Salz der Hoffnung - Patricia Shaw - E-Book

Salz der Hoffnung E-Book

Patricia Shaw

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Beschreibung

Regal Hayes wird mit einem Schlag Millionärin, als ihr Großvater stirbt und ihr unerwartet ein beträchtliches Vermögen hinterlässt. Als Waise aufgewachsen, ist sie alles andere als verwöhnt. Das Testament ihres Großvaters enthält einen Hinweis auf ihren Vater, den sie niemals kennen gelernt hat, und sie beschließt, ihn zu suchen. Die Spur führt sie nach London. Auf einer Abendgesellschaft begegnet sie dem dänischen Kapitän Jorge Jorgensen. Er platzt unangemeldet herein und zieht durch seinen überwältigenden Charme sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Doch Jorgensen interessiert sich nur für Regal, und eine stürmische Liebesgeschichte beginnt ...

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Patricia Shaw

Salz der Hoffnung

Roman

Aus dem australischen Englisch von Ingrid Krane-Müschen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

FÜR ULRICH STAUDINGER MIT [...]1. Regal2. Polly3. Regal4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelEpilog

FÜR ULRICH STAUDINGER MIT DANK

An seine Geliebte:

 

Vermöge ich wie durch ein Wunder dir die Treu zu halten jetzt und hier, wär’s alles, was der Himmel uns gewährt.

 

John Wilmot, Earl of Rochester

(1674–1680)

»Liebe und Leben«

[home]

1.Regal

Boston 1788

Das Mädchen stand vor dem großen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen und staunte. Sie befühlte ihren blauen chinchillabesetzten Mantel und zog die dazugehörige Haube über ihre blonden Locken, bis ihr Gesicht von dem weichen Pelz umrahmt war. Feierlich betrachtete sie ihr Spiegelbild. Es war, als sei eine unbekannte Schönheit plötzlich in ihr Leben getreten. Sie hob den Fuß und streckte ihn vor sich aus, bis er sein Gegenüber im Spiegel beinah berührte. Bewundernd betrachtete sie ihre neuen, auf Hochglanz polierten Schuhe mit den eleganten schwarzen Schleifen. Es waren zweifellos die hübschesten Schuhe, die sie je gesehen hatte.

»Du siehst doch tatsächlich aus wie ein Engelchen«, rief Jessie lachend. »Aber du mußt dich jetzt auch so benehmen, Missy. Das ist eine richtig vornehme Schule, da läßt man sich deinen Schabernack nicht bieten. Du bist jetzt eine junge Dame.«

Jessie war Großmutters Hausmädchen, und sie war alt, ebenso alt wie ihre Großeltern, doch Regal mochte Jessie lieber. Die Großeltern waren ganz in Ordnung für alte Leute, aber Großvater hatte nie Zeit, und Großmutter fand immer irgend etwas an ihr auszusetzen. Regal vermutete, sie waren erleichtert, daß sie jetzt ein großes Mädchen war – heute war ihr neunter Geburtstag – und sie sie zur Schule schicken konnten. Regals früheste Erinnerungen waren Großmutters Ermahnungen an Jessie und Mrs. Hobway, die Köchin, ihr doch endlich dieses Kind aus dem Wege zu schaffen. Und das war seltsam, denn sie konnte sich überhaupt nicht entsinnen, irgendwem je den Weg irgendwohin versperrt zu haben. Aber so war das eben: keiner hatte sich besondere Mühe gegeben, vor ihr zu verbergen, daß sie für die Menschen in diesem großen Haus – ihrem Heim – eine Plage war. Sie war ein einsames Kind und manchmal war sie wütend, daß sie keine Eltern hatte wie andere Kinder auch, Eltern, die sie liebten und verwöhnten und ihr Geschichten vorlasen. Jede Wette, wenn die arme Polly noch am Leben wäre, wäre sie die beste Mutter auf der ganzen Welt …

»Hier ist dein Muff«, sagte Jessie. »Auch aus Chinchilla. Er hat innen eine Tasche, ich habe dein Taschentuch hineingesteckt.«

Großmutter kam herein und sie sah ebenfalls sehr fein aus in ihrem besten braunen Seidenkleid mit dem weiten Reifrock. »Ist sie fertig?«

»Ja, Ma’am«, sagte Jessie, und Großmutter nickte. »Also, dann komm, Missy. Dein Großvater wartet.«

Sie stiegen die breite Treppe hinab. Regals Schuhe rutschten auf dem Teppichbelag, und sie klammerte sich am Geländer fest, aber als sie die Halle auf dem Weg zu Großvaters Arbeitszimmer durchquerten, vergnügte sie sich mit einer Schlitterpartie.

»Geh anständig«, fuhr die Großmutter sie an. »Und halte dich gerade.«

Regal mochte dieses geheimnisvolle Zimmer gern. Den Geruch von alten Büchern und Papier, die faszinierenden Schubladen und die kleinen Fächer in Großvaters Schreibtisch, den Spucknapf und den schweren Messingaschenbecher, der wie Gold glänzte. Auf einem niedrigen Tisch stand in einem Glaskasten das Modell eines Segelschiffes, ein Spielzeugschiff mit großen Segeln, das aber nie jemand herunternahm. Sie ließen es einfach dort auf dem Trockenen, und das Schiff wartete immer noch darauf, erprobt zu werden, und sei es nur auf einem Tümpel. Das arme Schiff tat Regal leid, aber sie hatte es noch niemals anfassen dürfen. Der Glaskasten blieb verschlossen. Immer.

Großvater wandte sich mit seinem Drehstuhl um und sah sie an. Beißender Zigarrenqualm erfüllte die Luft. »Ah! Wen haben wir denn da?«

Großmutter stieß Regal vorwärts. »Was denkst du?«

Er rückte seine Brille zurecht und lächelte. »Ist das unser Mädchen? Ich hätte sie kaum erkannt, sie sieht ja so elegant aus! Dreh dich um, Missy, und laß dich anschauen.« Regal drehte sich einmal um die eigene Achse. »Unter dem Mantel hab’ ich ein weißes Schulkleid«, verkündete sie, als sie wieder Auge in Auge mit ihm stand. »Mit einem blauen Kittel drüber.«

»Schürze«, verbesserte Großmutter. »Man nennt es eine Schürze, nicht Kittel.«

»Nun, wie auch immer, ich bin überzeugt, sie wird hübscher aussehen als alle anderen Mädchen in dieser Schule. Du kannst wirklich stolz auf dein Werk sein, Ettie.« Er lehnte sich zurück und zog die Stirn in Falten. »Aber was ist mit ihren Schulbüchern? Ein Mädchen kann doch nicht ohne Papier und Bleistift in die Schule gehen.«

Regal erschrak. Sie hatte gedacht, diese Sachen würde sie vom Pringle-Seminar für junge Damen gestellt bekommen. Sie zog eine Hand aus ihrem Muff und saugte nervös an den Fingerknöcheln.

Aber dann lachte Großvater, griff unter seinen Schreibtisch und förderte einen kleinen Lederranzen zutage. »Sieh mal her.« Er öffnete den Ranzen, und sie spähte hinein. Erleichtert entdeckte sie einen Griffelkasten und einige Schulbücher.

»Du kannst dich glücklich schätzen«, belehrte Großmutter sie. »Du hast alles bekommen, was du brauchst, dein Großvater war sehr großzügig zu dir.«

Selig nahm Regal ihren Ranzen entgegen. Sie hätte gerne ihre Arme um Großvaters Hals geschlungen und sich bedankt, hätte sie beide gerne geküßt für die wunderbaren Geschenke, aber die beiden waren so groß und so unnahbar, und außerdem war sie zu beschäftigt mit den komplizierten Schnallen ihres Schulranzens.

»Und? Was sagt man?« fragte Großmutter scharf. »Wir warten. Du könntest dich zumindest bedanken.«

»Das wollte ich ja gerade«, verteidigte sie sich entrüstet.

Aber Großmutter schüttelte den Kopf. »Sei ja nicht vorlaut, Missy. Sie werden allerhand zu tun haben, dir Manieren beizubringen in dieser Schule. Aber du wirst es schon lernen.«

»Für das Geld, das sie verlangen, sollen sie sich nur ordentlich bemühen«, bemerkte Großvater und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. Die Unterhaltung war somit beendet.

»Du kannst es dir schließlich leisten, Jasper«, erwiderte Großmutter gereizt und führte Regal hinaus.

Jessie wartete schon mit Großmutters Umhang und dem großen Hut mit den Satinbändern, und sie sahen beide zu, während Großmutter ihn zurechtrückte und mit einer perlenverzierten Hutnadel feststeckte. Schließlich reichte Jessie Großmutter die glitzernde Diamantbrosche in der Form eines Schmetterlings, die sie sich an den Kragen ihres Umhangs steckte. Sie überprüfte ihre Erscheinung im Spiegel der Eingangshalle und beugte sich, nachdem sie alles zu ihrer Zufriedenheit gefunden hatte, zu Regal hinab und zupfte ihren Mantel zurecht. »Gib ja gut auf diesen Mantel acht. Es wird nicht viele Mädchen in der Schule geben, die einen solchen Mantel besitzen. Es ist das beste, wenn man ihnen von Anfang an zu verstehen gibt, daß die Hayes’ eine Familie von Bedeutung sind in Boston. Diese Leute von der Schule wissen vielleicht noch nicht, wer wer ist in der Stadt, die Schule ist ja noch neu. Hast du dein Taschentuch?«

»Ja.«

»Gut. Du siehst ordentlich aus. Vergiß nicht, spare niemals an deiner Kleidung. Dein Äußeres kann dein bester Fürsprecher sein.«

 

Das Zimmer der Direktorin war von einem warmen Licht erfüllt, und es roch nach frischer Farbe und Möbelpolitur. Die Dame, die sie zu den zwei Stühlen vor dem mit Büchern und Papieren übersäten Schreibtisch geführt und dann selber dahinter Platz genommen hatte, trug ein strenges, schwarzes Sergekleid – ein auffälliger Kontrast zu der Vase mit den cremeweißen Rosen, die auf einer halbhohen Säule in einem Erker stand.

Regal kannte ein paar der Mädchen, die diese Schule besuchten, und sie war enttäuscht gewesen, keine von ihnen zu sehen, als sie die Auffahrt entlangkamen. Es war geradezu unglaublich still für eine Schule. Sie hatte geglaubt, in Schulen gehe es stets geräuschvoll und lebhaft zu – so war es ihr jedenfalls erschienen, wann immer sie an einer vorbeigegangen war. Aber vermutlich waren um diese Zeit alle Schülerinnen beim Unterricht. Es war zehn Uhr morgens am schönsten Tag ihres Lebens, ihrem neunten Geburtstag. Bis heute war sie nur von Hauslehrern unterrichtet worden.

Die Direktorin unterhielt sich mit Großmutter, und Regal wünschte, die beiden Damen kämen endlich zum Ende und würden ihr erlauben zu gehen, damit sie diesen interessanten Ort erkunden könnte. Hier gab es sogar einen richtigen Glockenturm! Sie hockte still auf der Kante des harten Stuhls und schwitzte in ihrem neuen Mantel, aber sie wagte nicht zu fragen, ob sie ihn ausziehen dürfe.

Es schien irgendwelche Schwierigkeiten zu geben. Die Direktorin schlug ein dünnes Büchlein auf und entnahm ihm einige Blätter. Regal sah auf den Wangen der Dame zwei rote Flecken brennen, außerdem hielt sie den Blick gesenkt, während sie in höflichem Tonfall, der seltsam aufgesetzt wirkte, mit Großmutter sprach.

»Vielleicht handelt es sich lediglich um ein Mißverständnis«, murmelte sie. »Wie gesagt, ich hatte angenommen, die junge Dame sei Ihre Tochter.«

»In meinem Alter wohl kaum.« Großmutter lächelte, doch Regal hörte eine eigenartige Anspannung in ihrer Stimme.

»Aber in diesem Sinne haben sie den Aufnahmeantrag ausgefüllt, Mrs. Hayes.«

»Es macht doch letztlich keinen Unterschied …« Großmutter hob leicht die Schultern.

»Doch, allerdings. Der Schulrat hat mich auf diese Angelegenheit hingewiesen. Man macht mich für diesen Irrtum verantwortlich.«

»Meine Güte, es ist doch wirklich keine große Affäre«, versicherte Großmutter beschwichtigend. »Und ganz einfach zu erklären: Regal ist das Kind unserer Tochter. Unserer verstorbenen Tochter Polly.«

Regal nickte. Polly, ganz recht. Die wunderschöne Dame, die bei ihrer Geburt gestorben war.

Die Direktorin spitzte die schmalen Lippen, raschelte mit ihren Papieren und sah Großmutter scharf an. Ein argwöhnischer, anklagender Blick. Regal sollte ihn niemals vergessen. »Mrs. Hayes, wenn dies das Kind ihrer Tochter ist, wieso ist sein Name dann Hayes?«

Während Großmutter noch an ihrem Handschuh zupfte, konnte Regal nicht mehr an sich halten. »Wie soll ich denn sonst heißen?« platzte es aus ihr heraus.

»Sei still«, befahl Großmutter, ohne die Frage zu beantworten.

»Vielleicht könnten Sie uns ja Regals Geburtsurkunde vorlegen«, schlug die Direktorin vor, aber Großmutter schüttelte den Kopf. »Das ist zu schwierig. Sie wurde in Halifax in Kanada geboren, ist aber hier in Boston aufgewachsen.«

»Dann könnten Sie uns doch sicher den Namen des Vaters für unsere Akten mitteilen.«

Regal horchte auf. Sie war immer davon ausgegangen, daß ihr Vater ebenfalls tot sei, darum hatte sie nie viel Sinn darin gesehen, seinen Namen zu kennen, und zu Hause sprachen sie immer nur von Polly.

Großmutter schien es jetzt ebenfalls zu warm zu sein. »Sie verstehen doch sicher, daß diese Dinge …«

Die Direktorin räusperte sich, und der Laut drückte Mißbilligung aus. »Es ist keine Frage des Verstehens, Mrs. Hayes, sondern der Gepflogenheiten an dieser Schule. Wir unterrichten hier junge Damen aus den besten Familien Bostons. Ich bedaure Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir Ihrem Aufnahmeantrag nicht entsprechen können.«

»Was reden Sie da!« schrie Mrs. Hayes. »Sie haben bereits das Schulgeld für das erste Halbjahr erhalten und eine sehr großzügige Spende von Mr. Hayes noch dazu.«

»Das wird Ihnen alles zurückerstattet«, erwiderte die Frau. »Hätten Sie den Aufnahmeantrag von vornherein wahrheitsgemäß ausgefüllt, wäre es zu dieser peinlichen Situation gar nicht erst gekommen. Sie müssen doch gewußt haben, daß wir keine unehelichen Kinder aufnehmen, wo wir hier den strengen Maßstäben der Wesley-Methodistenkirche folgen.«

»Wie können Sie es wagen …« Mrs. Hayes packte Regal und zerrte sie aus ihrem Stuhl. »Und Sie nennen sich Christen! Erstatten Sie Mr. Hayes umgehend sein Geld, Madam, sonst schicken wir Ihnen den Sheriff auf den Hals!«

So schnell ging es aus dem Gebäude und auf die Straße hinaus, daß Regal kaum Schritt halten konnte. Auf dem ganzen Heimweg weinte Großmutter, was Regal angst machte, und immerzu wiederholte sie: »Nie im Leben bin ich so gedemütigt worden. Niemals!«

Sie riß das Tor auf und stieß Regal hindurch. Die neue Schule und die Geburtstagsfreude waren vergessen. Großmutter hämmerte gegen die Tür, statt ihren Schlüssel zu benutzen. Sie sah auf Regal hinab, ihr Gesicht rot vor Zorn. »Diese Polly. Ich wünschte, sie wäre nie geboren worden!«

Regal zuckte zusammen. Ganz gleich, was Großmutter sagte, sie verstand mit schmerzhafter Deutlichkeit, daß sie in Wahrheit gar nicht die arme Polly meinte, sondern sie, Regal. Sie allein trug die Schuld an allem. Sie war immer nur eine Last für ihre Großeltern gewesen, und irgendwie hatte sie heute alles noch schlimmer gemacht.

In der Nacht träumte sie, ein Engel sei zu ihr gekommen, und der Engel war Polly, ihre schöne Mutter. Sie nahm ihre Hand, und zusammen gingen sie fort, ließen das düstere alte Haus hinter sich und liefen, bis sie zu einem wunderschönen weißen Häuschen im Wald kamen. Doch dann wachte sie weinend auf, denn plötzlich war Polly verschwunden und ein kalter, trüber Tag war angebrochen.

 

Fortan wurde der blaue Mantel nur bei festlichen Anlässen aus dem Schrank geholt, und Regal kam nach Saint Ives, einer kleineren, von einem Ehepaar betriebenen Schule. Mr. Trotter unterrichtete die Jungen, seine Frau die Mädchen, und im Schulhof waren die Geschlechter durch eine hohe Hecke streng voneinander getrennt. Dieses Mal brachte Jessie sie bis zum Schultor, und da der Weg über die Straße eine Meile weit war, nahmen sie eine Abkürzung über die Felder. Ihre neuen Schuhe waren zu fein für eine Wanderung dieser Art, also trug sie Stiefel.

Die Jungen lugten durch die Hecke, und ein paar Mädchen blieben stehen und starrten Regal an, als sie ganz allein den Schulhof überquerte. Er kam ihr so endlos vor wie das Meer. Sie wußten es, dachte sie. Sie alle wußten, daß sie von der ›guten‹ Schule abgewiesen worden war. Regal hörte das Gekicher sehr wohl, sah aus dem Augenwinkel Finger, die auf sie zeigten. In ihrer Hast stolperte sie auf den Stufen und fiel der Länge nach hin. Sie landete genau zu Mrs. Trotters Füßen.

»Wer bist denn du?« fragte die kleine, rundliche Frau.

»Regal Hayes«, murmelte sie und hob ihren Ranzen auf. Hinter sich hörte sie höhnisches Gelächter.

»Ach richtig, Regal. Ich hatte ganz vergessen, daß heute dein erster Tag ist. Ich bin Mrs. Trotter. Komm nur mit mir. Meine Güte, was hast du für einen hübschen Ranzen.«

Regal war vor Angst wie erstarrt, aber dann regte sie sich und folgte ihr einen langen, kahlen Flur entlang in ein Klassenzimmer. Im Raum war es kalt. Schulbänke standen in mehreren Reihen gegenüber einer Tafel.

Mrs. Trotter zeigte auf eine der Bänke. »Setz dich hierhin, Regal. Ich bin gleich zurück.«

Regal schlüpfte in die Schulbank, umklammerte ihren Ranzen und wartete auf das Unvermeidliche: Mrs. Trotter würde zurückkommen und sie hinauswerfen. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich den langen, einsamen Rückweg über den Schulhof ausmalte, wieder gedemütigt, von allen angestarrt und ausgelacht. Vielleicht warfen sie sogar Steine nach ihr, um sie fortzujagen. Jeden Augenblick würde Mrs. Trotter auf diese geheimnisvolle Weise der Erwachsenen herausbekommen, daß sie ein uneheliches Kind war. Oh ja, Regal kannte das Wort inzwischen. Freundinnen, die nicht mehr ihre Freundinnen waren und auf die feine Pringle-Schule gingen, hatten ihr dieses Wort auf der Straße nachgerufen, voller Verachtung für das Mädchen, das nicht gut genug war, mit ihnen zu verkehren. An dieser Schule hier kannte Regal niemanden, aber es würde nicht lange dauern, bis diese Fremden Zeugen wurden, wie man sie hinauswies. Und sie würden sie auf der Straße wiedererkennen und ihr den Rücken zukehren. Regal wünschte, sie wäre tot. Ganz gleich, was sie zu Hause sagten, ganz gleich, welche Strafe ihr drohte: Wenn das hier vorbei war, wollte sie nie wieder einen Fuß in eine Schule setzen. Und wenn sie sie schlugen, bis sie blutete. Dann würde sie eben als Märtyrerin enden.

Leise traten die Mädchen nach und nach ein und stellten sich neben ihre Pulte. Ihre Nachbarin stieß Regal an, um ihr zu bedeuten, sie müsse aufstehen, aber Regal kauerte sich zusammen, um möglichst unsichtbar zu bleiben, bis es Zeit wäre, sich davonzuschleichen.

Dann stand Mrs. Trotter mit einemmal vor ihnen und wünschte ihnen einen guten Morgen. Die Mädchen erwiderten den Gruß, ehe sie sich setzten.

Regals Kopf berührte beinah ihr Pult. Wie eine Angeklagte wartete sie mit gesenktem Kopf, daß ihr Urteil verkündet würde. So nahm sie kaum zur Kenntnis, was Mrs. Trotter sagte. »Wir haben eine neue Mitschülerin bekommen. Miss Hayes. Regal Hayes. Und weil sie neu bei uns ist, möchte ich, daß ihr besonders nett zu ihr seid. Und jetzt wollen wir Regal alle willkommen heißen.«

Regal tauchte wie aus einem kalten, feuchten Nebel auf. Als sie vorsichtig den Kopf hob, sah sie sich von lächelnden Gesichtern umringt. Die Mädchen klatschten alle in die Hände. Sie spendeten ihr Beifall! Regal brachte ein Lächeln zustande, ein Lächeln der Erleichterung und der Dankbarkeit, daß vor allem Mrs. Trotter galt. Was für eine nette Dame!

Und somit hatte ihre Schulzeit begonnen. Sie gewöhnte sich schnell ein und genoß den langen Schulweg über die Felder, doch die ganze Zeit verspürte sie das drängende Bedürfnis, etwas über die Ursache ihrer Schande herauszufinden. Eifrig studierte sie die dicken Bände der Enzyklopädie in der Schule und fand schließlich den Begriff der ›unehelichen Geburt‹. Sie verstand immer noch nicht so recht, was es bedeuten sollte, aber sie war seit jeher ein entschlossenes Kind gewesen. So leicht gab sie nicht auf! Sie wußte, es hatte keinen Sinn, die Erwachsenen direkt zu fragen, sie gaben einem niemals offene Antworten. Allerdings hatte langjährige Erfahrung sie gelehrt, welche Methode sich am besten dazu eignete, an Informationen zu gelangen. Man mußte einfach eine Behauptung aufstellen. Wenn man Unrecht hatte, fielen sie alle über einen her. Passierte das nicht, hatte man seine Antwort.

»Mrs. Hobway«, fragte sie also die Köchin, »wußten Sie eigentlich, daß ich unehelich geboren bin?«

Die Köchin war so erschrocken, daß sie beinah ins Mehlfaß gefallen wäre. »Was redest du da, Regal? Du darfst über solche Dinge nicht sprechen.«

»Aber es ist doch wahr.«

»Nun ja, es stimmt schon, aber darüber solltest du dir keinen Kopf machen.«

Tu ich auch nicht, dachte Regal. Ich muß es nur tragen wie eine Narrenkappe. Sie zitierte etwas, das sie im Zusammenhang mit ›leichtfertigen‹ Frauen gelesen und das sie erschreckt hatte, denn sie fürchtete, es könne auf die arme Polly zutreffen: »Meine Mutter hat teuer bezahlt für ihre Sünden«, verkündete sie feierlich. Sie hatte ihre Angel ausgeworfen.

Mrs. Hobway seufzte. »So sagen es die Leute zumindest. Aber das ist keine sehr barmherzige Weise, die Dinge zu sehen.«

Also stimmte es! Frauen, die uneheliche Kinder bekamen, waren leichtfertig und mußten teuer bezahlen. Diese Befragung ließ sich ja überraschend gut an. »Genau wie mein Vater«, sagte sie bekümmert. »Er ist auch tot. Also hat auch er teuer bezahlt.«

»Dein Vater?« Mrs. Hobway sah sie verdutzt an. »Nun, ich weiß nichts über ihn, aber Männer zahlen nicht für ihre Sünden, mein Kind. Ich weiß nicht, wie du auf eine solche Idee kommst. Frauen zahlen, allerdings«, brummte sie düster. »Sie zahlen immer die ganze Zeche. Ich weiß, wovon ich rede.«

Sie wandte sich wieder ihrem Blätterteig zu und war bald tief in Gedanken versunken. Regal ging hinauf in ihr Zimmer. Das war ja hochinteressant. Männer zahlten also nicht für ihre Sünden. Aber warum nicht? Sie sah aus dem Fenster. Zwei Fischer zogen ihr Boot die Uferböschung des Flusses hinauf. »Männer büßen also nicht«, sagte sie erbittert und dachte an die arme Polly. »Das wollen wir doch erst mal sehen.«

 

Regal war recht glücklich in Saint Ives. Sie brachte gute Zeugnisse nach Hause, sehr zur Zufriedenheit ihrer Großeltern. Doch die Menschen außerhalb dieser kleinen Welt verunsicherten sie. Die Nachbarn in den anderen großen Häusern entlang der Carriage Road begegneten ihr höflich, aber niemals wurde sie zu ihren Festen oder Picknicks eingeladen. Ihre Großeltern hatten nur noch selten Gäste, bis auf den kleinen Kreis alter Freunde. Und Regals beste Schulfreundin stellte sie vor neue Probleme. Zwar wurde Judith im Hause der Hayes’ willkommen geheißen, doch bei keiner ihrer anderen Freundinnen. »Das ist, weil ich Jüdin bin«, erklärte sie Regal. Regal fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte, und ob es noch schlimmer war, als unehelich zu sein.

»Sei nicht traurig«, sagte sie zu Judith. »Wenn sie dich nicht einladen, gehe ich auch nicht hin.«

Judith war von der Loyalität ihrer Freundin tief beeindruckt, doch von dem Zorn, der in Regal brodelte, ahnte sie nichts. Schwarze Listen aufzustellen war für Judith nur ein Spaß, aber Regal bedeutete es mehr als nur romantische Phantastereien. Sie sah darin eine Gelegenheit, es dieser Stadt heimzuzahlen, die sie so tief verletzt hatte. Sie war sich bewußt, daß sie sich dadurch nur noch weiter isolierte, doch das kümmerte sie nicht.

 

Die beiden Mädchen waren unzertrennlich. Als das letzte Schuljahr anbrach, erblühte Judith jedoch zu einer dunklen Schönheit mit olivfarbener Haut, sanften, braunen Augen und einer hinreißenden Figur, während Regal groß und schlaksig wirkte, sich mit Pickeln herumplagte und ohne viel Erfolg versuchte, ihr weiches, gelocktes Haar mit großen Schleifen zu bändigen. Judiths Mutter schien tagein, tagaus damit beschäftigt, ihrer Tochter neue Kleider zu nähen, aber wenn Regal um neue Kleider bat, sagte ihre Großmutter: »Warte, bis du dich ein bißchen entwickelst. Im Augenblick wäre es nur Verschwendung.«

Und was, wenn sie sich niemals entwickelte? Unglücklich betrachtete Regal ihre flache Brust im Spiegel. Neben Judith wirkte sie wie ein Klappergerippe. Die Jungs nahmen sie überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern scharten sich um Judith, wollten ihr die Bücher tragen und wichen nicht von ihrer Seite. Regal neidete ihrer Freundin den Erfolg nicht, aber sie war zutiefst deprimiert. Und damit nicht genug, schien die jüdische Gemeinde ständig irgend etwas zu feiern zu haben. Judiths Leben war ein ununterbrochener Reigen aus Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Festen, von denen Regal ausgeschlossen blieb.

»Sie wollen, daß die jungen Männer jüdische Mädchen heiraten«, erklärte Judith. »Darum werden keine nichtjüdischen Mädchen eingeladen, ganz gleich, wie nett sie auch sein mögen. Es ist nichts Persönliches, Regal.«

Nichtsdestotrotz entfremdeten die Freundinnen sich allmählich. Regal versuchte, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen, während sie zunehmend vereinsamte, und versicherte Judith, sie vestehe schon. Doch in Wirklichkeit litt sie, und der altbekannte Zorn regte sich wieder. Keine jungen Männer klopften schüchtern an ihre Tür, keine Scharen junger Leute bevölkerten die Auffahrt zum prachtvollen Haus ihrer Großeltern, keine Einladungen landeten in ihrem Briefkasten. Und wenn sie sich bei ihrer Großmutter beschwerte, daß sie niemals Spaß habe, wurde sie mit einem knappen »Dafür ist später noch Zeit genug« abgespeist.

»Aber warum kann ich keine Gesellschaften ausrichten und ausgehen wie die anderen Mädchen auch?«

»Weil es nicht geht, darum. Du bleibst schön zu Hause und wahrst den Anstand.«

Was sollte das denn schon wieder bedeuten, fragte Regal sich mißmutig.

Doch bald traten andere Sorgen in den Vordergrund. Mit Großmutters Gesundheit stand es nicht zum besten. Sie klagte über Schmerzen, und der Doktor wurde gerufen. Nachdem er Ettie untersucht hatte, blieb er lange bei Großvater im Arbeitszimmer. Jessie und Mrs. Hobway flüsterten miteinander und weigerten sich, mit Regal über diese Angelegenheit zu sprechen. So wußte sie nur, daß Großmutter offenbar an einer Krankheit litt, die so entsetzlich war, daß man nicht einmal ihren Namen aussprechen durfte.

Regal tat, was sie konnte. Sie leistete ihrer Großmutter Gesellschaft, las ihr vor, brachte ihr das Essen und sah zu, wenn Jessie ihr das furchtbare Laudanum gegen die Schmerzen verabreichte. Sie weinte und fühlte sich nutzlos, wenn sie die alte Dame schreien hörte, weil die Schmerzen unerträglich wurden. Regal war erschüttert, als sie erkannte, daß ihre Großmutter im Sterben lag, und sie flehte ihren Großvater an, er möge doch irgend etwas tun, um die Qual des nunmehr so gebrechlichen Wesens dort oben im Krankenbett zu beenden.

»Niemand kann mehr irgend etwas für sie tun«, sagte er niedergeschlagen. »Niemand.«

»Wird sie sterben?«

Er wandte sich ab. »Ja.«

»Aber es muß doch irgend etwas geben, das wir tun können«, schrie sie ihn an. »Wie kannst du einfach so dasitzen und zusehen, wie sie leidet? Sie hat grauenhafte Schmerzen!«

»Laß mich zufrieden«, schrie er zurück. »Laß mich zufrieden!«

Manchmal stand Regal vor seinen Waffen und betrachtete sie. Sie konnte schießen. Er hatte ihr beigebracht, wie man mit einem Gewehr umging, hatte sie mitgenommen, wenn er sich mit seinen Freunden zum Pistolenschießen traf, denn er war stolz, daß seine Enkelin ein so gutes Auge hatte. Regal wünschte, sie könnte jetzt eine dieser Pistolen nehmen und ihre Großmutter von ihrem Leiden erlösen, aber dazu fehlte ihr der Mut. Und ihrem Großvater erging es vermutlich ebenso.

 

An einem regnerischen Tag im Februar starb ihre Großmutter schließlich. Regal sah in ihrem Tod eine Gnade, doch Großvater war erschüttert. Nach der Beerdigung war er offensichtlich von der Vorahnung beseelt, daß auch sein Leben zu Ende ging. Er führte Regal in sein Arbeitszimmer und gab ihr den roten Lederkasten mit dem Schmuck ihrer Großmutter. »Hier, das gehört jetzt dir, Missy. Gib gut darauf acht. Und hier ist noch etwas, das du an dich nehmen solltest. Deine Geburtsurkunde.«

Sie war sehr aufgeregt, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie hatten Großmutter gerade erst zur letzten Ruhe gebettet, alle trauerten, also dankte sie ihm mit dem gebotenen feierlichen Ernst.

»Du brauchst nicht weiter zur Schule zu gehen«, fuhr er fort. »Ich will nicht, daß die Dienstboten sich auf die faule Haut legen. Solange deine Großmutter noch lebte, wollte ich nicht, daß sie glaubt, jemand verdränge sie von ihrem Platz, aber von nun an wirst du dich um den Haushalt kümmern.«

»Jessie und Mrs. Hobway sind doch nicht faul«, wandte Regal ein. »Sie wissen, wie man das Haus zu führen hat.« Aber er war nicht umzustimmen. »Ettie hat über das Haushaltsgeld verfügt, den Dienstboten Anweisungen erteilt und sie bezahlt. Ich möchte mit diesen Dingen nicht behelligt werden und will auch nicht, daß mein Geld verschleudert wird. Du wünschst dir ja bestimmt nicht, irgendwann am Bettelstab enden. Darum nehme ich dich von der Schule.«

»Aber dies ist mein letztes Jahr«, jammerte sie. »Ich habe so hart gearbeitet, um ein gutes Abschlußzeugnis zu bekommen. Wenn ich jetzt von der Schule gehe …«

»Darüber brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen. Ein Abschlußzeugnis ist nur ein Fetzen Papier. Ich selbst bin auch nicht allzulange zur Schule gegangen, und es ist dennoch etwas aus mir geworden. Du bist alt genug, um all diese Dinge hinter dir zu lassen. Du wirst schön zu Hause bleiben und dir dein Brot verdienen. Ich bin nicht bereit, eine Haushälterin zu bezahlen.«

»Dann mach doch Jessie zur Haushälterin.«

»Hör endlich auf zu widersprechen! Geh und belästige mich nicht länger. Du hast jetzt eine Aufgabe, also kümmere dich darum.«

»Aber ich weiß gar nicht, was eine Haushälterin zu tun hat!«

»Dann wird es höchste Zeit, daß du es lernst.«

Draußen lag Schnee, und an den Fenstern hatten sich Eisblumen gebildet. Alles war ruhig, als sei die Stille mit dem Winter eingezogen, um vom Trauerfall im Haus zu zeugen. Regal suchte nach den richtigen Worten. Sie hatte gute Aussichten, den besten Schulabschluß ihrer Klasse zu machen, vielleicht sogar die Jungs zu überflügeln. Mrs. Trotter, die in einem ständigen Konkurrenzkampf mit ihrem Mann lag, hatte sie unterstützt und bestärkt, hocherfreut, daß eines ihrer Mädchen vielleicht den besten Abschluß der ganzen Schule machen würde. Regal hatte hart gearbeitet, sie brauchte die Anerkennung, das Gefühl, um ihrer selbst willen etwas zu gelten, nicht immer nur das uneheliche Hayes-Mädchen sein. Und mehr als alles andere hatte sie ihrer Großmutter eine Freude machen wollen, aber dazu war es jetzt zu spät.

Großvater wandte sich wieder dem Schmuckkasten zu. »Es steht ein Name darauf …« Mit einer fahrigen Geste wies er auf die Geburtsurkunde, als sei sie ein wertloser Fetzen Papier. »Der Name eines Mannes. Sie hat ihn als den Vater benannt, aber ich würde nicht allzuviel darauf geben. Polly konnte ziemlich verschlagen sein.«

»Aber, Großvater! Für ein amtliches Zertifikat hätte sie doch sicher niemals gelogen!« Regal war schockiert, daß er die arme Polly derart kritisierte.

Er zuckte die Achseln, als sei er der Diskussion überdrüssig. »Es spielt keine Rolle, wir wollten nichts von ihm wissen. Er geht uns nichts an.«

»Mich schon«, sagte sie leise, bemüht, seinen Gedankengang nicht zu unterbrechen, wo es doch noch so vieles herauszufinden galt. »Wann ist er gestorben?«

»Wer?«

»Mein Vater. Dessen Name da steht.«

»Gestorben? Davon weiß ich nichts. Der Kerl könnte ebensogut noch am Leben sein. Wie auch immer, mich kümmert es nicht. Wir hätten niemals zulassen dürfen, daß Polly mit Maria Proctor nach Halifax fuhr, aber während der Belagerung herrschte Typhus in Boston. Wir dachten, die Mädchen wären dort sicherer.«

Regal saß völlig reglos und lauschte. Sie fand es unfair, daß er ihre Mutter verschlagen nannte, wo doch Ettie, seine Frau, eine Lügnerin gewesen war. Sie erinnerte sich ganz genau, daß Großmutter ihr einmal gesagt hatte, ihr Vater sei tot. Eines Tages würde sie dieser Sache auf den Grund gehen, doch im Augenblick waren ihre Gedanken so flüchtig wie die Schneeflocken vor dem Fenster und wirbelten ebenso durcheinander.

»Du hast ihn nie zur Rede gestellt und gefragt, ob es wahr ist, Großvater? Um dir Gewißheit zu verschaffen?« Und mir, fügte sie im stillen hinzu.

»Was hätte das genützt? Es heißt, er hat es mit allem Nachdruck bestritten, und es spielte auch gar keine Rolle. Deine Großmutter hatte auch so schon Last genug. Bis nach London mußte sie reisen, um dich zu holen.«

»London?« Regal traute ihren Ohren kaum. »London? In England?«

Er seufzte tief. »Ja. Du warst noch ein Baby. Nachdem deine Mutter gestorben war, kümmerte ihre Freundin sich um dich. Maria Proctor. Das heißt, zu dem Zeitpunkt war sie schon verheiratet, Maria Collins, sollte ich also sagen. Wir mußten nach London reisen, um dich heimzuholen. Außer uns kam ja niemand in Frage, verstehst du. Ettie wurde furchtbar seekrank auf beiden Überfahrten. Ich glaubte, ich würde auch sie verlieren, und dann wären nur wir zwei übrig gewesen.« Er atmete tief durch und lehnte sich mit halb geschlossenen Lidern in seinem Sessel zurück. »Und genauso ist es jetzt, nur wir beide sind übrig, Missy. Und wir müssen das Beste daraus machen.« Er nahm ihre Hand, und diese ungewohnte Zurschaustellung von Gefühlen war ihr unangenehm. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Wenn ich tot bin, bist du ganz allein. Aber du wirst schon zurechtkommen, du bist ja ein kluges Mädchen, wenn du dich nicht gerade so aufführst, als wären wir alle gegen dich, und dich sträubst und schmollst, weil deine Großmutter dir nicht erlauben wollte, wie die anderen Mädchen in der Stadt herumzulaufen.«

Regal wollte etwas sagen, wollte ihm erklären, daß ihre Tränen um Ettie alle Unstimmigkeiten zwischen ihnen hinweggeschwemmt hätten, doch er umklammerte ihre Hand noch fester und rüttelte sie, als wolle er sich ihrer ganzen Aufmerksamkeit versichern. »Deine Großmutter wußte, was ein guter Ruf bedeutet. Auf dem Heiratsmarkt bist du dank Polly schon sehr benachteiligt hier in Boston, Missy. Die besten Familien empfangen dich nicht, ihre Söhne flirten vielleicht mit dir, aber sie werden es niemals ernst meinen. Großmutter war womöglich ein wenig zu streng, aber es war der beste Weg, allem Gerede zuvorzukommen. ›Dieses Mädchen hat einen tadellosen Ruf, sie hat sich nie rumgetrieben‹, wollte sie damit sagen. Verstehst du?«

Tränen traten in Regals Augen. »Warum hat sie mir das nie gesagt? Ich dachte, sie wäre einfach nur gemein.«

»Es ist nicht die angenehmste Sache der Welt, seiner Enkeltochter erklären zu müssen, daß sie in gewissen Kreisen als nicht gesellschaftsfähig gilt. Wie fühlt es sich an, hm?« Seine Stimme klang jetzt fest, mit dieser Stimme hatte sie ihn mit Geschäftspartnern verhandeln hören.

»Ist es denn wahr?« fragte sie, doch sie sah am unverwandten Blick seiner braunen Augen, daß es die Wahrheit war.

»Dann weiß ich nicht, was ich fühlen soll«, gestand sie.

»Das ist gut. Am besten fängst du gar nicht erst damit an, irgendwas zu fühlen. Deine Großmutter hatte ihre Methode, den Schaden wiedergutzumachen, ich habe meine. Und meine Methode, Missy, ist Geld. Wenn du Geld hast, kannst du es dir leisten, nach deinen eigenen Regeln zu leben. Aber eins darfst du nie vergessen, Kind: es ist kein leicht verdientes Geld. Ich habe hart dafür gearbeitet. Ich habe die Sägemühlen aufgebaut. Und während des Krieges hätte nicht viel gefehlt und wir wären als Loyalisten verschrien gewesen, Timothy Foy und ich. Wir haben mit allem gehandelt, das uns in die Hände fiel. Und als du plötzlich da warst, wußte ich, ich mußte mich noch mehr ins Zeug legen. Ich bin größere Risiken eingegangen, habe Geld geborgt, um Land und immer noch mehr Land zu kaufen.« Er lachte. »Risiken nenne ich es heute, aber mein Urteilsvermögen hat sich als untrüglich erwiesen. Ich wurde immer reicher. Geld macht Geld.«

Endlich ließ er ihre Hand los, und Regal versuchte, gebührend beeindruckt von dieser Vorlesung über das Wesen des Geldes zu wirken, doch ihre Gedanken waren schon wieder in London. Was mochte ihre Mutter nur nach London verschlagen haben?

Großvater erhob sich und blieb direkt vor ihr stehen. Sie mußte zu ihm aufschauen. »Eines Tages wirst du eine sehr reiche Frau sein, Regal. Und jetzt hör mir zu, selbst wenn du nie wieder auf mich hörst, tu’s jetzt: Honig zieht Fliegen an. Dir wird der Honig gehören. Vergiß nie, daß sie Fliegen sind. Wenn Frauen heiraten, fällt ihr Vermögen für gewöhnlich an ihre Männer. Hast du mich verstanden?«

»Ja. Das habe ich nicht gewußt.«

»So lautet das Gesetz. Aber du mußt dafür sorgen, daß du dein Geld behältst. Ich habe nicht all die Jahre geschuftet, nur damit du mein Vermögen irgendeinem Fremden in den Rachen wirfst. Was wäre, wenn die Ehe nicht glücklich würde? Was sollte dann aus dir werden, mein Kind?«

»Aber wenn es Gesetz ist, was kann ich da tun? Unverheiratet bleiben?«

»Unsinn. Es gibt immer Mittel und Wege. Halte dich nur an Abe Rosonom, er wird dir helfen.«

»Oh«, sagte Regal verständnislos. Da sie nicht einmal ein eigenes Bankkonto besaß, schien ihr diese ganze Unterhaltung reichlich sinnlos. Später hätte sie immer noch Zeit genug, über solche Dinge nachzudenken.

Erst als sie sich in ihr Zimmer zurückziehen durfte, fand sie Gelegenheit, ihre neuen Schätze in Augenschein zu nehmen. Sie stellte den Schmuckkasten einen Moment beiseite und studierte die Geburtsurkunde. Dort stand, daß sie am 22. März 1779 in Halifax geboren sei. Und daß ihr Vater der Ehrenwerte Basil Mulgrave sei. Sie starrte auf die fein geschwungenen Buchstaben. Da stand es schwarz auf weiß für jedermann zu lesen, ganz gleich, was ihr Großvater gesagt hatte. Es mußte stimmen, Großvater war verständlicherweise voreingenommen. Es war doch ganz offensichtlich, was passiert war: Polly war von diesem Mulgrave schwanger geworden, und er hatte sich geweigert, seinen Teil der Verantwortung dafür zu übernehmen. Nach den Klatschgeschichten, die die Dienerschaft sich erzählte, war das durchaus nichts Ungewöhnliches. Und warum auch nicht; wenn man als Mann nicht heiraten wollte, warum in aller Welt sollte man sich zwingen lassen?

Für einen Moment war sie schockiert über diesen herzlosen Gedanken, doch man mußte schließlich immer beide Seiten sehen. Oder war das falsch? Schließlich war dieser Mann schuld am Tod ihrer Mutter.

Sie sah wieder auf die Geburtsurkunde. Der ›Ehrenwerte‹. Ein englischer Titel – wie romantisch! Sie würde in die Bibliothek gehen und nachschlagen, was er bedeutete.

Großmutter hatte ihr erzählt, Polly sei bei der Geburt gestorben. Aber wenn das stimmte, wäre Polly doch in Halifax gestorben. Und wie sollte dann das Baby – sie selbst – nach London gekommen sein? Warum hatten ihre Großeltern den Atlantik überqueren müssen, um sie zu holen? Was steckte dahinter?

Sie ging zu Bett, nachdem sie den gesamten Schmuck anprobiert hatte, den ihre Großmutter ihr vermacht hatte. Sie lag wach und grübelte über diese Rätsel nach. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, was sie heute erfahren hatte. Sie war die Tochter eines englischen Gentleman, offenbar ein Mann von hoher Geburt und niederem Charakter.

 

Großvater Hayes war felsenfest davon überzeugt, daß ihm nicht viel Zeit blieb, bis auch er vom lieben Gott abberufen würde, doch irgendwann wurde im Haus nur noch darüber gewitzelt. »Ich habe noch keinen gesünderen und kräftigeren Mann seines Alters gesehen«, meinte Mrs. Hobway. Jessie stimmte ihr zu. »Das ist kein Wunder. Schließlich wird er von drei Frauen umhegt.«

Anfangs hatte es sie verärgert, daß Regal die Herrschaft über den Haushalt übertragen worden war, einem Kind ohne jegliche Erfahrung in diesen Dingen, doch als sie merkte, wie unglücklich Regal über das unfreiwillige Ende ihrer Schullaufbahn war, überwand sie ihren Groll und wurde Regals Vertraute und Lehrerin. Und es war gut, daß sie sich zusammentaten, denn mit zunehmendem Alter wurde Jasper Hayes immer geiziger und ließ keinerlei ›Sonderausgaben‹ zu, ohne daß zuvor ein heftiger Streit darüber entbrannt wäre. So ließ es sich nicht verhindern, daß das große Haus irgendwann heruntergekommen wirkte. Die Frauen mußten sich verschwören und ihren ganzen Einfallsreichtum aufbieten, damit Regal wenigstens dann und wann Stoff für ein neues Kleid bekam. Nicht daß sie viel ausgegangen wäre. Ihr gesellschaftliches Leben beschränkte sich auf den Kirchgang und gelegentliche Kirchenfeste.

An ihrem achtzehnten Geburtstag fuhr ihr Großvater mit ihr nach New York, und eine Woche lang wohnten sie im vornehmen Hotel Mayfair. Regal nutzte diese Gelegenheit, um ihn zur Rede zu stellen. »Immerzu sagst du mir, wir müssen sparen. Aber wenn wir so arm sind, wie können wir uns dann ein Hotel wie dieses leisten?«

»Die Zeiten sind schlecht«, brummelte er. »Aber ich muß den Schein wahren.«

»Das glaube ich dir nicht! Und ich erinnere mich, daß Großmutter gesagt hat, es sei wichtig, daß ich mich gut kleide. Wie soll ich in New York ausgehen in diesen scheußlichen Lumpen? Ich brauche neue Kleider.«

»Ich kenne niemanden, der so hartnäckig nörgeln kann wie du«, knurrte er. »Immerzu beschwerst du dich wegen des Geldes. Wenn ich tot bin, wirst du endlich genug Geld haben.«

»Wenn du tot bist?« erwiderte sie höhnisch. »Bis dahin bin ich selber eine alte Frau, eingesperrt in diesem verdammten alten Haus. Du willst eine alte Jungfer aus mir machen, damit immer jemand da ist, der sich um dich kümmert!«

Offenbar gab ihm dieser Ausbruch zu denken, denn als sie einige Zeit später die Fifth Avenue entlanggingen, blieb er plötzlich stehen. »Ist das wahr? Deine Großmutter hat gesagt, es sei wichtig, sich gut zu kleiden?«

»Natürlich ist das wahr. Sie selbst war doch stets ausgesprochen elegant, hast du das etwa schon vergessen?«

Darauf ging er nicht ein. »Es heißt, hier machen sie ganz anständige Damenkleider. Und nicht zu teuer.« Er stand vor einem Schaufenster, dessen Auslage jedoch von einem Vorhang verdeckt war. »Du kannst hineingehen und etwas kaufen.«

»Ich brauche zwei neue Kleider.« Regal wollte ihr Eisen schmieden, solange es heiß war. »Eines für tagsüber, eines für abends. Die Gäste im Hotel ziehen sich zum Dinner immer um.«

»Dann kauf sie eben«, gab er brüsk zurück. »Ich frage mich nur, zu welcher Gelegenheit du sie je wieder tragen willst.«

Regal betrat eilig das Geschäft, ehe er seine Meinung ändern konnte. Am Nachmittag wurden zwei wundervolle Kleider komplett mit Hüten und Handschuhen ins Hotel geliefert. Regal hatte nicht gewagt, sich nach dem Preis zu erkundigen, hatte nur gebeten, man möge die Rechnung an Mr. Hayes im Hotel Mayfair schicken. Als sie sich zum Essen umzog, wartete sie auf neuerliche Beschimpfungen wegen ihrer Extravaganz, aber er verlor kein Wort darüber. Für diese Woche schien er die Sparsamkeit vergessen zu haben.

Sie genoß die Tage in New York und zehrte noch lange davon, als sie wieder zu Hause war. Jede Einzelheit ihrer Reise erzählte sie Jessie und Mrs. Hobway immer wieder. Nach und nach verblaßte ihre Erinnerung jedoch, der Alltag kehrte zurück mit den Pflichten im Haus und langen Spaziergängen am Fluß entlang, und sie träumte von einem Leben im Kreis der eleganten Gesellschaft, die sie im Mayfair gesehen hatte.

Eines Tages kam Jessie ihr über die Felder nachgerannt. »Regal!« rief sie ganz außer Atem. »Komm nach Hause. Es hat einen Unfall gegeben.«

»Was für einen Unfall?«

»In der Sägemühle. Dein Großvater ist verletzt. Sie sagen, ein Baumstamm habe ihn überrollt. Oder mehrere, ich weiß es nicht. Sie haben ihn zu Dr. Dunshea gebracht.«

 

Sie eilten nach Hause und stiegen in den wartenden Einspänner, doch als sie die Straße entlangfuhren, sahen sie einen Arbeiter aus der Mühle auf sich zurennen, der ihnen bedeutete anzuhalten.

»Miss Hayes!« Er nahm eilig den Hut ab. »Miss Hayes, der Doktor schickt mich. Es tut mir leid, Miss, aber der Boß … ich meine, Ihr Großvater … er ist tot.«

»Oh mein Gott.« Jessie ergriff Regals Hand. »Du mußt jetzt tapfer sein.«

Großvater tot? Das war unmöglich. Selbst als sie einige Zeit später das Haus des Doktors verließen und die kleine Menge neugieriger Menschen passierten, die sich vor der Tür versammelt hatte, konnte sie es noch nicht richtig glauben. Doch als sie nachts in ihrem Bett lag und alles um sie herum still geworden war, ging ihr auf, daß sie jetzt ganz allein war. Sie weinte um ihren Großvater, beweinte seinen grausamen Tod; und sie hatte Angst, fürchtete sich vor ihrem eigenen Tod. Es war, als lauere er auf sie, warte nur darauf, auch sie zu holen.

 

Die Kanzlei der Anwälte Rosonom und Kernicke lag in einer kleinen Seitenstraße nahe des Parks. Regal hatte das Sträßchen oft als Abkürzung auf ihrem Weg durch die Stadt benutzt, doch sie hätte nie geglaubt, daß sie einmal die Stufen zu diesem imposanten Gebäude hinaufsteigen würde, vorbei an den Messingschildern an der Tür, und als Kundin eintreten würde. Als Klientin.

Angestellte saßen auf hohen Stühlen mit gesenkten Köpfen über ihre Pulte gebeugt, umgeben von endlosen Reihen ungleich hoher Regale, in denen Bücher und Akten unordentlich durcheinanderlagen und aussahen, als wollten sie jeden Moment herunterpurzeln. Tische standen überall herum, übersät mit noch mehr Akten. Manche waren mit roter Kordel zugebunden, und alle schienen darauf zu warten, daß man sich ihrer annahm. Kein Wunder, daß der alte Mr. Rosonom ihr gesagt hatte, sie müsse Geduld haben. Vermutlich hatte er Wochen gebraucht, um Großvaters Testament in diesem Durcheinander auch nur zu finden, geschweige denn zu bearbeiten. Sie hatte länger als einen Monat auf die Aufforderung gewartet, hier zu erscheinen.

Eine Tür wurde geöffnet, und ein Mann steckte den Kopf hindurch. Er sah sie an und blickte dann zur Wanduhr. »Ah, Miss Hayes. Pünktlich, wie ich sehe. Immer ein gutes Zeichen.«

Mr. Rosonom trug keinen Gehrock; sein gestreiftes Hemd wirkte zu weit und flatterte um seinen hageren Körper. Während er sie zur Treppe führte, kämpfte er sich in eine rote Samtjacke. »Sie kennen meinen Sohn Leonard?«

»Ja, Mr. Rosonom.«

»Gut. Er wird sich um Ihre Angelegenheiten kümmern. Und wenn er sich nicht genug Mühe gibt, dann kommen Sie zu mir und sagen mir Bescheid. Was Sie vor allem brauchen, ist Kontinuität – also jemanden Ihrer eigenen Generation. Ich war der Rechtsberater Ihres Großvaters, nun ist es das Privileg meines Sohnes, Sie zu betreuen. Kommen Sie bitte hier entlang.«

Regal folgte ihm die Treppe hinauf. Leonard Rosonom. In der Schule war er einer der ›großen‹ Jungs gewesen. Eine Klasse über ihr. Diese Jungen hatten sie immer nervös gemacht, sogar Leonard, der ständig von seinen Mitschülern gehänselt wurde, weil er Jude war und obendrein auch noch eine Brille trug. Aber Leonard war sehr gescheit und er spielte allen Leuten Streiche. Ein weiterer Grund, warum die Mädchen ihm aus dem Wege gingen, alle außer Judith, die mit jedem Jungen fertig wurde. Und letztes Jahr hatten Leonard und Judith geheiratet.

Regal wäre lieber bei dem alten Mr. Rosonom geblieben. Sie kam sich albern vor, Leonard jetzt unter die Augen zu treten, ganz in Schwarz wie eine alte Witwe, unansehnlich. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Er stand hinter seinem Schreibtisch, als sein Vater in sein Büro stürmte.

»Hier ist Miss Hayes. Kümmere dich um sie, Leonard, und verschwende nicht ihre Zeit, hörst du?«

»Ja, Sir«, antwortete Leonard, und nachdem sein Vater verschwunden war, fragte er: »Möchten Sie nicht Platz nehmen, Miss Hayes?«

»Regal. Mein Name ist Regal. Schon vergessen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber Vater besteht darauf, daß ich Sie mit dem angemessenen Respekt behandle.« Er lächelte plötzlich breit. »Ich werde mein Bestes tun. Die Sache mit deinem Großvater tut mir sehr leid, Regal. Es muß ein furchtbarer Schock für dich gewesen sein. Hast du dich inzwischen ein wenig davon erholen können?«

»Ja, danke. Ich bin nur noch ein wenig durcheinander.« Sie wünschte, sie hätte das nicht gesagt, sondern irgend etwas, das mehr zu einer trauernden Enkelin gepaßt hätte. Ihre Nervosität war unübersehbar.

»Das ist wohl verständlich.« Er überflog einige Schriftstücke, die auf seinem Schreibtisch lagen, und sah dann zu ihr auf. »Ehe wir anfangen, Regal, laß mich folgendes sagen: Ich habe deine Situation lange und gründlich durchdacht. Es ist bestimmt schwer, plötzlich so ganz allein zu sein. Du hast keine Verwandten mehr, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf. Warum mußte er ausgerechnet an das Thema rühren, das sie nach Kräften mied? Sie mochte Verwandte väterlicherseits haben, aber wie sollte sie das wissen?

»Für eine junge Dame ist das eine große Bürde«, fuhr er fort. »Aber jetzt, da du zu uns gekommen bist, werden wir dir noch viel mehr aufbürden, so daß dir gar keine Zeit bleibt, dich selbst zu bedauern.«

Sie starrte ihn mit offenem Munde an. Das war wohl kaum der angemessene Tonfall, um eine Trauernde anzusprechen.

Er grinste. »Und außerdem siehst du wunderbar aus in Schwarz. Ich fand immer schon, daß Schwarz blonden Frauen besonders gut steht. Und ehe ich’s vergesse, herzliche Grüße von Judith.«

»Danke.«

»Also dann, kommen wir zum Geschäft. Dein Großvater hat dir alles hinterlassen, was er besaß. Wußtest du das?«

»Ja.«

»Was weißt du über seine Geschäfte?«

»Nicht viel. Die Sägemühle. Land. Irgendwo hatte er Land.«

»Also schön. Ich möchte, daß du dir all diese Papiere hier ansiehst. Ich habe eine Liste dazu zusammengestellt. Bankauszüge, Urkunden, Besitztitel und so weiter. Würdest du bitte jedes Dokument, das du gelesen hast, auf der Liste abhaken?« Er reichte ihr den Stapel. »Es ist eine Aufstellung sämtlicher Vermögenswerte von Jasper Hayes.«

Regal nahm eine Feder und Schreibpapier, studierte die Papiere sehr sorgsam und machte sich Notizen. Sie wollte nicht, daß er den Eindruck gewann, sie sei eine dumme Gans, die alles mit sich machen ließ. Ebensowenig sollte er bemerken, daß die Länge seiner Liste sie überraschte.

»Ich muß mich entschuldigen, daß wir so lange gebraucht haben, Regal«, sagte er. »Aber wir mußten erst einmal Wertgutachten der einzelnen Vermögenswerte einholen.« Schließlich hatte sie auch den letzten Punkt auf der Übersicht abgehakt. »Was, denkst du, ist all dies wert?«

Leonard schob ihr ein Kontenbuch zu und wies mit dem Finger auf eine Zeile. »Wir schätzen, etwa neunhunderttausend Dollar. Minimum.«

Regal war nicht sicher, daß sie ihn richtig verstanden hatte, und die Zahlen auf dem Papier verschwammen plötzlich vor ihren Augen. Hatte er neunhundert gesagt oder neuntausend? Ihre Handtasche glitt zu Boden, ein häßliches, schwarzes Ding, das ihrer Großmutter gehört hatte. Es enthielt nichts außer einem Taschentuch. Leonard schob seinen Stuhl zurück, als sei er im Begriff, sie für sie aufzuheben, aber sie hielt ihn zurück. »Ich mach’ das schon.« Sie überlegte, ob es wohl gierig erscheinen würde, wenn sie ihn bäte, die Zahl zu wiederholen.

Sie mußte wohl sehr verwirrt aussehen, denn er schrieb die Summe auf ein Stück Papier und schob es ihr hin. »Vielleicht erscheint es dir so wirklicher.«

Das tat es allerdings. Trotzdem schüttelte sie ungläubig den Kopf. »Ich kann das nicht fassen. Ich hatte ja keine Ahnung … Großvater hat mir immerzu Vorträge über Sparsamkeit gehalten, er hat nie mehr ausgegeben als unbedingt nötig. Dabei hätte er die ganze Zeit wie ein König leben können. Und es war gar nicht notwendig, daß er noch ständig selbst zur Mühle fuhr.«

»Er wollte es aber so, Regal. Zu meinem Vater hat er gesagt, er werde dafür sorgen, daß du niemals finanzielle Sorgen haben würdest.«

»Aber es ist fast eine Million Dollar! Wußte sonst noch jemand, wie reich er in Wahrheit war?«

»Nur mein Vater. Ich war ebenfalls überrascht. Und beunruhigt. Wir beide haben jetzt eine große Verantwortung. Sobald du wieder zu Atem gekommen bist, mußt du ein paar Entscheidungen treffen. Möchtest du diese Liste mit nach Hause nehmen und in Ruhe darüber nachdenken?«

»Nein, ich habe mich schon entschieden. Als erstes will ich die Sägemühle verkaufen.«

»Aber sie wirft nach wie vor viel ab. Warum verkaufen?«

»Ich verstehe nichts von Holzwirtschaft. Kannst du den Verkauf veranlassen?«

»Ja, natürlich.«

»Und das Haus will ich auch verkaufen. Mitsamt Möbeln und so weiter.«

»Das ist vernünftig. Es ist viel zu groß für dich. Du solltest dich nach etwas Kleinerem umsehen.«

»Ich will kein kleineres Haus. Es sind alte Freunde der Familie aufgetaucht. Anscheinend waren sie zu Großvaters Lebzeiten bei uns nicht willkommen gewesen, ich weiß zwar nicht warum, aber das werde ich schon noch herausfinden. Es waren Freunde meiner Mutter. Edwina Proctor, sie ist mit den Bostoner Foys verwandt, wird eine Zeitlang bei mir wohnen. Ich habe beschlossen zu reisen, nach Europa zum Beispiel, und Edwina hat angeboten, mich zu begleiten. Ich hatte ja schon angenommen, daß ich dafür genug Geld haben würde. Aber jetzt …« Sie unterbrach sich und legte beide Hände über den Mund. »Oh mein Gott, Leonard. Es wird mir jetzt erst richtig klar. Neunhunderttausend Dollar. Das kann doch nicht wahr sein!« Auf einmal war sie so aufgeregt, daß sie nicht länger an sich halten konnte. Sie fing an zu lachen. Bald vermochte auch Leonard nicht mehr ernst zu bleiben, und sie lachten beide wie die Kinder.

»Du hast gut lachen«, brachte er schließlich atemlos hervor. »Du bist unsere reichste Klientin. Aber wenn ich dich an die Konkurrenz verliere oder schlecht berate, bringt mein Vater mich um. Kann ich dir eine Tasse Kaffee anbieten?«

»Nein, danke.« Sie setzte sich auf und rückte ihren Hut gerade. »Wie du vorhin schon sagtest, kommen wir zum Geschäft. Es besteht kein Grund, die Verkäufe zu überstürzen. Sowohl für die Mühle als auch für das Haus möchte ich einen guten Preis erzielen. Und das Land verkaufe ich auch. Die feine Gesellschaft von Boston hat sich jahrelang damit vergnügt, mir eine kühle Abfuhr nach der anderen zu erteilen. Jetzt bin ich am Zuge.«

»Regal, das ist doch nicht wahr.«

»Es ist wahr. Erzähl mir nicht, du wüßtest nicht, daß ich unehelich bin.«

»Natürlich weiß ich das. Aber es könnte viel schlimmer sein. Du könntest Jüdin sein.«

»Oh, sei doch ein einziges Mal ernst, Leonard.«

»Wie kann ich ernst sein, wenn du alles verkaufen willst, was du besitzt, und aus Boston verschwinden? Was du hier siehst, ist nicht Freude, sondern Rosonom junior in Panik!«

»Dann beruhige dich wieder. Ich habe nicht die Absicht, mich von eurer Firma zu trennen. Ich möchte, daß du nach und nach das ganze Land verkaufst und das Geld in Immobilien in der Stadt investierst. Geschäftshäuser, Mietshäuser, ganz gleich. Wann immer du ein Angebot für günstig hältst.«

Leonard lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »So funktioniert das nicht. Es würde Monate dauern, eine gute Neuinvestition mit dir abzustimmen, wenn du in Europa bist. Wir können ebensogut warten, bis du wieder heimkommst.«

»Ich werde lange Zeit nicht zurückkommen«, sagte sie, absichtlich das Wort ›heimkommen‹ meidend. »Du wirst die Entscheidungen allein treffen müssen. Ich werde dir eine Generalvollmacht erteilen.«

Er starrte sie fassungslos an. »Ich muß dich warnen, das ist keine sehr kluge Idee. Du solltest die Kontrolle über deine Angelegenheiten nicht aus der Hand geben.«

»Du hast mir doch vorhin selbst geraten, einen Fremden dafür zu bezahlen, daß er an meiner Stelle die Mühle leitet. Wo ist da der Unterschied?«

»Ich weiß nicht recht. Ich muß erst mit meinem Vater darüber sprechen.«

Während Regal wartete, dachte sie über ihre Situation nach. Geld oder kein Geld, die Bostoner Gesellschaft würde sie niemals akzeptieren. Je eher sie von hier fort konnte, um so besser. Und sie konnte schlecht ihr ganzes Geld um den halben Globus mitschleppen. Irgendwem mußte sie trauen, also warum nicht Leonard. Sie lächelte grimmig. Auf der Liste der Vermögenswerte hatte sie gesehen, daß ihrem Großvater das Land gehört hatte, das an die Pringle-Schule grenzte. Wieder und wieder waren sie an ihn herangetreten und hatten ihn zu einem Verkauf überreden wollen, immer umsonst. Sie durfte nicht vergessen, Leonard anzuweisen, daß es unter keinen Umständen an Pringle verkauft werden durfte. Eine Fabrik auf dem Gelände wäre doch nett, dachte sie. Irgend etwas Übelriechendes wie eine Klebstoffabrik, wo Tierkadaver verwertet wurden.

Mr. Rosonom kam ins Büro gestapft, sein gewaltiger weißer Backenbart schien sich zu sträuben. »Sie wollen meinen Sohn zu Ihrem Generalbevollmächtigten machen?« fragte er ohne Einleitung. »Er soll nicht nur eine Unterschriftsvollmacht erhalten, sondern in Ihrem Namen Geld investieren, ohne vorher Ihr Einverständnis einzuholen? Das ist ausgesprochen unüblich. Ich kann von dieser Vorgehensweise nur abraten.«

»Wollen Sie mir damit sagen, ich sollte mir eine seriösere Anwaltskanzlei suchen?« fragte Regal gelassen.

»Die gibt es nicht!« versetzte der alte Mann. »Wir werden für diese zusätzliche Leistung jedoch ein Sonderhonorar berechnen müssen.«

»Natürlich. Ich habe keineswegs die Absicht, das Vermögen meines Großvaters zu verschleudern. Ich erwarte, daß es sich mit Ihrer Hilfe vermehren wird.«

Die Augen über dem buschigen Backenbart betrachteten sie neugierig. Dann wandte er sich wieder an Leonard, und in seiner Stimme klang so etwas wie Bewunderung mit: »Was haben wir uns denn mit ihr bloß eingehandelt?«

 

Edwina Proctor benahm sich wie eine aufgescheuchte Glucke, als Regal zurückkam. »Mein Kind, Sie sind ja so lange ausgeblieben. Ich war schon im Begriff, mich selbst auf die Suche zu machen. Nun kommen Sie schon und setzen Sie sich. Sie müssen völlig erschöpft sein. Wo in aller Welt waren Sie denn nur so lange? Ich werde Jessie Bescheid geben, sie soll uns Tee machen. Ich habe wunderbare Neuigkeiten. Und Sie müssen mir erzählen, wie es Ihnen bei diesem Anwalt ergangen ist. Ich wünschte, Sie hätten mir erlaubt, Sie zu begleiten. Solche Leute sind nur darauf aus, junge Mädchen zu übervorteilen.«

Wenn ich nur mal ein Wort dazwischen bekäme, dachte Regal lächelnd, als Edwina davoneilte, nicht ohne vor dem Spiegel an der Tür ihre roten Haare zurechtzuzupfen. Regal war überzeugt, Edwina ging an keinem Spiegel vorbei, ohne ihre Erscheinung zu prüfen. Für ihr Alter war sie immer noch eine gutaussehende Frau, auch wenn sie mit allem ein wenig übertrieb. Ihr Haar wurde mit einer Brennschere in eine wahre Lockenflut verwandelt, ihre Kleider mit den ausladenden Reifröcken waren gar zu verspielt und mit Unmengen von Schleifen und Rüschen besetzt.

»Eine alte Kuh, als Kalb verkleidet«, hatte Jessie gegrummelt. Sie war von Anfang an nicht besonders entzückt gewesen, als Mrs. Proctor über das Haus hereingebrochen war wie eine Flutwelle, um das Kommando über den Haushalt und die ›arme verwaiste‹ Regal zu übernehmen. Sie habe es als ihre Pflicht angesehen, dem Mädchen in seiner großen Not beizustehen, erklärte sie. »Das arme Kind«, hatte sie zu Jessie gesagt. »Das arme, hilflose Kind.«

»Reden wir hier über dieselbe Regal?« hatte Jessie ungläubig gefragt. »Sie ist ungefähr so hilflos wie ein Fuchs im Hühnerstall.«

»Was soll das heißen?« wollte Edwina wissen.

»Das finden Sie schon noch heraus«, brummelte Jessie. Regal, die das Gespräch mit angehört hatte, lachte.

 

Regal genoß Edwinas Gesellschaft, denn sie war von einer spontanen Frohnatur, die diesem Haus bislang gefehlt hatte. Außerdem hatte sie Polly gekannt. Sie war ihre Freundin gewesen. Bisher hatte die redselige Edwina zwar einen Bogen um gerade dieses Thema gemacht, aber Regal hatte ja Zeit. Irgendwann würde sie schon erfahren, was sie wissen wollte.

»Diese Jessie!« Wutschnaubend kam Edwina zurück.

»Ich weiß nicht, wie Sie es mit ihr aushalten. Sie weigert sich, Kaffee zu servieren. Sie sagt, das werde Ihnen den Appetit fürs Essen verderben.«

»Seien Sie ihr nicht böse, sie meint es doch nur gut. Was war nun mit Ihren Neuigkeiten?«

»Ach ja! Ich habe einen Brief von meiner Freundin Maria Collins aus London bekommen, und sie lädt mich ein, bei ihr zu wohnen. In ihrem Haus ist so viel Platz, Sie werden auch dort unterkommen können.«

»Sind Sie sicher?«

»Du meine Güte, Maria wird Sie mit Freuden willkommen heißen. Schließlich sind Sie Pollys Tochter.«

»Sie kannte meine Mutter? Ach richtig, ich erinnere mich, daß meine Großeltern sie erwähnten. Stammte sie nicht auch aus Boston?«

»Richtig, wir sind alle zusammen hier aufgewachsen.«

»Waren Sie dabei, als meine Mutter starb, Edwina?«

»Um Himmels willen, Sie dürfen sich so kurz nach Ihrem schweren Verlust nicht mit solchen Gedanken belasten, das ist nicht gut für Sie. Was war denn nun mit diesem Anwalt?«

»Nichts weiter. Ich verkaufe das Haus und die Mühle …«

»Da haben Sie recht. Diesen gruseligen alten Kasten sollten sie schnellstmöglich loswerden, und mit einer Sägemühle sollten Sie sich jetzt auch nicht belasten. Die Verkäufe werden Ihnen ein schönes Sümmchen einbringen. Davon abgesehen, wie stehen Sie finanziell da? Hat man Ihnen darüber Auskunft gegeben?«

»Ja. Es ist alles in Ordnung.«

»Das ist keine Antwort. Sie werden eine komplett neue Ausstattung brauchen für London. Maria wird Sie in die Gesellschaft einführen wollen.«

»Wirklich? Werden wir zu Empfängen und auf Bälle gehen?« Bis zu diesem Augenblick hatte sie London nur als Ziel ihrer Flucht gesehen. Jetzt klang es auf einmal verheißungsvoll.

»Aber selbstverständlich! Wir machen doch nicht den weiten Weg, nur um immer dieselben vier Wände anzustarren. Wir werden uns amüsieren, dafür sorge ich schon. Aber ich muß wissen, wie es um Ihre materielle Situation bestellt ist. Ich darf nicht zulassen, daß Sie sich verausgaben.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Edwina. Ich kann mir leisten, was nötig ist.«

»Ich bin sicher, das können Sie. Ihr Großvater war kein armer Mann. Wieviel hat er Ihnen hinterlassen?« Regal entschied sich für eine ausweichende Antwort. Ihre ›materielle Situation‹, wie Edwina es nannte, war ihre Privatsache. Sie war zu lange allein gewesen, um sich leicht jemandem anzuvertrauen. »Das ist schwer zu schätzen«, erwiderte sie. »Aber Mr. Rosonom hat gesagt, ich solle ruhig fahren und mich amüsieren, es bestehe kein Grund zur Sorge.«

»Sie haben Geld auf der Bank?«

»Oh ja. Und er besorgt Kreditbriefe, die ich mit nach London nehmen kann.«

Regal lernte bald, daß in Edwinas Vorstellung nur Bankguthaben echtes Geld waren, daher die Frage. Ein kleines Guthaben bedeutete eine bescheidene Garderobe, ein großes Guthaben eine umfangreiche. Diese wirtschaftlichen Kenntnisse mochten für Edwina ausreichend sein, aber Regal war jung und hatte noch ein langes Leben vor sich. Geld, fand sie, sollte arbeiten. Sie schwor sich, daß sie in ihrem ganzen Leben niemals würde knausern müssen. Sie würde ihren Großvater nicht enttäuschen, Gott segne ihn.

Sie hielt noch mehrere Besprechungen mit Leonard ab und verfügte, daß je eintausend Dollar an Mrs. Hobway und Jessie ausgezahlt werden sollten, sobald ihr Anstellungsverhältnis endete.

Der Abschied von den beiden Frauen, die sich ihr ganzes Leben um sie gekümmert hatten, verlief nicht ohne Tränen. Beide waren sie von Regals Großzügigkeit überwältigt.

»Aber sagt Edwina nichts davon«, flüsterte Regal, und sie willigten gerne ein. Dann fand sie heraus, daß Mrs. Hobway bei ihrer Tochter leben würde, daß Jessie jedoch niemanden hatte. Also instruierte sie Leonard, ein Häuschen zu kaufen und Jessie die Besitzurkunde zu übergeben, nachdem sie losgesegelt waren. Regal wollte keine Tränen und keine Sentimentalitäten mehr. Sie konnte es kaum erwarten, nach London zu kommen und ein neues Leben zu beginnen.

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2.Polly

Boston 1776

Als treuer Soldat des Königs hatte David Collins zunächst geglaubt, eine Handvoll Anarchisten sei für die Unruhen in Amerika verantwortlich. Doch er mußte feststellen, daß die Kämpfe sehr viel ernster waren. Sie hatten mit ein paar vereinzelten Scharmützeln gerechnet, als sie in Boston landeten, aber David erkannte, daß sich hier ein Krieg anbahnte. Die Schlacht von Bunker Hill hatten sie zwar gewonnen, aber unter hohen Verlusten.

Wie durch ein Wunder hatte er sie unverletzt überstanden. Sein Freund Basil Mulgrave hingegen hatte den linken Arm eingebüßt. Es war entsetzlich, der Arm war von einer Kugel völlig zerschmettert worden und mußte amputiert werden.

Er verließ die Kaserne durch das Haupttor, erwiderte den Salut der Wache und vertrieb die häßlichen Bilder des Krieges aus seinem Kopf. Die Schlacht war überstanden und Basil auf dem Wege der Besserung. Immerhin hatte er überlebt, hatte er mehr Glück gehabt als viele andere.

Eine bedrohliche Stimmung hing über der Stadt. Die Amerikaner hatten sie eingeschlossen, und sie wurden belagert. Jeden Moment konnte das Bombardement beginnen. Es sah so aus, als würde den Briten nichts anderes übrigbleiben, als sich aus Boston zurückzuziehen, eine erbärmliche Schmach für ihre stolzen Regimenter. David war sicher, daß die Amerikaner nicht so ohne weiteres ihre eigene Stadt in Schutt und Asche legen würden, und er wünschte, irgendwer würde die fällige Entscheidung treffen und den Abmarsch befehlen. Diese Warterei schadete der Moral, und in der Zwischenzeit formierten sich die Rebellen anderswo.