Timo Nimmerschlaf - Volker Ebersbach - E-Book

Timo Nimmerschlaf E-Book

Volker Ebersbach

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Beschreibung

Dieses Buch ist für Kinder ab fünf Jahren gedacht. Und dieses Buch ist ein als Märchen verkleidetes Abenteuerbuch. Immerhin sechs Abenteuer erlebt der kleine Timo, der partout nicht schlafen will, weil er nicht schlafen kann. Dafür hat er allerdings gewichtige Gründe: „Wo ist mein Vater?“, fragte Timo. „Das hast du mich schon oft gefragt“, antwortete ihm die Mutter. „Aber ich weiß es selbst nicht. Er ist verschollen.“ „Was bedeutet das: verschollen?“, wollte Timo wissen. „Eines Tages“, sagte die Mutter seufzend, „ist Meister Konrad fortgegangen und hat niemandem gesagt, wohin. Er ist auch nicht wiedergekommen, nicht am Abend und nicht am nächsten Tag, und niemand in der Stadt weiß, was aus ihm wurde. Die Ratsherren, zu denen er gehörte, haben ihn verwünscht und verworfen.“ Und Frau Ursula seufzte noch einmal tief und wischte sich mit dem Ärmel eine Träne von der Wange. „Sie brauchten sich jedoch gar nicht darüber zu wundern, denn sie hatten ihm eine schwere Schuld aufgeladen.“ „Was für eine Schuld?“ „Das erkläre ich dir später“, antwortete die Mutter. „Aber ich weiß, dass er keine Schuld hatte.“ Timo, der sich in seinem Bett aufgerichtet hatte, sank in die Kissen zurück. „Aber nun schlaf endlich, Timo!“, wiederholte die Mutter. „Bitte versuch es. Komm, trink diesen Tee. Er wird dir helfen, und du wirst Ruhe finden.“ „Nein!“, rief Timo. „Ich finde keine Ruhe! Ich will auch gar nicht schlafen. Ich bleibe immer wach. Ich bleibe wach, bis ich weiß, wo mein Vater ist. Und dann mache ich mich auf den Weg und hole ihn nach Hause.“ Und dann redet sich Timo im Gespräch mit seiner Mutter noch einen weiteren Ärger von der Kinderseele: „Alle Menschen schlafen gern“, sagte die Mutter. „Den ganzen Tag sehnen sie sich nach dem Abend und nach dem Bett, in das sie sich legen können, um süß und lange zu schlafen. Und du? Willst du denn überhaupt nicht mehr schlafen?“ „Ich bin nicht müde“, antwortete Timo. „Es geschieht in der Welt so viel, und es ärgert mich, wenn ich nicht dabei bin. Das kann ich nicht ertragen.“ „Ach!“, seufzte Frau Ursula und schüttelte den Kopf. „Nachts geschieht ja nirgends etwas. Alle schlafen, auch die Tiere.“ „Und der Nachtwächter?“, fragte Timo, denn gerade rief dessen Stimme wieder die Stunde aus. „Und die Schildwache?“ Timo hat also bedenkenswerte Gründe, nicht schlafen zu wollen, weil er nicht schlafen kann. Aber da es ein Märchen ist, findet sich eine Lösung und Timo kann wieder schlafen. Auch sein verschollener Vater taucht wieder auf.

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Impressum

Volker Ebersbach

Timo Nimmerschlaf

Ein Märchen aus alter Zeit für Kinder, die nicht gern schlafen

ISBN 978-3-96521-661-7 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Für Arthur und Milan

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Selig sind die, die Märchen schreiben, denn Märchen sind à la ordre du jour…

Goethe an Schiller, 8. 7. 1795

ERSTES ABENTEUER

Wie Timo nicht schlafen wollte und sich mit dem Gevatter Schlaf, dem Albtraummännlein, der Traumfee und dem Gevatter Tod stritt, bis er nicht mehr zu schlafen brauchte

Die Abendsonne sank hinter die fernen Berge. Über der sauberen kleinen Stadt Wiesenheim spannte die Nacht ihr blaues Tuch von einer Turmspitze zur anderen. Durch die Straßen tappte mit gleichförmigen Schritten der Nachtwächter. Von Zeit zu Zeit schlugen die Turmuhren. Er blieb stehen, blies in sein dumpf klingendes Horn und rief damit für alle, die den Schlag einer Turmuhr nicht hören konnten, die Stunde aus. Hinter den geschlossenen Toren und auf der Stadtmauer behütete eine Schildwache mit Schild, Schwert und Lanze die Ruhe der Bürger, damit sie getrost schlafen konnten. Timo aber lag in seinem Bett. Doch er schlief nicht. Ratlos saß seine Mutter, Frau Ursula, auf einem Stuhl daneben. Sie hielt in der Hand eine dampfende Tasse. Sie kannte alle Kräuter, die tief in den Wäldern und draußen auf den Wiesen wuchsen, und sie verstand es gut, daraus heilsame Tees zu kochen und Salben für offene Wunden, Tinkturen für schmerzende Glieder und beruhigende Tränke für Leib, Geist und Seele zu bereiten. Genau unterschied sie lindernde und heilende Wirkungen ihrer Arzneien voneinander, über jede wusste sie, wogegen sie half und wie viel man davon nehmen musste. Für Timo, ihren lieben Jungen, hatte sie eben einen Tee zum Einschlafen gekocht. Er wollte den Tee aber nicht trinken.

„Wo ist mein Vater?“, fragte Timo.

„Das hast du mich schon oft gefragt“, antwortete ihm die Mutter. „Aber ich weiß es selbst nicht. Er ist verschollen.“

„Was bedeutet das: verschollen?“, wollte Timo wissen.

„Eines Tages“, sagte die Mutter seufzend, „ist Meister Konrad fortgegangen und hat niemandem gesagt, wohin. Er ist auch nicht wiedergekommen, nicht am Abend und nicht am nächsten Tag, und niemand in der Stadt weiß, was aus ihm wurde. Die Ratsherren, zu  denen er gehörte, haben ihn verwünscht und verworfen.“ Und Frau Ursula seufzte noch einmal tief und wischte sich mit dem Ärmel eine Träne von der Wange. „Sie brauchten sich jedoch gar nicht darüber zu wundern, denn sie hatten ihm eine schwere Schuld aufgeladen.“

„Was für eine Schuld?“

„Das erkläre ich dir später“, antwortete die Mutter. „Aber ich weiß, dass er keine Schuld hatte.“

Timo, der sich in seinem Bett aufgerichtet hatte, sank in die Kissen zurück.

„Aber nun schlaf endlich, Timo!“, wiederholte die Mutter. „Bitte versuch es. Komm, trink diesen Tee. Er wird dir helfen, und du wirst Ruhe finden.“

„Nein!“, rief Timo. „Ich finde keine Ruhe! Ich will auch gar nicht schlafen. Ich bleibe immer wach. Ich bleibe wach, bis ich weiß, wo mein Vater ist. Und dann mache ich mich auf den Weg und hole ihn nach Hause.“

Frau Ursula hielt ihm geduldig die Tasse unter die Nase. Der Tee roch würzig, und er war nicht mehr heiß. Timo tat seiner Mutter den Gefallen und trank den Tee, denn er war durstig. Aber er wusste, dass er nicht schlafen würde. Seine Hände lagen still auf der Decke. Er hielt die Augen geschlossen. Aber in Gedanken spielte er weiter. Er tat so, als schliefe er. Denn die Mahnungen der Mutter störten ihn. Er dachte an sein hölzernes Steckenpferd und wünschte sich ein richtiges kleines Pferd, mit dem er zum Stadttor hinaus in die Welt hinaus reiten konnte, um alle Menschen, die ihm begegneten, zu fragen, ob sie nicht seinen Vater gesehen hätten. In solchen Gedanken bei Nacht erlebte Timo mehr als am Tag. Wenn er aber schliefe, wäre er ja gar nicht auf der Welt. Als er noch geschlafen hatte, war immer Zeit vergangen, ohne dass er es bemerkte, waren Dinge geschehen, ohne dass er sie miterlebt hatte.

„Alle Menschen schlafen gern“, sagte die Mutter. „Den ganzen Tag sehnen sie sich nach dem Abend und nach dem Bett, in das sie sich legen können, um süß und lange zu schlafen. Und du? Willst du denn überhaupt nicht mehr schlafen?“

„Ich bin nicht müde“, antwortete Timo. „Es geschieht in der Welt so viel, und es ärgert mich, wenn ich nicht dabei bin. Das kann ich nicht ertragen.“

„Ach!“, seufzte Frau Ursula und schüttelte den Kopf. „Nachts geschieht ja nirgends etwas. Alle schlafen, auch die Tiere.“

„Und der Nachtwächter?“, fragte Timo, denn gerade rief dessen Stimme wieder die Stunde aus. „Und die Schildwache?“

„Diese Männer“, erklärte die Mutter, „müssen dann am Tag schlafen, und wer am Tag schläft, verpasst viel mehr, als wer in der Nach schläft. Dir wird es auch bald so ergehen, wenn du jetzt nicht schläfst. Du wirst einschlafen, wenn der Tag anbricht, und alle Kinder in der Nachbarschaft spielen dann ohne dich!“ Sie gab ihm noch einen Kuss und fügte beim Hinausgehen hinzu: „Warte nur, du wirst gleich müde sein und ganz von selbst einschlafen, ohne dass du es merkst.“

Timo flehte: „Bitte lass das Licht hier!“ Die Mutter schaute ihn fragend an. „Es soll mit mir wach bleiben. Sonst schlafe ich doch noch ein.“

„Wäre das denn schlimm?“

„Ja“, klagte Timo, „dann kommen böse Träume.“

„Was für böse Träume?“, wollte Frau Ursula wissen.

„Ein Wassermann“, klagte Timo, „zieht mich hinab in den Fluss. Oder ein Drache baut sich auf dem Rathausturm ein Nest, und seine Jungen kommen herabgeflogen und jagen mich durch die Gassen. Oder ein Riese trampelt durch den Wald und sieht mich gar nicht, weil ich so klein bin, aber er reißt Bäume um, und die Bäume stürzen auf mich, wenn ich nicht schnell genug zur Seite springe. Und dann springt mir eine Hexe in den Weg. Sie reißt ihre roten Augen weit auf, ihre weißen Haare stehen zu Berge, und sie schreit mich an aus dem Mund, in dem nur noch drei spitze Zähne stecken. Dann stürzt eine Hundemeute zum Fenster herein, und die Hunde springen kläffend in mein Bett.“

„Aber Timo!“, sagte die Mutter und strich ihm sanft übers Gesicht. „Das sind nur Gespenster. Gespenster gibt es nicht. Es sind die verwandelten Erinnerungen eines Tages. Habe ich dir nicht oft gesagt, dass du dich von dem Jäger und seiner Meute fernhalten sollst? Auch mich schilt er, sooft er mich im Wald beim Kräutersammeln trifft. Und geh der alten Schwatzdrossel Wackerzahn aus dem Weg! Sie kann ja nur noch schlecht über die Leute reden, aber nicht mehr ihre Wäsche waschen. Es ärgert sie, dass die Leute jetzt ihre Sachen zum Waschen zu mir bringen. Übrigens: Riesen, die gibt es nicht. Hierzulande wurde nie einer gesehen.“

„Doch!“, ereiferte sich Timo. „Der Holzhändler Siebenbrett ist ein Riese!“

„Aber nein, Kind!“ Die Mutter lachte leise und putzte sich die Nase. „Zugegeben, er ist ein besonders großgewachsener Mensch. Aber er ist höchstens einen Kopf größer als andere.“

„Nein!“, stritt Timo. „Wenn ich ihm im Wald begegne, ist er noch viel größer, und ich sehe seinen Kopf bis in die Fichtenwipfel ragen.“

„Sage ich dir nicht an jedem Tag, dass du nicht allein in den Wald gehen sollst?“, ermahnte ihn Frau Ursula. „Wenn wir Holz brauchen, gehen wir zusammen. Es hat damit übrigens noch Zeit bis zum Herbst.“

„Und der Drache mit seinen Jungen im Nest auf dem Rathausturm?“, fragte Timo. „Was ist mit dem?“

„Das sind gewiss die Kinder der Ratsherren, die nicht mit dir spielen wollen“, sagte die Mutter. „Versuch es lieber gar nicht mit denen. Ihre Väter zürnen deinem Vater, dem Meister Konrad. Sie sind jetzt reicher als wir und schauen hämisch herab auf uns. Wer auf andere herabschaut, der schlägt bei Streit auch zuerst zu! Die Kinder der Ratsherren lassen es dich spüren, dass dein Vater verschwunden ist. Denn er war nicht nur Schmied, sondern auch Ratsherr. Dass er fortging und niemandem sagte, wohin, verübeln ihm ihre Eltern. Sie bilden sich ein, es wäre eine Wohltat, wenn sie mir ihre Wäsche zum Waschen bringen. Damit demütigen sie mich aber nur, und ich muss es hinnehmen, denn wir hätten sonst nichts zu essen.“

Timo sah ihr dankbar in die Augen: „Ich verstehe dich, Mutter.“

„Und einen Wassermann“, schloss die Mutter, „gibt es auch nicht. So etwas sagen manche Eltern zu ihren Kinder nur, damit sie nicht so dicht ans Flussufer gehen und hineinfallen. Es wäre gut, wenn du auch nicht allein hinunter an die Unde gingest.“

Sie ließ das Licht in der Kammer und ging leise hinaus. Timo lag in seinem Bett mit offenen Augen und wehrte sich gegen den Schlaf. Mit wem hätte er hinunter an die Unde gehen sollen? Spielte es sich am Flussufer nicht gerade allein am besten? Allen Leuten sollte er ausweichen! Da wurde ihm der ganze Tag langweilig, und wenn er abends ins Bett ging, fühlte er sich wieder um einen Tag betrogen.

Das Licht war bald ausgebrannt. Der Docht hatte den Talg aufgezehrt, denn Frau Ursula sparte mit allem. Finsternis breitete sich in der Kammer aus. Timo freute sich, dass er noch immer nicht schlief. Durch das Fenster fiel ein matter Schein. Hoch am Himmel wanderte hell der Vollmond über die Dächer von Wiesenheim. Das Fenster stand offen; die Sommernacht war mild. Timo erwartete still die Fledermaus, seine heimliche Freundin. Er kannte sie, weil er nachts, sooft sie lautlos durch die Lüfte flog, wach lag. Von seinen Streifzügen wusste er, dass sie sich bei Tag mit anderen Fledermäusen in einen Kirchturn hängte und mit dem Kopf nach unten schlief. Timo wartete nicht lange. Mit ihren ledrigen Schwingen, die sich leise knackend bewegten, flatterte sie zum Fenster herein und setzte sich auf das Fußende seines Bettes. Im Schein des Vollmondes erkannte er das bräunliche Gesichtchen mit den kleinen Knopfaugen, der Stumpfnase, den blinkenden Eckzähnen und dem wolligen Haarbüschel auf der Stirn. Wie immer fing er an, ihr flüsternd zu erzählen, was er den Tag über getrieben hatte. Sie hörte ihm zu, von Zeit zu Zeit freundlich niesend, aber ohne ihm zu antworten. Sie redete nicht, ermahnte ihn nicht, riet ihm nichts, wie es die Mutter tat. Timo stellte ihr auch keine Fragen, weil sie nie antwortete. Aber sie bewahrte seine offenen Augen auch nicht davor, dass sie zu jucken begannen, bis sie zufielen, so dass er einschlief, und so beschützte sie ihn auch nicht vor den Träumen, die ihn dann plagten. Das hatte Timo oft genug erlebt. Deshalb sperrte er die Augen beharrlich weit auf, damit sie sich nicht von allein schlossen. Er wollte auf jeden Fall wach bleiben. So entging ihm in dieser Nacht nicht die allmähliche Verwandlung, die mit der Fledermaus vor sich ging: Sie wuchs an, und aus ihrer dünnen, ledrigen Haut schälte sich die Gestalt eines krummen alten Mannes. Der Mann schaute ihn an, und er schien zu erschrecken.

„Junge!“, sagte er. „Timo! Warum schläfst du nicht? Warum sträubst du dich gegen mich?“ Er nahm einen schwarzsamtenen Mantel von seinen Schultern, um ihn Timo überzuwerfen. Doch Timo streckte ihm seine Fäustchen entgegen, als umringten ihn die drachengesichtigen Ratsherrenkinder, und warf den Mantel ab.

„Wer bist du, alter Mann?“

„Ich bin Gevatter Schlaf“, antwortete der Alte, „und ich habe dafür zu sorgen, dass du in den Schlaf findest. Denn du musst schlafen. Zwar ärgerst du auch mich, indem du dich so gegen das Schlafen sträubst. Vor allem aber schadest du damit dir selbst. Denn wenn du zu wenig schläfst, bleibst du klein und schwach und wirst niemals groß und stark.“

„Das ist mir gleich!“, brummte Timo.

„So darfst du nicht reden!“, drohte Gevatter Schlaf. „Das darf dir überhaupt nicht gleich sein! Lass dir gut zureden, sonst wird es mir zu viel mit dir! Dann bleibe ich fort und komme wirklich nicht mehr zu dir! Ich habe einen harten, unnachsichtigen Bruder. Der kommt dann zu dir, und er kommt nur einmal: Es ist der Gevatter Tod. Dann bist du nicht mehr auf der Welt, dann gibt es dich nicht mehr, und zwar für immer.“

 „Für immer?“ Timo erschrak. „Halte mir deinen Bruder von Leibe!“

„Das kann ich, und ich tu es gern“, erklärte Gevatter Schlaf. „Aber nur wenn du schläfst.“

„Ich will aber nicht schlafen!“

„Höre!“, ermahnte ihn Gevatter Schlaf. „Wer nicht schläft, kann auch nicht träumen. Hat denn die Traumfee dir noch nie ihre Herrlichkeiten gezeigt?“

„Traumfee? Herrlichkeiten?“, entrüstete sich Timo. „Ich träume von Gespenstern. Kaum habe ich mich von dir überlisten lassen, begegnen mir Riesen und Hexen, Wassermänner und Drachen mitsamt ihrer Brut, und eine Hundemeute rennt über mein Bett!“

„Oh!“, brummte da Gevatter Schlaf verlegen. „So ist das also? Das hättest du mir ja früher sagen können. Da geschieht etwas hinter meinem Rücken. Ich weiß gar nicht, was ich dagegen unternehmen soll. Sieh mal, Timo, ich würde dir gern helfen. Aber auch wir Geister haben unsere Sorgen wie ihr Menschen. Schon so viele Jahre bin ich mit der Traumfee verlobt. Aber wir können nicht heiraten, denn ein anderer liebt sie auch. Es ist mein Bruder, der Gevatter Tod. Und der ist keineswegs sanftmütig und verträglich wie ich! Sondern er ist grob und gebieterisch. Die Traumfee ist schön. Sie trägt ein blaues Kleid mit einem schneeweißen Kragen, und sie hat blaue Augen und goldblonde Haare. Aber sie ist nicht nur schön, sondern auch zart und zerbrechlich und zu schwach, um sich zu wehren. Mein Bruder kann sich auch einschmeicheln. Er wird jedoch aufdringlich, wenn man sich nur ein bisschen mit ihm einlässt. Weil die Traumfee seine Schmeicheleien nicht erwidern wollte, tat er ihr einmal Gewalt an.“

Im selben Augenblick knarrte das halboffene Fenster in der Angel, und im Schein des Vollmondes erschien eine kleine hutzlige Gestalt. „Ist hier von mir die Rede?“, fragte die Erscheinung.

„Allerdings!“, rief da Gevatter Schlaf mit leisem Groll. „Und wie ich soeben hörte, findest du auch sonst herein und treibst mit Timo deine schlechten Späße!“

„Wer ist das?“, fragte Timo.

„Gestatten? Ich bin das Albtraummännlein. Wo ich herkomme, hat mein Oheim dir eben erzählt: Ich bin das Kind seines Bruders, die Traumfee ist meine liebe Mutter.“

„Verschwinde!“, drohte Gevatter Schlaf. „Wir können dich nicht brauchen. Lass den Jungen gefälligst in Ruhe. Er hat sich bei mir bitter über dich beklagt.“

„Ich kann mit dem Jungen, wenn er schläft, machen, was ich will“, erwiderte das Albtraummännlein. „Aber er liegt ja wach. Und was du da mit ihm besprichst, das geht auch mich was an.“

„Verschwinde und komm nie wieder!“, beharrte Gevatter Schlaf.

Das Männlein schwieg und wich nicht vom Fenster. Aber es blieb. obwohl es halb offen stand, draußen stehen. Timo blickte nun ängstlich von einem zum anderen. Gevatter Schlaf hielt seinen dunklen Mantel in seinen Händen, ohne sie zu rühren. Das beruhigte Timo, und seine Neugier regte sich wieder.

„Wegen des Albtraummännleins bist du der Traumfee böse, nicht wahr?“, fragte er. „Das  kann ich verstehen.“

„O nein“, antwortete Gevatter Schlaf. „Welchen Grund hätte ich wohl dazu? Mein Bruder wendete Gewalt an. Er hat die Traumfee vergewaltigt! Ich liebe sie dennoch wie eh und je. Denn sie trifft keine Schuld. Und ich glaube, auch sie liebt mich noch immer. Aber sie wirft mir vor, dass ich sie nicht vor meinem Bruder beschützt habe. Darum scheut sie davor zurück, mich zu heiraten. Vielleicht schämt sie sich vor allen guten Geistern dieser Missgeburt.“

„Missgeburt?“, schrie da das Albtraummännlein  leise. Es klang wie ein Zischen. „Das ist eine Verleumdung! Ich bin nicht hässlicher als mein Vater. Und im Reich der Geister habe ich meine Aufgabe wie er, wie du, wie meine Mutter. Mir geschieht hier Unrecht. Ich werde mich bei meinem Vater beschweren!“

Als Timo hörte, wie sich das Albtraummännlein auf seinen Vater berief, fand er es nicht mehr so verdächtig, wer dieser Vater war. Nur auf eines besann er sich: Wie oft hätte er selbst auch schon seines Vaters Hilfe gebraucht!

„Und welche Aufgabe hast du?“, frage Timo das Männlein.

„Ich jage den Menschen Angst ein.“

„Das ist keine schöne Aufgabe.“