Notärztin Andrea Bergen 1314 - Isabelle Winter - E-Book

Notärztin Andrea Bergen 1314 E-Book

Isabelle Winter

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Beschreibung

Frohes Kinderlachen erklingt im Garten, als Leonie ihre kleine Schwester fröhlich im Kreis herumschwenkt. Baby Lilly kräht und reißt die Ärmchen in die Luft, denn Leonie soll weitermachen, immer weiter! Vom Sofa im Haus aus beobachtet Merle Wiedenhaupt die rührende Szene, und heiße Tränen steigen ihr dabei in die Augen. Seit einiger Zeit weiß sie, dass sie bald sterben wird, denn der Tumor in ihrem Kopf ist inoperabel! Doch es ist nicht die Angst vor dem Tod, die Merle so zu schaffen macht. Es ist die Sorge, was aus ihren kleinen Töchtern werden soll, wenn sie wirklich gehen muss! Ohne ihre Mutter sind Leonie und Lilly ganz allein auf der Welt! Denn der Vater lebt irgendwo weit fort in Spanien ...

Das Schicksal der kleinen Familie lässt Notärztin Andrea Bergen nicht mehr los. Auch wenn es schier unmöglich scheint, den Mann zu finden, macht sie sich auf die Suche. Mit nichts als einem Namen als Hinweis steigt Andrea Mitte Dezember in ein Flugzeug nach Gran Canaria - denn sie hofft auf ein Weihnachtswunder ...

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Seitenzahl: 127

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Cover

Impressum

Im Himmel hör ich euer Lachen

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock / Yuganov Konstantin

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-3905-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Das traurige Schicksal der todkranken Merle Wiedenhaupt und ihrer zwei kleinen Töchter lässt mich einfach nicht mehr los. Merles Tage sind gezählt, doch ihre größte Sorge gilt ihren beiden kleinen Kindern, die nach ihrem Tod ganz allein zurückbleiben! Es gibt keinen Vater, der sich um Leonie und Baby Lilly kümmern kann, denn beide Schwangerschaften sind das Ergebnis einer anonymen Samenspende …

Unzählige Male habe ich in den letzten Tagen versucht zu erfahren, wer der unbekannte Vater der Mädchen ist – vergebens. Aber gerade wurde mir bei der Samenbank ein Name genannt: Sven Ritter! Der Mann lebt inzwischen auf einer der Kanarischen Inseln – und dort verliert sich seine Spur! Deshalb werde ich noch heute in einen Flieger nach Gran Canaria steigen, auch wenn mich alle Welt für verrückt erklärt. Ich werde Leonies und Lillys Vater finden und mit nach Deutschland bringen, das habe ich mir geschworen …

»Mami! Schau nur, wie viele Enten da sind«, staunte Leonie und lief voraus zum Teich, um die Tiere bewundern zu können.

Merle Wiedenhaupt lächelte und folgte ihrer Tochter. Sie schob den Kinderwagen, in dem die kleine Lilly lag, über den Kiesweg, an dessen Rändern Reste von Schnee lagen. Auf einer Bank neben dem Teich nahm sie Platz und reichte Lilly einen Teddybären, der der Kleinen aus der Hand gefallen war. Das Baby gluckste zufrieden und begann, am Ohr des Teddys zu nuckeln.

Merle liebte es, ihre beiden Töchter so glücklich zu sehen. Es war ein kühler Dezembertag, doch davon ließen sie und ihre Mädchen sich nicht beirren. Sie genossen es, bei jedem Wetter draußen unterwegs zu sein und kleine Ausflüge zu unternehmen.

»Mama, sieh nur!«, rief Leonie, die gerade die Enten fütterte. Sie balancierte auf einem großen Stein am Ufer und warf immer wieder kleine Stücke trockenen Brotes ins Wasser. Der Wind zerzauste ihre rehbraunen Zöpfe und zupfte an ihrem hellblauen Schal.

»Das machst du großartig, mein Schatz«, lobte Merle liebevoll. »Pass bloß auf, dass du nicht ins Wasser fällst, es ist eiskalt. Weißt du noch? Letzte Woche war der Teich sogar noch zugefroren.«

Als wollte sie ihr zustimmen, begann Lilly, im Kinderwagen zu brabbeln. Sie konnte noch keine klaren Wörter aussprechen, plapperte aber eifrig in ihrer ganz persönlichen Fantasiesprache. Merle musste lachen. Sie beugte sich vor und gab ihrem Töchterchen einen sanften Kuss auf die Nasenspitze.

Die Kinder waren ihr ganzer Stolz. Ein Leben ohne die beiden konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen.

Immer schon war es ihr größter Traum gewesen, Mutter zu werden, doch jahrelang hatte es nicht so ausgesehen, als würde sich dieser sehnliche Wunsch erfüllen. Sie hatte einfach nicht den passenden Partner gefunden, um eine Familie zu gründen. Zwar hatte sie einige Beziehungen gehabt, doch keiner der Männer hatte sich bereit gefühlt, Vater zu werden, und früher oder später waren all diese Romanzen auseinandergegangen.

Doch statt ihren drängenden Kinderwunsch zu begraben, hatte Merle ihnen nach anderen Lösungen gesucht. Sie war niemand, der sich leicht entmutigen ließ und einfach aufgab. Wenn es mit den Männern nicht klappte, würde sie eben allein eine Familie gründen, hatte sie kurzerhand beschlossen.

Freunde und Bekannte hatten den Kopf geschüttelt, als Merle ihnen von ihrem Plan erzählt hatte, es mit künstlicher Befruchtung zu versuchen und eine Samenbank zu kontaktieren. Merle nahm ihnen diese Reaktion nicht übel: Ihr war klar, dass der Weg, den sie gewählt hatte, ungewöhnlich war. Doch es war aus ihrer Sicht die einzige sinnvolle Möglichkeit gewesen, schwanger zu werden, und so hatte sie sich dafür entschieden.

Diese Entscheidung hatte sie niemals bereut, keine Sekunde lang. Durch die anonyme Samenspende war sie an zwei wundervolle Töchter gekommen, die sie über alles liebte und die ihr das Kostbarste auf der Welt waren.

Natürlich war es als alleinerziehende Mutter manchmal nicht einfach. Merle ging halbtags arbeiten und musste sich ansonsten rund um die Uhr um ihre Töchter kümmern, für alles war sie selbst verantwortlich, ohne die Verantwortung mit einem Partner teilen zu können. Ihre Eltern waren schon seit Jahren tot, doch sie hatten ihr das Haus und ein beträchtliches Vermögen vererbt, mit dem Merle jedoch sehr achtsam umging.

Andere Verwandte gab es leider auch nicht. Aber in Notfällen konnte sie sich stets auf Sally Jakobs verlassen, eine Studentin, die als Babysitterin einsprang, wann immer es nötig war. Sally war ein wahrer Goldschatz; Merle vertraute ihr blind, und die Mädchen liebten sie.

»Wir kommen bestens zurecht«, murmelte sie zufrieden, während sie Leonie beim Spielen zusah und gleichzeitig über Lillys Köpfchen streichelte. Allen Unkenrufen zum Trotz war Merle glücklich als alleinerziehende Mutter. Mit ihren Mädchen hatte sie bisher alle Herausforderungen und Probleme bewältigt, ohne je den Mut zu verlieren.

Sie streckte die Hand aus, um Lilly den Schnuller zu reichen, nach dem das Baby gerade tastete. Doch dann stöhnte sie gequält auf und fasste sich stattdessen an die Stirn. Ein grausamer Schmerz war in ihrem Kopf aufgeflammt.

Merle rang nach Luft und kniff die Augen zu. In letzter Zeit litt sie immer wieder unter diesen merkwürdigen Schmerzen, die sich anders anfühlten als alles, was sie bisher kannte. Meist schlug der Schmerz nachts oder am frühen Morgen zu und klang dann rasch wieder ab – jetzt wurde sie zum ersten Mal tagsüber davon überfallen.

Ihre Hände krampften sich um das kalte Holz der Parkbank. Sie bemühte sich, ruhig weiter zu atmen, und wartete darauf, dass die Pein nachließ. Übelkeit stieg in ihr hoch, und sie befürchtete plötzlich, sich mitten im Park vor den Augen ihrer Kinder übergeben zu müssen. Sie krümmte sich zusammen, barg das Gesicht in den Händen und zählte in Gedanken bis hundert, in der Hoffnung, sich dadurch vom Unwohlsein ablenken zu können.

»Mama? Mama! Ist alles okay?«, hörte sie Leonies dünnes Stimmchen neben sich.

Als Merle ihre Tochter anschauen wollte, sah sie erst verschwommen. Flimmernde Punkte und Flecken schienen vor ihren Augen zu tanzen. Es dauerte einen Moment, bis sie Leonie sah, die ganz blass geworden war und sie besorgt musterte.

»Alles in Ordnung, mein Liebling«, versicherte Merle und rang sich ein Lächeln ab. »Ich hab nur Kopfweh.«

Leonies Stirn runzelte sich bekümmert. »Gehen wir dann heute nicht ins Kino?«

»Aber doch, natürlich«, sagte Merle. »Bis zum Abend geht es mir bestimmt wieder gut.«

Sie hatte ihrer Tochter versprochen, mit ihr einen neuen Zeichentrickfilm im Kino anzusehen, während Sally auf Lilly aufpasste. Dieses Versprechen wollte sie nicht brechen. Sie nahm sich vor, eine Aspirin zu nehmen, sobald sie wieder zu Hause waren – wenngleich diese seltsamen Kopfschmerzen, die sie neuerdings immer wieder hatte, erstaunlich hartnäckig waren und sich durch Schmerzmittel kaum vertreiben ließen.

Als sie aufstand, musste sie sich kurz an der Banklehne festhalten, weil sich alles um sie drehte. Damit Leonie sich keine Sorgen machte, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen.

Während sie langsam nach Hause gingen, fragte Merle sich, was bloß mit ihr los war. War es möglich, dass sie plötzlich unter Migräne litt? Konnte man so etwas im Erwachsenenalter entwickeln?

Sie wusste es nicht, doch sie nahm sich fest vor, ihren Arzt beim nächsten Besuch darauf anzusprechen. Bis dahin wollte sie nicht zu viel darüber nachdenken, denn Kopfschmerzen waren nun wirklich nichts Besorgniserregendes.

***

»Alles in Ordnung, Merle? Du siehst ein wenig blass aus«, stellte Sally fest, sobald sie Merles Haus betreten hatte.

Merle seufzte. Die Kopfschmerzen hatten im Laufe der letzten Stunden zwar nachgelassen, aber immer noch fühlte sie sich leicht benommen.

»Mir ist ein wenig übel und schwindelig«, gestand sie. »Aber es geht schon. Danke, dass du dir heute Zeit für Lilly nimmst.«

»Ach, das mache ich doch gerne«, versicherte Sally lächelnd. Als sie Lilly aus ihrem Bettchen hob und auf den Arm nahm, strahlte die hübsche Blondine über das ganze Gesicht. Ihre Stimme wurde noch sanfter, als sie mit dem Baby sprach. »Nicht wahr, kleines Mädchen? Wir zwei machen uns einen gemütlichen Abend, sodass deine Mami mit deinem Schwesterchen ins Kino kann.«

Leonie kam herbeigelaufen. »Mama, Mama, kannst du mir die Schuhe zubinden?« Dem Mädchen fiel es noch schwer, eine Schleife zu binden.

Merle wollte sich bücken, um ihrer Tochter mit den Schuhen zu helfen, doch sobald sie sich vorbeugte, schoss erneut ein greller Schmerz durch ihren Kopf. Sie keuchte und streckte die Hand nach dem Türrahmen aus, um sich abzustützen. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, und als sie wieder sehen konnte, war alles um sie herum verschwommen. Die Welt schien auf und ab zu schwanken wie ein Schiff bei hohem Wellengang.

»Merle! O Gott, was ist los?«, rief Sally erschrocken aus. Rasch legte sie Lilly zurück in ihr Bettchen.

Merle öffnete den Mund, doch sie konnte nicht antworten. Stattdessen wimmerte sie leise. Der Schmerz war viel stärker als zuvor. Rote Blitze schienen durch ihren Kopf zu zucken.

Ihr Körper wollte ihr nicht mehr gehorchen. Als ihre Beine unter ihr nachgaben, prallte sie hart auf den Parkettboden.

Mit einem Mal spannten sich alle Muskeln in ihrem Körper an. Ein Ruck ging durch ihren Leib. Unkontrolliert begann sie zu zucken, ohne das Geringste dagegen zu tun zu können.

Sie hörte Leonie panisch kreischen. Sally schrie erschrocken auf, versuchte, Merles zuckende Arme und Beine festzuhalten und gleichzeitig den Notruf zu wählen. Lilly, die die plötzliche Hektik und den Lärm bemerkte, geriet ebenfalls in Panik und begann, herzzerreißend zu weinen.

Merle wollte ihre Kinder beruhigen, doch sie konnte nicht reden. Ihr Unterkiefer schmerzte, so verkrampft war er. Vor Angst schlug ihr Herz immer schneller. Sie stand die schlimmsten Schmerzen ihres Lebens aus, doch gleichzeitig fühlte sich ihr eigener Körper seltsam fremd an, so als wäre sie gar nicht sie selbst.

Die Dunkelheit, die ihren Geist einhüllte, erschien ihr beinahe als Gnade, weil sie die schrecklichen Kopfschmerzen auslöschte. Das Letzte, was Merle hörte, bevor sie das Bewusstsein verlor, waren die ängstlichen Stimmen ihrer weinenden Kinder.

***

Mit quietschenden Reifen hielt der Rettungswagen vor dem Haus. Dr. Andrea Bergen sprang aus dem Auto, noch bevor dieses ganz zum Stehen gekommen war. Die Notärztin eilte auf die offene Haustür zu, in der eine blonde junge Frau stand und hektisch winkte.

»Bitte kommen Sie schnell«, stieß die hübsche Blondine hervor. Tränen schimmerten in ihren hellblauen Augen. »Irgendetwas stimmt nicht mit Merle Wiedenhaupt, sie braucht ganz dringend Hilfe.«

So schnell wie möglich folgte Andrea Bergen der jungen Frau ins Haus, aus dem weinende Kinderstimmen drangen.

»Eine Nachbarin ist gekommen, um zu helfen. Sie ist mit den Kindern im Nebenzimmer und passt auf sie auf«, erklärte die blonde Frau rasch, während sie durchs Wohnzimmer hetzte.

Dann sah Andrea Bergen auch schon die Patientin: Sie lag in einer verkrampften Position am Boden. Ihr Körper zuckte unkontrolliert.

»Das geht nun schon mindestens zwanzig Minuten so«, schluchzte die Blonde.

»Ein epileptischer Anfall«, sagte die Notärztin, während sie sich neben die Patientin kniete. Sie blickte die blonde junge Frau nicht an, während sie weitersprach; sie war ganz auf die Patientin konzentriert. »Es war gut, dass Sie uns gerufen haben. Meist geht so ein Anfall nach wenigen Minuten von selbst vorüber. Dauert er länger als fünf Minuten, tut man gut daran, einen Notarzt zu rufen. Dann kann es nämlich zu einem Sauerstoffmangel im Gehirn kommen.«

Tatsächlich begann Merle bereits blau anzulaufen. Nun durfte keine Zeit verloren werden: Andrea musste die Atmung der jungen Frau sichern und dafür sorgen, dass die Krämpfe aufhörten. Nachdem sie sich einen raschen Überblick über den Zustand der Patientin verschafft hatte, beschloss sie, den epileptischen Anfall schnellstmöglich medikamentös zu unterbrechen.

»Kommen diese Krampfanfälle bei ihr häufig vor?«, fragte sie die blonde Frau knapp, während sie mit schnellen Handgriffen die Spritze vorbereitete. »Wissen Sie, ob sie regelmäßig Medikamente einnimmt, um solchen Anfällen vorzubeugen?«

Diese schüttelte den Kopf und wischte sich schniefend die Tränen von den Wangen.

»Sie hatte so etwas noch nie, soweit ich weiß. Das hätte sie mir bestimmt erzählt.«

Andrea verabreichte der Patientin das Midazolam intramuskulär. Als sie die Worte der blonden jungen Frau hörte, zog sie überrascht die Augenbrauen hoch. Im ersten Moment war sie davon ausgegangen, die Patientin sei Epileptikerin, und es sei nicht der erste Vorfall dieser Art. Ein so schwerer Anfall, der erstmalig auftrat, konnte unterschiedliche Ursachen haben – er konnte harmlos sein, doch es gab mögliche Auslöser, die alles andere als erfreulich waren. Ein Infarkt oder ein Tumor konnte solche Krämpfe auslösen.

Beklommen hörte Andrea die weinenden Kinder aus dem Nebenzimmer und blickte auf die Patientin hinab, die immer noch krampfte. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass in diesem Fall nichts Schlimmes hinter den Krämpfen steckte.

***

Sally Jakobs zitterte, als sie dem Rettungswagen hinterherblickte. Die Notärztin, der Rettungssanitäter und der Rettungsassistent hatten Merle gerade mithilfe einer Trage in den Wagen transportiert und fuhren nun mit ihr auf direktem Wege ins Elisabeth-Krankenhaus. Am liebsten wäre Sally auch sofort dorthin gefahren, doch sie wusste, worauf es nun wirklich ankam: Sie musste sich zuerst um die Kinder kümmern und sie beruhigen. Damit konnte sie Merle nun am besten helfen.

Doch zuerst brauchte sie eine Sekunde, um durchzuatmen. Wenn die Kinder ihr anmerkten, wie aufgewühlt sie war, würden sie erst recht in Panik geraten. Der Schreck saß Sally noch in den Knochen, ihr Herz pochte wie verrückt, und ihre Hände waren schweißnass.

Noch nie hatte sie ihre Chefin so gesehen – eigentlich war sie überhaupt noch niemals Zeugin einer solchen Szene geworden. Natürlich hatte sie schon von epileptischen Anfällen gehört und in etwa gewusst, was dabei geschah, doch es war etwas ganz anderes, so etwas mit eigenen Augen zu sehen. Einen schrecklichen Moment lang hatte sie gedacht, Merle müsste sterben.

Zum Glück war die Notärztin so schnell eingetroffen. Bis zu ihrer Ankunft war Sally völlig überfordert gewesen. Sie hatte furchtbare Angst gehabt, alles noch schlimmer zu machen. Anfangs hatte sie versucht, Merles unkontrolliert zuckende Arme und Beine festzuhalten, doch das war kaum möglich gewesen, und so hatte sie sich darauf beschränkt, alle Gegenstände und Möbel um Merle herum wegzuräumen, sodass die Krampfende sich daran nicht verletzen konnte.

Zu ihrer Erleichterung hatte die Notärztin bestätigt, dass sie damit genau richtig gehandelt hatte. Es war wichtig, Patienten während epileptischer Anfälle nicht festzuhalten und ihnen nichts zwischen die Zähne zu stecken, sondern nur bestmöglich dafür zu sorgen, dass sie sich nicht selbst verletzen konnten. Das Wissen, alles richtig gemacht zu haben, beruhigte und tröstete Sally ein wenig.

Doch trotzdem machte sie sich immer noch große Sorgen. Ihr war der beunruhigte Blick der Ärztin nicht entgangen. Andrea Bergen schien sich Sorgen um Merle zu machen, dabei waren die Krämpfe und Zuckungen nach der Spritze doch rasch zurückgegangen. Was befürchtete die Notärztin bloß? Musste man bleibende Schäden befürchten? Handelte es sich um mehr als nur einen einmaligen Anfall?

Sie seufzte bekümmert, dann atmete sie noch einmal ganz tief ein und aus, zupfte ihren Zopf zurecht und strich ihren Rock glatt. Bevor sie das Zimmer betrat, in dem die Nachbarin mit den Kindern wartete, versuchte sie sich an einem Lächeln. Dann erst lief sie auf Leonie und Lilly zu, nahm die beiden in ihre Arme, trocknete ihre Tränen und versicherte ihnen, dass sie ihre Mutter bald wiedersehen würden.

***