Tiberius - Volker Ebersbach - E-Book

Tiberius E-Book

Volker Ebersbach

0,0

Beschreibung

Hier schreibt einer seine Memoiren. Dieser eine ist nicht irgendwer, sondern Tiberius, der zweite römische Kaiser und einer der am längsten allein regierte. Aber jetzt war er nicht mehr in Rom, sondern im fernen Capri – allein, krank und leidend. Und sein Reich ist auch längst nicht mehr das, was es einmal war, sein einstiger Glanz ist am Verlöschen. Die Rechenschaft des Tiberius, der erst mit 56 Jahren Kaiser wurde, fällt traurig, geradezu deprimiert aus: Mancher, dem es der Mühe wert schien, seinen Lebensbericht zu verfassen, schrieb wie ein Mann, der die Welt und sich selbst durchschaute. Entweder wollte er noch über die eigene Asche hinaus die Welt belügen, oder er kannte sich weniger, als er annahm. Denn wer wirklich die Welt und sich selbst durchschaut hätte, fände keinen Lebensbericht, wie wahr er auch sei, einer Mühe wert. So sicher, wie er wüsste, was er sagte und wovon er spräche, müsste er auch erwarten, dass ihm andere entweder den Glauben oder ihr Einverständnis verweigern. Wer also hätte von ihm noch etwas zu erfahren? Nicht einmal die Wahrheit wäre denen willkommen, die ihn überleben. Solange das Herz eines Menschen schlägt, folgt er Täuschungen, jeder Herzschlag nährt sie, denn keine Kraft, die sich ihrer selbst bewusst wird, will vergebens gewirkt haben. So weigern wir Menschen uns, blindlings dahinzuleben wie Tiere, und häufen, in der Hoffnung, den unsterblichen Göttern ähnlich zu werden, zu den Jahren, die uns vom Tod noch trennen, ein Wissen, das uns von seiner Unvermeidlichkeit ablenken soll. Zu spät begreifen wir, dass die Jahre schwinden und mit sich den Wert dieses Wissens dahinraffen, bis nur noch eins bleibt, das Wissen um den Tod. Mit Reichtümern verhält es sich ebenso wie mit dem Wissen, das ich nur zuerst nenne, weil es mir früh am Herzen lag. Und ich gehörte zu den wenigen, denen Macht dasselbe bedeutete, weil ich ihr immer nahestand. Doch als ich sie zu fassen bekam, war ich bereits so reich an Wissen, an Gütern und an Jahren, dass ich auch sie nur noch gering schätzen konnte. Die einstige Residenz des Tiberius auf Capri, die Villa Jovis, ist als Ruine erhalten. Und vielleicht noch interessant: In der Ära des Tiberius löste die Kreuzigung Jesu im Jahr 30, der von Pontius Pilatus als Aufrührer hingerichtet wurde, weder besondere Aufmerksamkeit in Rom noch irgendeinen größeren Aufstand aus. Judäa galt damals als relativ ruhige Region. Auch Tacitus erwähnt in seiner Schilderung der Herrschaft des Tiberius Jesus mit keinem Wort.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 603

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Volker Ebersbach

Tiberius

Erinnerungen eines vernünftigen Menschen

Historischer Roman

ISBN 978-3-96521-642-6 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1991 im Mitteldeutschen Verlag GmbH

Für Schneewittchen

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

ERZÄHLERISCHE STECKBRIEFE

Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan!

Evangelium des Matthäus IV, 8 - 10

I Da der erfahrene Leser jede Nachbemerkung zuerst liest, sei diese vorausgeschickt: Was Tiberius hier berichtet, kann man ihm weitgehend glauben. Mangels genauerer Überlieferung nahm sich der Verfasser das Recht, ihm einiges hinzuzuerfinden und manches Bruchstückhafte, im besten Sinne des Wortes nach Gutdünken, neu zu verknüpfen. Die zuständigen Geschichtsschreiber Tacitus, Sueton, Velleius Paterculus und Cassius Dio wurden gründlich und kritisch befragt. Tacitus verbürgt sich für einige wörtliche Aussagen des Tiberius. Die Erinnerungen, die der Kaiser auf Capri wirklich geschrieben haben soll, gingen verloren. Auch zeitgenössische Werke der Dichtkunst und der Fachliteratur sowie Reste der bildenden Kunst und der Architektur gaben Auskunft. Die Wertungen der Geschichtswissenschaft erwiesen sich als hilfreich.

Gegen einen Verdacht allerdings, dem sich alle Rhetoriker aussetzen – und die Römer kennen wir als die größten – ist auch ein Tiberius nicht erhaben: Gut gesagt ist halb gelogen! Er würde natürlich glatt entgegnen: Bei Minerva, das ist gut gesagt! Wie glaubwürdig er ist, wenn er Gedanken vorträgt, Gefühle schildert, sein Selbstverständnis darlegt, wenn er Urteile fällt, bleibe dem aufmerksamen Leser dieses ihm sehr fernen Zeitalters überlassen. Der Machtmensch erlebt sich bis zuletzt als schicksalhaftes Geflecht aus Opfer und Täter. Für die Ergreifung des Täters winkt ein Lesevergnügen.

2 Man hielt sich im alten Rom, besonders in der Kaiserzeit, gern ein Kräutergärtlein. Darin standen, weil man sie nicht voneinander trennen konnte, Arzneipflanzen und Giftkräuter traulich beisammen. Es gab Rezepturen, nach denen man die Säfte von Bilsenkraut, Nieswurz, Schierling, Akoniton und Dorycinum gewann und durch Kochen oder Trocknen bis zur gewünschten, möglichst schwer nachzuweisenden Wirkung eindickte.

Weit verbreitet war auch ein Wissen darüber, wie Grünspan, Bleiweiß, Arsen, Mennige, Zinnober, Quecksilber und andere übelberüchtigte Stoffe in unauffälligen und dennoch tödlichen Mengen zu verabreichen seien.

Die Kunst der Gegengifte entwickelte sich von so einfachen Mitteln wie Zitrone, Quitte, Tausendgüldenkraut über gedörrte und zerstoßene Schlangen, Kröten und Eidechsen bis zu dem geheimnisvollen Theriak, das in einer genauen Mischung aus hundert Bestandteilen angeblich vor allen gängigen Giften schützte. In der Zeit nach Tiberius wurde es bald allmorgendlich von der kaiserlichen Familie und ihr nahestehenden Personen eingenommen, mit Ausnahmen, die meist verhängnisvoll endeten. Sklaven dienten als Vorkoster. Aber sie konnten mit List umgangen werden.

Die Mutter genoss in der römischen Familie höchste Verehrung. Nicht nur Livia war eine Übermutter. Den Schritt, eine solche umbringen zu lassen, tat Nero.

PROOEMIUM

I Mancher, dem es der Mühe wert schien, seinen Lebensbericht zu verfassen, schrieb wie ein Mann, der die Welt und sich selbst durchschaute. Entweder wollte er noch über die eigene Asche hinaus die Welt belügen, oder er kannte sich weniger, als er annahm. Denn wer wirklich die Welt und sich selbst durchschaut hätte, fände keinen Lebensbericht, wie wahr er auch sei, einer Mühe wert. So sicher, wie er wüsste, was er sagte und wovon er spräche, müsste er auch erwarten, dass ihm andere entweder den Glauben oder ihr Einverständnis verweigern. Wer also hätte von ihm noch etwas zu erfahren? Nicht einmal die Wahrheit wäre denen willkommen, die ihn überleben. Solange das Herz eines Menschen schlägt, folgt er Täuschungen, jeder Herzschlag nährt sie, denn keine Kraft, die sich ihrer selbst bewusst wird, will vergebens gewirkt haben. So weigern wir Menschen uns, blindlings dahinzuleben wie Tiere, und häufen, in der Hoffnung, den unsterblichen Göttern ähnlich zu werden, zu den Jahren, die uns vom Tod noch trennen, ein Wissen, das uns von seiner Unvermeidlichkeit ablenken soll. Zu spät begreifen wir, dass die Jahre schwinden und mit sich den Wert dieses Wissens dahinraffen, bis nur noch eins bleibt, das Wissen um den Tod. Mit Reichtümern verhält es sich ebenso wie mit dem Wissen, das ich nur zuerst nenne, weil es mir früh am Herzen lag. Und ich gehörte zu den wenigen, denen Macht dasselbe bedeutete, weil ich ihr immer nahestand. Doch als ich sie zu fassen bekam, war ich bereits so reich an Wissen, an Gütern und an Jahren, dass ich auch sie nur noch gering schätzen konnte.

2 Ich habe viele Täuschungen zerrinnen sehen bis an den Beginn dieser Zeilen, und wenn ich an ihr Ende gelange, das zwischen meinem Leben und einem Dahindämmern ins Reich der Schatten stehen wird, sollen es noch mehr sein. Durch Jahrzehnte bin ich zwischen Selbsttäuschung und Selbstzweifel hin und her gehastet, und noch im Zweifel muss die Täuschung überwogen haben, sonst lebte ich nicht mehr. Jetzt, da es mich weder ängstigt noch beglückt, meinem Tod ins Auge zu schauen, habe ich auch den ruhigen, klaren Blick für mein Leben. Aber wem erzähle ich es? Ich habe keinen Sohn mehr, dem ich damit helfen könnte. Dem, der wohl mein Nachfolger werden muss, ist nicht zu helfen, weder mit gesprochenem noch mit geschriebenem Wort. Meinen Enkel Tiberius Gemellus, den einsamen Zwilling, wird man umbringen, sobald meine Asche verraucht ist, das weiß ich, denn ein Zwilling überlebt den anderen niemals lange, und kein Mächtiger duldet einen Heranwachsenden, der mehr Anspruch auf die Macht mitbringt. Die geistigen und körperlichen Gaben dieses Jünglings sind auch nicht so beschaffen, dass sie mich zu dem ohnehin nutzlosen Versuch bewegen könnten, zu ändern, was ihm die Sterne bestimmt haben.

Für das, was ich hier niederlege, hat weder Zustimmung oder Ablehnung noch der Nutzen anderer irgendeine Bedeutung. Wenn es einen Leser findet, werde ich, der einzige, der etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern dürfte, nicht mehr sein. Ich habe weder den Menschen, die mit mir leben, noch ihren Nachfahren etwas zu sagen. Möglicherweise werde ich, wenn Rom einmal eine große Stadt unter vielen ist – im volkreicheren Alexandria lebt man schon jetzt bequemer –, dereinst, wenn die Menschen maßvoller, umsichtiger, friedfertiger, unbefangener, vernünftiger miteinander umgehen und so weit fähig sind, über sich selbst zu bestimmen, dass sie keines Herrschers mehr bedürfen, in dir, Bürger eines fernen Zeitalters, einen geneigten Leser finden, der mich versteht. Ich werde Dinge sagen, die Römern, wie ich sie kenne, teils ungeheuerlich, teils einfältig klingen müssen. Gemüter, die sich makellos und lauter fühlen, sehen mich als schamlosen Verbrecher. Schurken, die sich nichts vormachen, halten mich für einen linkischen Schwärmer. Beiden hielt ich immer zugute, dass sie in ihren Urteilen keine Wahl hatten. Erst im Abstand von Äonen verliert sich dieser Zwiespalt, dem ich nicht zum wenigsten selbst unterliege.

4 Aber ich fürchte, auch damit verspreche ich mir zu viel. Ich stelle mir, geneigter Leser, dein fernes Zeitalter, das sich für klüger als andere halten wird, keineswegs glücklicher vor als meines, bequemer allenfalls, aber, wie Alexandria, auch betriebsamer, kenntnisreicher gewiss, aber auch großmäuliger, volkreicher wohl, und dennoch zugleich anspruchsvoller. Der Zweifel, ob Menschen je geneigt sind, aus freien Stücken das Gute und Rechte zu tun, wird fortdauern, begründetermaßen, und gleichwohl sehe ich jedermann heftiger danach verlangen, zu tun und zu genießen, was ihm beliebt, weder maßvoll noch umsichtig, weder friedfertig noch unbefangen. Umgetrieben in Vorurteil und Unvernunft, sehnt sich bald jeder nach einem großen, verständigen und tatkräftigen Mann, der sich mit weisen Ratgebern versieht, dem man gern widerspruchslos gehorcht, um möglichst eigener Verantwortung ledig zu bleiben. Stets findet sich dann nicht nur einer, der sich zutraut, dem Sehnen der Menge zu entsprechen, der glaubt, andere niederwerfen zu dürfen, weil er sich für den Besseren hält. Ich will dir, ferner Sinnesverwandter, erzählen, worauf du dich einlässt.

5 Selbst wenn ich niemanden erreiche – ich muss sprechen! Was ich weiß über mich und die Welt, liegt mir so bitter auf der Zunge, dass sie es von sich stößt. Darum erübrigt es sich für mich, am Beginn meines Werkes Götter oder Musen um Beistand anzurufen, wie es üblich ist. Und das im Lauf der Gestirne vorgezeichnete Schicksal wäre nicht die Allgewalt, der auch die Götter, wenn es sie gibt, unterworfen sind, ließe es sich umstimmen. In den schwierigsten Lebenslagen habe ich mich gern zu der Hoffnung verstiegen, ich könne mein Schicksal überlisten. Früh musste ich lernen, mich vor meinen Mitmenschen zu verstellen. Nicht lange, und ich ertappte mich dabei, dass ich mich vor mir selbst verstellte und damit fürs erste manchem Schmerz die Spitze abbrach. Schließlich glaubte ich, meinem Schicksal zu entkommen, indem ich mich ihm zum Schein beugte. Ich sah, dass es die Spaltung in Stoffliches und Unstoffliches sei, die uns Menschen zur Verstellung befähigt, und schloss, dass eine Allmacht, welcher Art sie auch sei, welches Wesen ihr auch zukomme, derlei nicht einmal kenne, weil sie bis in alle Ewigkeit ein Ganzes bleiben müsse. Dem Wesen aber, das sich einmal spalten ließ, traute ich die Fähigkeit zu, sich ins Unendliche fortzuspalten und ständig eins für das andere auszugeben, sich also unausgesetzt in jeglicher Richtung zu verstellen, jede Entlarvung in Täuschung zu verwandeln und selbst mit der Wahrheit zu täuschen. Ich stellte nicht nur Unwahres als wahr hin, sondern hüllte auch Wahrheit in unglaubliche Gewänder, so dass sie wie eine Lüge daherkam. Ich beteuerte nicht nur Lauterkeit, um mich desto sicherer zu verstellen, sondern bekannte mich auch zur Verstellung, damit mir niemand traute, wenn mir die Wahrheit entschlüpfte. Ich bin dessen nun nicht nur müde, ich sehe auch keinen Sinn mehr darin. Dennoch wollte ich keine Mühsal des Grübelns scheuen und solche Listen in diesen Aufzeichnungen fortsetzen, wenn es mir ein einziges Mal gelungen wäre, mich vor meinem Schicksal zu verstellen. Richte ich meinen Blick auf das unverrückbare Gitter der Sphären, aus denen der große Himmelsglobus in der Mitte meines Arbeitszimmers besteht, erweist sich dies alles als eitel.

6 Anfangs glaubte ich, meinem Schicksal zu begegnen, sobald ein fremder Wille dem meinen zuwiderlief. Ich habe dann sowohl mein Aufbegehren als auch meine Unterordnung nur geheuchelt, aber nicht in böser Absicht, sondern aus dem Entsetzen heraus, ich wäre des Todes, sobald sich das Schicksal von mir erkannt fühlte. Nur eine zur Schau getragene Ahnungslosigkeit schien mir eine Gewähr für mein Überleben. Noch jetzt kann ich eine geheime Furcht nicht ganz abschütteln, eine höhere Gewalt werde jeden Augenblick meinen Redefluss abbrechen, nur weil er der Wahrheit zu nahe kommt. Nach einer schlaflosen, kalten, stürmischen Nacht hat dieser Januartag grelles Winterlicht über das dunkle Meer, die rosa und taubenfarben gestuften Felsen, die bräunlich-grünen Haine und gelben Grashöhen der Insel Capreae gebreitet wie ein Zelt aus blassblauer, golddurchwirkter Seide. Plötzlich ist der Himmel wieder gewitterschwer. Augustus, den sie den Vergöttlichten nennen, verkroch sich bei Gewitter, denn er war davon überzeugt, Jupiter am nächsten zu stehen und das vornehmste Ziel seiner Blitze zu sein. Ich habe diese ängstliche, dem schlechten Gewissen geschuldete Rückkehr eines im Alltag so nüchternen, skrupellosen Gewaltmenschen in den kindlichsten Götterglauben immer im Stillen belächelt. Denn früh wusste ich, das Schicksal, das auch über den Göttern waltet, kennt weder Lohn für das Gute noch Strafe für das Böse, sondern nur Willkür. Darum bleibe ich jetzt auch ruhig, denn es entspräche dem Wesen der Willkür nicht, wenn es das Paradigma, mit dem man Kinder erzieht, lediglich umkehrte.

7 Ich übte mich in der Kunst der Verstellung schließlich mit dem Ziel, möglichst vieles, möglichst alles, auch das Letzte und Allerletzte über die Welt und die Menschen, über mich und unser Schicksal zu erfahren. Ich ließ mich vom Schicksal lenken, damit es sich unbeobachtet glaubte. Ich bemerkte, dass Auflehnung mir den Blick dafür trübte, wie die Dinge wirklich lagen. Ich verwandelte für mich selbst Gehorsam und Anpassung in die höchste Stufe des Widerstandes. Das Schicksal sollte in mir einen Arglosen sehen, damit meiner Beobachtung nichts entging. Vor den Menschen wird diese Maske nie mehr fallen, denn sie verwuchs mit meinem Gesicht. Aber mir bleibt der einsame Schauder, jetzt, da ich nichts mehr zu fürchten habe, das Schicksal aufs freventlichste und empörendste zu reizen, indem ich alle meine Beobachtungen darlege. Wenn ich mich prüfe, habe ich mein Leben lang immer nur das gewollt. Ich meinte es nie böse, wenn ich Menschen verriet. Ich tat es allein mit dem Vorsatz, ihr Schicksal zu durchschauen und in meiner letzten Frist an sie zu verraten. Auf den Dank kommt es mir nicht an. Denn auch dies gehört zu den Arten des Selbstgenusses, den Epikur uns lehrte. Und da mein Leben hinter mir liegt, darf ich behaupten, dass ich das Höchste erlebe, was Menschen zuteil werden kann.

8 Aber je älter ich wurde, desto öfter sagte ich mir: Du hättest beim ersten Verdacht, dass es ein überlegenes Schicksal gebe, dein Leben aufs Spiel setzen sollen! Kein einziges Mal habe ich das Schicksal mit meinen Verstellungskünsten wirklich gestellt. Und wenn man es nie besiegen kann, frage ich, lohnt sich dann das Überleben? Man muss allerdings alt werden, um dies zu begreifen. Denn wer setzt sein Leben aufs Spiel wegen eines Verdachts? Und ist ein Leben, aufs Spiel gesetzt angesichts eines überlegenen Gegners, nicht hingeworfen und verloren? Solange man sich an einem Spiel nicht beteiligt, sind weder Regeln noch Einsätze von Wert. Je jünger man ist, desto beharrlicher hält man das Leben, das man vor sich wähnt wie eine lange, gewundene, hinter jeder Biegung Überraschungen und Geheimnisse bereithaltende Straße, für unveräußerlich. Das Alter, die Nähe des Todes bewahrt davon nur eine schöne Erinnerung und das Lächeln über einen liebenswerten Irrtum, dem niemand entrinnt.

9 Ich schicke diese Zweifel voran, weil ich es unternommen habe, meine Erlebnisse und Erfahrungen und die daraus gewonnenen Meinungen niederzuschreiben, als wäre ich ihrer völlig sicher. Ohnehin habe ich immer nur Meinungen gehört und Meinungen geäußert. Ob uns Menschen Erkenntnisse möglich seien, ist mir bis heute verborgen geblieben. Was ich zu erkennen glaubte, behielt ich, je älter ich wurde, desto entschlossener für mich. Ich bin es mit den Jahren müde geworden, in Gesichter zu sprechen, die sich nichts merken können, die zu jedem meiner Sätze dreinschauen, als beschriebe ich das Wetter in einer fernen, unerreichbaren Welt. Für weit verhängnisvoller als seine mangelnde Fähigkeit zu Erkenntnissen halte ich die Vergesslichkeit des Menschen. So manches sah ich geschehen, das nicht geschehen wäre, hätte er ein Gedächtnis. Auch an mir selbst habe ich das Erlahmen des Willens, mich genau und schonungslos zu erinnern, verfolgen müssen. Was der Mensch nicht vergisst, das verklärt oder verhässlicht er. Die Verklärung hilft, einer trüben Gegenwart trotzig zu antworten: Ich habe bessere Tage gesehen! Etwas Vergangenes in aller Hässlichkeit zu bewahren, eignet sich, dieselbe Gegenwart zu beschönigen. Die Hoffnung, noch ein Weilchen dazubleiben und es schön zu haben, ist unaustilgbar. Kein Bestreben schien mir daher je so lächerlich wie das, in den Menschen Hoffnungen zu wecken und zu nähren. Hoffnungsvolle Gefühle und Gedanken unterliegen unserem Willen ebensowenig wie Furcht, wie Todesangst. Das Begehren unseres Körpers weiterzuleben bringt sie wieder und wieder hervor, zwanghaft wie der Same das Pflänzchen, das Pflänzchen den Stängel, die Blätter, Blüten, Früchte, den Samen und wieder das Pflänzchen. Die tierhafte Lust unseres Fleisches, zu leben und sich fortzuzeugen, schickt uns Hoffnung auf Hoffnung, listenreich und unabweisbar, auch wenn unser Verstand schon hundertmal die Sinnlosigkeit unseres Daseins erkannt hat. Wo keine Hoffnung mehr keimt, tritt der Tod sein Recht an. Wenn die Lebenslust erloschen ist und der Mensch die ihm einzig mögliche Erkenntnis, dass es nämlich keinerlei Sinn für ihn gebe, nicht wieder preisgibt, hat sie auch ihren Schrecken verloren.

10 Die Griechen, deren Weisheit ich früh schätzenlernte und in freiwilliger Verbannung auf Rhodos ganz in mich aufnahm, schreiben dem Schicksal das weibliche Geschlecht zu. Ich weiß nicht, ob es mir darum mit Venus verschmolzen ist. Als ich Kind war, glich es der schönen, angebeteten Mutter, die sich mir um eines fremden Mannes willen entzog: Venus Genetrix. Als ich Mann wurde, verwandelte es sich in die unerreichbare Geliebte, von der mein Herz niemals loskam: Venus Victrix. Venus bleibt Siegerin über jeden von uns selbst dann noch, wenn ihre Huld schwindet. Mir blieb zuletzt die unverhüllte, unvergleichlich süße und schmeichlerische Einsamkeit, auch sie eine Verweiblichung meines Schicksals. Wer nicht für die Einsamkeit geboren ist, erfährt sie nie, und wer sie erfährt, hat ihre Wonnen ein Leben lang erahnt und sie in allem, was ihm süß schien, nur sie, gesucht. Denn die Einsamkeit nimmt dem Tod seinen Schrecken und dem Leben seine ebenso trügerischen Verlockungen. Wer anderen Menschen bereits gestorben ist und dennoch mit einigen wachen Sinnen die Dinge dieser Welt und sich selbst genießt, wie es ihm beliebt, ohne Genüssen nachzutrauern, für die ihm die Kräfte schon fehlen, schließt untrüglich wie ein Weiser, dass wir mit unserem Leben nichts verlieren werden und weder vor unserer Geburt noch an Orten, wo wir nicht sein konnten, irgendetwas versäumt haben.

11 Die verstreuten Aufzeichnungen, die ich aus meinen römischen Archiven kommen ließ, vergewissern mich schon, dass mein Lebensbericht niemanden unter den Lebenden erfreuen wird. Unsicher also bleibt es, ob er dir, Bürger eines fernen Zeitalters, unter die Augen gelangen kann. Wenn es mir nicht gelingt, diese Schriftrollen geheimzuhalten und gut zu verbergen, werden sie schon mit meinem Leichnam in die Flammen geworfen. Nicht nur dem Zugriff meiner zahllosen Feinde habe ich sie zu entziehen, sondern auch dem meiner wenigen Freunde. Selbst eine wohlwollende oder gar ehrfürchtige Art der Aufbewahrung würde sie verfälschen. Ich höre schon all die bevormundenden Kommentare, in die man sie sperren will, sobald mir der Tod die Macht genommen hat, mich schützend davorzustellen. Während die einen gleich Leichenschändern ihre Wut, die sich an meiner Person entzündet hat, an meiner wehrlosen Hinterlassenschaft austoben, werden andere voller Entrüstung rufen: Seht! So war er immer! Boshaft, selbstisch, kalt, bitter, besserwisserisch, dünkelhaft, herrschsüchtig – ein Menschenfeind! Weder meine Zunge noch mein Griffel soll denen je widersprechen. Aber diejenigen, die sich in einer vermeintlichen Verwandtschaft einem Verständnis meines Innersten am nächsten glauben, verfehlen es am sichersten. Gründlicher als Mordbrenner und Verleumder werden die Wohlmeinenden mein Werk vernichten, die zu den ungeheuerlichsten meiner Sätze, ihre Entrüstung niederringend, flöten: Er hat es nicht so gemeint.

12 Ihnen zum Trotz bekenne ich feierlich: Doch! Ich habe es so gemeint! Ich habe alles so gemeint, wie es geschrieben steht. Ein Dummkopf, wer daran zu deuteln versucht, wert, von Vernünftigen verachtet zu werden. Ich selbst verachte die meisten. Vernünftige Menschen sind zu dünn gesät, als dass sie sich auf Dauer der Geschicke der Menschen bemächtigen oder aber der Macht, die ihnen das Schicksal zuspielt, je froh werden könnten.

Doch ich beklage mich nicht. Ich stelle nur fest.

ERSTES BUCH

Wenn man die Herzen der Tyrannen aufschlösse, würde man Wunden und Hiebe entdecken.

Platon, Gorgias

I. LIVIA MATER

1 Ich bin der Nachfahr eigensinniger Ahnen, einer starken Mutter und eines schwachen Vaters. Das Gesicht meiner Mutter beherrscht meine frühesten Erinnerungen. Mnemosyne selbst, wollte ich sie bitten, mit göttlicher Kraft mein Gedächtnis zu schärfen, nähme ihre Züge an, und auch ihre Töchter, die Musen, erschienen mir, riefe ich sie, mit demselben strengen Lächeln. Nicht genug, dass es gegen meinen Willen, bevor überhaupt ein Wille in mir erwachen konnte, zum vertrautesten wurde – es begegnet mir noch jetzt, Jahre nach ihrem Tod, sooft ich morgens in den Spiegel schaue, sooft ich unter einem meiner Standbilder vorüberschreite, auf eine meiner Büsten zugehe und meinen Blick auf den weißen Marmor von Kopf und Hals hefte, der wie eine Wolkenerscheinung aus dem farbigen Marmor der Gewandfalten ragt. Ich habe alles von diesem Mutterantlitz, die breite, helle Stirn, die einen Freimut verspricht, wie ihn die flachen Augen darunter niemals einzulösen vermögen, die zarte, zwischen zwei so breiten Wangen zu zarte, wie in einer Einöde sich fast verlierende, von der Seite gesehen aber weit vorspringende Nase, den engen, schmallippigen Mund, starres Sinnbild wortkarger Vernunft, zum Schweigen besser geschaffen als zum Reden. Mindestens einmal am Tag erschrecke ich vor dieser übervertrauten, mir in fataler Ähnlichkeit lebenslang aufgezwungenen Maske. Die Lebenskraft, die Livia sich bis ins hohe Alter bewahrte, ließ mich kaum je im Zweifel, dass ich vor ihr sterben würde, und noch jetzt bezweifelt mein Herz verdrossen, dass sie tot ist. Ich habe einem inneren Widerstreben gehorcht, als ich davon Abstand nahm, zu ihrer Leichenfeier nach Rom zu reisen. Es kann auch zum Verhängnis ausschlagen, wenn man sich zu nichts zwingen lässt: Da ich das Antlitz der Toten nie gesehen habe, verfolgt mich der Blick der Lebenden, sich verjüngend und sich kräftigend Tag für Tag.

2 Es ist unter Römern üblich, sich vortrefflich zu finden. Dem Gebot der Bescheidenheit fügt sich der Selbstgewisse nur, indem er seine Vortrefflichkeit als ein Erbteil bezeichnet und jedes Lob an die Vorfahren verweist, denen er verdankt, was er ist. Meine Vorfahren, sowohl von der Mutter als auch vom Vater her, waren Claudier. Der patrizische Zweig dieses Geschlechtes, dem ich angehöre, sah es immer als freches Gaukelspiel der römischen Namensgebung an, dass es auch plebejische Claudier gibt, deren Ahnen, aus demselben Landstrich zwar, aber später, nach Rom zugewandert sind. Ich finde mich keineswegs vortrefflich. Ich sage nur: Ich habe Eigenschaften. Ob sie mir oder anderen zum Nutzen oder zum Schaden ausschlagen, hängt ganz von den Umständen ab, unter denen ich sie entfalte. Die Gelegenheiten und die beteiligten Personen entscheiden jeweils, und dies nur für sich, ob es sich um Vorzüge oder um Makel handelt, ob mein Verhalten gut oder schlecht, löblich oder tadelnswert sei. Ich behaupte sogar, dass ich ebenso viele Eigenschaften habe, wie es Menschen gibt, die sich Urteile über mich bilden. Allein schon die Zahl solcher Urteile, zu schweigen vom Rang der Urteilenden, lässt es zwecklos erscheinen, sich darum zu kümmern. Dass ich Linkshänder bin, hat mir als Kind Tadel und Schläge eingetragen. Aber ich finde, der Linkshänder hat mehr Anstand als alle, die der Rechten den Vorzug geben, denn wenn er jemandem, wie üblich, die rechte Hand gibt, ist es nicht die, mit der er sich auch den Hintern abwischt, zu schweigen davon, wie viele Handküsse die rechte Hand eines Herrschers über sich ergehen lässt. Dass meine Augen auch in finsterer Nacht etwas sehen wie die von Katzen und Eulen, lernte ich früh zu verheimlichen, denn es weckte bei meinen Mitmenschen einen mir lästigen Argwohn und üble Nachrede, als besäße ich eine tierhafte Natur. Kaum jemand hatte dabei die Güte, der Weisheit der Eule, die den Athenern heilig ist, zu gedenken, und wenn ich den gehässigen Vergleich mit der Katze hörte, hielt ich mir zugute, dass dieses Tier sich weit weniger zähmen lasse als der Hund. So folge ich dem Brauch des Römers, seine Eigenschaften von den Ahnen herzuleiten, auch nicht, um etwa meine Fehler zu entschuldigen, sondern es reizt mich, ihr Widerspiel zurückzuverfolgen in der langen Reihe derer, die mir etwas mitgegeben haben. Ähnlichkeit mit Eltern und Voreltern stellt mit Freuden fest, wer Vorbilder in ihnen verehrt. Wer aber, wie ich, dies nicht vermag, wie beharrlich er auch an diese Pflicht erinnert wurde, wer auf sein Herkommen eher scheel oder gar mit Hass blicken musste, den er anderen und sich selbst verhehlte, bis er die Scham darüber abstreifte, der lernt erst, wenn alle, die über ihn urteilen, jünger sind als er selbst, sich als ein Abbild der Seinen anzunehmen, ohne über den Wert desselben zu befinden.

3 Die Claudier sind in ihrem patrizischen Zweig immer leidenschaftliche Aristokraten gewesen. Neben den Aemiliern, Corneliern, Fabiern und Valeriern gehörten sie zu den Ersten Familien des römischen Senats. Zu allen Zeiten der Senatsherrschaft fand man sie unter denen, die den Herrschaftsanspruch des Adels am weitesten trieben. Mit ihrer göttlichen Abstammung ließen sie nie spaßen. Clausus soll unser Stammvater geheißen haben. Die Überlieferung sieht ihn als Sohn des Gottes Saturn, den die städtischen Priester nicht müde werden, in ihrem Eifer für alles Griechische, dem Kronos gleichzusetzen, dem Titanen, den der Himmelsherrscher Uranos mit der Erdmutter Gaia zeugte, der, um selbst Herr der Welt zu werden, seinen Vater mit scharfer Sichel entmannte, der seine Kinder fraß und, als die Reihe an Zeus kam, von seiner Gemahlin Rheia mit einem in Windeln gewickelten Stein getäuscht wurde. Sooft ich erzählen hörte, wie der Getäuschte von seinem herangewachsenen Sohn in den Tartarus gestürzt wurde, empfand ich mit dem jungen Rebellen, der sich durch eine beherzte Tat gegen den titanischen Vater zum Herrscher des Olymp aufschwang. Später, selbst Vater, träumte ich den Begnadigungen nach, von denen die Rede ging, sei es die Herrschaft des Kronos über ferne, uns unbekannte glückselige Inseln, sei es seine Flucht unter dem Namen Saturn nach Italien, wo er gemeinsam mit dem doppelgesichtigen Gott Janus über die früchtetragenden Fluren zu beiden Seiten des Tiber herrschte und lange vor der Gründung Roms auf dem Hügel Janiculus die Stadt Saturnia errichtete. An dieser kindlich liebreizenden Sagenwelt ist mir eins so angenehm und schmeichelhaft wie das andere. Denn auch ich liebe das Inseldasein und glaube, dass nur auf Inseln Glückseligkeit erlangt werden kann, und auch ich lebte, wiewohl mich nach einem Vater sehnend, beständig im Hader mit allem Väterlichen und in Furcht vor meiner eigenen Saat. Auch ich fühlte mich stets, wo immer ich mich aufhielt, selbst in den eignen vier Wänden, wie im Exil. Auch ich halte nicht Rom für ewig, sondern das italische Land und wäre, dürfte man solchen Geschichten Wahrhaftigkeit beimessen, stolz auf die Abstammung von einem Gott, der als Stadtgründer schon auftrat, als noch niemand die Namen Romulus und Remus genannt hatte, der in diesen endlos fruchtbaren Gefilden den Ackerbau und die Obstpflanzungen heimisch machte und die Weinberge schützte und glücklich vermählt war mit Ops, der Göttin des Reichtums, den man durch Säen und Ernten erwirbt.

4 Den Clausus soll Saturn mit Regilla gezeugt haben, einer Bergnymphe des Sabinerlandes, die denn auch der Ortschaft, aus der die Claudier späterhin nach Rom zogen, ihren Namen lieh: Regillum. Unser viel beschworener Vergilius Maro, den allerdings, wie jeden großen Dichter, nur diejenigen lieben, die nicht die Mittel hätten, ein Werk bei ihm zu bestellen, nennt diesen Clausus in der stattlichen Reihe von Heerführern, die Italien gegen die in Latium gelandeten Troer aufbietet. Kein Gefährte des götterfürchtigen Aeneas also war er, des Ahnherrn der Römer und namentlich des julischen Hauses, dem mein Vorgänger Augustus sich zurechnete, sondern ein Gefolgsmann des wilden, finsteren, grimmigen Turnus, den Juno in ehelicher Auflehnung gegen Jupiter dazu ausersehen hatte, die Gründung Roms, der Stadt der Städte, zu verhindern. In den ersten Jahren meiner Erziehung versuchten mich Gleichaltrige, die dem julischen Haus entstammten oder nahestanden oder ihren Stammbaum anderweitig auf die Aeneaden zurückführten, damit zu schmähen und zu hänseln, dass Turnus zuletzt unterlag. Das nahm ein Ende, als mein Vater starb und ich auf den Palatin, den Sitz der Julier, geholt wurde. Dort allerdings verwandelte sich, als ich die Schattenseiten dieses Wohlwollens zu spüren bekam, die Scham des Knaben in einen geheimen Stolz darauf, dass mein Stamm fest in der italischen Erde wurzelte, der des Imperators aber, der den Namen Caesars übernommen hatte und sich der Erhabene nennen ließ, in ein Häuflein Geschlagener zurückführte, die, griechischer Tücke erlegen, den Flammen Trojas entkommen waren. Wie schlecht haben sie die Gastlichkeit der Karthagerkönigin Dido vergolten! So dachte ich insgeheim, als ich dann Vergil aus seinem Werk vortragen hörte. Auch das Geschichtswerk unseres Titus Livius konnte nicht verschweigen, dass sie Fremdlinge waren, die ein Asyl, das sie durch Bitten nicht erwirkten, in Latium mit Waffengewalt ertrotzten, dass sie durch keinen Sieg überdauerten, sondern durch Anpassung, indem sie ihre asiatischen Gebräuche ablegten und mit uns, den alteingesessenen Italikern, verschmolzen.

5 Eine scheue Ehrfurcht vor unserer Bodenständigkeit, vor der Saat des ungebärdigen Turnus, der nur durch Götterbeschluss und im übrigen ebenbürtig im Zweikampf gegen Aeneas fallen musste, glaubte ich denn auch immer aus dem Wohlwollen herauszuspüren, das Augustus uns Claudiern entgegenbrachte. Die Besessenheit, mit der er, noch unter dem Namen Octavian, meiner Mutter nachstellte, obgleich er bereits zum zweiten Mal verheiratet war, legt man dem sonst so nüchternen, berechnenden, über jede Empfindung das Kalkül seiner Macht setzenden Kopf noch heute gern als die einzige feurige Aufwallung der Seele aus. Für mich steckt auch hinter dieser Affäre sein Ehrgeiz, und zwar ein dynastischer, der danach trachtete, gleichsam als zweiter Gründer Roms in seinen Nachkommen das Blut der Aeneaden und das der Italiker nochmals zu vermischen. Er wollte mit meiner Mutter den idealen römischen Weltherrscher züchten. Aber das ist ihm fehlgeschlagen. Die Ehe blieb kinderlos. Aus Zwiespältigem kommt nur Zwiespältiges oder nichts, wie auch ich es bitter erfahren musste. Er liebte meine Mutter zweifellos, aber mit der zügellosen Befriedigung der Begierde zugleich höheren Zwecken zu dienen, das ist nicht einmal Göttern gegeben. Könnte mir Rache noch etwas bedeuten, welchen Genuss hätte ich daraus ziehen dürfen, dass nun ich, ein Spätgeborener, Letztgebliebener ohne nennenswerte Nachkommen, ein Brunnen gleichsam, in dem alles Claudierblut zusammenfloss, über das Staatswesen verfüge, an dem unsere Vorväter zu bauen begannen, vor dessen Vollendung Julius Caesar erdolcht wurde und das sein Großneffe zu vollenden wähnte. Doch mein alter italischer, mein saturnischer Widerwille gegen die Helden, gegen die brudermörderischen Zwillinge Romulus und Remus, gegen die Stadt der Städte, gegen die Staatenschöpfer und Staatenlenker lehrte mich, zumal mir die Macht zufiel, als ich sie nicht mehr begehrte, dass ein Mächtiger das Gebilde, über das er herrscht, nur zutiefst verabscheuen, die Menschen, die sich ihm beugen, nur gründlich verachten könne.

6 Denn wir waren zuerst Bauern und Hirten. Ehe die troischen Helden kamen, ehe Turnus den Clausus und sein Gefolge aus den Sabinerbergen rief, waren unsere Heerscharen Ziegen und Schafe und Rinder. Wer mich, seit ich hier auf Capreae lebe, auf den Märkten Roms als den Bock auf der Ziegeninsel schmäht, weiß nicht, wie wenig mich das ärgert. Ehemals hielt ich mich für schwach, überzüchtet, lebensuntauglich, für das Verfallsprodukt einer zu langen Geschlechterfolge. Aber es war nur die schlechte Luft der Paläste, der verbrauchte Atem Roms, das Lügengewebe meiner Erziehung, was mich krank machte. Ich wand mich in Fesseln, die, mit Edelsteinen besetzt, als Schmuck gelten sollten, die sich bei jeder selbstständigen Bewegung strafften und verengten, meine Kraft in Schwäche, meinen Scharfsinn in Torheit, meine Festigkeit in Stumpfsinn verfälschten. In den Feldzügen, die ich für meinen Vorgänger befehligte, lernte ich mich anders kennen, auf Rhodos fand ich zu mir selbst. Immer war es die Ferne von Rom, an der ich gesundete. Und seit ich mich auf diesem durch die Urgewalten der Vorzeit von der titanischen Erde Italiens abgespaltenen Eiland festgesetzt habe, fern vom Gestank des Sudeltopfes mit Namen Rom, unangefochten sowohl von der wankelmütigen Menge als auch von ihren habgierigen, ränkesüchtigen Wächtern, weiß ich, wer all die nahezu acht Jahrzehnte lang in mir gesteckt hat: ein Bauer und Viehhirt, der die Erde und das Wachstum der Pflanzen liebt, dem nichts am Herzen liegt, als zu pflügen, zu säen, zu jäten, zu ernten, als zu striegeln, zu scheren, zu melken, der, wann und wo er eins zu fassen bekommt, ein Weib nimmt auf die Art, die Paxamos in seinem Dodekatechnon die Unschuld der Tiere nennt. Kenntnisse, Tugendhaftigkeit, Staatspflichten haben sich mir als ausgeklügelte Umwege der Ichsucht um den Willen Fremder bloßgestellt. Auch meinen Wunsch, in den Besitz der Macht zu gelangen, durchschaute ich, noch ehe er erfüllt wurde, als Einbildung, als übersteigerten Antrieb zur Notwehr, als den Irrglauben, mit einem Schlag alle Peiniger loszuwerden. In Wirklichkeit vervielfachte sich ihre Zahl auf die Gesamtheit der römischen Bürger. Denn was ich übernahm, konnte niemals meine Macht sein, sondern nur die Macht dessen, den auch ich tödlich gehasst hatte. Zu spät erkannte ich, dass mich nur nach Freiheit gelüstete, nach der selbstverständlichen meiner bäurischen Vorväter oder, da diese verloren war, nach einer neuen, die ich nicht hätte erwarten, sondern zurückholen müssen.

Denn es ist das Wesen der Freiheit, dass sie nicht gegeben, sondern genommen wird. Lange narrte mich das Trugbild einer Freiheit, an der ich durch meine Nähe zur Macht teilzuhaben glaubte, und wenn ich sie besser zu genießen hoffte, indem ich mich williger meinen Pflichten fügte, entwickelte ich nur viel Geschick, möglichst schmerzarm mein Joch zu tragen. Nun gehe ich durch die Gärten und Parks dieser Insel, durch meine zwölf nach den olympischen Göttern benannten Villen und weiß, was Freiheit ist. Aber die Kräfte, die ich brauchte, um sie ungebrochen und unverstümmelt zu genießen, habe ich an Familienrücksichten und Staatsgeschäfte verschwendet. Und sie wachsen nicht mehr nach.

7 Wir Claudier also dachten damals in Regillum an keinen Staat, weil die Erde, die uns gehörte, alles hervorbrachte, was wir benötigten, weil wir nichts zu verkaufen und nichts zu kaufen wussten und folglich kaum einen Begriff von Diebstahl hatten oder von Raub. Der Triumph des Aeneas über Turnus gab uns eine erste Ahnung, dass ein Held allein durch seinen Sieg das Recht erwirbt, ohne Vorwurf fremde Habe an sich zu bringen. Wir mussten lernen, dass ein so gegründetes Staatswesen nichts anderes will, als seinen ehrenwerten Raub vor anderen Helden zu behaupten. Seine räuberischen Spielregeln hatten wir zu begreifen, die festlegten, wie viel sich der Gewinner von fremder Hände Arbeit nehmen dürfe, ohne Vergeltung zu fürchten. Hilf dem Räuber rauben und nenne ihn einen Wohltäter des Menschengeschlechts, so wird er dein Wohltäter und macht dich reich, denn er, nur er hat genug, um zu geben! Wer einem Armen helfen möchte, verliert, was er hat, ohne den anderen zu retten, und kommt selbst in Schande. Armut ist ein Fass ohne Boden. Nicht einmal die edle Genügsamkeit, in der unsere italischen Vorväter Meister waren, noch ehe Epikurs Lehre zu uns fand und alsbald zur Rechtfertigung des Genusslebens verfälscht wurde, kann bestehen, sobald Reichtum in ihre Nähe gelangt. Sie wird zur Armut und lädt Schimpf auf sich. Sobald der Kreis, in dem das Notwendige ohne Mangel und Überschuss hervorgebracht und verbraucht wird, an einer einzigen Stelle sich öffnet, bleibt keine Wahl, als seine Habe in das räuberische Spiel einzubringen und auf kleine Gewinne zu hoffen, mit denen große erreichbar sind, oder zum Bettler zu werden.

8 So endete auch für uns Claudier das Goldene Zeitalter, als in den saturnischen Fluren die Stadt Rom von sich reden machte. Es gereicht dem Atta oder Attus Clausus, einem Nachfahren unseres Ahnherrn Clausus, zur Ehre, dass er noch die Vertreibung des letzten Königs Tarquinius Superbus abwartete, dessen Anmaßung selbst die räuberischen Spielregeln, von denen ich sprach, verletzte. Erst im zweihundertfünfzigsten Jahr der Stadt und im sechsten Jahr der Republik siedelte sich dieser Clausus mit seiner Familie und seinem Gesinde in Rom an, immerhin früh genug, um Patrizier zu werden. Die Claudier, die später nach Rom kamen, bestätigen im Grunde meine Beobachtung, dass Plebejer nur träge Träumer sind, die das Ende des Goldenen Zeitalters erst nicht wahrhaben wollen und dann glauben, es wieder errichten zu können. Meine Vorfahren erkannten rasch und klar, dass sie nur in der wachsamen Verteilung der Macht auf einen engen, gleichberechtigten Kreis der Besten und in deren Wetteifer um die geeignetsten Maßnahmen auf ihre Kosten kommen würden. So füllte sich meine Ahnentafel mit Männern, die sich um Rom verdient gemacht haben. Doch nicht wenige von ihnen lehnten sich gegen das Staatswesen auf, und das setzt voraus, dass sie als Spielregel durchschauten, was im Gewand göttlicher Satzung daherkam. Titus Tatius, der König der Sabiner, duldsam, friedfertig, gutgläubig, der den heimtückischen Frauenraub der Römer schließlich ohne weiteren Widerstand hinnahm und sich darauf einließ, mit Romulus gemeinsam zu regieren, obwohl der schon seinen Bruder umgebracht hatte, mag ihnen als Vorbild, sein nie aufgeklärter Tod während einer Opferhandlung hingegen als Warnung gegolten haben. Ich hatte Ursache, mich seiner zu erinnern und zu lernen: Je mehr der Tüchtige teilhat an der Macht, desto besser muss er vor ihr auf der Hut sein.

9 Es wundert mich daher nicht, wenn unser Zwölftafelgesetz den Appius Claudius Caecus als seinen Verfasser namhaft macht. Wo immer ich mich in die Last des Regierens fügte, verscheuchte ich die Seufzer, indem ich mich auf seine Gabe besann, dem, was gelten soll, gültige Gestalt zu geben. Seine Tatkraft war mir immer Vorbild. Diesem ersten Berühmten unseres Namens verdankt Rom seine älteste Wasserleitung, die Aqua Appia, und die frühesten Bauabschnitte der Appischen Straße. Es scheint, als hätte dieser seinem Beinamen zufolge blinde Mann mehr Weitsicht behalten als andere, als er dem Senat erfolgreich von einem Bündnis mit dem griechischen Tyrannen Pyrrhos abriet, der im Süden Italiens vordrang. Wer sein Gebiet erweitern will, darf nicht darauf rechnen, dass ein anderer seine Feinde unterwirft, denn der wird daran selbst zum gefährlichsten Feind, sondern er muss Straßen bauen, um selbst zu marschieren. Schon gar nicht sollte er sich an einen hängen, dessen tollkühne Unternehmungen, auch wenn sie einstweilen noch gelingen, nur verraten, dass er bereits im Netz der Hybris zappelt.

10 Claudius Caudex erhielt seinen Beinamen, weil er es gewagt hatte, mit einem Einbaum, wie ihn die halbwilden Fischer Lucaniens und Bruttiums damals noch benutzten, die von den Puniern besetzten Buchten Siziliens auszukundschaften. Danach tat der Wagehals, was bis dahin keinem Römer eingefallen war, als hätten die Irrfahrten des Aeneas seinen Nachkommen das Meer verhasst gemacht: Er rüstete eine Flotte aus und überquerte die Meerenge, über die in der Vorzeit die Seeungeheuer Skylla und Charybdis geherrscht haben sollen. Den Puniern fügte er so schwere Verluste zu, dass sie Sizilien aufgaben. Ein Claudier war es also, Nachkomme eines Bergvolkes aus dem Landesinneren, der die Römer an die Seefahrt erinnern musste, damit sie dem mächtigen Karthago ebenbürtig wurden. Seinem Verdienst fügte Claudius Nero, dem mein Vater und dessen Väter ihren Beinamen verdanken, ein veraltetes Wort für den Starken, Tüchtigen, Mannhaften, ein kaum geringeres hinzu, als er sich dem von Hispanien heranziehenden Heer Hasdrubals entgegenwarf, um es zu vernichten, bevor es sich mit dem seines Schwagers Hannibal, das in Apulien vorrückte, vereinigen konnte. Es scheint in der Natur der Kriegsläufte zu liegen, dass spätere Siege, die man die entscheidenden nennt, jene kleineren überstrahlen, die sie vorbereiteten. Die wenig erwähnte Schlacht am Metaurus, in der Hasdrubal sein Leben verlor, liegt im Zwielicht zwischen der Schmach von Cannae, die Hannibal den Weg vor die Tore Roms öffnete, und dem Triumph von Zama Regia, der es Scipio ermöglichte, den Karthagern einen römischen Frieden aufzuzwingen, wie er bald sprichwörtlich wurde.

11 Doch ich bin kein Geschichtsschreiber. Wie viele Konsuln, Zensoren, Diktatoren die Claudier aufzuweisen haben, wie viele große und kleine Triumphe, wie viele Ovationen sie feiern durften, lässt sich in den Annalen des Senats nachlesen. Um nicht ruhmredig zu scheinen, möchte ich lieber noch einige Claudier aufführen, deren mit Unwillen, wenn nicht mit Tadel gedacht wird. In ihnen ist die ungewöhnlich starrköpfige und herrische Art meines Geschlechtes zum Ausdruck gekommen, deren Erbteil ich nach und nach verstehen und sogar schätzen lernte. Es kümmert mich nicht, wenn ich mich hier dem Vorwurf aussetze, ich wolle selbst die Fehler meiner Vorfahren als Tugenden hinstellen. Wie an mir, so stelle ich auch an ihnen lediglich Eigenschaften fest. Claudius Regillianus, der dem gesetzesmächtigen Zehnmännerkollegium angehörte, begehrte eine freigeborene Jungfrau von überwältigender, zu Überwältigung herausfordernder Schönheit. Er versuchte sie denn auch, als sie ihn nicht erhörte, in seine Botmäßigkeit zu zwingen, indem er mit falschen Zeugen vor Gericht erschien, die er beeiden ließ, sie sei ein untergeschobenes Kind und in Wahrheit eine Sklavin, die er jederzeit kaufen dürfe. Das Vorkommnis wäre alltäglich zu nennen und gewiss nicht durch ein halbes Jahrtausend überliefert worden, hätten nicht seine Folgen den Zorn aller Patrizier heraufbeschworen: Die Plebejer, noch nicht lange durch einen fein gesponnenen Schleier aus Zugeständnissen und Drohungen zur Ruhe gebracht, nahmen den Übergriff erneut zum Anlass, die Stadt mit Unruhe zu erfüllen und aufs Forum zu ziehen. Denn dort war diese Virginia unter dem Messer ihres Vaters verblutet, der sie lieber dem Tod als der Schande überantworten wollte. Das rechnete man meinem Vorfahren hart an, hatte er doch eine Lage heraufbeschworen, in der ein gehobener Stand von einem niederen sittliche Lehren annehmen musste.

12 Dass man dem Claudius Russus die Statue verübelte, die er sich nach dem Vorbild Alexanders mit der Zierde eines goldenen Diadems errichten ließ, als käme ihm zu, der ganzen Welt zu gebieten, war vielen Römern noch bis in die Zeit meiner Geburt verständlich. Sonst hätte niemand Julius Caesar umgebracht. Dieser Mord entbehrte jeder Vernunft. Aber wie ist es um die Vernunft von Leuten bestellt, die heute jene Legende um das Diadem eines Claudiers als Hinweis auf meine Herrschaft deuten? Jedem Schmeichler, der mir mit diesem Unsinn kam, erzählte ich, wie mein Vorfahr Claudius Pulcher mit Zeichen und Wundern umging. Als bei feierlichen Auspizien die Hühner, denen der Aberglaube bis heute nachsagt, sie erhellten mit der Wahl bestimmter Körner die Zukunft, überhaupt kein Futter annahmen, ließ er sie ins Meer werfen, zu den Worten, wer nicht fressen wolle, müsse Wasser saufen. Nicht dass ich mich allen Vorzeichen verschlösse. Aber wer wie ich die Verflechtungen unserer Geschicke mit den Bahnen der Gestirne erkannt hat, gibt nichts auf Hühnerschnäbel. Leider setzte sich mein Ahne nur halbherzig und täppisch über die religiösen Vorurteile hinweg. Er hätte besser daran getan, die Auspizien gar nicht zu befragen und die darauffolgende Seeschlacht bei Drepanum zu gewinnen. So aber hob der Senat über ihn die Brauen und tadelte nicht nur seine Niederlage, sondern auch die Missachtung des bösen Omens, das er in der mangelnden Fresslust der Hühner erblickte. Dieser Pulcher jedoch wäre kein Claudier gewesen, hätte er sich damit zufriedengegeben. Im Bewusstsein seiner Unentbehrlichkeit als Kriegsherr angesichts eines näher rückenden Feindes rief er nach der Diktatur, vergaß aber, dass er selbst als Konsul für dieses Amt ausschied. In ohnmächtiger Wut schlug er den versammelten Vätern, die ihn um einen Kandidaten ersuchten, einen seiner Freigelassenen vor, ein Schimpf, wie ihn die Republik bis dahin nicht erlebt hatte.

13 Ich habe nicht nur über die Lächerlichkeit dieses Versagers nachgedacht, sondern gelegentlich auch die Erbitterung dessen nachfühlen müssen, dem nach einem einzigen Missgriff alles übel ausgelegt wird, so dass er seine Freiheit zu wahren glaubt, indem er selbst mutwillig Stoff zu seiner Verunglimpfung dazuliefert. Andere Patrizier traten nach einer Verfehlung in Trauerkleidung vors Volk und baten es um Vergebung. Keinem Claudier wäre es je eingefallen, sich vor dem Pöbel zu demütigen, der einen Menschen heute im Jubel emporträgt und morgen mit Schmach besudelt. In der Verachtung der Straße stachen denn auch Claudierinnen besonders hervor. Die Schwester des eben erwähnten Pulcher wünschte, als ihr Wagen in einem Menschengedränge nicht vorwärtskam, laut und vernehmlich, der Senat möge noch eine zweite, weit größere Flotte verlieren als ihr Bruder, damit das Geschmeiß aus Rom verschwinde. Man findet in diesem unbedachten Ausruf, der uns lange nachgetragen wurde, bestätigt, dass die Merkmale einer Familie durch das von Natur aus heftigere Wesen der Frauen, wenn man sie nicht zügelt, ins Bizarre verzerrt werden. Eine andere Claudia rettete unsere Ehre, als ein Volkstribun den Triumphzug ihres Bruders verhindern wollte, indem er missgünstig sein Veto einlegte. Sie löste sich aus den Reihen der Vestalinnen, zu denen sie gehörte, sprang auf seinen Wagen und machte durch ihre jungfräuliche Würde die Feierlichkeit unantastbar, so dass der Sieger ungehindert aufs Capitol gelangte und seinen Lorbeerkranz dem Jupiter weihte.

14 Ob er die Weihen religiöser Handlungen durchschaue oder nicht – der Vornehme hat nur die Wahl, sie zu achten oder zu unterlassen. Verunglimpfen darf er sie nicht, denn wo andere Vorkehrungen wie Reichtum, Gesetze, Verdienste versagen oder gar gegen ihn sprechen, schützt nur noch die Religion seine Rechte. Das alles zu sich herniederziehende Volk ist es, das stets danach trachtet, auch Göttliches zu verhöhnen und selbst die Götter zum Gespött zu machen. Der Weise hingegen, dem der Glaube abhanden kommt, kümmert sich nicht mehr um sie, wie Epikur lehrte. Seit ich Einblick in die zuverlässigen Naturgesetze nehmen konnte, nach denen unser Tun und Lassen mit den Bahnen der Gestirne verknüpft ist, trauere ich keiner der entschleierten religiösen Erfindungen mehr nach. Es bereitet mir aber tiefe Sorge, wenn ich sehe, wie das Volk mit der Frömmigkeit erst den Respekt vor allem Ehrwürdigen verwirft und sich dann um den segensreichen Rat einer Schar von weitschauenden Männern bringt, die doch, indem sie ihre eigenen Belange ordnen, auch die Belange aller aufs beste verwalten, wie es sich schließlich in dem Elend, das es selbst verschuldet, einer herrenlosen Herde gleich, der aller Vernunft zuwiderlaufenden Willkür irgendeines Aberglaubens ergibt und einigen eitlen Schuften nachläuft, die ihm schmeicheln, solange davon ihre Beutel prall werden, ihm aber eine Nase drehen, sobald es die Linderung seiner Not einklagt.

15 Nicht ohne Grund drängte es mich, die Betrachtung meines Herkommens mit dem Gesicht meiner Mutter zu eröffnen. Nicht ohne Absicht verbreite ich mich zuerst über sie, bevor ich mich meines Vaters erinnere, über den ich wenig zu sagen habe. Das Erbe der Claudier nämlich wurde mir doppelt, man kann auch sagen ungeteilt mitgegeben, denn meine Großväter waren Brüder. Schon dass, wie bei mir augenfällig, Söhne zumeist ihren Müttern ähneln, während sich Väter in ihren Töchtern wiedererkennen sollten, könnte alle unsere patriarchalischen Stammbäume ins Wanken bringen. Mehr noch: Wer sich von der kleinlichen Wahrung verfestigter Gewohnheiten nicht beirren lässt, erkennt leicht die uneingestandene Herrschaft der Mutter in so mancher römischen Familie. Meine Studien haben es mir bestätigt: Alle heimlichen Vorrechte, die es der römischen Frau weit mehr als der Griechin erlauben, die Herrschaft des Mannes in der Öffentlichkeit und in der Familie zu umgehen, zu unterwandern und auszuhöhlen, kommen von den Etruskern, deren Kunstfertigkeit uns mit ihren Überresten noch heute in Erstaunen versetzt. Sie war, wie wir eingestehen, zu ihrer Zeit der unseren weit überlegen. Das Staatswesen aber, das sie trug, befand sich bei der Entfaltung ihrer schönsten Blüten in jenem Niedergang, der uns zu Herren Italiens machte. Wenn ich meine Mutter mit dem ausdruckslosen Gesicht durchs Haus gehen sah, das ich als untrügliches Zeichen ihrer kalten Gedankenarbeit deuten lernte, erinnerte sie mich an die etruskischen Göttinnen, deren Statuen man unter den Weihgeschenken sehr alter Tempel noch findet. Die Andeutung von Brüsten ordnet sie dem weiblichen Geschlecht zu, während Haltung, Blick und Mundstellung eine Selbstsicherheit zur Schau tragen, die man nur Männern zutraut.

16 Ähnlich haben mit dem Niedergang der Senatsherrschaft auch in Rom unaufhaltsam Frauen an Einfluss gewonnen. Nicht wenig wirkten sie am Erblühen der Künste mit, die ohnehin erst im gleichsam weiblichen Anhauch griechischer Sinnesart heranwachsen konnten. Wie wir auch zu den Gesetzentwürfen der Brüder Tiberius und Gajus Gracchus stehen mögen, noch immer verehren wir ihre Mutter, die jüngste Tochter des Scipio Africanus, der Karthago den Todesstoß versetzte. Die herben Züge Cornelias, den in Rom freilich seltenen Standbildern der Friedensgöttin geliehen, durchbrachen zuerst den Grundsatz der Römer, nur Männer auf den Sockel zu stellen. Denn das Volk verehrte, weder ihrem Vater noch ihren Söhnen trauend, in der Tochter den Sieg über Roms äußere Feinde und in der Mutter die Hoffnung auf inneren Frieden. Ich empfinde darüber weder Wohlgefallen noch Zorn. Denn eine zunehmende Macht der Frauen ist immer da anzutreffen, wo die zuverlässige Vernunft der Männer schwindet. Ich empfinde nur Sorge, denn ich habe nicht sehen können, dass weibliche Vernunft etwa die der Männer ersetzte. Jeder kennt inzwischen den Lebenswandel jener Clodia, einer nicht allzu entfernten Verwandten meiner Familie, die, herrschsüchtig und wetterwendisch, unter dem anzüglichen Namen Lesbia durch die so weinerlichen wie frechen Verse des Valerius Catullus geistert.

17 Um es gleich zu sagen: Sobald der Mann, sei es aus Schwäche, Bequemlichkeit oder falsch verstandener Großmut, darin nachlässt, das Weib in die Zucht zu nehmen, macht der natürliche Trieb zu beliebiger Paarung es zur Hure. Wenn es, wie manche Gelehrte annehmen, je eine Zeit gab, in der die Weiber über die Männer herrschten, so musste sie eben aus diesem Grunde ein Ende finden: Sobald niemand den Vater eines Kindes mit Sicherheit nennen kann, ist die Paarung von Geschwistern oder Halbgeschwistern nicht mehr auszuschließen. Ein Aufstand der Väter muss die drohende Verderbnis des Blutes aufgehalten haben. Ich leugne keineswegs einen Trieb auch der Männer, sich heute mit diesem, morgen mit jenem Fleisch zu paaren; er ist natürlich genug, um beiden Geschlechtern gleichermaßen eigen zu sein. Aber während bei den Kindern einer Frau, die mehrere Männer hatte, immer nur die Mutter feststeht, herrscht, wenn ein Mann ohne Nebenbuhler mehrere Frauen hat, bei allen Kindern, die aus diesen Verbindungen hervorgehen, Gewissheit über beide Eltern. Daraus ergibt sich unumstößlich, dass die Führung der Familie wie die des Staates allein Sache der Männer zu sein hat. Schon die Notwendigkeit, dafür Gründe zu bemühen, erweist den Verfall des Gemeinwesens. Dem großen Julius Caesar raubte eine Neigung für die schöne, gebildete und selbstbewusste Servilia immerhin so viel Verstand, dass er mit dem Erstaunen, ihren Sohn Marcus Junius Brutus inmitten der Mörder zu sehen, aus dem Leben schied. Meine Mutter wiederum vermochte es, seinem Erben und Nachfolger die von Natur aus eher zaghaften und täppischen Schritte so unauffällig zu lenken, dass kaum jemand das Lächerliche daran bemerkte.

18 Den ersten Stachel des Ehrgeizes trieb es meiner Mutter Livia Drusilla ins Herz, dass sie, von Geblüt, wie sie gern hervorhob, eine stolze Claudierin, in das plebejische Geschlecht der Livier geraten war. Die allmähliche Verarmung ihres Vaters, die nur durch diese Adoption abgewendet werden konnte, vergaß sie nie zu erwähnen, wenn sie von der Schande der Senatsherrschaft sprach. Nur ungern gab sie zu, dass durchaus auch echte verwandtschaftliche Beziehungen zu den Liviern bestanden. War dies aber heraus, hob sie desto bissiger hervor, dass ein Volkstribunat und die Vertretung plebejischer Forderungen diese Familie zu Ansehen und Vermögen gebracht habe. Mir blieb die Doppelzüngigkeit lange ein Rätsel, mit der sie den plebejischen Teil ihrer Herkunft, den sie in der Familie und unter Vertrauten nicht erwähnt wissen wollte, öffentlich herausstrich, während sie ihr Patriziertum umgekehrt behandelte. Die Spur ihrer mütterlichen Vorfahren gar, der Alfidier, verliert sich in dem unbedeutenden Flecken Fundi, zwischen den unwegsamen Bergen der Aurunker gelegen. Allmählich lernte ich sowohl die leutselige Volksfreundlichkeit der neuen, sich auf Caesar berufenden Herrschaft als auch den Patrizierdünkel ihrer Träger als ein Gaukelspiel gleich der Religion nehmen, das so weit gehen kann, dass selbst die Gaukler glauben, dass sie glauben. Und ich begriff, dass allein den Sternen zu trauen sei. Ihr hochfahrendes, zu Herrschsucht neigendes Wesen verdankt meine Mutter denn auch dem Sternbild, unter dem sie am vorletzten Tag des Januar geboren wurde: dem Wassermann.

19 Von meinem Vater Tiberius Claudius Nero weiß ich wenig. Seine Lebensgeschichte liegt vor meiner Geburt und weist nur wenig über sie hinaus. Er irrte glücklos umher zwischen den Männern, die damals mit wechselndem Erfolg versuchten, den Staat in ihre Hand zu bekommen, diente dem Diktator Julius Caesar, verwandte sich aber nach den Iden des März sogleich für eine Belohnung seiner Mörder. Die aktenkundige Senatsrede brachte ihm Ächtung und Verfolgung durch die Triumvirn Antonius, Octavian und Lepidus ein, die ihn auf die Proskriptionsliste setzten. Anders als der Vater meiner Mutter, der in unerschütterlicher Treue die Senatsherrschaft verfocht und sich nach dem Sieg der Triumvirn bei Philippi, im Jahr meiner Geburt, in sein Schwert stürzte, suchte mein Vater, im selben Jahr Prätor, Zeit zu gewinnen, indem er floh. Er wechselte seine Überzeugung, schlich sich zurück in das Vertrauen derer, die ihm nachgestellt hatten. Kaum waren ihm Vergebung und Ausgleich gewährt worden, musste er die Früchte seiner Mühen gleichsam als ungenießbar stehenlassen. Denn Marcus Antonius, dessen Faustkämpferprofil als kostbare Gemme in unserem Familienbesitz das seiner zahllosen Münzen überdauerte, überwarf sich gleich darauf zum ersten Mal mit Octavian. Abermals war Flucht geboten. Dieses böse Zusammentreffen von Wankelmut und Missgeschick trug ihm wohl die stille und folgenreiche Verachtung meiner Mutter ein, die ihm, noch keine sechzehn Jahre alt, mitten im Bürgerkrieg, Caesars Blut war erst anderthalb Jahre trocken, ohne Liebe, nur auf Beschluss der Eltern, zur Ehefrau gegeben worden war. Ich erinnere mich eines ältlichen, untersetzten Mannes, den meine Mutter, sich sehr gerade haltend, um eine Spanne überragte. Nach außen wirkte er ruhig. Doch seine Augen hatten den verstörten, verängstigten Ausdruck eines zu lange Gejagten, der bereit ist, alles herzugeben, was man ihm abverlangt, nur um an Leib und Leben verschont zu bleiben.

20 Für die Frau, als die ich meine Mutter gekannt habe, war es gewiss keine geringe Zumutung, einem solchen Mann in so frühem Alter ihre Jungfräulichkeit zu opfern. Außer einer der Ehe eigentlich widerratenden Verwandtschaft verband die beiden nichts als das Geld ihrer Eltern. Es wäre zu verstehen, wenn sie aus der Brautnacht einen Hass gegen ihren Gatten davontrug. Aber man kann nur hassen, was man auch liebt oder geliebt hat, und so hörte ich sie allenfalls herablassend, nie verächtlich über meinen Vater reden. Sie ließ ihn, wie ich von ihr erfuhr, erst lange nach ihrem sechzehnten Geburtstag, im beginnenden Frühjahr, zu sich, und es versöhnte sie mit ihrem Schicksal, dass sogleich ein Junge aus der Vereinigung hervorging, der ihr ähnlich wurde und den ihr heiligen Namen der Claudier mit ihren Gaben weiterzuführen versprach. Dass ich ihn wieder zu Glanz und Würden bringen könne, bezweifelte sie erst nach der Geburt meines Bruders, dem sie aus mir nur erahnbaren Gründen sogleich mehr Liebe zuwendete, so dass er in den Augen aller der angenehmere Mensch wurde. Aber davon später.

21 Nicht nur um meiner selbst willen habe ich jegliche Sterndeuterei ohne behördliche Zeugen verboten. Dieser Schutz gebührt jedem freigeborenen Römer. Die allgemeine Kenntnis meines Geburtstages habe ich immer als Bedrohung empfunden. Lange konnte jeder mein Horoskop stellen lassen, meine Pläne vorausberechnen, meine Erfolge mit abwartender Geduld hinnehmen, Missgeschicke aber zu meinem Nachteil ausweiten. Ich erlaube niemandem, sein Netz über ein anderes Schicksal zu spinnen. Besonders was die Person des Kaisers betrifft, halte ich es für unzulässig, durch Kenntnis seines Horoskops den Vorteil, den ihm die Sterne zumessen, zu schmälern oder die Kräfte seines Unsterns zu mehren. Daher erteilte ich ausschließlich meinem Astrologen Thrasyllos Befugnis, mich betreffende Konstellationen zu berechnen, und seit er gestorben ist, tue ich es allein. Und so werde ich auch hier den verschiedenen Geburtsdaten, die ich im Lauf der Jahre über mich in Umlauf bringen ließ, eher neue hinzufügen als den wahren Tag, die wahre Stunde meiner Geburt zu nennen, und ob ich auf dem Palatin, in dem Aurunkernest Fundi bei meinen mütterlichen Großeltern oder auf dem Caeliushügel geboren bin, brauchst auch du, Bürger eines fernen Zeitalters, nicht mehr zu erfahren.

22 Dass meiner Mutter ein anderer Mann wichtiger wurde als mein Vater, dass dieser andere zuvor das Haupt unserer Verfolger gewesen, gehört zu den ersten schlimmen Entdeckungen, die sich meinem kindlichen Gedächtnis einprägten. Die Vorstellungen von Gut und Schlecht, mit denen ein Kind erzogen wird, ließen sich davon mannigfach in die Irre führen, und es fiele mir schwer, zu unterscheiden, was ich damals darüber gehört, was ich tatsächlich gedacht habe. Von den Wechselfällen unserer Reise nach Sizilien und Achaia, als mein Vater vor den Häschern des Octavian fliehen musste, weiß ich nur, was meine Mutter mir immer wieder heiter begütigend erzählte, als der Triumvir in unserem Haus bereits ein und aus ging. So erinnerte sie mich, da ich als Kind gern zum feuchten, wärmenden Schutz der Tränen meine Zuflucht nahm, oft mit warnendem Vorwurf daran, dass man damit seine Lage unter Umständen verschlimmert. Denn noch in Windeln, an die Brust einer Amme gepresst, hatte ich im Hafen von Neapel, als wir uns nachts heimlich auf ein Schiff begaben, mit meinem Heulen und Wimmern zweimal die Verfolger auf unsere Fersen gelockt. Auf die Hast der Fluchthelfer verweisend, riet sie mir angelegentlich, immer zu prüfen, in wessen Hände man sich wirft, wenn man in Not gerät. Sie trieben, unter sich einen Verräter argwöhnend, sehr zur Eile und entrissen mich erst den Armen der Amme, die wegen ihrer Leibesfülle nicht nachkam, dann aber auch meiner Mutter, weil sie mit der Last, an der ihr Herz hing, auf dem ungewohnt schmalen Schiffssteg fehlzutreten drohte.

23 In Perusia, woher wir kamen, hatte mein Vater mit Lucius Antonius, dem Bruder des Triumvirn, lange den Belagerungstruppen Octavians standgehalten. Nach dem Fall der Stadt hoffte er nun als Mann von prätorischem Rang, der aus mir unerklärlichen Gründen auf eine Wiederherstellung der Senatsherrschaft setzte, auf Sizilien bei Sextus Pompejus, dem Sohn des Großen Pompejus, Aufgaben und Zuflucht für Frau und Kind zu finden. Er glaubte wohl das Triumvirat durch seinen Zerfall so geschwächt, dass er es diesem Patrizierfreund zutraute, von Sizilien aus, das für die Getreideversorgung Roms noch unersetzlich war, den Senat und alle Magistrate in ihre alten republikanischen Rechte wieder einzusetzen. Doch er fand nicht vor, was er sich erträumt hatte. Der Kleine Pompejus mit seiner verwahrlosten Flotte empfing uns zwar sehr gastlich, und seine Schwester, die mich als Säugling entzückend gefunden haben soll, verehrte mir das Halskettchen mit der goldenen Kapsel, das bis zu meiner Volljährigkeit die Geheimnisse meines Glückes hegte. Aber unter dem Gelichter, das Tag um Tag die Abgaben der sizilischen Bauern verjubelte, ohne ernsthafte Vorbereitungen für den ausgerufenen Freiheitskrieg zu treffen, den sie allabendlich beim Wein besangen, das allenfalls Handelsschiffe enterte und ausraubte, sah ein Verehrer der Gerichtssäle wie mein Vater keine Zukunft. Ich höre ihn noch höhnisch seine Befriedigung, inzwischen war ich sechs Jahre alt, über die Vernichtung des anmaßenden Piratenpacks kundtun, als in Rom die Nachricht von der Schlacht bei Mylae eintraf, und den jungen Sieger loben, der ihm die Frau entführt hatte.

24 Ob ich das rußgeschwärzte, von den gekräuselten Fransen versengter Haare entstellte Gesicht meiner Mutter nach dem Waldbrand selbst gesehen oder mir nur bei wiederholtem Erzählen so lebhaft vorgestellt habe, dass ich es schließlich gesehen zu haben glaubte, kann ich ebenfalls nicht mehr sagen. Eingeprägt hat es sich mir, weil ich es herbeirief, wenn ich mir in kindlichem Groll meine Mutter als Abgestrafte vorstellen wollte. Dazu fühlte ich mich veranlasst, sooft sie nach den kurzen Besuchen, die sie mir abstattete, als sie sich von meinem Vater getrennt hatte, gerade zu dem Mann zurückkehrte, vor dem wir damals übers Meer nach Achaia weitergeflüchtet waren. Mein Vater hatte es vorgezogen, zu Marcus Antonius selbst zu stoßen, der sich seiner als des Verteidigers von Perusia erinnern musste. Dies lag umso näher, als sich die Spartaner, nachdem sie vor mehreren Menschenaltern von Rom unterworfen worden waren, ausdrücklich unter den Schutz der Claudier gestellt hatten. Der Flüchtling konnte seine Selbstachtung wiederherstellen, indem er sich als Schirmherr eines voreinst kriegerischen Volkes zeigte. Ich soll dort, kaum dass ich selbst laufen konnte, einer ehrfürchtig zusammengeströmten Menge als der künftige Vertreter ihrer Belange im römischen Senat vorgeführt worden sein. Nachdem ich Kunst und Gelehrsamkeit der vielbespöttelten Griechlein schätzengelernt habe, rechne ich es mir nicht wenig zur Ehre an, dass sie sich gewissermaßen schon damals unter meinen Genius begaben. Die Jahre, die ich später bei ihnen auf Rhodos verbrachte, zähle ich noch heute zu meinen glücklichsten, und meine kaiserliche Gunst soll sie, die nahe daran waren, ein Volk von Bettlern zu werden, nicht täuschen. Denn der Verlust der Zukunft, sollten ihn unsere Sterne nicht mehr abwenden können, beträfe alle gleichermaßen, den Letzten wie den Ersten.

25 Indessen kam meinem Vater der Frieden von Brundisium zu Hilfe, der die Erben Caesars einstweilen miteinander aussöhnte und das Triumvirat wiederherstellte. Im Grunde aber war es nicht mehr richtig, von den Drei Männern zu sprechen, denn nur Octavian und Antonius verhandelten noch. Lepidus sah sich nach Africa abgedrängt und hielt zu allem still, bis er kaltgestellt wurde und ihm die Soldaten davonliefen, und das war sein Glück, denn es ersparte ihm die Versuchung zum Widerstand. Er beschloss seine Tage als Oberster Priester in Rom. Sich zu ihm zu schlagen, hat mein Vater nie erwogen. Sie waren einander zu ähnlich. Mein Vater war keine Spielernatur; er ließ sich mitspielen. Man sagte später gewiss nicht ganz zu Unrecht über ihn: Wäre ihm nicht die Frau fortgelaufen, so hätte er seinen Kopf verloren. Denn bald erwies sich auch Marcus Antonius als Inbegriff des feindlichen Lagers, und ohne die Leidenschaft, die Octavian für meine Mutter entwickelte, wäre es ihm bei aller Nachgiebigkeit übel ergangen, als sich die beiden Machthaber endgültig entzweiten.

26 Ich war etwa zwei Jahre alt, als wir nach Rom zurückkehrten und unser Stadthaus auf der Straße Zum Hinkenden Gallier wieder bezogen. Als vor einem Jahrzehnt der ganze Caeliushügel, den sie entlangführt, abbrannte und ich allen Betroffenen den Verlust ihrer Häuser aus eigenen Mitteln ersetzte, brachte man mir eins meiner Standbilder, das die Feuersbrunst angeblich unversehrt überstanden hatte. Der Einfall beeindruckte mich wenig, sollte doch, wie ich mich erinnerte, vor Zeiten im selben Stadtteil schon die Statue einer Claudierin gleich zwei Brände unbeschadet überstanden haben, und das Ansinnen, den Caelius zu einem den Claudiern heiligen Berg zu erklären, wies ich zurück. Die Straße, die dem Palatinischen Hügel gegenüber, unweit der Appischen Wasserleitung, großzügige Stadtvillen und ihre Parks aneinanderreiht, soll ihren Namen nach der Heimsuchung Roms durch die Horden des Brennus erhalten haben, als dort einer der Gallier, dem im Getümmel eine Beinsehne durchgetrennt worden war, so dass er seinen abziehenden Landsleuten nicht folgen konnte, von den damals noch ländlichen Anwohnern gesund gepflegt wurde. Über den Fremdling, der blieb, unsere Sprache lernte, eine Freigelassene heiratete und als angesehener Viehzüchter starb, habe ich als Kind manche Geschichte erzählen hören. Verhaltene Angst vor dem halbwilden Feind mischte sich darin stets mit wohlwollendem Spott über die nicht im Angriff, sondern auf der Flucht empfangene Verwundung, die den Räuber an der Heimkehr in seine nördlichen Wälder hinderte und einen braven Ackerbürger aus ihm machte. Sooft ich es während meiner Feldzüge mit gefangenen oder verhandlungsbereiten Barbaren zu tun bekam, dachte ich an diese Fabelgestalt meiner Knabenjahre, die den Namen Tergerix getragen habe soll, was ich für nachträgliche Zutat halte, weil die künstliche gallische Endung kaum darüber hinwegtäuscht, dass da in unserer Sprache auf einen hingewiesen wird, der fliehend den Rücken zeigt. Zu meinem Verdruss erlauschte ich damals auch, dass gewisse Nachbarn meinem Vater, in dem sie ja auch einen langjährigen Flüchtling sahen, den Spitznamen Tergerix anhängten.

27 Aber nicht der rotzottige, sommersprossige, ungeschlachte, stieläugige, außer an Armen und Beinen auch auf Brust und Rücken üppig behaarte Hinkemann Tergerix machte mir Angst, wenn ich im Park spielte, mit meinen Hunden durchs Peristyl tollte, im Atrium Tonfiguren zur Schlacht führte oder den Bahnen der Fische im Wasserbecken nachträumte, sondern ein noch nicht dreißigjähriger Mann, stets soldatisch gekleidet, der mich bei meinem Gruß mit stechend blauen Augen ansah. Ein breiter Oberschädel und heraustretende Kinnladen machten sein Gesicht, das sonst zart wirkte, sehr kantig. Er trug noch, Kennzeichen des Triumvirats, denselben Backenbart wie Antonius, und seine Brauen, viel dunkler als die kurzen Locken des Haupthaars, wuchsen über der Nase zusammen. Die schmalen Lippen presste er nach einer knappen Antwort sofort wieder fest aufeinander. Ob er Stiefel oder Sandalen an den Beinen hatte, die Sohlen waren erhöht, damit seine schmächtige, schmalgliedrige Gestalt größer erschien. Noch ähnelte er mehr einem Halbwüchsigen, der in silbernem Brustharnisch und goldenen Beinschienen den Kriegsgott Mars spielte. Er kam auch noch nicht vom Palatin, wo er später das prächtige Haus des Redners Hortensius zu einem Palast ausbauen ließ, sondern er bewohnte das eher unscheinbare Haus des Redners Calvus in der Stiegengasse der Ringschmiede oberhalb des Forums, die heute so gut wie vergessen ist, weil seiner Bauwut alles weichen musste, was an seine zwielichtigen Anfänge erinnerte.

28 Ehe ich mich widerstrebend daran gewöhnt hatte, dass ich ihn mit dem überall in ängstlicher Ehrfurcht oder ergebener Fassung ausgesprochenen Namen Octavian anreden musste, vor dem wir über Länder und Meere geflohen waren, erfasste ich mit der Wachsamkeit des wehrlosen Kindes, dass seine Besuche meiner Mutter galten. Sie hat mir nie gestanden, wo und wann sie ihm zum ersten Mal von Angesicht begegnet ist, als hätte allein in diesem Augenblick das Unzüchtige ihres Verkehrs bestanden. Dass er anfangs, als sie nur seine eilig gefertigten, noch kunstlosen Porträtbüsten und Standbilder kannte, der Schrecken unserer Familie gewesen war, der die Macht hatte, uns nach Belieben alles zu nehmen, gab ihr wohl die unterwürfige Anmut, die ihn ihre Schönheit bemerken ließ. Aber ich bin auch sicher, dass sie, die keiner echten Unterwerfung fähig war, gefallen wollte, nicht um erobert zu werden, sondern um unter dem Anschein davon zu erobern. Man verwechsle die Verstellung, zu der ich mich eingangs bekannt habe, nicht mit dem Wankelmut meines Vaters; von ihm hätte ich allenfalls lernen können, wie man sich vom Schicksal hereinlegen lässt. Eher bin ich geneigt zu gestehen, dass meine Mutter mir ungeachtet des Hasses, den ich gegen sie noch entwickeln sollte, als Beispiel diente für die Weiblichkeit überhaupt, die ich oft genug dem im Griechischen weiblichen Schicksal allein ebenbürtig fand. Ich spürte sofort die beängstigende Tragweite dieser Besuche, tat aber, wie man es erwartete, als käme ein guter Onkel. Den Zwiespalt zwischen der Befriedigung, dass ich mich fügte, und einem Misstrauen, weil ich so wenig dabei zögerte, hat sich der Erhabene bis zuletzt bewahrt. Darum hat er mich nie vorbehaltlos begünstigt, nie endgültig verdammt.

29 Zu den mütterlich liebevollen, oft auch besorgten Blicken kamen nun jene fremdartigen, die Livia beim Erscheinen des Gastes auf alles richtete, was nicht er war. Spät, sehr spät, erst als ich selbst den Kaiserlorbeer trug, erkannte ich sie wieder in der wollüstigen Angst der Frauen, die mir ohne jede Gewalt ausgeliefert waren und zwischen ihrem Vorteil und ihrer Wonne nicht mehr zu unterscheiden wussten. Ich habe meine Mutter darüber, dass sie die Frau des Augustus wurde, später auch seufzen hören wie über eine lebenslange Vergewaltigung. So wurde es ihr höchstes Ziel, einen ihrer Söhne, die wir beide nicht sein Same waren, zum Kaiser zu machen. Nur darin konnte sie eine Genugtuung finden für all die Demütigungen, unter denen sie sich um manchen so ehrgeizigen wie lüsternen Traum betrogen sah. Anfangs besuchte uns Octavian nur, wenn mein Vater zu Hause war. Immer zog er sofort alle Blicke auf sich, so dass ich keine Erinnerung habe, mit welcher Miene der Hausherr zusah. Er musste inzwischen geübt sein, aus verworrenen Verhältnissen schmerzliche Gewissheiten und erfreuliche Hoffnungen herauszufädeln. Nach etwa einem halben Jahr nahmen Octavians Besuche in Abwesenheit meines Vaters zu. Ich glaube nicht, dass er dem bestürzten Gatten sogleich zweckmäßige Befehle erteilt hatte, und traue meinem Vater auch nicht zu, dass er zu eilfertig selbst das Feld räumte. Noch unter vier Augen müssen die Zusammenkünfte des Mächtigen mit meiner Mutter im Rahmen des Schicklichen geblieben sein. Meine Mutter war zu klug, um zu verkennen, dass die lockende Gewalt der Verweigerung zu den wirksamsten Verführungskünsten zählt.

30