Nordseeglück - Frida Luise Sommerkorn - E-Book
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Nordseeglück E-Book

Frida Luise Sommerkorn

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Beschreibung

Alle drei Teile der Nordseeglückreihe jetzt für Sie in einem Band:

Insel wider Willen
Als Sibille mit ihrer Tochter Tuuli und ihrem Stiefvater Peter die Insel betritt, möchte sie am liebsten sofort wieder umkehren. Hat sie Langeoog doch vor langer Zeit verlassen und nie wieder zurückkommen wollen. Doch nun ist Oma Greta gestorben und Sibille will das Haus so schnell wie möglich verkaufen, das einst ihr Zuhause war. Niemals hat sie damit gerechnet, dass Oma Greta noch überall präsent scheint und auch die Insel hat nichts von ihrer magischen Anziehungskraft von damals verloren. Und dann ist da noch Morten, der Nachbarsjunge von damals, der ihr Herz zum Schwingen bringt. Wohin mit diesen ganzen Gefühlen? Doch gerade als sie die Lösung all ihrer Probleme sieht, begegnet sie dem einzigen Menschen, der alles wieder ins Wanken bringt.

Träume sind wie Wellen
Kaum haben sich Sibille, ihre Tochter Tuuli und ihr Stiefvater Peter auf Langeoog eingelebt, tauchen die ersten Probleme auf. Sibille braucht einen Job, Tuulis Lust auf die neue Schule hält sich in Grenzen und Piets Verwandlung in einen verantwortungsbewussten Mann ist kaum auszuhalten. Und dann ist da noch Rune, Tuulis Vater und der Mensch, den Sibille niemals wieder hatte sehen wollen, doch der wie selbstverständlich die Beziehung von damals aufleben lässt. Und natürlich Morten, den Sibille nicht so einfach vergessen kann. Das alles tritt jedoch in den Hintergrund, als Tuulis erste große Liebe zu scheitern droht und sie plötzlich verschwunden scheint. Können Sibille und Rune ihrer Tochter helfen, obwohl sie Teil des Unglücks sind? Und warum verhält sich Piet plötzlich so eigenartig und treibt damit alle in den Wahnsinn?

Liebe dank Turbulenzen
Dass Piet sich in seinem Alter noch mit Herzschmerzen in Sachen Liebe rumschlagen muss, hätte er nie gedacht. Tuuli schließt sich gemeinsam mit Simon einer Umweltorganisation an, bei der es unter anderem um den Schutz ihrer neuen Heimat geht. Als dann ein heftiges Sturmtief auf Langeoog zurollt, geraten die beiden in eine gefährliche Rettungsaktion. Nur Sibille scheint nicht auf ihrer Insel ankommen zu können. Zwar läuft der Job und ihrer Familie geht es gut, aber die Liebe fährt Achterbahn. Warum kann sie sich nicht endgültig auf Rune einlassen? Und wer ist die Frau, die Morten so verliebt umgarnt? Erst ein drohendes Unglück lässt sie die Wahrheit erkennen. Doch ist es für eine Umkehr nicht schon längst zu spät?

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Nordseeglück 1

Prolog

Inselankunft

Oma Gretas Haus

Die Beerdigung

Erinnerungen

Verwirrungen

Inselerkundung

Fremde im Haus

Inselbegegnungen

Ärmel hoch und los

Neue Ideen

Nachbarschaftshilfe

Endlich eine Freundin

Morten

Zukunftsideen

Unerwartete Begegnung

Die Entscheidung

Epilog

Danksagung

Nordseeglück 2

Prolog

Glückliche Zeiten

Die Entdeckung

Mieses Schicksal

Keine Chance

Irgendwie weiter

Alle Tage wieder

Die Zeit heilt keine Wunden

Nichts wie weg

Einer dieser Tage

Epilog

Danksagung

Nordseeglück 3

Prolog - Im Herbst

Der erste Winter

Auf der Suche

Ein Sturm zieht auf

Was übrig bleibt

Im Prinzip ja

Verwirrungen

Schlimmer geht immer

Epilog

Danksagung

Meine bisherigen Veröffentlichungen:

Impressum

Frida Luise Sommerkorn

Nordseeglück

Die Trilogie in einem Band

Über die Autorin: Frida Luise Sommerkorn alias Jana Thiem schreibt Liebes-, Familien- und Kriminalromane. Dabei sind ihre Geschichten in jedem Genre mit Herz, Humor und Spannung gespickt. Da sie selbst viel in der Welt herumgekommen ist, kennt sie die Schauplätze ihrer Romane und kann sich voll und ganz in ihre Protagonisten hineinfühlen. Ob am Ostseestrand, im fernen Neuseeland oder in ihrer Heimat, dem Zittauer Gebirge, überall holt sich die Autorin neue Inspirationen, um ihre LeserInnen verzaubern zu können.

Texte © 2021 by Jana Thiem

Alle Rechte vorbehalten!

Lektorat / Korrektorat: Dorothea Winterling M.A.

Bildmaterialien © https://stockphoto.com: 451007395, 389125711, 1224659239, 1183882570, 526493761, 48673840, 82354534, 187674005, 1082566932, 213656269, 1013551354, 1183882570, 526493761 Umschlag: Anne Gebhardt Design, Kreuzlingen

Vorwort

Liebe LeserInnen!

In diesem eBook-Bundle können Sie alle drei Teile der Nordseeglück-Trilogie lesen:

Teil 1: Insel wider Willen

Teil 2: Träume sind wie Wellen

Teil 3: Liebe dank Turbulenzen

In allen Büchern dürfen Sie sich auf Sibille, ihre Tochter Tuuli und ihren Stiefvater Peter freuen. Während Sibille in „Insel wider Willen“ von der Anziehungskraft ihrer Heimatinsel Langeoog, die sie nie wieder hatte betreten wollen, überwältigt ist, finden Tuuli und Peter nach anfänglichen Schwierigkeiten ihre Lieblingsmenschen. Doch auch in „Träume sind wie Wellen“ gibt es Probleme, besonders als Tuuli plötzlich verschwunden scheint. Dafür kämpft Peter, der sich neuerdings Piet nennt, in „Liebe dank Turbulenzen“ mit den Tücken der Liebe, schließt sich Tuuli einer Umweltorganisation an und erkennt Sibille endlich, warum sie auf ihrer Insel bisher nicht hatte glücklich sein können.

Ich wünsche Ihnen romantische Stunden am Nordseestrand!

Ihre

Frida Luise Sommerkorn

Nordseeglück 1

Insel wider Willen

Frida Luise Sommerkorn

Prolog

Sie konnte es kaum glauben. Bald würde sie Wilhelmshaven hinter sich lassen und endlich wieder auf die Insel ziehen! Wie sehr sie sich auf die frische Brise auf Langeoog freute!

Gestern hatte sie ihren letzten großen Theaterauftritt als zuständige Schneiderin miterlebt, danach mit Freunden gefeiert und mindestens zwölf Stunden geschlafen.

Ein leichtes Kribbeln zog durch ihren Magen. Alles war perfekt geplant. Aus Wilhelmshaven hatte sie einige Spezialitäten mitgebracht, die sie heute Nachmittag anrichten wollte. Danach musste sie noch an die Picknickdecke denken, eine Flasche Sekt aus dem Keller ihrer Großmutter stibitzen und zwei Gläser einpacken. Um sieben Uhr wollten sie sich an ihrem Lieblingsplatz treffen. In der Nähe der ausgedienten Seenotbeobachtungsstation. Ein versteckter Ort in den Dünen.

Aus dem leichten Kribbeln wurde allmählich Panik. Wie würde er reagieren, wenn sie mit ihrer Neuigkeit kam? Sie wusste natürlich, dass es eine große Überraschung für ihn sein würde. War es für sie ja auch. Aber die Entscheidung hatte sie selbst schon in die Hand genommen. Wie zur Bestätigung nickte sie einige Male. Dann drehte sie die Musik an ihrem Discman lauter. Sie brauchte jetzt Ablenkung. Wenn der Zug pünktlich war, sollte sie auch die geplante Fähre nach Langeoog erreichen.

Verträumt schaute sie aus dem Fenster. Der späte Frühling fühlte sich schon fast wie Hochsommer an. Sie hatten erst Mai und doch gab es ab und an Temperaturen über 30 Grad. Sie freute sich auf die kühle Luft auf Langeoog. Sommerhitze war nichts für sie. Sie würde immer auf ihrer geliebten Insel bleiben, das war ihr festes Ziel. Deshalb hatte sie sich auch für die Schneiderei entschieden. Es gab zwar auf Langeoog kein Theater, aber es sollte ein Standbein für ihre Selbstständigkeit sein. Sie hatte schon immer gerne kreativ gearbeitet. Aus jedem Holzstück konnte sie etwas zaubern. Im Haus ihrer Großeltern gab es einige Kerzenhalter oder lustige Trolle, die sie geschnitzt hatte. Auch Vasen und Schüsseln aus Ton hatte sie seit einem Töpferkurs in großer Stückzahl hergestellt. So hatte Oma Greta immer etwas zum Verschenken.

Die grüne Landschaft zog an ihrem Fenster vorbei. Die Gedanken kamen und veränderten sich. Und dann fielen ihr endlich die Augen zu.

Verschlafen schleppte sie ihren Rucksack zur Fähre. Noch war nicht Hochsaison und sie fand einen Platz an Deck. Die See schimmerte im Sonnenlicht. Und wieder wuchs die Aufregung.

Als sie endlich in der bunten Inselbahn saß, konnte sie es kaum noch aushalten. Ständig wippte sie mit ihren Knien auf und ab, bis ein irritierter Blick ihres Nachbarn sie innehalten ließ.

Schon von weitem sah sie ihre Oma am Bahnsteig stehen. Wie immer hatte sie es sich nicht nehmen lassen, sie mit dem Lastenfahrrad des Nachbarn abzuholen. Als ob sie den Rucksack nicht tragen konnte.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Sie plauderte viel, hörte Oma Greta zu und war doch mit ihren Gedanken ganz woanders.

Endlich war es Zeit. Bevor sie das Haus verließ, schaute sie noch einmal auf ihr Handy. Keine SMS von ihm. Sie checkte den Empfang, aber der war in Ordnung. Vielleicht war er auf der Fähre oder wartete schon in den Dünen, da war selten gutes Netz.

Schnell schnappte sie sich den Korb und eilte die Straße Richtung Ostende entlang, dann bog sie links in den Pirolaweg ein. Erst als sie den letzten Busch umrundet hatte, sah sie, dass der Platz leer war. Sie breitete die Decke aus, platzierte ihre Leckereien und stellte den Sekt in den Schatten. Dann wartete sie.

Wieder schien die Zeit zu schleichen. Nach zehn Minuten ging sie zur ehemaligen Beobachtungsstation und schaute in die Richtung, aus der er kommen musste. Weit und breit nichts zu sehen. Sie lehnte sich an den orangefarbenen Container und schloss die Augen. Die Abendsonne tat ihr gut, ließ sie auf der Insel ankommen.

Ob sie sich vertan hatte? Waren sie erst für morgen verabredet? Nach dem Stress der letzten Wochen, als sie die Kostüme für das Theaterstück fertig bekommen mussten, konnte es schon mal sein, dass sie sich irrte. Doch ein Gefühl tief in ihr widersprach heftig. Nein! Sie wollten sich heute treffen!

Nachdenklich ging sie zu ihrem Picknickplatz zurück und ließ sich auf die Decke sinken. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte er schon bei ihrer Ankündigung, grandiose Neuigkeiten für ihn zu haben, zurückhaltend reagiert. Warum war es ihr während des Telefonats nicht aufgefallen? Erst jetzt dachte sie daran, wie einsilbig er danach war und das Gespräch schnell beendet hatte. Das war schon fast eine Woche her. Seitdem hatten sie nicht mehr gesprochen. Sicher, weil sie beide keine Zeit zum Telefonieren hatten.

Als eine weitere Stunde vergangen war, packte sie das Essen wieder ein. Sie hatte nichts davon angerührt. Eine Vorahnung machte sich breit. Aber noch drängte sie sie zurück.

Erst als sie das kleine Tor zum heimischen Garten öffnete und den weißen Umschlag in der Haustür klemmen sah, übermannte sie das ungute Gefühl. Schnell riss sie das Kuvert auf. Immer und immer wieder las sie die kurzen Zeilen. Das konnte doch nicht sein! Das durfte er nicht tun! Ihre ganze Zukunft löste sich plötzlich in nichts auf. Alles, was bisher strahlte, lag nun im grauen Nebel.

Einem ersten Impuls folgend, wollte sie zu seinem Elternhaus rennen. Aber sie wusste, dass sie zu spät kommen würde. Er hatte davon gesprochen, ja förmlich geschwärmt. Doch nie im Leben hätte sie gedacht, dass er es wahrmachen würde. Vor allem nicht so. Ohne ein persönliches Wort.

Hätte sie diese Entscheidung bei ihrem letzten Gespräch heraushören können? Oder war sie viel zu sehr mit ihrer eigenen Planung beschäftigt gewesen? Sie wusste es nicht. Wollte nicht mehr darüber nachdenken.

Als der graue Schleier auch nach Wochen nicht verflog, verließ sie die Insel und kehrte nie wieder zurück.

Inselankunft

„Ich hab hier überhaupt kein Netz“, motzte Tuuli und hielt ihre Hand nebst Smartphone in die Luft, als ob es dort besser werden würde.

Wenn sie nicht aufpasste, würde das Ding gleich im Wasser landen, dachte Sibille. Auf solche Gefühlsausbrüche ihrer Tochter ging sie schon lange nicht mehr ein. Schließlich war es ihrer Meinung nach nicht so schlimm, wenn ihre Freundinnen die furchtbar wichtigen Nachrichten ein paar Minuten später erhielten. Spätestens am Hafen würde Tuuli wieder Empfang haben.

„Ich hole mir eine Wurst“, verkündete jetzt Sibilles Stiefvater. „Will noch jemand was?“

Sibille schüttelte den Kopf. Peter sah Tuuli an, aber die reagierte nicht. Achselzuckend machte er sich auf den Weg und kam kurz darauf mit einem Paar Wiener und einer Flasche Bier zurück.

„Peter, wir sind nicht stundenlang unterwegs“, sagte Sibille schmunzelnd. Sie hätte es sich denken können, dass der Hopfensaft nicht fehlen durfte. Peter war ein Genussmensch. Und wenn er sich hier auf der Fähre eine Wurst gönnte, dann gehörte das Bier eben dazu.

Sibille sah aus dem Fenster. Passend zu ihrer Stimmung lag die See in trübem Licht. Sie hatte ihre Tochter damit locken können, dass ein Kurzurlaub am Meer doch reizvoll sein konnte. Strahlender Sonnenschein, salziges Wasser, das in leichten Wellen heranrollte, wenn sie an der Wasserkante saß und den Weitblick über das Meer genoss. Bei so viel Pathetik hatte sogar Tuuli grinsen müssen. Natürlich hatte sie ihrer Tochter nicht sagen wollen, dass an einem Nordseestrand kein Südseefeeling aufkommen würde. So viel Wissen traute sie ihr zu. Aber nachdem sie heimlich Tuulis Reisetasche überflogen hatte, war sie sich nicht mehr so sicher. Schnell hatte sie ein paar von Tuulis Pullis und die Regenjacke in ihren eigenen Koffer gepackt. Auch wenn Tuuli diese nur unter Protest anziehen würde. Besser das Meckern ertragen, als das Kind frieren sehen.

Sibille schluckte. Den Kloß, den sie seit Tagen im Magen verspürte, versuchte sie zu ignorieren. Aber bald würden sie am Hafen von Langeoog anlegen und dann musste sie sich dem Ganzen stellen.

Sie konnte noch immer nicht fassen, dass Oma Greta tot war. Ihr Nachbar Herbert hatte sie vermeintlich schlafend auf dem Sofa gefunden. Die beiden waren unzertrennlich, seitdem Opa Gustav gestorben war. Das war schon fast zwanzig Jahre her. Und nun hatte es Oma Greta getroffen. Obwohl es überhaupt keinen Grund gab. Sie war fit, ging jeden Tag im Meer schwimmen. Selbst bei kalten Temperaturen. Nur wenn sich allmählich Eis bilden wollte, hielt Herbert sie zurück und überredete sie jedes Mal zu einem ausgiebigen Spaziergang mit Einkehr in der Bäckerei, um einen Kaffee zu genießen. Aber ihr Herz war einfach stehen geblieben.

Nun war sie die älteste der Lüders-Frauen. Ihre Mutter war vor sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Peter, ihr Stiefvater, lebte schon lange bei ihnen in einem Vorort von Mainz. Sie hatten vor einigen Jahren gemeinsam einen Dreiseitenhof gemietet und Sibille hatte daraus ein idyllisches Zuhause gezaubert. Da ihre Mutter beruflich bedingt viel unterwegs gewesen war, lebten sie die meiste Zeit zu dritt zusammen: Peter, Tuuli und sie. Was für ein Gespann.

Sibille seufzte. Der Hafen kam in Sicht. Weiße Segelboote lagen dicht an dicht und warteten darauf, dass die Flut wieder vollständig einsetzte. Erst dann konnten sie sich auf den Weg machen.

Der Kloß drückte nun doch heftiger. Wie in einen Nebelschleier gehüllt, verließ Sibille mit ihrer Familie die Fähre und steuerte, ohne sich groß umzusehen, auf die Inselbahn zu. Peters verzückte Worte über die bunten Waggons hörte sie nicht. Und auch nicht die murrenden Redefetzen ihrer Tochter, die noch immer kein gutes Netz fand.

Sie musste jetzt da durch. So schnell wie möglich die Beerdigung hinter sich bringen, dann Oma Gretas Haus entrümpeln und einem Makler den Auftrag zum Verkauf geben. Angeklopft hatten schon einige. Häuser auf Langeoog waren begehrt. Aber erst hatte sie selbst alles in Augenschein nehmen wollen. Schließlich hatte sie keine Ahnung, in welchem Zustand das Haus war. Dafür war sie zu lange nicht mehr hier gewesen. Ihrem Gefühl nach zu urteilen allerdings nicht lange genug.

Als der Zug am Bahnhof einfuhr, sah sie Herbert stehen. Und obwohl sie ihn nicht wirklich gut kannte, ließ sie sich in seine Arme sinken und weinte endlich die Tränen, die sie hätte schon vor Jahren weinen müssen.

Oma Gretas Haus

Herbert ließ Sibille Zeit, nickte ab und an den vorbeilaufenden Menschen zu und streichelte behutsam ihren Rücken.

„Oh Mama, langsam wird es peinlich“, hörte Sibille Tuuli sagen. Leise, damit ja nicht noch mehr Leute auf sie aufmerksam wurden.

Sibille löste sich aus Herberts Armen. „Du hast recht. Entschuldige, Herbert. Aber wieder hier zu sein und Oma Greta nicht zu sehen ...“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Dabei versuchte sie, ihre vom Wind zerzausten Haare in einen lockeren Knoten zu binden.

„Ist schon gut, mein Kind“, antwortete Herbert mit sonorer Stimme. „Mir fehlt sie ja auch! Jeden Tag!“

Sibille drehte sich ihrer Familie zu, um sie miteinander bekannt zu machen, aber Peter kam ihr zuvor.

„Tach, ich bin Piet, Sibilles Stiefvater. Und das ist quasi meine Enkelin Tuuli“, sagte Peter und schüttelte Herbert kräftig die Hand. Die beiden trennten über zehn Jahre, was man nicht wirklich sehen konnte, denn Herberts wettergegerbtes Gesicht wirkte neben dem blassen von Peter wesentlich jünger.

„Piet?“, quietschte Tuuli. „Ist dir die salzige Luft schon zu Kopf gestiegen, Peter?“ Ihr Gesicht sprach Bände. Trotzdem streckte sie Herbert artig die Hand hin.

„Peter heißt auf Friesisch Piet. Hat mir sowieso schon immer besser gefallen“, murmelte Peter verschnupft.

„Soso, du bist also Sibilles Tochter. Ich habe schon viel von dir gehört“, sagte Herbert und überhörte Peters Bemerkung. „Deine Uroma hat gerne über dich erzählt.“

„Hm“, machte Tuuli nur. Sibille sah ihr an, dass sie nicht recht wusste, ob sie es gut finden sollte, dass Oma Greta so eine Plaudertasche gewesen war. Verlegen strich sich Tuuli eine Haarsträhne hinter das Ohr. Obwohl sie nun schon eine ganze Weile einen fransigen Kurzhaarschnitt trug, schüttelte sie noch immer ab und an ihren Kopf, als wolle sie die lange Mähne auf den Rücken befördern.

„Wollen wir?“, fragte Sibille. „Toll, dass du deine Karre mitgebracht hast!“ Sie hob ihren Koffer in die Transportbox von Herberts Lastenfahrrad.

Als alles verstaut war, machten sie sich auf den Weg. Oma Gretas Haus lag im Nordosten des Ortes.

„Gibt’s hier echt kein einziges Auto?“, fragte Tuuli fasziniert, als sie eine Weile unterwegs und schon von einigen Fahrradfahrern passiert worden waren.

„Doch! Der Rettungsdienst und die Feuerwehr haben Fahrzeuge. Ein paar Elektroautos der Gemeinde und einiger Handwerker gibt es auch. Und natürlich dürfen die Bauern Traktoren benutzen“, antwortete Herbert.

„Da biste ja echt am A ...“ Tuuli konnte sich gerade noch bremsen. „Ich meine angeschmiert, wenn du als Jugendlicher hier den Führerschein machen willst.“

Herbert schmunzelte. „Die sind das gewöhnt. Und außerdem auch froh, mal von der Insel runterzukommen. So lange sie alle wiederkommen, habe ich nichts dagegen.“

Den letzten Satz sprach er nur noch leise und Sibille zugewandt. Sibille tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie wusste, dass er es ihr übel genommen hatte, dass sie Oma Greta allein auf der Insel zurückgelassen hatte. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Staunend schaute sie sich um. Hier hatte sich einiges getan in den letzten Jahren. Andererseits auch wieder nicht. Es fühlte sich an wie früher und war doch fremd.

Gerade bogen sie in den Polderweg ein. Die gepflegten Häuser mit ihren roten Klinkern, den Erkern mit weißen Holzfenstern und weiß abgesetzten Giebelmotiven hatten Sibille von jeher fasziniert. Auch die schmalen gepflasterten Straßen, von sandigen Fußwegen gesäumt, gefielen ihr. Und natürlich die riesigen Hortensienbüsche, die hier in manchen Gärten wie Hecken wuchsen. Sicher zählte das für viele zur Inselromantik. Sie wagte einen kurzen Blick zur Seite. Tuuli lief entspannt neben ihr. Schon seit einiger Zeit hatte sie keine bissigen Kommentare mehr von sich gegeben.

„Hat Oma direkt am Meer gewohnt?“, fragte sie jetzt. Neugierig wanderte ihr Blick die Straße entlang. Am Horizont tauchten die ersten Dünen auf.

„Nee, nee, hier kann man nicht direkt am Meer wohnen“, antwortete Herbert, noch bevor Sibille es tun konnte. „Da musst du erst über die Dünen klettern.“

Tuuli nickte, sagte aber nichts mehr.

Als sie der Willrath-Dreesen-Straße immer näher kamen, wuchs Sibilles Nervosität ins Unermessliche. Sie hatte damit abgeschlossen gehabt, wollte nie wieder hierher zurückkommen. Aber natürlich steckte tief in ihr die Sehnsucht nach ihrer Heimat, nach ihrem Zuhause. Und nun war sie wieder da und sie wusste, dass es zu spät war. Wenn Oma Greta noch leben würde, wäre eine Versöhnung mit allem möglich gewesen. Aber so? Sibille schüttelte den Kopf. So ganz allein schaffte sie das nicht. Abrupt blieb sie stehen.

„Vielleicht sollten wir uns doch besser ein Hotel nehmen“, sagte sie nach Luft ringend.

Tuuli und Peter schauten sie verwirrt an. Nur Herbert nickte leicht. Dann legte er seine Hand beruhigend auf Sibilles Schulter.

„Alles wird sich fügen, mein Kind. Sieh es doch mal so: Du bist endlich wieder da, wo du hingehörst. Du hast eine tolle Tochter, auf die du stolz sein kannst. Und glaub mir, Greta ist noch überall. Ich treffe sie ständig: im Haus, wenn ich die Blumen gieße, im Garten, wenn ich mich um ihre Stauden kümmere, am Strand, wo sie immer schwimmen gegangen ist. Es kommt mir vor, als würde sie auf dich warten, um dich zu unterstützen.“

„Aber ich werde nicht hierbleiben“, platzte Sibille heraus. Sie schluckte, als sie Herberts Gesicht sah. Zögerlich nahm er seine Hand von ihrer Schulter.

„Es tut mir leid, Herbert. Ich kann das nicht. So schön es hier auch für alle ist, aber mein Leben ist jetzt in Mainz. Die Erinnerungen würden mich kaputt machen. Ich möchte Oma Gretas Haus verkaufen.“ Sibille holte tief Luft.

„Du hast nie versucht, dich deinen Erinnerungen zu stellen“, sagte Herbert leise. „Gib dir doch selbst endlich mal eine Chance.“

Er schnappte sich den Lenker des Fahrrads und bog ohne ein weiteres Wort nach rechts ab.

Sibille wagte es nicht einmal, dorthin zu schauen.

„Mama, kommst du?“, rief Tuuli, die mit Herbert weiter gegangen war.

„Komm, das wird schon“, sagte jetzt auch Peter. „Ist immer schwer, wenn man in ein leeres Haus kommt, wo vorher noch ein geliebter Mensch gewohnt hat.“ Vorsichtig legte er seine Hand auf Sibilles Rücken und schob sie mit sich.

„Wenn es nur das wäre“, murmelte Sibille. Mit verkniffenem Gesicht ließ sie sich von Peter führen, bis sie vor dem vorletzten Haus auf der linken Seite standen. Ein kleines Haus mit roten Klinkern und verwildertem Garten. Oma hatte sich wohl schon lange nicht mehr um ihre Pflanzen kümmern können, schoss es Sibille durch den Kopf.

„Hinten sieht es schöner aus“, rief Herbert von der Haustür aus.

„Äh, da drin sollen wir wohnen?“, fragte Tuuli entsetzt. Sie stand mit einem Fuß im Garten und es sah aus, als wollte sie sich keinen Meter weiter bewegen.

Auch Peter wirkte angestrengt. „Hat deine Oma wirklich bis zuletzt hier drin gewohnt?“, fragte er und kratzte sich dabei am Kopf.

Sibille stiegen die Tränen in die Augen. Alles lief irgendwie schief. Sie hatte hierher fahren, die Beerdigung hinter sich bringen und sich von dem Haus verabschieden wollen. Aber nun merkte sie, wie weh ihr die Aussagen von Peter und ihrer Tochter taten. Sie spürte, wie sie das Haus magisch anzog und sie ahnte, dass Herbert recht hatte. Oma Greta war überall. Sie konnte sie sogar riechen.

Seufzend trat sie an Tuuli und Peter vorbei und folgte Herbert ins Haus, der anscheinend von den Bemerkungen ihrer Familie nichts mitbekommen hatte.

Im Hausflur ließ sie ihre Handtasche auf den kleinen Garderobenschrank gleiten. Ohne auf die anderen zu achten, wanderte sie von Raum zu Raum.

In der Küche herrschte eine kühle Ordnung, die es bei Oma Greta nie gegeben hätte. Auf dem Tisch hatte immer eine Schüssel Äpfel neben einem Blumenstrauß gestanden. Oma hatte Äpfel geliebt. In der Ecke hinter dem Herd waren Gewürzdosen in den verschiedensten Formen und Farben gestapelt gewesen. Und an der Dunsthaube hingen früher Kräuter, die einen herrlichen Duft verbreitet hatten. Überhaupt, so ohne Oma Greta und ihre Stimmungsmusik, wie sie die Schlager immer nannte, war die Küche leblos.

Schnell trat sie wieder in den Hausflur, um das Wohnzimmer zu inspizieren. Auch hier fehlte Oma Greta überall. Kein Strickzeug, das in der Sofaecke lag, keine Landhauszeitschriften, die sie immer verschlungen hatte. Sibille seufzte. Wie konnte es sein, dass nichts mehr wie früher war und sie sich ihrer Oma trotzdem so nah fühlte?

„Hast du hier alles aufgeräumt?“, fragte sie Herbert, als sie das Wohnzimmer verlassen hatte.

„Ein bisschen, damit ihr es schön habt. Aber ich habe nichts weggeschmissen. Außer die verwelkten Blumen. Und die Äpfel habe ich gegessen“, lächelte er traurig.

„Ach, Herbert“, flüsterte Sibille ebenso bedrückt. Sie wollte ihn fragen, wie es ihm ging. Ob sie hätte Oma Greta retten können, wenn sie doch wieder nach Hause gekommen wäre. Und was sie jetzt machen sollte. Aber alle Fragen blieben ihr im Hals stecken. Sie wusste nicht, ob sie mit den Antworten leben könnte, ob sie sie überhaupt hören wollte.

Tuuli und Peter unterbrachen die traurige Stille. Sibille hatte sie im Garten reden hören. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn die beiden nicht hier wohnen wollten. Vielleicht war es sogar ganz gut, wenn sie sich ein Hotel suchten. Sie hatte keine Kraft, die Kämpfe mit ihrer Tochter auszufechten oder sich um Peter mit seinen eigenartigen Ideen zu kümmern. Eigentlich fühlte sie sich schon lange nicht mehr dazu in der Lage.

„Wie wär’s, wenn die beiden bei mir drüben wohnen? Mein Enkel ist für zwei Wochen bei einem Lehrgang auf dem Festland. Und ein Gästezimmer habe ich ja auch noch. Dann kannst du in deinem alten Zimmer schlafen und hast hier ein bisschen Ruhe“, bot Herbert an.

Sibille schien es, als hätte ihn der Himmel geschickt. War er schon früher so feinfühlig gewesen? Oder entwickelte sich die Menschenkenntnis, wenn man ein gewisses Alter erreicht hatte?

„Ja, also“, kratzte sich Peter wieder am Kopf, als Herbert die Idee vor den beiden wiederholte.

Sibille kannte diese Gesten. Er hatte sich eigentlich schon entschieden, war sich aber nicht sicher, ob er ihr damit nicht weh tat.

„Ist schon in Ordnung“, sagte sie schnell. Ein vages Gefühl hatte sich in ihr breitgemacht. Es fühlte sich tatsächlich viel besser an, hier im Haus allein zu sein. Sie würde ungestört Oma Gretas Sachen aussortieren und entrümpeln können, damit es für eventuelle Käufer noch interessanter würde. Ein Stich im Herzen ließ sie zusammenzucken.

Tuuli hatte in der Zwischenzeit nach rechts und links geschaut. „In welchem Haus wohnst du?“, fragte sie Herbert.

Schmunzelnd zeigte er Richtung Ostende.

Ein kurzer Blick hatte Tuuli genügt. „Okay, sieht gut aus“, sagte sie und machte sich auf den Weg.

„Danke!“, flüsterte Sibille und drückte Herbert einen Kuss auf die Wange.

„Da nicht für“, murmelte Herbert verlegen. „Dann mal los, junger Mann“, sagte er lauter und klopfte Peter kräftig auf die Schulter.

Peter grinste kurz, dann schaute er Sibille fragend an. Sie nickte lächelnd.

„Zum Abendessen kommst du aber rüber“, sagte Herbert, als er Sibilles Koffer in den Hausflur stellte. „Es gibt Krabben-Rührei.“ Dann schloss sich die Tür.

Gerührt stand Sibille im dunklen Hausflur. Herbert hatte nicht vergessen, dass das zu ihren Lieblingsspeisen gehörte. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr verdrängen. Ungehindert liefen sie über ihre Wangen. Sie schaffte es noch, sich aufs Sofa zu legen. Dann ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf.

Die Beerdigung

Sibille wusste nicht mehr, wie sie den gestrigen Abend und die Nacht überstanden hatte. Das Krabben-Rührei war ein Gedicht gewesen. Sie hatte es schon Jahre nicht mehr gegessen.

Nach einer kurzen Plauderei hatte sie sich von Herbert und ihrer Familie verabschiedet. Die beiden schienen sich ganz gut mit Herbert zu verstehen, planten einen gemeinsamen Spieleabend zur Ablenkung.

Ablenkung, das war ihr Stichwort gewesen. Sie hatte ihren Badeanzug aus dem Koffer gekramt, Omas Rad aus dem Schuppen geholt und war ans Meer gefahren. Und sie hatte Glück: Es war Flut. Gefühlte Stunden hatte sie danach im Meer verbracht, war so weit geschwommen, wie sie es seit damals nie wieder getan hatte. Völlig erschöpft war sie danach zurück zum Haus geradelt. Da sie sich noch nicht ins Obergeschoss, in ihr Zimmer getraut hatte, war ihr das Sofa gerade recht gewesen. Schnell war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.

Nun war es sieben Uhr am nächsten Morgen. Herbert hatte ihr ein belegtes Brötchen und eine Thermoskanne mit Kaffee in einem Beutel an die Tür gehängt. Warum nur fühlte sie sich, als hätte sie diese liebevollen Gesten nicht verdient?

Nach einer ausgiebigen Dusche setzte sie sich mit ihrem Frühstück hinter das Haus. Noch immer stand hier an der Hauswand die alte Holzbank.

Sibille nahm den ersten Schluck direkt aus der Thermoskanne und schloss die Augen. Diese Mischung aus salziger frischer Luft, warmer Sonne und gutem Kaffee war wie Balsam für ihre Seele. Schnell öffnete sie die Augen wieder. Sie durfte es nicht zulassen, dass sich das alles so gut anfühlte. Dann würde ihr der Abschied in ein paar Tagen noch viel schwerer fallen. Vielleicht konnte sie sich ablenken, indem sie in Gedanken schon einmal ein paar organisatorische Dinge durchging.

Sibille hielt inne. Was war denn nur los mit ihr? Oma Greta war noch nicht einmal beerdigt und schon wollte sie ihr Hab und Gut verscherbeln? So war sie doch eigentlich überhaupt nicht. Warum konnte sie denn nicht einfach trauern und sich Zeit lassen?

Sibille ließ ihren Blick über den Garten gleiten. Herbert hatte recht gehabt: hier hinten war es wirklich viel schöner als vorn an der Straße. Ein kleiner Rundweg aus rötlichen Steinen führte einmal rund um den Garten. Gesäumt wurde er von rosafarbenen Wildrosen und Lavendel auf der einen und verschiedenfarbigen Hortensienbüschen auf der anderen Seite. In der Mitte des Gartens stand ein riesiger Walnussbaum, um dessen Stamm sich eine Holzbank schmiegte. Sibille konnte Oma Greta förmlich unter dem Baum sitzen und Äpfel schälen sehen.

Ein lautes Klopfen holte sie aus ihren Tagträumen. Sie ging um das Haus herum und entdeckte Herbert, der im schwarzen Anzug vor der Haustür stand und schrecklich aussah. Normalerweise trug er farbenfrohe Holzfällerhemden und Jeans. Diese plötzliche sichtbare Erinnerung an Oma Gretas Beerdigung nahm ihr den Atem. Schnell hielt sie sich an der Hausecke fest.

„Ist alles in Ordnung, mein Kind?“, fragte Herbert und trat neben sie.

Sibille nickte. „Ja, es geht schon!“, antwortete sie. „Ich hab dich nur noch nie so gesehen.“ Sie hielt inne.

Herbert strich ihr unbeholfen über die Wange.

„Ich muss mich noch umziehen“, sagte Sibille und versuchte es mit einem Lächeln. „Was macht meine Familie?“

„Peter sitzt im Garten und liest alte Zeitschriften übers Fischen und Tuuli blockiert das Bad. Aber sie werden pünktlich fertig sein.“ Herbert nickte ihr aufmunternd zu. „Acht Uhr sollten wir los.“

Auf dem Weg zur Inselkirche hakte sich Tuuli bei Sibille unter. „Ist alles gut, Mama?“, fragte sie ungewohnt einfühlsam.

Sibille drückte dankbar Tuulis Arm. „Es wird eine schöne Beerdigung werden“, sagte sie. Das wünschte sie sich von ganzem Herzen.

Nach dem Gottesdienst schüttelten sie am blumenreichen Grab unzählige Hände. Sibille wusste, dass Oma Greta beliebt war im Ort, aber mit so vielen Menschen hatte sie nicht gerechnet. Sie fragte sich, ob Herbert das richtig eingeschätzt hatte. Denn zum Leichenschmaus hatte er in sein Haus eingeladen.

Aber ihre Befürchtungen waren umsonst. Nur die engsten Freunde kamen, weinten mit ihr, freuten sich, sie wieder zu sehen und lachten am Ende über Oma Gretas humorvolle Beiträge bei vergangenen Festen und Feiern.

So sollte es sein, dachte Sibille am Abend. So hätte es sich Oma Greta gewünscht. Dankbar verabschiedete sie sich von Herbert und machte sich auf den Weg ins Nachbarhaus. Am Gartentor blieb sie stehen. Sie betrachtete die schäbige Fassade des Hauses. Schwarze Streifen durchzogen die roten Klinkersteine, die Holzfenster hatten schon lange keinen Anstrich mehr gesehen und das Schild mit der Aufschrift „Haus Lüders“, das Opa Gustav einst angebracht hatte, war kaum noch lesbar.

Eine zärtliche Traurigkeit überfiel sie. Schon bald würde eine junge Familie hier einziehen und alles wieder zum Strahlen bringen. So hatte sie es sich jedenfalls bisher vorgestellt. Aber nun, da sie selbst nach vielen Jahren wieder hier wohnte, wenn auch nur für kurze Zeit, wollte sie nicht daran denken, wer einmal ihr Zuhause zu seinem machen würde.

Nachdenklich durchquerte sie den wilden Vorgarten und öffnete die Haustür. Mit diesen Gefühlen hatte sie nicht gerechnet. Kurz schaute sie die Treppe entlang nach oben, verwarf aber den Gedanken, in ihrem Zimmer zu übernachten. Morgen würde sie es sicher schaffen, auch das Obergeschoss zu inspizieren. Sie wünschte sich jetzt nur noch eines. Sie wollte einfach schlafen und morgen ihr Gefühlsleben wieder im Griff haben.

„Gute Nacht, Oma Greta“, flüsterte sie und ließ sich auf das Sofa gekuschelt in einen tiefen Schlaf fallen.

Erinnerungen

Sibille lag bäuchlings auf ihrem Bett. Wie immer konnte sie sich nicht von einem Buch losreißen. Sie wusste, dass sie schon längst hätte zum Essen nach unten kommen sollen, aber die Stelle war gerade so spannend. Und die Spannung nahm kein Ende. Gleich, nur noch ein bisschen, dachte sie. Da klopfte es an der Tür. Erst leise, dann etwas lauter. Ich komme ja schon, Oma, wollte sie rufen, aber die Laute blieben ihr im Hals stecken. Sie musste lesen, wollte wissen, wie die Geschichte weiterging.

Wieder dieses Klopfen. Seit wann hatte Oma so eine Geduld? Gemeinsames Essen war ihr heilig, da kannte sie keinen Spaß. Normalerweise rief sie doch nur laut von unten und konnte sich darauf verlassen, dass Sibille kurz darauf die Treppe hinunter gehüpft kam.

Lautes Klopfen! Ob etwas passiert war? War Oma gestürzt und lag mit gebrochenem Bein im Garten? Sie musste ihr helfen!

„Oma!“, schrie sie auf und hielt sich gleich darauf den Kopf. Ein wilder Schmerz durchzuckte sie. Allmählich drang die Erinnerung in ihr Bewusstsein. Das Klopfen konnte nicht von Oma Greta stammen, die hatten sie gestern beerdigt. Der Schmerz verlagerte sich schlagartig vom Kopf in die Brust und schnürte ihr die Luft ab.

Sie drehte sich vorsichtig um und entdeckte ihre Tochter am Fenster, die wild gestikulierte. Seufzend stand Sibille auf. Wo kam denn jetzt der Kopfschmerz her? Sie hatte doch weder Alkohol getrunken, noch war sie zu lange wach gewesen. Vielleicht lag es am Sofa. Konnte gut sein, dass zwei Nächte auf diesem alten Ding Verspannungen im Rücken verursacht hatten.

Sibille deutete ihrer Tochter an, dass sie zur Haustür kommen sollte.

„Mama, warum machst du nicht auf?“, sprudelte Tuuli sofort los. „Ist alles in Ordnung?“

„Ich habe noch geschlafen. Wie spät ist es denn? Und warum hast du nicht einfach die Türklingel benutzt?“, fragte Sibille noch immer ganz schwach.

Tuuli neigte den Kopf und musterte ihre Mutter. „Es ist also nicht alles in Ordnung. Erstens schläfst du nie bis elf und zweitens wachst du sonst bei jedem kleinen Geräusch auf. Ich habe mindestens hundert Mal geklingelt.“

„Es ist schon elf Uhr?“, fragte Sibille entsetzt. „Oh Gott, ich hab doch so viel zu tun. Warum hast du mich denn nicht geweckt?“

„Weil Herbert meinte, dass du dich ruhig mal ausschlafen sollst. Hast du früher schließlich auch immer ausgiebig getan. Überhaupt, was ich über dich hier alles so erfahre, ist schon spannend. So kenne ich dich ja gar nicht. Sag mal, warum waren wir eigentlich in den Ferien nie hier bei Oma? Es kann ja wohl kaum daran liegen, dass du das Seeklima nicht verträgst, wie du sonst immer behauptet hast. Sonst wärst du hier nicht so entspannt.“ Tuuli hielt plötzlich inne.

Sibille hatte sich bei ihren letzten Worten leicht zusammengekrümmt.

„Mama, geht’s dir doch nicht gut? Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Tuuli ängstlich. Sie schob ihre Mutter zurück ins Haus und drückte sie auf einen Küchenstuhl, dann füllte sie ein Glas mit Wasser und stellte es vor Sibille auf den Tisch.

„Mach dir keine Sorgen! Ich bin vielleicht einfach nur geschwächt“, sagte Sibille, nachdem sie artig einen Schluck Wasser genommen hatte. „Die Nachricht von Omas Tod, die Reise, die Beerdigung, das war wohl ein bisschen viel.“

Tuuli schaute skeptisch.

„Weißt du was? Lass uns an den Strand gehen, in der Hoffnung, dass wir keine Ebbe haben. Ein paar Schwimmzüge im Meer werden mich sicher aufrichten. Und dir gut tun. Vielleicht hat Peter auch Lust mitzukommen“, sagte Sibille betont fröhlich.

Tuulis Blick verwandelte sich in Entsetzen. „Ich soll ins Meer springen? Niemals! Ich setz mich in die Sonne, aber planschen kannst du alleine.“

Sibille schmunzelte innerlich. Ihre Tochter war schon immer wasserscheu gewesen. Oma Greta hatte sich immer gewundert, dass die Tochter einer Rettungsschwimmerin und eines ... Abrupt stoppte sie ihre Gedanken. Nein, es war egal, ob Tuuli schwimmen wollte oder nicht. Das war ihre Entscheidung und hatte nichts mit ihrer Herkunft zu tun. „Okay, so machen wir es“, sagte sie schnell. „Sag mal, ob es bei Herbert noch was zum Frühstücken gibt?“

„Sicher“, antwortete Tuuli kurz und schickte sich an, die Küche zu verlassen. An der Tür blieb sie stehen und blickte sich noch einmal um. „Wie lange willst du eigentlich hierbleiben? Am Samstag ist Party bei Jo. Da will ich hin!“

Sibille zuckte mit den Schultern, aber da hatte Tuuli schon das Haus verlassen. Bis Samstag würden sie wohl kaum wieder in Mainz sein. Da hätte sie ja nicht mal mehr eine Woche, um sich um alles zu kümmern. Am Donnerstag wollte der Makler kommen, bis dahin hatte sie noch einiges zu tun. Vielleicht hätte sie doch nicht die Idee mit dem Schwimmen anbringen sollen. Andererseits war es erst Sonntag. Blieben also noch drei Tage, um klar Schiff zu machen.

„Wozu schleppst du denn die ganzen Sachen mit?“, fragte Sibille entsetzt, als sie sich später trafen, um gemeinsam zum Strand zu gehen.

„Das habe ich alles bei Oma Greta im Schuppen gefunden“, verkündete Peter. „Ein Liegestuhl ist doch praktisch, wenn du nicht im Sand liegen willst. Der Sonnenschirm sowieso, den Windfang können wir bei Bedarf aufbauen und das ist unser Proviant.“ Er hob eine blaue Kühlbox hoch. „Hat uns alles Herbert eingepackt.“

„Wo ist er eigentlich? Wollte er nicht mit?“, fragte Tuuli, die außer einem Handtuch und ihrem Handy nichts bei sich hatte.

„Herbert am Strand? Der legt sich nicht wie die Urlauber in die Sonne. Er ist allerhöchstens mal mit Oma Greta schwimmen gegangen. Und das auch nur unter Protest. Herbert muss sich bewegen. Lange Strandspaziergänge oder ein Nachmittagsausflug zur Meierei, das ist eher nach seinem Geschmack. Außerdem hat er immer viel am Haus zu werkeln“, antwortete Sibille.

„Jetzt ist er aber bei seinen Männern zum Skat spielen“, verkündete Peter. „Und er läuft dabei hoffentlich nicht rum“, grinste er. „Also, wer hilft mir beim Tragen?“

„Der Windfang bleibt hier“, sagte Sibille entschieden. „Wenn überhaupt, reicht der Schirm. Falls er nicht sowieso wegfliegt.“ Dann fiel ihr etwas ein. Sie entschuldigte sich kurz und kam ein paar Minuten später mit einem Handwagen zurück.

„Wo hast du denn den her?“, fragte Peter erfreut.

„Der stand im Fahrradschuppen, direkt hinter dem Rasenmäher“, antwortete Sibille. Endlich konnten sie sich auf den Weg machen. Es war bereits 13 Uhr. Hoffentlich zog sich das Wasser nicht schon wieder zurück.

Ihr Herz klopfte wie wild, als sie über den holzbeplankten Weg zum Strand liefen. Tuuli trottete hinter ihr her. Wie oft war ihr diese Situation in den Träumen erschienen. Sie mit Tuuli am Meer. Meistens saßen sie einträchtig beieinander und schauten den tosenden Wellen zu. Der Traum endete immer abrupt, wenn am Horizont ein Schiff auftauchte. Irgendwie hatte sie es immer geschafft aufzuwachen, bevor sie die Fischer an Bord erkennen konnte. Und nun war es kein Traum mehr. Sie betrat tatsächlich gemeinsam mit ihrer Familie ihren Lieblingsstrand.

Gierig nahm sie alle Einzelheiten in sich auf. Die salzige Luft, das Rauschen des Meeres, die tanzenden Sandkörner im Wind und die Hitze unter ihren bloßen Füßen.

Automatisch bog sie nach rechts ab. Dort war sie schon früher lieber gewesen. Ein Stück entfernt von den vielen Urlaubern. Peter und Tuuli trotteten hinterher. Peter mit glänzenden Augen und den Blick aufs Meer gerichtet, Tuuli mit ihrem Handy nach einem Netz Ausschau haltend.

„Wenn ich hier keinen Empfang habe, verschwinde ich gleich wieder“, verkündete sie.

Schade, dachte Sibille. Gestern hatte sie ihre Tochter mal wieder ganz anders erlebt. Weniger mürrisch und aufbrausend. Sie hatte gelächelt und mit wildfremden Leuten Smalltalk geführt. Sonst war es schon schwierig, irgendetwas aus ihr herauszubekommen. Auf noch so freundliche Fragen kamen einsilbige Antworten. Über den Ton wollte sie gar nicht erst nachdenken. Sie wusste ja, dass das normal war für eine Fünfzehnjährige. Aber schön war es deshalb noch lange nicht.

Nachdem Peter die Picknickdecke ausgebreitet, den Sonnenschirm in den Sand gesteckt und den Liegestuhl richtig positioniert hatte, holte er noch eine von Herberts Fischereizeitschriften aus dem Rucksack. Erst als er im Liegestuhl saß, öffnete er die Kühlbox und zog eine Flasche Bier heraus. „So gefällt’s mir“, sagte er grinsend und nahm den ersten Schluck.

„Kommst du nicht mit ins Wasser?“, fragte Sibille, obwohl die Antwort auf der Hand lag.

„Später vielleicht“, murmelte Peter. Er hatte sich schon in einen Bericht in der Zeitschrift vertieft.

Der wird noch zu einem Experten werden, lachte Sibille insgeheim. Wenn das ihre Mutter gesehen hätte. Peter angelnd am Rhein. Wo er doch sonst der zappelige Typ war. Wie sollte er da so lange still stehen? Sie schaute kurz auf Tuuli, verwarf es aber, sie zum Mitkommen zu bewegen. Ihre Tochter hatte nicht einmal ihre Klamotten ausgezogen. Mit schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt saß sie in der knalligen Sonne.

„Crem dich wenigstens ein und setz eine Kappe auf“, versuchte Sibille es halbherzig. Sie legte Tuuli Tube und Kappe auf die Beine. Keine Reaktion.

Dann eben nicht, dachte Sibille. Ihr geliebtes Schwimmen ließ sie sich jetzt nicht nehmen. Ohne anzuhalten, stapfte sie über den heißen Sand direkt hinein in die kühlen Wellen. Sanft umfing sie das salzige Wasser. Sie hatte es schon immer genossen, sich einfach fallen zu lassen. Wenn sie sah, wie lange manche Menschen brauchten, um endlich unter Wasser zu gehen, zog sich ihr vor Kälte alles zusammen.

Die ersten Schwimmzüge kamen ihr noch etwas steif vor, aber nach einigen Minuten war sie eins mit dem Meer. Als sie weit genug vom Strand entfernt war, wandte sie sich nach links und schwamm parallel dazu. Es machte ihr nichts aus, wenn die Wellen sie seitlich erwischten und sie aus dem Rhythmus brachten. Sie liebte den Blick auf der einen Seite über die Dünen und das Dorf. Wobei sie nur die Dächer erahnen konnte. Aber zu wissen, dass dort Gleichgesinnte wohnten, Einheimische und Urlauber, beruhigte sie irgendwie. Denn so gern sie ihre Zeit im Wasser verbrachte, noch immer fiel ihr der Blick hinaus aufs Meer schwer. Er war einerseits atemberaubend und befreiend, andererseits aber so bedrückend und mit Erinnerungen behaftet, dass sie kaum noch Luft bekam. Also hielt sie ihren Blick eisern auf das Festland gerichtet. Wenn ihr Nacken zu schmerzen begann, wendete sie und kehrte auf dem gleichen Weg zurück. Nach ein paar Runden spürte sie die Müdigkeit in ihren Gliedern. Außerdem meldete sich allmählich der Hunger. Zum Frühstück hatte sie kaum etwas heruntergebracht.

Erschöpft ließ sie sich auf die Decke fallen. Die beiden anderen schienen sie kaum zu bemerken. Tuuli tippte noch immer wie wild auf dem Handy herum und Peter hob nicht einmal die Nase aus der Zeitung. Dass er sich bewegt haben musste, zeigte nur die leere Flasche Bier, die neben dem Liegestuhl lag.

„Ich esse jetzt eine Kleinigkeit und gehe dann wieder zurück. Muss endlich anfangen, Oma Gretas Sachen durchzugehen“, sagte Sibille und inspizierte den Inhalt der Kühlbox.

Salzkekse, Knackwürstchen und natürlich Äpfel kamen zum Vorschein. Dazu eine Flasche Almdudler, den Oma Greta auch immer gern getrunken hatte.

Tuuli gesellte sich tatsächlich zu ihr auf die Decke.

„Mama, was soll ich eigentlich die ganze Zeit über hier machen?“, fragte sie missmutig und biss in einen Apfel.

„Vielleicht kannst du morgen was mit Peter unternehmen? Ihr könntet mit dem Rad zum Ostende fahren. Oder den Ort erkunden“, sagte Sibille sanft. Sie hatte befürchtet, dass es für ihr Stadtkind hier langweilig werden würde. Aus dem Buddelalter war sie lange raus und Freunde zum Abhängen gab es hier keine. „Ich schaue mal, wie schnell ich voran komme. Vielleicht kann ich dir Ende der Woche noch ein bisschen die Insel zeigen. Oder wir machen eine Wattwanderung mit. Was meinst du?“

„Hm, mal sehen“, murmelte Tuuli. Sie angelte wieder nach ihrem Handy.

Ein Blick auf Peter verriet Sibille, dass der mittlerweile eingeschlafen war. Na gut, die beiden konnten prima für sich selbst sorgen. Sie hatte jetzt andere Aufgaben.

Wieder überfiel sie ein mulmiges Gefühl, als sie Oma Gretas Haus betrat. Herberts Anmerkung, dass es jetzt ihr Haus war, schlich sich in ihr Gedächtnis. Zum ersten Mal im Leben hatte sie etwas Eigenes. Die Hofreite in Mainz war nur gemietet. Und nun besaß sie ein Haus auf Langeoog. Auf ihrer Insel.

Sibille schluckte. Sie durfte solche Gefühle nicht aufkommen lassen. Ihr Leben fand jetzt woanders statt. Sie hatte ihre Zelte hier abgebrochen und das war auch gut so. Schlimm genug, dass sie die Vergangenheit ständig einholte. Sogar in ihren Träumen. Niemals würde sie es Tuuli antun können, hierher zu ziehen.

Langsam zog sie ihre Sandalen aus und machte sich in der Küche zur Stärkung einen Tee. Oma Greta hatte sicher eine ihrer leckeren Ostfriesenmischungen da, die sie ihr auch immer nach Mainz mitgebracht hatte.

Unschlüssig, wo sie anfangen sollte, wanderte sie mit der dampfenden Teetasse durch das Erdgeschoss. Sie könnte sich noch eine kleine Auszeit im Garten genehmigen, dachte sie. Und doch wusste sie genau, dass sie sich nur selbst daran hindern wollte, das Obergeschoss zu betreten.

Nachdenklich setzte sie sich unter den großen Walnussbaum, der herrlichen Schatten bot. Warum hatte sie so große Angst davor, ihr Zimmer zu sehen? Die Erinnerungen an damals waren doch überall in diesem Haus. Ob Oma Greta wirklich nichts verändert hatte? Jedenfalls hatte sie ihr das einmal flüsternd mit Tränen in den Augen erzählt.

Sibille schnappte nach Luft. Sie durfte jetzt nicht in solchen Erinnerungen schwelgen. Einfach machen, das war doch schon immer ihre Devise gewesen. Schnell stellte sie die halbvolle Tasse auf der Bank ab und eilte ins Haus, die Treppe nach oben. Hastig riss sie ihre Kinderzimmertür auf und blieb wie angewurzelt stehen.

Eine Zeitreise, das musste eine Zeitreise sein! Sie konnte die Eindrücke kaum aufnehmen. Das ganze Zimmer schien zu strahlen. Weiße Möbel, heller Holzboden, greller Sonnenschein.

Ihr Bett war so, als hätte sie es heute Morgen verlassen. Frisch bezogen, die Stoff-Haselmaus, die ihre Mutter von einer ihrer Reisen mitgebracht hatte, saß auf dem Kopfkissen. Der weiße Vorhang über ihrem Himmelbett sah weder vergilbt noch verstaubt aus. Oma Greta musste ihn immer wieder gewaschen haben. Überhaupt sah sie nirgends ein Staubkorn. Weder auf dem Schreibtisch, der vor dem Fenster mit Blick in die Dünen stand, noch auf ihrem Bücherregal. Auf dem Nachtschrank lag ein Buch, das Lesezeichen schaute hervor. Sicher kein Liebesroman, den hätte sie damals nicht lesen können. Sie hatte allerdings keine Kraft, sich den Titel des Romans anzuschauen. Vielmehr ließ sie sich in den Schaukelstuhl sinken, der in einer Ecke des Zimmers stand. Daneben ein kleines Tischchen, darüber eine Lichterkette. Ihr Lieblingsplatz!

Sibille hatte das Gefühl, dass die Welt stehen blieb. Sie hörte keinen Laut mehr. Nicht die kreischenden Möwen oder das Meer hinter den Dünen. Nur ihr Herz pochte wie wild. Wie in Zeitlupe, schaute sie sich im Zimmer um. Dann stand sie auf und öffnete ihren Kleiderschrank. Viel war nicht darin, aber die Kiste, an die sie gedacht hatte, stand noch immer an ihrem Platz.

Vorsichtig nahm sie sie heraus und setzte sich damit auf den kleinen runden Teppich mit rosafarbenen Ornamenten. Immer wieder spürte sie in sich hinein, ob sie lieber aufhören sollte. Aber etwas trieb sie an, sagte ihr, dass das alles endlich vorbei sein musste. Hier und jetzt musste sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Sonst wäre sie für immer verloren.

Die Kiste war unverschlossen. Oma Greta hätte nie heimlich hineingesehen. Der Deckel ließ sich leicht öffnen. Wieder hielt Sibille kurz inne. Nichts! Sie würde es überleben. Also weiter!

Zuoberst lag ein vergilbter Brief. Natürlich! Schnell legte sie ihn beiseite, nicht wissend, ob sie ihn noch einmal lesen würde. Eigentlich kannte sie ihn auswendig. Aber das war etwas anderes.

Behutsam zog sie ein kariertes Halstuch heraus und konnte dem ersten Impuls widerstehen, daran zu riechen. Es folgten unzählige Muscheln in den ungewöhnlichsten Formen. Die kleine Flaschenpost hatte sie völlig vergessen. Das erste Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Botschaft las sie besser nicht, aber an den Tag, als er ihr das Geschenk gemacht hatte, konnte sie sich genau erinnern.

Er war auf dem Festland gewesen, um seinen Ausbildungsvertrag zu unterschreiben. Abends hatten sie sich wie so oft mit Freunden am Strand getroffen und am Lagerfeuer gesessen, als er plötzlich ein hübsch eingepacktes Paket aus seinem Rucksack zog. Sie hatte sich von den anderen abgewandt, wollte den Moment mit ihm allein genießen. Sie war überrascht und gerührt zugleich gewesen. Noch nie hatte er ihr ein so persönliches Geschenk gemacht. Was natürlich an der Liebesbotschaft lag, die er eigenhändig geschrieben hatte. Damals war ihnen klar gewesen, dass sie sich niemals trennen würden. Es war das erste unausgesprochene Versprechen an die Zukunft gewesen.

Sibille legte die Sachen wieder zurück in die Kiste. Unschlüssig hielt sie den Brief in der Hand. Sollte es damals nur ihre Empfindung gewesen sein? War es für ihn nur eine Liebelei? Hätte sie das nicht spüren müssen? Alles hatte sich so echt und tief angefühlt.

Entschlossen legte sie den Brief obenauf und klappte den Deckel der Kiste zu. Als sie wieder im Schrank verstaut war, verließ sie das Zimmer. Es war besser, wenn sie in Oma Gretas Schlafzimmer anfangen würde. Da könnte sie weinen und wusste wenigstens, warum sie das tat. Außerdem war es sicher gut, endlich loszulassen.

Herbert hatte bereits unzählige Umzugskartons organisiert, damit sie die Sachen verstauen konnte. Schluchzend begann sie, alles in zwei Kategorien aufzuteilen. Allerdings merkte sie nach einer Weile, dass der Haufen, den sie behalten wollte, größer war, als der, der wegkonnte.

Seufzend nahm sie sich alles noch einmal vor. Was sollte sie mit Omas Lieblingskleidung? Sie konnte sie ja doch nicht anziehen. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals jemand anderen darin sehen wollte, war es tröstlich zu wissen, dass sie die Sachen spenden konnte. Nur eine selbstgestrickte Jacke behielt sie. Und das Kopftuch, das ihre Oma immer bei Sturm getragen hatte. Es war einfarbig rot. Bestimmt konnte sie es als Halstuch tragen.

Als die Kisten allmählich den Hausflur verstopften, legte sie eine Pause ein. Sie schaute auf die Uhr, schon fast sechs Uhr. Wo waren Tuuli und Peter eigentlich? Es musste doch schon längst Ebbe sein. Allerdings machte ihnen das sicher nichts aus, da sie sowieso nie ins Wasser gingen.

Für heute hatte sie genug getan. Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte sie in ihre Wohlfühlklamotten und zog Oma Gretas cremefarbene Strickjacke mit den knallblauen Knöpfen darüber. Dann holte sie sich eine Flasche Wein aus dem Keller und machte sich auf den Weg ins Nachbarhaus. Sie hatte Herbert im Garten wursteln sehen. Vielleicht konnte auch er eine Pause gebrauchen.

„Sibille! Schön, dass du kommst“, sagte Herbert erfreut, als Sibille direkt um das Haus herum in den Garten gegangen war. „Ich habe gerade überlegt, was ich euch heute zum Abendessen servieren kann.“

„Herbert, du verwöhnst uns noch. Am Ende wollen wir nie wieder weg“, lachte Sibille, hielt aber bei Herberts Blick abrupt inne.

Sie sah, dass er etwas sagen wollte, aber anscheinend nicht wusste, wie er es rausbringen konnte. Also nickte er nur lächelnd. Allerdings sprachen seine Augen Bände. Sie musste auf ihre Wortwahl achten, durfte ihm keine Hoffnung machen, dass sie Oma Gretas Haus übernehmen würde.

„Hast du Lust auf ein Glas Wein?“, fragte sie leise.

Herbert räusperte sich. „Ich hole die Gläser“, antwortete er genauso leise.

Nach dem ersten Schluck des fruchtigen Weißweins saßen sie eine Weile schweigend beieinander. Sibille wusste nicht recht, wie sie beginnen sollte. Würde sich Herbert für ihr Leben in Mainz interessieren? Etwas anderes hatte sie nicht zu berichten. Genauso wenig konnte sie Fragen zum Leben auf Langeoog stellen. Hier hatte sich so viel getan, dass sie selbst nicht mehr wusste, wer jetzt wo wohnte oder arbeitete. Und welche Familien überhaupt noch auf Langeoog lebten. Oma Greta hatte immer wieder versucht, ihr davon zu erzählen. Aber sie hatte es nicht hören wollen.

„Ist ein gutes Tröpfchen“, unterbrach Herbert schließlich die Stille. „Hat Greta sicherlich in der Weinperle gekauft. Wir waren ja beide keine Biertrinker. Deshalb haben wir uns ab und an dort im Ort ein Gläschen genehmigt. Und auch schon mal die eine oder andere Flasche mitgenommen.“

Weinperle, das sagte Sibille gar nichts. „Gibt es auf Langeoog ein Weingeschäft?“

„Ein Winzer hat sich hier niedergelassen und bietet deutsche, aber auch internationale Weine an. Du musst eigentlich nur sagen, worauf du Lust hast, dann wählt er den passenden Wein aus. Greta und ich haben immer weiter probiert, weil wir uns nie merken konnten, welchen Wein wir zuletzt getrunken hatten.“ Herbert stockte. Eine Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Aber er schaute lächelnd in die Ferne.

Sibille legte eine Hand auf Herberts Arm.

„Weißt du, dass das ihr größter Wunsch gewesen war, dass du wieder auf die Insel zurückkehrst? Ich will dich damit nicht belasten, aber gerade hatte ich das Gefühl, dass ich es dir einmal sagen muss.“ Herbert schaute ihr jetzt direkt in die Augen.

Der Blick fuhr Sibille tief in den Magen. Sie atmete schwer. „Ich weiß das, Herbert. Ich wusste es immer. Aber ...“ Sie zuckte mit den Schultern und schaute ihn traurig an.

„Das ist jetzt schon so lange her. Du bist doch glücklich, oder? Kannst du die Vergangenheit nicht ruhen lassen und nach vorn blicken?“, fragte Herbert.

„Ich bin glücklich, ja! Aber vielleicht auch nur deshalb, weil ich nicht mehr hier bin“, antwortete Sibille leise.

„Woher weißt du das? Du hast es nie mehr probiert. Vielleicht wärst du sogar noch glücklicher. Hier ist dein Zuhause. Du bist ein Inselkind. Du gehörst hierher.“

Von Ferne hörte sie Tuuli plappern und kurz darauf Peters sonore Lache. Schnell schluckte Sibille die Tränen herunter. Tatsächlich schien ihre Tochter hier ein wenig aufzublühen. Normalerweise gab es kaum noch längere Gespräche mit ihr. Viel lieber traf sie sich mit Freunden oder verschanzte sich in ihrem Zimmer. Es war natürlich auch nicht so, dass sie hier schon viel miteinander geredet hätten. Dafür hatte sie bisher kaum Zeit gehabt, aber Tuuli lachte viel, unterhielt sich mit Peter und benahm sich gegenüber Herbert aufmerksam. Konnte es tatsächlich sein, dass sie hier unbefangener und freier wären?

„Mama, nichts sagen! Ich nehme einfach Panthenolspray, dann wird das hoffentlich wieder werden. Blöd nur, dass ich heute keine Bilder mehr an meine Freundinnen schicken kann“, rief Tuuli mit einem hochroten Gesicht, als sie um die Hausecke bogen.

Sibille erschrak. Und natürlich lag ihr auf der Zunge, dass sie doch extra die Sonnencreme hingelegt hatte. Hätte sie ihre fünfzehnjährige Tochter auch noch selbst eincremen sollen? Sie zog die Luft scharf ein. Vielleicht wirkte Tuuli hier gelöster, aber das pubertäre Verhalten ihr gegenüber war geblieben.

Missmutig zuckte sie mit den Schultern, dann sah sie zu Peter, der zwar auch Farbe bekommen, sein Gesicht aber durch die Kappe geschützt hatte.

Entschuldigend hob er beide Hände. „Als ob ich deiner Tochter etwas befehlen könnte“, sagte er. „Ich gehe duschen. „Was machen wir heute zum Abendessen?“, fragte er in Herberts Richtung.

„Ich denke, heute gibt es Adeliges“, lachte Herbert. Er stand auf und zog Sibille aus ihrem Stuhl. „Wir schauen mal, was von gestern noch übrig ist und was wir dazu servieren können.“

Sibille musste gestehen, dass ihr Herberts unkomplizierte und fröhliche Art gut tat. Mit Peter war es oft schwierig, weil er immer eine Extrawurst braten musste. Wollte sie etwas kochen, hatte er Lust auf Brot. Oder umgekehrt. Aber auch in anderen Lebenslagen war das so. Hatte sie sich auf einen ruhigen Abend in ihrem Hof gefreut, lud Peter Freunde zum Kartenspielen ein. Wollte sie abends mal weg, hatte er garantiert auch etwas vor. Mittlerweile war Tuuli alt genug, allein zu bleiben, aber früher konnte sie es manchmal nicht fassen, wie sehr sich ihre Leben überkreuzten. Natürlich war Peter ihr Stiefvater und eigentlich hätte sie nicht mit ihm unter einem Dach leben müssen, aber es war nun mal ihrer beider Zuhause. Wer sollte also ausziehen? Hätte sie ihn nach dem Tod ihrer Mutter vor die Tür setzen sollen?

Noch schlimmer empfand sie allerdings seine schrägen Ideen. Einmal hatte er ein altes Fahrrad angeschleppt und so lange daran herum gesägt, geschraubt und gehämmert, dass man es kaum noch als solches erkennen konnte. Erst da hatte sie verstanden, dass das ein Kunstwerk war und von nun an in ihrem Hof stehen musste. Mit ein paar Blumentöpfen verziert sah es irgendwie erträglich aus, aber eigentlich liebte sie die schlichte Eleganz. Oder war ihr einfach nur ihre Kreativität abhanden gekommen? Wenn sie daran dachte, was sie früher alles in Oma Gretas Garten angestellt hatte! Zwar hatte sie keine rostigen Eisengebilde angeschleppt, aber aus Treibholz, Muscheln und Algen ließen sich die herrlichsten Kunstwerke basteln. Einiges davon stand sogar noch, vieles war sicher mittlerweile verrottet.

Und wann hatte sie sich das letzte Kleid genäht? Ihre eigenen Kreationen waren legendär. Sogar ihre Freundinnen konnte sie mit speziellen Röcken oder Hosen beglücken. Anfangs hatte sie auch noch für Tuuli kleine Kleider oder Jacken gefertigt, aber dann kam der Tod ihrer Mutter und sie musste wieder Vollzeit in einer Änderungsschneiderei arbeiten gehen. Der Verdienst hielt sich in Grenzen und die Lust, am Wochenende selbst kreativ zu sein, ebenso.

„Ich denke, die Zwiebel ist jetzt klein genug gehackt. Wir haben ja alle noch gute Zähne und müssen keinen Brei schlabbern“, lachte Herbert und nahm ihr das Messer aus der Hand. „Wenn du dich konzentrierst, kannst du noch die Tomaten schneiden und den Salat würzen. Ich decke schon mal draußen den Tisch.“

Wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen? Diese ganze Grübelei machte sie noch wahnsinnig. Eigentlich war doch alles klar! Haus ausräumen, verkaufen und wieder ab nach Mainz.

Verwirrungen

Die nächsten beiden Tage vergingen wie im Flug. Die Umzugskisten stapelten sich mittlerweile nicht nur im Hausflur, sondern auch in der Garage und im Schuppen.

Sibille hatte es ohne große Hilfe geschafft, Schlafzimmer, Wohnzimmer und Abstellkammer auszuräumen. Bis auf die Möbel waren diese Räume leer. Heute musste sie wohl doch in ihrem Kinderzimmer schlafen. Das Wohnzimmer wirkte kahl und traurig. Sie ertrug es kaum noch, dort hineinzuschauen. An die Küche hatte sie sich noch nicht gewagt, schließlich ging sie hier ein und aus.

Vielleicht lag es auch daran, dass ihr dieser Raum schon immer am besten im ganzen Haus gefallen hatte. Die weißen Holzmöbel waren zwar alt, aber mit ein bisschen Farbe ließen sie sich sicher wieder aufpeppen. Die Arbeitsplatte könnte man durch eine neue holzfarbene ersetzen. Auch den Fußboden würde Sibille, wenn sie hier wohnen würde, behandeln. Die alten Dielen würden mit einer Lasur sicher fantastisch aussehen. Zu guter Letzt die Esstischgarnitur, die ihr Opa damals mit einem befreundeten Tischler selbst gebaut hatte. Niemals würde sie sich von der trennen können.

Erschrocken legte Sibille eine Hand auf den Magen. Ihr war hundeelend zumute. Was dachte sie denn hier? Warum gestaltete ihr Unterbewusstsein das ganze Haus nach ihren Vorstellungen um? Und überhaupt, die Eckbank würde nie in ihre kleine Küche in Mainz passen. Optisch sowieso nicht.

Genervt schnappte sie sich eine Tasche und ihre Geldbörse, holte das alte Damenfahrrad aus dem Schuppen und klingelte bei Herbert.

„Heute koche ich! Um sieben bei mir!“, rief sie ihm kurz angebunden zu.

Herbert nickte nur lächelnd.

„Herbert mit seinem Verständnis und den Weisheiten bringt mich ganz durcheinander“, murmelte sie, während sie auf der holprigen Pflasterstraße in den Ort radelte.

Ihr Unmut verflog allerdings ziemlich schnell. Wie schon bei der Ankunft fühlte sich alles vertraut und doch irgendwie neu an. Manche Häuser waren saniert worden und strahlten jetzt im schönsten Nordseeglanz. Auch ein paar Geschäfte und Restaurants waren dazu gekommen oder hatten den Besitzer gewechselt.

Als sie den Ortskern erreicht hatte, schob sie ihr Rad weiter. Auf der rechten Seite entdeckte sie die Weinstube, von der Herbert erzählt hatte. Die Cafés und Lokale waren gut gefüllt. Die einen genossen noch den Nachmittagskaffee, die anderen nahmen schon für ein frühes Abendessen Platz.

Sibille schaute auf die Uhr. Kurz nach fünf. Jetzt musste sie sich sputen, um das Essen rechtzeitig auf den Tisch zu bekommen.

Im kleinen Supermarkt auf der Hauptstraße bekam sie die nötigen Grundnahrungsmittel. Der Duft, der von der Kaffeerösterei nebenan ausging, lotste sie automatisch dorthin. Ja, sie würde jetzt ein paar gute Bohnen kaufen, denn obwohl Oma Greta leidenschaftliche Teetrinkerin war, hatte sie sich für eventuellen Besuch einen ordentlichen Kaffeeautomaten zugelegt. Nur leider hatte Sibille bisher keine Kaffeebohnen gefunden. Genussvoll sog sie das kräftig bittere Aroma ein. Nach dem Abendessen würde sie einen guten Espresso servieren. Und sie wusste, dass mindestens zwei ihrer Gäste diesen genau wie sie genießen würden. Peter und Herbert wussten einen guten Kaffee zu schätzen.

Als sie die Rösterei verlassen hatte, schlenderte sie langsam die Hauptstraße entlang. Am liebsten hätte sie sich gleich einen Latte Macchiato gegönnt, aber die Zeit drängte. Trotzdem konnte sie sich nicht beeilen. Es war, als hätte ihr jemand den Stecker gezogen und sie in einen lahmen Batteriebetrieb versetzt. Lächelnd schlenderte sie in Richtung Bahnhof, bestaunte die hübschen Häuser und die liebevoll dekorierten Gärten. Fast ertappte sie sich dabei zu denken, dass es schön wäre, hier zu wohnen. Aber auch diesen Gedanken konnte sie im Moment entspannt beiseite schieben. Sie wollte jetzt nicht denken, sie wollte genießen. Die Sonne, die Schönheit des Ortes, selbst die radelnden Urlauber verzückten sie.

Sibille war ganz in ihre Träumerei vertieft, so dass sie die Frau, die ihr schon von weitem gewunken hatte, nicht wahrnahm. Erst als sie ihren Namen rufen hörte, schreckte sie auf.

„Sibille? Gibt’s das? Ich dachte, du bist schon längst wieder über alle Berge. Tut mir übrigens leid, das mit deiner Oma“, plapperte die Frau direkt los, blieb aber ohne ihr die Hand zu reichen stehen.

„Merle, schön, dich zu sehen“, antwortete Sibille schwach. Sie hatte Mühe, sich auf Merles sprudelnde Worte zu konzentrieren. Es wunderte sie, dass Merle sie freundlich begrüßte. Schließlich hatte sie die Insel damals verlassen, ohne sich noch einmal von ihrer besten Schulfreundin zu verabschieden. Merle hatte ihr sogar einen Brief geschrieben, aber Sibille war damals nicht in der Lage gewesen, mit irgendjemandem von der Insel Kontakt zu haben. Außerdem hatte sie Angst, sich zu verplappern.

Beide Frauen schauten sich prüfend an.

Als die Stille unerträglich wurde, seufzte Merle enttäuscht. „Na dann, mach’s mal gut“, sagte sie und ging an Sibille vorbei.

Sibille fühlte sich mies. Warum hatte sie denn nichts gesagt? Merle konnte doch nichts für ihren ganzen Schlamassel von damals.

„Merle, warte!“, rief sie ihr hinterher. Schnell wendete sie das Rad und holte ihre Freundin ein. „Ich bin nur ein paar Tage auf der Insel. Und es gibt so viel zu tun. Wenn ich es zeitlich hinbekomme, können wir uns mal treffen und reden. Wenn du magst.“

Merle schaute sie skeptisch an. „Reden? Worüber? Vielleicht hast du ja recht und unsere beiden Leben sind einfach zu verschieden. Es ist schon in Ordnung.“ Merle nickte, aber ein wehmütiger Zug lag auf ihrem Gesicht.

Sibille schluckte. „Entschuldige! Ich wollte eben nicht unhöflich sein. Und ja, ich hätte mich damals bei dir melden müssen. Aber ich konnte nicht.“

Wieder nickte Merle zustimmend. Diesmal lag Enttäuschung auf ihrem Gesicht. „Tja, dann wirst du ja sehen, ob du es noch einrichten kannst. Wenn nicht, wünsche ich dir ein schönes Leben!“ Sie legte ihre Hand kurz an Sibilles Oberarm, dann drehte sie sich um und ging davon.

Etwas regte sich in Sibille. Sie spürte, dass sie Merle vermisst hatte. Nicht so, dass sie nicht ohne sie hätte leben können. Aber die Vertrautheit, die sie einmal verband, war sofort wieder da.

„Warte! Wo kann ich dich denn finden? Du wirst ja sicher nicht mehr bei deinen Eltern wohnen, oder?“, rief Sibille ihr nach.

„Ich habe einen Schmuckladen auf der Barkhausenstraße“, rief Merle zurück.