Und als ein Fremdling geblieben - Volker Ebersbach - E-Book

Und als ein Fremdling geblieben E-Book

Volker Ebersbach

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Beschreibung

Eine wichtige Vorbemerkung des Autors vorab: Den Texten ist, mitunter das Zitat streifend, Wortmaterial aus Werk und Briefen der Dichter und aus anderen Zeugnissen ihrer Zeit (Goethe, Lenz, Charlotte von Stein, Novalis, Seume, E.T.A. Hoffmann, Bettina und Achim von Arnim, Heinrich Heine) eingeschmolzen. Damit sind auch schon die Namen jener Dichter genannt, um deren Leben und Werk es geht – zum Beispiel um jenen Jakob Michael Reinhold Lenz, der erst gerade unzertrennlich mit Goethe war und der dann wegen einer von Goethe am 26. November 1776 in seinem Tagebuch erwähnten, aber unkommentiert gelassenen „Eseley“ aus Weimar ausgewiesen wurde und später vereinsamt, verarmt und verbittert 1792 in Moskau starb. Bei Ebersbach heißt es über die Weimarer Zeit unter anderem: Anderntags steht er selber in der Tür, der endlich eingeführte Geheime Legationsrat mit Sitz und Stimme im Geheimen Conseil und zwölftausend Talern. Ist schon Abend? Du Glücklicher! Du lebst wie ein Poet. Hältst dich im Hintergrund. Da bleibt man frei. Wirst nicht von großen und wichtigen Geschäften ausgezehrt. Brauchst dich nicht überall hinzupassen, musst nicht aus allem Vorteil ziehen, zu Dissonanzen Mienen des Beifalls zeigen, dich Halunken angenehm machen, die Schranzen gewinnen, damit sie dir nicht den Herzog stehlen. Du lebst in deinen Fantasien, nicht in der wahren Welt. Lenz lächelt: Die wahre Welt kann ich mir nicht leisten. Goethe schaut ihm besorgt in die Augen: Du kokettierst mit deiner Schwäche! Du lebst dahin, als wartetest du auf ein Wunder. Ich lebe hier wie ein Satyr unter Satyrn. Ich tue, was ich kann, ich schreibe. Und wenn mir was gelingt, ist es das Wunder, auf das ich warte. Oder die Saat, die dem Bauern Ernte bringt, er darf nur warten. Du sprichst wie ein Narr. Ach, du bist zum Narren geboren, Lenzchen, und wenigstens hast du so viel Verstand, es in einer guten Art zu sein. Aber du musst dich auch selber lieben! Die Selbstliebe gibt uns die Kraft zu anderen Tugenden, merke dir das, mein menschenliebiger Don Quichote! Verdreh die Augen, wie du willst. Deine heftigste Leidenschaft noch musst du der Selbstliebe unterordnen, sonst wird sie abgeschmackt und andern lästig! Du darfst dich nicht verkriechen. Man spürt den Bruch zwischen beiden Dichtern, von denen der eine Minister geworden ist. Außerdem befasst sich Ebersbach mit den beiden heute halbvergessenen Schriftstellern Wilhelm von Kügelgen und Jakob Wassermann und dessen historischem Roman „Alexander in Babylon“.

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Impressum

Volker Ebersbach

Und als ein Fremdling geblieben

Erzählungen. Nachrichten

ISBN 978-3-96521-636-5 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 2012 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

VORBEMERKUNG

Den Texten ist, mitunter das Zitat streifend, Wortmaterial aus Werk und Briefen der Dichter und aus anderen Zeugnissen ihrer Zeit (Goethe, Lenz, Charlotte von Stein, Novalis, Seume, E.T.A. Hoffmann, Bettina und Achim von Arnim, Heinrich Heine) eingeschmolzen.

ERZÄHLUNGEN. GEDICHTE

FÜNF ETÜDEN ÜBER EINE ESELEY. Vermutungen über Goethe und Lenz

1. Allegretto

Herzklopfen, Hufgetrappel, Räderrattern. Die Kutsche hüpft. Die Peitsche knallt. Lenz fährt dem Freund entgegen, seinem Bruder, ja, er findet nichts Heikles dabei zu behaupten, er führe mit Goethe eine Ehe. Natürlich eine geistige. Eine Seelengemeinschaft. Die Welt spürts auch: Den anonymen „Hofmeister“ hat mancher dem Dichter des „Götz“ zugeschrieben. Ehrenhafte Täuschung! Aber nein, Lenzchen hats gemacht, der liebe, brave Junge, das Stück ist mein. Bruder Goethe, der Edle! Weimar! Bald deutsches Athen! Hinfort kennt Deutschland nur ein Privileg: In Weimar leben. Lenz reibt sich in fortwährendem Entzücken die Hände, schaut Mitreisenden munter in die Augen, feixt sie an. Lavaters Physiognomien sind im Schwange. Gern würde er diese Physiognomien necken. Aber er richtet an niemanden ein Wort. Er hat ein fröhliches Geheimnis. Mitwisser könnten es ihm verderben: Er ist der glücklichste Mensch auf der Welt.

Lenz schneidet Gesichter. Wenn ich nicht die Hölle im Herzen trüge! Er ist glücklos; der unseligste und verlorenste Mensch auf der Welt. Dem Tod geweiht. Er hört wie im Fieber die unangenehmen Fragen des Geheimen Rats Berg in seinem Stück, Vaters Stimme: Was soll dein Sohn werden, das sag mir einmal? Der Wonne folgt Schrecken, süße Fantasien fallen in Albtraumabgründe. Waren das eben Freudentränen? Das Bübchen flennt! Seine Gedanken springen. Wie will er sich über seinen Bruder freuen, wenn ihn schon wieder ein Weib im Stich lässt? Was wären wir ohne die Weiber! Ein Bruderwort aus Straßburg. Sein Herz ist ein Rattennest; eine Schmach heckt die andere. Verflucht die Göttin, die einen Esel heiratet! Henriette Waldner von Freudenstein eine Baronin Oberkirch! Da lächerts den Olymp. Pfui! Wie kann das sein, dass es eine Göttin nach dem Eselsschwengel verlangt. Ein böser Zauber hat eine Eselin aus ihr gemacht. Plage, Qual, Galle und Ekel!

Das Städtchen scheint auf im Abendlicht, als käme die Kutsche aus dem Höllenfeuer. Was ist das für ein steil Gebirg mit so vielen Zugängen? Ein PANDÄMONIUM GERMANICUM, Bruder Goethe! Es ist mir, als ob ich meine ganze Reise, schon von Kurland her, gemacht, um dich zu finden. Ein kalter Schauer wie der letzte Vorhang im Trauerspiel. Das abgebrannte Schloss ein böses Omen.

Ruinen haben etwas Tröstliches: Es ist vorbei und ausgestanden. Heldische Agonie nach vergeblichem Bemühen. Leistet der brave, bescheidene Junge nichts, so hat er doch groß geahndet.

Wie fatal: Im ERBPRINZEN sagt man, Herr Goethe sei nicht in der Stadt. Tausend Schwerenot! Ihm ist nach einer Flegelei im Ton des GÖTZ. Der Donner und das Wetter, wie ist die Suppe heiß! Das ist mein Ungestüm, dass ich mir immer das Zarteste an mir verbrenne. Jetzt ist es nur die Zunge. Was anderes sieht auch so rosig aus. Nein, ihr Affengesichter, nicht das Herz. Das ist verdorrt und ausgebrannt wie das Schloss des Herzogs. Das taugt zum Soldaten, für ein Offizierspatent. Ein Herzog, der dem Genie die Schatulle öffnet, hätte am Ende Verstands genug zu begreifen, welchen Vorteil ihm Soldatenehen bringen. Soldatentreue im Bett geschmiedet. Soldaten sollen Soldaten machen. Ich seh sie immer gern, wenn sie strammstehn. Aber im Ganzen bin ich unkriegerisch und bitte mir nur aus zu Gnaden, mich nicht in das Geschütz zu laden!

Im Haus Wieland sind alle krank. Dass mir auch ja alle Exemplare der WOLKEN vernichtet sind und Herder reinen Mund hält. So glimpflich wie bei Goethes GÖTTER, HELDEN UND WIELAND gehts mit der Flegelei kein zweites Mal. Schritte. Türenschlagen. Gerede. Hundegebell. Hufgetrappel. Räderknarren. Wie, wenn ich einfach weiterreiste? Nach Amerika?

Am Gründonnerstag kommt Goethe aus Leipzig. Was ihn nur immer wieder an die Orte seines Luderlebens zieht. Wortlos und brüderlich liegt man einander in den Armen.

Nenn dich nur dreist Poet, wenn wir morgen beim Herzog sind, aber nicht Ein Kranich lahm! Und nicht Auf einem Bein! Das hat kein PLACET, das gefällt nicht! Und bitte durchaus um keinerlei Erlaubnis. Und lass das mit den Soldaten! Das ist albern, das passt sich nicht für dich.

Aber Bruder! Poet bist doch schon du! Höfling, scheint mir, auch.

Den Höfling spiel ich nur. Spiel du ihn auch. Lass dich von dem vertraulichen, nachlässig hingeworfenen Ton nicht täuschen, ich hab ihn eingeführt. Aber man denkt nicht so. Man sagt einander Du. Aber man denkt nicht Du. Lenz! Die Reise nach Weimar statt nach Italien hat mich schon oft genug gereut. Aber ich kann nicht zurück, es ginge ins Nichts!

Lenz will eine Nachricht, die ihn selber kränkt, nicht lange zurückhalten: Boie bringt Goethes Erwiderung nicht, eine Erwiderung auf die Persiflage, mit der Nicolai den WERTHER lächerlich gemacht.

Goethe schluckt das säuerlich, gleich wird es aus ihm sauer wieder herauskommen. Immer schon sprach man den Überbringer übler Nachricht schuldig. Aber Goethe schweigt, hält seine Schulter, drückt sie, sagt: Was geht mich das noch an!

Karfreitag stundenlang bei Hofe. Die Scharrfüße wollen nicht ganz gelingen. Goethe, der sie beherrscht, flüstert: Du brauchst nur zu sein, wie du bist; das ist jetzt hier Politik. Carl August lächelt jovial. Rotwangig, kurzlippig, blauäugig schwimmenden Blickes. Ohne ein Gläschen danach ist Christi Kreuzigung nicht zu ertragen. Das ist der wahre Priestersegen. Ein anderes gilt dem Rheumatismus und dem Gliederreißen, Leiden, die einen verwegenen Jäger früh ereilen. Man ist noch voller Anekdoten über Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau und die Sauhatz zwischen Elbe und Mulde bei Wörlitz. Solch ein Park sollte das Holz an der Ilm werden, wo Bertuch das schöne Haus hat, in dem ich zu gern wohnen würde, sagt Goethe. Ich werds ihm wegnehmen müssen, bemerkt der Fürst, du gibst sonst keine Ruhe.

Auch im Haus von Stein machen sie ihre Aufwartung. Goethe tut, wenn sie unter vier Augen schwatzen, auf den Gassen, in Torgewölben, alles, zu zeigen, wie wenig Wert er legt auf das, was Lenz bestaunt. Man geht hin oder nicht hin, man spielt Karten, schaut einander Viertelstunden lang in die Augen, reibt Knie an Knie. So schriebst dus doch selbst in unserm Tagebuch! Lenz! Ich bastle an Notlügen, um mich dem so oft als möglich zu entziehen. Du gierst doch nicht etwa danach?

Nein, diese von Seckendorff, von Knebel, von Kalb, von Einsiedel! Kriegst du nicht auch bald ein VON angeheftet?

Kröten und Basilisken! seufzt Goethe. Scheißkerle, die auf dem Fasse sitzen.

Aber die von Stein ist eine Göttin, nicht? Die großen schwarzen Augen, wie sie dich anschaut! Die schwarzen Lockenketten. Du bist reich! Auch reich an Ansehen, reich an Einfluss!

Lenz, was heißt das! Geld kannst du von mir haben. Aber wenn du anderes verlangst – wenn ich auch nur das Geringste davon abgebe, verlier ich alles!

In Goethes Wohnung am Burgplatz hört Lenz sich, kaum ist der Diener Philipp Seidel zur Tür hinaus, harsch zurechtgewiesen: Lenz, ums Himmels willen, sag keinem, dass du arm bist! Keine Bittgebärde, schon gar nicht ironisch. Man wird dich meiden! Sag, du seist wohlhabend, so wird man dir noch etwas geben. Wer hat, du weißt, dem wird gegeben. Du musst dich groß zeigen! Spiele, was du gern wärst, trumpfe auf! Erfinde dein Glück! Mit einem Unbekannten, der sich klein macht, wäre er noch so begabt, können sich Herrschaften nicht schmücken.

Lenz sieht Goethe aus großen blauen Augen schweigend an. Lenz schneidet ein Gesicht. Goethe schneidet Lenz eine Feder. Hier, schreib einen Dank!

Wie schnell, Seelenbruder, hast du gelernt, eitles Geschwätz mitanzuhören, selbst eitel zu schwätzen! Wie leicht machst du jetzt Moden mit, die wir gemeinsam verspotteten. Lenz springt auf, geht eilig zur Tür, als fliehe er vor den eignen Worten.

Lenz, die Zeiten haben sich gewendet, die Geniezeit ist vorbei!

Die Tür knallt ins Schloss.

2. Andantino

Goethe ritt nie so gut wie dieses letzte halbe Jahr. Nie saß er so fest im Sattel. Freilich, mit dem Herzog kann man sich den Hals brechen. Deutschlands Geister, von ihren Weimarer Spitzeln mit Berichten wohlversorgt, entgeistern sich: Klopstock, Voß, Boie, Bürger, Bodmer. Affengesichter! Mit solchen Briefen möge man uns verschonen! Die Lustbarkeiten und Tollheiten, das Peitscheknallen mitzumachen, ist die reine Diplomatie. Eine politische Tat. Man muss den Herzog so allmählich gewinnen für das Gute, das er wird stiften können. Dann bleibt noch Zeit genug, mit Wieland einen Philisterorden zu stiften. Von Fritsch mag nicht mehr im selben Kabinett mit einem sitzen? Das Ultimatum eines Intriganten. Carl August hat ihn, leider nur schlecht ausgedrückt, das Nötige wissen lassen: Einen Mann von Genie soll man nicht missbrauchen. Ich gehe weiter: Die Natur hat es zu wenigen einzelnen Wesen ihres Ideals bringen können; diese waren ihr Zweck, und in diese Gattung gehören wir Poeten und Philosophen, von denen sie sichs eigentlich noch recht vorsagen lässt, was sie gemacht hat; das übrige ist Gewürme, das unbemerkt zertreten wird.

Goethe reitet gemächlich. So reitet ein Liebling der Götter. Herr von Kalb beobachtet ihn. Am Ziel wird sich der Reiter brauchbar zeigen für die bedeutenden Stellen, die er in Aussicht hat. Es geht nach Ilmenau, aber die Gegend ist wie die um Kochberg. Es war ein Fehler, Charlotte unlängst derart heftig zu verlassen. Die von Stein ist das Muster aller Frauen. Ihre Liebe ist der Maßstab allen Schicksals. War das schon Eifersucht, weil Lenz sie neugierig gemacht? Das Bübchen weiß sich einzuschmeicheln! Englisch will sie von ihm lernen. Eines der herrlichsten Geschöpfe auf Gottes Erdboden hat er sie genannt!

Der erste Frühling im Thüringischen. Wieland hat sich zum zweiten Mal verjüngt, seit Lenz da ist. Ei die klaren, weit offenen, ei die seelenvollen Augen! Das knabenkecke Stumpfnäschen! Ganz hingerissen und verzaubert hat ihn der kleine, bescheidene Junge mit dem lebhaften Geist: Traun! Der Kerl ist ‘n Genie und hat bloß für Genies, wie er ist, geschrieben, wiewohl Genies solches nicht nötig haben. So stehts im Teutschen Merkur. So kann man, was einer schreibt, auch überflüssig nennen. Nun, wenn wir Brüder sind, hat Wieland noch einen Sohn, noch einen wunderbaren Knaben. Lenz ist schließlich Geist von meinem Geist. Ich habe ihm die Schwärmerei erst eingeblasen, und wenn er einer Wahnidee nachbrütet, erkenne ich das Monstrum, das ich selbst gezeugt. Ihm wollt ich meine literarische Laufbahn getrost überlassen. Und Bertuch, der die Schatulle des Herzogs führt, trägt in die Rubrik für deutsche Genies noch ein paar Strümpfe, Hosen, Westen, Schuhe ein. Ein Adonis, der einer Göttin Eindruck machen könnte. Aber der störrische Narr in ihm, der Starrkopf, so verwildert und unerzogen weiter zu taumeln, wie er kam, bringt ihn um allen Respekt. Und mich am Ende auch. Der Herzog lässt ihm die tölpelhaften Zutraulichkeiten durchgehen, weil sie ihn belustigen, das alberne Du, das Gläserklirren, auch wenn das erhobene Glas einem andern galt. Der Herzog lacht aus Großmut, aber die andern belachen den Hofnarren und verbergen damit Grimm und Verdruss. Ein bal paré ist kein bal en masque! Im Domino zu erscheinen, wie ein Harlekin, ein Hanswurst, und unvorgestellt ein adliges Fräulein aufzufordern, das dann empört gackert. Man lacht, aber man lacht sich in ein Fieber, weil man spürt: Die Eseley ist nicht geheuer. Er selber lacht fortwährend Tränen. Das liegt am Ende schwer auf einem. Der Adel wünscht ihm ja den Kopf vor die Füße.

Was will er eigentlich in Weimar? Warum geht er nicht nach Dessau, ans Philanthropin, wohin ihn Basedow gerufen hat? Vom Hofmeister zum Schulmeister, das ist freilich keine Laufbahn. Aber ich bin hier nicht als Schmarotzer, ich hätte genug, auch ohne Gehalt in Weimar zu leben. Ach Lenz, du machst mir Sorgen, du kindhafter, liebenswert verwirrter Träumer! Manchmal an deine Größe glaubend, manchmal an deiner Unzulänglichkeit verzweifelnd, von Künstlerneid zerfressen. Lenz ist ein Mensch, der sein Verhängnis sucht. Seine stieren Augen, sein entzündetes Blut. Oh! Es ist mein Wahnsinn! Mein Wahnsinn bricht an ihm aus!

3. Adagietto

Lenz geht aufs Land, weil er bei denen nichts tun kann. Bei den geschniegelten Barbaren. Einsamkeit aus Trotz. Sich Bedenkzeit nehmen heißt auch: Bedenkzeit geben. Waldbruder auf Abruf. Die Sezession der Plebejer auf den Heiligen Berg hat ihre Wirkung auch nicht verfehlt. Wo ist der Künstlerfreund, dem ich noch unbefangen vorläse und dessen Arbeit mir gefiele? Dichter sind kein Umgang für einen Dichter. Wie könnte ich wohl dem gefallen, der nichts im Sinn hat, als selber zu gefallen? Der hat es geschafft, und ich habe es eben nicht geschafft. Aber wir waren einander ebenbürtig! Was bringt Zwillinge auseinander? Tantalus und die Olympier! Ich würde mich ja gern bescheiden, wenn ich nur wüsste, womit. Mich kotzt euer Reichtum an! Er redet ehrfurchtslos, und sie verspotten ihn. Eure Armut kotzt uns an! sagt Apoll mit braunen Goetheaugen, der Sänger, der den Satyr Marsyas schinden durfte. Ich bin ein dionysischer Mensch, der sich dazu hat überreden lassen, Apollo zu bewundern. Also geh ich aufs Land, zu Pan und seinem bocksfüßigen Völkchen, weil ich bei euch nichts tun kann, bei euch geschniegelten Barbaren.

Berka. Der Juni geht zu Ende. Atemwende des Jahres. Bis jetzt hat die Natur eingeatmet. Nun atmet sie aus. Labsal für einen gespannten Menschen. Manche nennen ihn überspannt. Aus den Buchenforsten ruft der Pirol: Pierrot! Pierrot, unehrerbietig, aber schüchtern. Ernste, traurige Gesichter schneidet Lenz und macht sich damit lächerlich. Schön, wenn sie lachen können, und sei‘s durch mich. Aber es scheint, dass sie nicht wollen. Seh ich die Adamskinder hier, den engen Kreis ihrer Ideen, ihre ewig einförmigen Geschäfte und die Gewissheit und Sicherheit ihrer Freuden, wird mir das Herz enge, und ich verwünsche die Stunde, die mich nicht als Bauern geboren hat. Mich ausschütten in eine Bauerndirne, uff!

Lenz geht in den Abend. Die Farben des Lichts vervielfältigen sich. Die Nässe nach einem Regen atmet herbe Gerüche und Mittsommernebel, als vertauschten sich die Jahreszeiten. Wie lebt ein Waldbruder spät im Herbst oder im Winter? Welch wunderbar-romantische Stimmung! Lenz kehrt um, weil er die Landschaft nicht durch Weiterwandern entzaubern will.

Aber auch, weil es dunkelt. Im Heu entdeckt er Magd und Knecht, Nymphe und Satyr, im selben Fleiße. Nachts liegt er lange wach, schweißgebadet und mit jagendem Herzen. Mücken sirren. Das Holz arbeitet, atmet auch aus und ein. Was hilft das Schreiben! Was Planen! Was Buhlen! Nichts wird gebraucht. Alles ein einziges Misslingen. Tief innen ein Geheul: Ich kann nichts, weiß nichts, bin nichts, werde nichts. Übelkeit und Erbrechen machen ihn müde. Beim Erwachen weiß er, wo er ist, aber nicht, welchen Tag man hat. In der Tür Goethes Diener Philipp Seidel: Er sieht ihn durch Tränenschleier und sehr fern. Im Korb Kleidung, Bücher und Zitronen. Goethe hat Mitleid. Mitleid ist auch Spott. Ihm ist kein Leiden begreiflich zu machen. Kraft seines Amtes hat er verboten, die Soldatenvorlage einzureichen. Lenz, ums Himmels willen, das solltest du verbrennen. Lenz findet das auch, er ist ja Dichter. Aber was er dichtet, ist das nicht mitgemeint? Ich erwarte nicht zu viel für mich, sondern zu viel von mir. Lauter Fantasien waren die letzten Tage. Ich kann die unerheblichste Kleinigkeit der wirklichen Welt kaum an den rechten Ort legen, geschweige denn ein geniales Wort ans andere fügen. Es ist alles so schwer, dass einem das Gelingen einfachster Verrichtungen wie ein kaum noch erhoffter Erfolg erscheint. Gruß und Dank. Schritte unten, Türenschlagen, Hundegebell, Gelächter, Räderknarren. Ins Schilpen der Spatzen schlägt die Dorfkirchenglocke. Einsamkeit. Tief innen ein Wolfsgeheul.

Anderntags steht er selber in der Tür, der endlich eingeführte Geheime Legationsrat mit Sitz und Stimme im Geheimen Conseil und zwölftausend Talern. Ist schon Abend?

Du Glücklicher! Du lebst wie ein Poet. Hältst dich im Hintergrund. Da bleibt man frei. Wirst nicht von großen und wichtigen Geschäften ausgezehrt. Brauchst dich nicht überall hinzupassen, musst nicht aus allem Vorteil ziehen, zu Dissonanzen Mienen des Beifalls zeigen, dich Halunken angenehm machen, die Schranzen gewinnen, damit sie dir nicht den Herzog stehlen. Du lebst in deinen Fantasien, nicht in der wahren Welt.

Lenz lächelt: Die wahre Welt kann ich mir nicht leisten.

Goethe schaut ihm besorgt in die Augen: Du kokettierst mit deiner Schwäche! Du lebst dahin, als wartetest du auf ein Wunder.

Ich lebe hier wie ein Satyr unter Satyrn. Ich tue, was ich kann, ich schreibe. Und wenn mir was gelingt, ist es das Wunder, auf das ich warte. Oder die Saat, die dem Bauern Ernte bringt, er darf nur warten.

Du sprichst wie ein Narr. Ach, du bist zum Narren geboren, Lenzchen, und wenigstens hast du so viel Verstand, es in einer guten Art zu sein. Aber du musst dich auch selber lieben! Die Selbstliebe gibt uns die Kraft zu anderen Tugenden, merke dir das, mein menschenliebiger Don Quichote! Verdreh die Augen, wie du willst. Deine heftigste Leidenschaft noch musst du der Selbstliebe unterordnen, sonst wird sie abgeschmackt und andern lästig! Du darfst dich nicht verkriechen. Der Ruhm läuft keinem hinterher.

Ruhm wäre mir lästig.

Ruhmlosigkeit ist für den Dichter tödlich.

Lenz schweigt. Lenz schneidet Gesichter. Goethe schneidet ihm eine Feder. Lenz! Oder wärest du einer von den gefährlichen Narren, die, wie Shakespeare sagt, für ihre Narrheit immer eine Entschuldigung wissen und folglich unheilbar sind.

Schweigen.

Lenz, du dauerst mich.

Lenz schweigt.

Lenz, lass uns ein Stück gehen, ein Stück reiten.

Stille.

Deine Zeichnungen, Lenz, sind brav. Fahre nur fort, wie du kannst.

Lenz schweigt.

Leb wohl, Lenz, und arbeite dich aus, wie du kannst und magst.

Lenz ruft ihm nach: Manch einer hängt am Leben wie mit dem Strick am Baum!

Teufel! Was ist der Wein heut wieder schlecht!

4. Moderato

Wie lang ist es her, dass ich mit Freuden erwacht bin!

Überm Frühstück beantwortet Lenz so Charlotte von Steins Frage nach dem Befinden. Lenz ist kein Goethe, das hat sie gleich gewusst. Aber sie wollte ihn auf Schloss Kochberg haben. Weimar soll sich nicht mehr die Mäuler zerreißen. Ein anderer Dichter zu Gast – das heißt, Goethe war auch immer nur als Dichter da. Und sie will ihn ohne Goethe, auch wenn‘s den bitter kränkt: Ich schick Ihnen Lenzen. – Sie werden das kleine wunderliche Ding sehen. – Sie haben also das kleine Ungeheuer bei sich. Und: Ich verbitte mir alle Nachricht von Ihnen oder Lenz!

Im August in Ilmenau, in Manebach, am Hermannstein und zu seinem Geburtstag haben sie über das kranke Kind gesprochen, das sie in Weimar wiegen und tänzeln, dem sie vom Spielzeug geben, was es will. Sie spielen mit ihm und wissen‘s nicht! Nun schickt der Grausame aus Dornburg ein paar Zeichnungen und ein wehleidiges Gedicht. Nirgends geborgen! Charlotte kennt seine Art, sobald sie ihm die Vertraulichkeiten verweist, die ihr ein Weilchen schmeichelten, den Kopf in ihren Schoß zu werfen wie in Mutters Schürze. Lenz würde dasselbe tun, wenn sie ihm nicht alle Augenblicke die Schranken des Respekts zu spüren gäbe. Sie wollten Brüder sein. Ungleiche Brüder! Goethes brauner Blick ist licht wie Sonnen. Um Lenz herrscht trotz der weiten und hellen Augen immer Dämmerung.

Kommen Sie, Lenz, in den blauen Salon! Shakespeare wartet. Ihr Englisch ist weit besser als Goethes, und mit Ihnen lernt sich‘s leichter! Sie sind, wenn Sie mir eine Stelle auslegen, in Ihren Ausdrücken immer so romantisch.

Lenz saugt die Gegenwart der schönen, trotz mehrerer Geburten schlanken Frau, die ihn jeden Morgen aus einer Art Schlafsucht reißt, mit jedem Atemzug sich in die Seele. Aus ihren Hofmanieren schimmern, gerade weil sie perfekt sind, sodass sie ihr ganz leicht fallen, das gute Herz und viel Verstand. Als hätte Klinger sie gemeint, als er ihn brieflich fragte, ob eine listige Hexe mit schwarzen dämmernden Augen und einem erwärmenden Madonnenblick – dafür sie Gott segnen wolle – den losen Flatterer gefangen halte. Wär man ein Flatterer! Wär‘s eine Hexe und keine Göttin! Klinger hat das Wertherkostüm in Mode gebracht, aber nicht den Kopf, sich wegen eines Weibes eine Kugel hineinzuschießen. Klinger war auch da, zitierte in einem fort den Wild, der in Amerika sein Glück zwingt, aus seinem Schauspiel WIRRWARR, wollte sich über eine Trommel spannen lassen, um eine neue Ausdehnung zu kriegen, seine Seele in die Lüfte ausgießen, in Todestälern wandern, ritt aber im Herzogtum herum und sammelte Amouren wie Fußabdrücke vom Herzog und von Goethe. War das gemeint, als er schrieb, er wolle Goethes wert werden? Nun ist er schon wieder fort. Man hörte Goethen Abträgliches sagen über ihn, und ich sah ihn einen Blick mir zuwerfen, als meinte er: Mit dir weiß ich auch nichts Treffendes anzufangen, ich kann nicht mit dir wandeln, du drückst mich! Dass diese Frau mir wohlwill, wird er mich spüren lassen. Auch wenn sie ganz unnahbar ist: Sie heilt mein Herz. Wie konnte es so krank sein, obschon ich diese Henriette nie von Angesicht gesehen habe! Es war noch krank von Sesenheim und Friederike. Es war ein Rückfall. Aber SIE! Es ist eine Feerei, in der ich hier existiere! Warum gelingt mir keine poetische Zeile? Woher immer die Einbildung, ich könnte das Weib haben, das Goethes Liebe war? Sie sagt Schroffes über ihn. Aber wehe, ich werde selber spitz. Ach, es nützt wenig, mir und andern zu verbergen, dass ich ihm gram bin. Ein einzig übermütig Wort verrät mich, und sie runzelt ihre Stirn. Ich weiß, was ihr hinter meinem Rücken sprecht. Vielleicht rede und schreibe ich zu offen und zu genau, und die Leute vergäben sich was, wenn sie dem beipflichteten, sich das gefallen ließen. Was für unscharfe Allgemeinheiten, was für gefällige Plattheiten sie zum Entzücken bringen! Mir fehlt die Scharlatanerie, der Fälschergeist. Goethe kommt mir überall damit zuvor. Er greift zu, wo meine Hand zittert und zaudert. Goethe war auch kein Werther. Vielleicht hat er diese Lotte schon gehabt! Diese Göttin! Wenn sie doch in der Mägdekammer wohnte! Mich wollüstig in einen Venuswinkel zöge! Oder soll ich mir das Zarteste verstümmeln, wie ich‘s meinen Hofmeister Läuffer tun ließ? Welch eine Eseley!

Die Sonne blakt aus immer weiterer Ferne. Das reife Obst beugt Zweige, die unlängst Blüten gen Himmel spritzten, der Erde zu. Das Laub der Pappeln rauscht wie Herbstregen. Weiß Lenz, wie es um ihn steht? Er hält sich für gemütskrank, was immer ihm das heißen mag zu dieser Zeit. Er fühlt sich müde, verschlissen, weggeworfen. Am Ende bleibt vielleicht Amerika. Wenn Weimar keine Rettung bringt, wird es zur tödlichen Falle. Wenn ihm keiner hilft, verschlimmert er seine Lage durch Tun mehr als durch Nichtstun. Denn die Hoffnung, durch Tun etwas zu bessern, sieht sich betrogen. Sooft er von Unglück hört, beschleicht ihn bittere Genugtuung: Die Welt ist so miserabel, wie sie mir vorkommt. Also muss ich untergehen. Das Schicksal richtet mich nur wieder auf, um mir desto sicherer die Faust ins Gesicht zu setzen.

Herder erscheint in Kochberg. Man kennt sich von Straßburg. Herder hat in Weimar Anstellung gefunden als Hauptprediger, Konsistorialrat und Superintendent und kann sich in Bückeburg gar nicht schlecht gestanden haben. Anna Amalia, Herzoginmutter, weiß nicht, wovon Lenz redet, warum ihm die sechshundertsechsundsechzig weimarischen Soldaten so am Herzen liegen, und auch die Herzogin Luise versteht ihn nicht. Der Zufall fügt es: Der Herzog manövriert, schwer vom Wein, das Floß, auf dem er fischen will, so ungeschickt im Schlossgraben, dass er ins Wasser fällt, und Lenz ist, eher als von Einsiedel, mit einem entschlossenen Sprung bei ihm und hilft ihm auf das Trockene. Und der Herzog nickt, wie es scheint verheißungsvoll, zu Lenzens Bemerkung: Zu so beherzter Tat fehlt eine Uniform.

5. Presto

Montagabend. Lenz steht irren Blickes, Schweißperlen auf der Stirn, in der Flügeltür, wartet, bis dieses innere Wolfsgeheul abflaut. Mein Gott: ein Schloss voller Verrückter! Wie unglücklich ist einer, der denen gefallen muss! Von Kochberg ist er den letzten Oktobertag mit dem Hausstand und der Herrin wieder in die Stadt gezogen. Die aber ist unwirtlich. Statt der Reform des Soldatenwesens hat ihm der Herzog erlaubt, die Biografie seines Vorfahren Bernhard zu verfassen. Berka tat wieder wohl. Nur, die Kammer wird nun zu kalt.

Goethe erblickt ihn. Lenz, ums Himmels willen, wieder uneingeladen! Bleib neben mir, ich will‘s vertuschen. Hast du getrunken? Lenz! Trink nicht so viehisch! Es sind genug der Verkehrtheiten mit dir! Warum hab ich dich nicht zu ERWIN UND ELMIRE sehen dürfen, Bruder?

Ich weiß nicht. Was hast du die ganze Zeit getrieben?

DIE GESCHWISTER diktiert und geprobt und geschauspielert bei den Proben wie im Leben. Meine Bienen zur Winterruh gebracht. Laub und dürre Aste zusammengeklaubt.

Linden gepflanzt. Gäste traktiert. In Ilmenau das Bergwerk inspiziert. Verwaltungskram. Wie war‘s in Kochberg?

Einförmig.

Ja, die Frauen können eine langweilige Existenz ertragen. Lenz. Du hast auch so was. Hast du gehört? Der Klinger nennt seinen WIRRWARR jetzt STURM UND DRANG! Ein Schweizer hat es ihm geraten, aber es klingt wie von mir.

Treffend!

Ach, Lenz! Die Zeiten haben sich gewendet. Ein Name steht, wenn die Sache fällt. Ich hab genug davon. Dieses Ha! Und Pistolen. Immer toll und immer heiß. Stiefel und Tränen. Rosen im Herzen und Unflat auf der Zunge. Schweiß und Gestammel. Amerika? Wir alle gehen in eine neue Welt. Wer zurückbleibt, ist verloren. Komm, setz dich!

Nur für dich hat sich die Zeit gewendet, Goethe! Dir gelingt es. Aber ich brauche dich nicht mehr, ich brauche Weimar nicht. Wer sich nicht treu bleibt, bleibt‘s auch den Göttern nicht. Ein Brotberuf wäre Verrat. Ich habe gelobt …

Goethe unterbricht: Gelübde tun wir uns selber und können uns auch selbst davon entbinden. Aber wenn du die Geniezeit fortführen willst, ich hindere dich nicht. Nur trumpf nicht so auf, Lenz!

Du hast es mir geraten, Goethe!

Das redest du daher! Man kann auch alle Leute vor den Kopf stoßen und dann schreien: Mir hilft ja keiner!

Bruder, du bist in einem Jahr um ein Jahrzehnt gealtert! Du fürchtest doch nichts mehr, als dass es dir so geht wie mir. Du wirst dich einschleimen und mit den Scheißkerlen Nachsicht üben und dir dabei großmütig vorkommen. Und dann wirst du doch ausbrechen! Du wirst Lakai. Oder du wirst noch andern zum Verhängnis!

Komm, Lenz, erzähl von Kochberg.

Oh, es war herrlich. Aber das weißt du selbst.

Komm hier beiseite, Lenz! Wie meinst du das?

Ich habe sie gehabt.

Was sagst du da?

Du etwa nicht?

Ein schlechter Scherz! Nimm das zurück! Und laut! Die Lakaien hören alles, noch vorm Morgengrauen ist es herum.

Ach geh! Wollen wir wetten? Dies wünschten wir uns doch schon in Straßburg, Bruder, als wir einander unsere Schüchternheit beklagten und die gestrengen Väter, nicht? Einmal den Stachel im selben Fleische. War das jetzt laut genug?

Lenz stürmt davon, flüchtet vor seinen dreisten Worten durch eine Gasse verdutzter Gaffer. Was hat er gesagt? Wen hat er gemeint? Er kann die Schulden nicht bezahlen. Wie? Er hat die Herzogin beleidigt? Den Herzog hat er bestohlen?

Den Dienstag über bedenkt Goethe, wie Lenzens Eseley aus der Welt zu schaffen ist. Die Larven dieser Ballnacht gehen ihm nicht aus dem Sinn. Blicke bekriechen ihn wie Schnecken. Er geht nicht aus dem Haus. Mittwoch, beim Morgengrauen, nach schlafloser Nacht und einem halsbrecherischen Ritt stöbert er Lenz in Berka auf: Sag, dass es nicht wahr ist!

Es ist nicht wahr, verzeih!

Umso schlimmer! Du wirst diese Gemeinheit zurücknehmen!

Bruder, ich war nicht bei mir, es tut mir leid, ich nehme alles zurück, bitte verzeih!

Öffentlich und amtlich, heute noch!

Aber Goethe! So tritt man es erst breit. Man lacht über uns beide. Solange niemand Genaues weiß, nimmt man es auf die leichte Schulter.

Du sollst es auch nicht öffentlich genau benennen, das fehlte noch! Aber du wirst dich bei Hofe ordnungsgemäß für deine Eseley entschuldigen.

Das kann ich nicht. Ich habe nur dich beleidigt und … SIE, die Göttin, sollten wir doch verschonen.

Dann, Lenz, musst du fort. Ich weiß dafür zu sorgen.

Du sprichst wie ein Monarch und bist doch nur eines Monarchen Diener.

Lenz, es reicht!

GEORG TRAKL

Ein Blatt Papier,

quälend weiß.

Auf dem Fluss treiben

blutige Jahre heran,

rosten vertäute Kähne,

beladen mit Frauen;

der Schoß der Schwester

strudelt sie in den Grund.

In den Parks

fault flockig der Flaum

vorübergeschrittener Engel.

Die Sonne zerstiebt zu Pulver,

das macht schöne Träume,

das sprengt einem die Stirn:

Aus dem Schädelwrack

kriecht eine Spinne

übers Papier –

da steht ein Gedicht.

NOVALIS UNTER TAGE

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