil, der letzte Mensch – und seine Überwindung. Ach, die alte, leidige Doppelgängerei.

Was sollte er künftigen Geschlechtern sagen, wenn er sie bemitleidete für das, was ihnen bevorstand? Wohlan! Große Priester sind auch immer Erhalter der Menschheit. Sie lehren den Bauern, wann er säen muss, sonst vertrödelt er die beste Zeit mit einem Liebchen in der Vorratskammer. Sonst ist da nichts als Armut und Schmutz und erbärmliches Behagen. Und sie vergiften sich an ihrem eigenen Schmutz. Alte Tafeln zerbrechen, neue schaffen! Wir horchen die Götzen aus, denen wir dienen im Angesicht des Volkes.

Seit er Dostojewski gelesen hatte, die Aufzeichnung aus einem Totenhaus, sah er in dem, was er dachte, kommendes Unheil: Nicht wie irgendein Sterngucker allgemein Feuer, Seuchen, Vernichtung jeglicher Art, sondern Straflager, elend herumziehende Massen beleidigend hässlicher Menschen. Grauen war über ihn gekommen, hilfloses Grauen. Mitleid, lähmendes Mitleid. Jammer, konvulsivisch die Glieder schüttelnder Jammer. Ich muss das wollen, hatte er gestöhnt, sonst bringt es mich um! Was geht mich fremdes Elend an! Ich habe ein Chaos in mir, aus dem die Zukunft schlüpft. Meine Gedanken haben gesehen, was die Welt tun wird. Was hätte ich ihr wohl zu sagen, wenn ich das unterschlüge? Man wird mich zum Anstifter des Schrecklichen erklären. Aber es ist nicht auszuhallen, das Wissen um das, was über uns kommt, ohne seine Notwendigkeit hinauszuschreien. Der Hammer muss reden! Diamanten statt Kohle.

Er schrieb. Selige Einsamkeit des Schaffens. Wirkenwollen? Missverstandenwerden! Bestenfalls Schweigen. Unten knarrten Dielen, dann die Tür. Herr Durisch verließ das Haus. Er ging auf Gemsenjagd. Das Wetter wurde meistens schön, wenn der Vermieter, der Gemeindepräsident von Sils, frühmorgens mit dem Gewehr in den Lärchenwald stieg, unter seinem Fenster vorüber, wo bei der Ankunft im Juni noch ein Schneehaufen gelegen hatte, Rest einer Lawine. Ich jage heute auch, was über Felsspalten springt und in Schneefeldern haust. Wie die Worte zueinanderfinden! Das ist mein Leben. Das Leiden ist Abfall des Daseins. Jeder Satz des Zarathustra mit einem Tag Kopfschmerz, einer Nacht Dysenterie bezahlt! Mit Bismuth und Dowerschem Pulver. Aber der Schmerz, der heilige Schmerz! Lehrmeister des großen Verdachts! Er macht hart, und der Schaffende muss hart sein, die Hand auf Jahrhunderte drücken wie auf Wachs, auf dem Willen von Jahrtausenden schreiben wie auf Erz.

Es klopfte. Tageslicht fiel auf die braun-blaugrüne Tapete, die selbstgewählte. Adrienne brachte, bevor sie zur Schule ging, den Tee. Wie ist das Befinden, Herr Professor? Leidlich. Wie gut es ihm heute geht, weiß Soenneckens Rundschriftfeder, die ihm der Ortslehrer für seine zitternden Hände empfahl, als Der Fall Wagner von Naumann, Leipzig, zurückgekommen war mit der Bemerkung: Unleserlich. Er kennt eine Stimmung, für die andere Alkohol brauchen. Worte laufen aufs Papier, die irgendwo schon geschrieben sind, in der Ewigkeit, in jener aphoristischen Ewigkeit, die, jenseits der Zeit, kein Vorher und kein Nachher, kein Zuletzt und kein Zuerst kennt, in der alles wiederkehrt, weil es immer schon da war.

Der Tee war noch zu heiß. Kalte Güsse, die gute alte Oehlersche Tradition aus Pobles, auch wenn man die drei Sommermonate in Sils nur gefroren hat. Das Zimmer war ohne Ofen. Er wollte auch keinen. Diamantene Kälte statt Kohlenwärme! Silberne Frische über den nackten, früh ausgezehrten Körper. Das is etwas für uns Hyperboreer! Das braunblonde, nachtäugige Spiegelbild mit der hohen, weit über Nasenwurzel und Brauen ragenden Stirn, dem zurückweichenden Haaransatz und dem buschigen Schnauz verlangt nach einem frischen Hemd, dem neuen Anzug aus Turin, dem Hut. Es ist ein Frevel, des Leibes Pflege zu vernachlässigen, wenn man gekannt wird zumal. Herr Brandes liest in Kopenhagen vor Hunderten über Herrn Nietzsche, macht ihn in Skandinavien bekannt, wo die schweifende blonde Bestie, der Vikinger, seine Wiege hat, Herr Knortz wird es in Amerika tun, Adlige, vor allem adlige Damen, kommen herauf und hören ihm zu, in Wien gehen seine Bücher von Hand zu Hand, aus Berlin schicken Verehrer Druckkostenzuschüsse. Vielleicht steckt Freund Deussen dahinter. Der Aniszwieback von Mutter ist köstlich, besser als der Biskuit unten in Durischs Laden. Zwei rohe Eidotter dazu. Mit dem Schreiben ist Schluss, wenn so gute Dinge in den launischen Magen gelangen. Also sollte man, wie Goethe meint, etwas Gutes lesen, am besten ein bisschen Goethe. Er hat bis jetzt noch gar nicht gewirkt. Seine Zeit muss erst kommen. Bis zu den Griechen zurück kennt man nichts Vergleichbares: Vornehin und neidlos. Sehr fremd unter Deutschen! Kein Mann des Kreuzes, auch kein Olympier! Der einzige Künstler der Schrift, der nicht veraltet. Er beschwichtigt die moderne Seele. Wie Papa Haydn. Goethe und Beethoven? Sie wohnten auf verschiedenen Planeten. Sein elbisches Wesen – Goethe hat vieles gedacht, was ich erst auszusprechen wage! Vielleicht hat er Großmutter Erdmuthe wirklich als das Muthgen gekannt?

Dann ging er hinaus. Herbstlich löwenfarben schon die Lärchen. Kein Vogelruf. Das Knirschen der eigenen Schritte, wohin der Pfad sie eben lenkt. Windesflattern in den Ohrmuscheln, die alle Frauen so klein und fein gefunden haben, von der Mutter an. Man redet laut mit sich selbst, wenn man zehn Jahre nicht ein Wort mehr gehört hat. Stumm wäre man nur das verletzte Tier, das seine Wunden leckt. Wie soll man sonst loswerden, was man auf den Schultern hat! Man sitzt und wartet, wartet auf Nichts, genießt, jenseits von Gut und Böse Licht wie Schatten, ist, ahnungslos, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel, da – wird Eins zu Zwei, und Zarathustra geht vorbei! Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt. Ich will ihr über kurzem das unabhängigste geben. Stall dessen reiße ich Possen, um über eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit Herr zu werden. Nur Narr! Nur Dichter! Ich bin der Hanswurst Gottes. Die Umwertung aller Werte? Notizen, immer neue, verbesserte Fassungen von Satzfetzen, Stichwortlisten, Baupläne.

Und dann der See, milchgrün gekräuselter Spiegel eines wolkenlosen Morgenhimmels, gerahmt in seidig glühende Lärchenufer, im Schleier des Sonnenduftes Inseln, die Landzunge, neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert, die Versammlung der Gipfel, leere Göttersitze, ungeheure beeiste Zacken: mit angenehmem Grausen zu schauen. Tiefe Erregung packte Odysseus; der Anblick des greisen Vaters ließ durch die Nase die bitteren Tränen ihn schmecken. Stille – Stillstand – Glanz. Starke, trockene, kalte Luft. Hoch. Einsam, gottlos und doch metaphysisch. Eine halkyonische Stille, in der man seine innersten Stimmen vernimmt. Sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit, sechstausend Fuß über Nizza und Bayreuth und höher über allen menschlichen Dingen. Wahrhaftig, ein Land der Verheißung! Ein Glücksfund, dieses Hochtal. Italien und Skandinavien beieinander. Das Hochland von Mexiko, dem Stillen Ozean benachbart, die Gegend von Oxaca beschrieb man so. Alle fünfzig Bedingungen meines armen Lebens erfüllt!

Aus dem Einschnitt des Malojapasses griff neues Schneegewölk. Zeus lässt Gewitter wandern zwischen den Bergen. Die Versammlung der zwölf olympischen Götter richtete über den Muttermörder Orestes. Zeus war gnädig. Die Götter kennen keinen Willen zur Macht: Sie haben die Macht. Doch diese Göttersitze sind leer. Weiß Zarathustra von diesen luziden griechischen Göttern? Wo ist die Zeit, in der alles Verehrungswürdige noch den Menschen in schönen Göttergestalten erschien? Sie waren nie gerecht, aber immer sie selber. Der Teufel? Eine Priestererfindung! Er liefert die Gläubigen in die Hände der Pfaffen und macht den Herrgott selber pfäffisch. Die Götter lebten jenseits von Gut und Böse, wie schon der Eleat Pyrrhon wusste. Aber auch sie kannten Schicksal und Verhängnis. Sie zitierten alle vor den Titanen. Titanen rissen zuletzt Dionysos in Stücke. Dionysos gegen Apollon? Was sind das für Christen! Gehen täglich ein dutzendmal ungerührt unter einem Gekreuzigten vorüber! Dionysos gegen den Gekreuzigten? Einer des andern Doppelgänger! Was tue ich anderes, als Christus zu spalten, wenn ich Dionysisches gegen Apollinisches setze. Paulus hat Christus noch einmal verraten, als er zu ihm überlief, verworfener als Judas. Nach ihm riecht es in Rom aus allen Winkeln. Darum ist Rom für den Dichter des Zarathustra der unanständigste Ort der Erde. Und wenn die Götter Griechenlands am Karfreitag mit Jesus Christus gekreuzigt wurden? Alle Martern, die auch sie litten, waren in Christi Leiden ein Widerschein des rätselhaft blutigen Daseins auf Erden. Und sie wären im Auferstandenen wieder versammelt? Und die olympischen Göller wären nur andere Fenster gewesen aus dieser dunklen, labyrinthischen Welt ins Licht der Ewigkeit? Aber der Karsamstag fand kein Ende. Gott ist tot.

Das heißt heroisch-idyllisch philosophieren wie Epikur! Wäre das was für Theologen? Der Schlesier Julius Kaftan hatte ihn wieder ins Theologische gezogen, auf Bootsfahrten, auf Wanderungen im Fextal. Eine haarsträubende Erinnerung! Warum konnte er sich ihm nicht entwinden? Der Philologe verachtet die Theologie! Die Einsamkeit, der längst verabschiedete Wunsch nach Schülern und Erben war es, der ihm diese überstürzte Hingabe an Zufallsbekanntschaften entlockte! Ja, die Neugier der Griechen auf fremde Götter, die Gründlichkeit der Römer, auch dem Unbekannten Gott zu huldigen – das, zur Wissenschaft erhoben, wäre Theologie!

Er war nicht sicher, ob er sich im Traum nur als den Aufseher der Bauleute erlebt hatte oder nicht auch als den Gekreuzigten, nicht auch als den Heiligen Vater. Und wem gehörte dieses starre, leeräugige, in die lichte Kuppelöffnung des Pantheon gerichtete Antlitz des zertrümmerten Zeus? Erinnerungen ans Röckener Pfarrhaus saß Vater mit diesem Blick fantasierend am Klavier. Er selber habe dabeisitzend, war ihm erzählt worden, schon im Kinderwagen den musizierenden Vater unverwandt angeschaut und gelauscht oder ihn bei der Arbeit im Studierzimmer still und gedankenvoll betrachtet.

Was weiß man vom Vater, bevor man das fünfte Lebensjahr vollendet? Ein Mann Mitte dreißig: Immer verschwand er hinter der eulenäugigen Mutter. War er auf der Treppe gestürzt, weil eine tödliche Krankheit in seinem Kopf schon arbeitete? Der Orgelklang – eine Vatermusik. Die Orgel hatte im Traum des Kindes gebraust, als auf dem Kirchhof ein Grab sich auftat, der Vater im Sterbekleid herausstieg, in die Kirche eilte und mit einem Kind im Arm wieder hinabsank, unter verebbendem Orgelschwall. Am Tag darauf war unverhofft auch das Brüderchen gestorben.

Einer trug ihm den reifenden, alternden, vergreisenden Vater nach, im selben Jahr geboren, auch den Blick des musizierenden Vaters: Wagner. Nietzsche zuckte zusammen. Das Panorama klappte weg. Er sah den Kies, seine unruhigen Stiefelspitzen, die Kniee zitterten. Verdrießlicher Schweiß trat ihm auf die Stirn wie beim Schirokko, wie die zu warme, zu feuchte, von später Schneeschmelze klebrige Luft, die ihn im Juni hier oben empfangen hatte. Der kühne blaue Blick hatte den Leipziger Studenten gefangengesetzt wie ein Vaterblick. Vaters Doppelgänger. Und doch hatten sie sich wie Gleichaltrige benommen, solange Wagnern, dem einsamen Gejagten, der gebührende Erfolg vorenthalten blieb, in den saturnischen Tagen von Tribschen, auf der Insel der Seligen. Aber es war der Blick eines dämonischen Mimen über einer Freibeuternase! Dahinter wühlte, unentdeckt wie die Gehirnerweichung des Vaters, die grobe Müdigkeit des decadent, das verarmte Leben, der Wille zum Ende. Jede antike Statue hatte einen dann angeschaut, als fragte sie: Ich – und diese Musik? Wagnern den Rücken zu kehren, war ein Schicksal gewesen; irgendetwas nachher wieder gern zu haben, ein Sieg. Wer wird zu einem Brahms laufen! So denken sich das Wiener Kaffeehäuser. Und auch Bizet war nur Vorwand und Erleichterung und kam tausendmal nicht in Frage.

Er spürte keine Bosheit, nur ein immer neues Erschrecken wie vor einem Vater, dem man nicht gehorchen kann. Er dachte Wagnerisches um in Sinfonisches, Konzertantes, brach aus der banalen Melodik aus, entführte sie ins Infernalische, instrumentierte Unvergessliches sparsamer, hob das Feinste, Zarteste, Strahlendste in solistische Transparenz, ließ es einstürzen wie ein Junge sein Bauwerk aus Klötzen. So hielt man den Augen von Göttern stand. Er hatte seit Bayreuth die Heraufkunft des Schauspielers in der Kunst gesehen, ein kapitales Ereignis, und sich gewundert, dass es so wenigen zu denken und zu fürchten gab: Der Erfolg nicht mehr aufseiten des Echten! Ein Scharlatan! Ein Cagliostro! Ein Musikanten-Problem? Die ganze Welt – ein Musikantenproblem! Man kann mancherlei spielen, aber nicht alles. Und es muss nicht nur gut gespielt, es muss auch komponiert sein!

Es war wieder zu viel. Zum Verrücktwerden zu viel. Er saß auf dem kalten ungemachten Bett, ein Bein im Stiefelknecht, sah den bäurischen Tisch, die Teetasse, die Seife, Eierschalen, Nüsse, beschriebene Blätter, die niedrige Zimmerdecke. Eine elende Hütte. Keine Umwertung, nur Absichten, Vorreden. Ich selbst bleibe eine Vorrede.

Etwas kommt dazwischen. Bin ich schon verrückt? Und weiß nur sehr genau, wie man den Normalen spielt?

II. HERA

Er befragte den Spiegel: Welche Maske trage ich heute? Jede gut durchgehaltene Miene – eine Maske. Ohne sie fühlte er sich zutraulicher und liebenswürdiger, als ihm anstand. Den polnischen Schnauz soll man sich merken, sonst nichts.

Auf dem Weg zum Hotel Alpenrose spürte er die Last des Himmels auf den Bergen wie auf den eignen Schultern, die Berührungen des Irdischen mit dem Kosmischen. Auch im Speisesaal, im Klappern der Teller und Bestecks, im Geraune der Gäste, fühlte er über sich die leere Runde der Göttersitze. Vereiste Kuppen, getürmtes Gestein, das scharfkantige Geröll der Moränen in den Furchen zerklüfteter, überhängender Felswände – eine Ratsversammlung freier Geister, abwesend.

Nur er selber schaute auf den Teller, auf dem ihm serviert werden sollte, das Gleiche wie immer, Milchreis und Beefsteak oder Omelett, nur damit hatten seine vom ewigen Erbrechen überdehnten Schleimhäute sich angefreundet. Ihn ekelte vor den Leuten, ihren dominanten Ausdünstungen, dem Odem üppiger Säfte, praller Muskeln, einer gesunden Verdauung, einer durch und durch kräftigen, angriffslustigen Natur. Die warmen Gerüche dampfend aufgetragener Gerichte muteten ihn an wie eine Vorwegnahme ihrer Ausscheidungen. Sein Diät-Instinkt sagte ihm: Der homo pamphagus ist nicht die feinste Spezies, oder: Ein gutes Schwein frisst alles. Er hob den Teller, entfaltete die weiße Serviette, die er seinem Einzeltisch abseits der Table d’hote zusätzlich auflegte, über der Tischdecke, deren Reinheit er auch dann nicht traute, wenn seine kurzsichtigen Augen keinen Fleck sahen.

Die Mutter hatte ihrem alten Geschöpf ein Dutzend geschickt wie die geräucherten Würste, den Naumburger Schinken, den eingemachten Kürbis von Alwinchen, dem Hausmädchen, den zu wächsernen Honig, wie die Kundschriftfedern, den Zwieback, den vornehmen Koffer – die eulenäugige, ebenfalls kurzsichtige Mämms, die ihm die manchmal ungleich großen Pupillen vererbt hatte, die er sich nur mit einer Handarbeit vorstellen konnte, dicht unter den breiten, slawisch breiten Wangen, der feinen geraden Nase, den vollen, nicht zu vollen Lippen. Mämms vergab alles Verletzende, schickte, was er brauchte und nicht brauchte, unermüdlich seine Befehle befolgend, wie sie schon nach Pforta geschickt hatte Strümpfe, Vorhemdchen, Schnupftücher, Hosen, Brillen, Bücher, Schokoladenpulver, Nüsse, und unterließ nie die krähwinklig altjüngferlichen, Tante Rosalies Wortschatz entlehnten Ermahnungen, Fragen, Bedenken – regelmäßige Moralinspritzen, mit denen man eine orgiastische Natur zu betäuben versucht. Sie hatte sich, kaum vierundzwanzigjährig verwitwet, nie mehr verheiratet, ihm, anders als die Mutter des herrlichen Hölderlin, dieses hellenischen Mönchs, anders als Klytaimestra, die Mutter Orests, einen Stiefvater erspart. War das nicht vergeudete Schönheit? Eine Daguerreotypie, deren fast schon fotografische Neutralität das vertraute Gesicht verfremdete, bewahrte ihre Jugend. Er hörte, wenn er den biedermeierlichen Mittelscheitel und das ländlich-herbe Lächeln betrachtete, ihren mütterlichen Alt, den grässlichen sächsisch-thüringischen Mischdialekt, der die Vokale dunkel verschleiert und die Härte und Weiche mancher Konsonanten vertauscht. Als Bauernmagd, nach Heu duftend, hätte sie ein erfüllteres Leben gehabt. Es blieb ihm ein Rätsel, dass so viel Schönheit und durchaus auch weiblich kindliche Lebensfreude alle Sinnlichkeit in sich hatte abtöten können. Fehlte es an Veranlagung? Die Oehlers in Pobles waren kinderreich gewesen. Gab es irgendein süßes Geheimnis? Wenn eine Frau fernab alles Erotischen möglich war, dann diese Mutter. Freilich, ihr Herzensfritz, vielleicht ersetzte der ihr, noch aus der Ferne, allen Zauber des Männlichen? Eine unerträgliche Rolle. Gerade darum brauchte er diese Ferne.

Wie anders da die albernen Gänse an der Table d’hotle! Man wird beäugt, wenn man sich abseits setzt. Als machten sie mir den Hof. Hübsch sind sie auch. Vater hat solche Mädel erzogen, altenburgische Prinzessinnen, bevor er mich erzog, und sie wurden hohe Damen, eine Großherzogin von Oldenburg, eine Großfürstin Constantin. Die da haben so einen ungefähren Begriff, dass ich ein Tier bin. Sie stellen hergeholte Fragen, wie um einen Bären aus der Höhle zu locken, und gackern verstohlen. Man muss kühl bleiben zu solchen Anstürmen. Wohin reisen, um ein Stück von Strindberg zu sehen? Brandes meinte, ich sei ihm sehr ähnlich, wenn ich von Frauen rede. Diese Kleine da könnte eine russische Schönheit werden wie Lou. Allerliebst, als sie gestern ihre Mutter fragte: Ist der liebe Gott wirklich überall zugegen? Aber ich finde das unanständig!

Dann das Warten, ob der Magen die Mahlzeit annimmt. Als er Vegetarier hatte werden wollen, war Wagner über ihn hergefallen: Sie sind ein Esel! Manchmal fand er die Gesellschaft der Alpenrose nicht übel, besser jedenfalls als im billigeren Edelweiß gleich neben Durischs Haus. Aber man musste auf sich halten. Distinguierte Norddeutsche hatten sich ihm vorstellen lassen, ein Regierungspräsident, ein angenehmer Staatsanwalt, ein Hamburger Professor. Die Schweizer waren zu viereckig – wie die Schweizer Städte. Ja, es gab auch Geselliges in diesem einsamen Hochtal, dieser Gletscherwanne. Diesen Kaftan hatte ihm Freund Overbeck vor zehn Jahren in den Pelz gesetzt. Meta von Salis, ein spitzer Bündener Bergvogelkopf, zu nichts anderem eingerichtet, als die großen bergwasserblauen Augen der Marschlins zu tragen, vor denen, wie die Leute meinten, keine Unwahrheit bestehen kann, die nicht von ihm ließen, wenn sie ihm zuhörte, erfand Schmuggelpfade, ihm die zurückgewiesenen lausend Franken Druckkostenzuschuss doch zuzustecken. Mit Carl Fuchs wäre gut über Musik zu reden gewesen ohne seine Angst, sich durch den fortgesetzten Umgang mit einem Atheisten an Sankt Petrus zu Danzig und in Bayreuth unmöglich zu machen, ohne die schmutzigen Witze über Juden, die ihm das Orgelspiel in der Synagoge bezahlen. Immer mehr Fremde kamen herauf. Habe ich ihnen den Weg gewiesen? Sie werden mich noch vertreiben. Man wird die Boote nicht mehr zählen können. Dann bleibt mir wirklich nur Mexiko.